Henrik Pontoppidan
Hans im Glück
Henrik Pontoppidan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

Per hatte jetzt eine ganze Woche auf Kærsholm verbracht, ohne ein einziges Mal etwas von Jakobe zu hören. Obgleich er selbst regelmäßig jeden zweiten Tag schrieb und ihr recht ausführlich von allem berichtete, was er erlebte, verharrte sie in Schweigen.

Er wurde zuletzt ein wenig unruhig. Er mußte zugeben, daß sie Grund hatte, über seine lange Abwesenheit ärgerlich zu sein, um so mehr, da er länger keine Entschuldigung dafür vorbringen konnte. Es sei denn, daß er die Geldangelegenheit noch nicht geordnet hatte. Jeden Morgen nahm er sich vor, die Sache der Hofjägermeisterin oder ihrem Mann gegenüber zur Sprache zu bringen. Wenn es aber soweit war, konnte er sich einfach nicht dazu entschließen. Zwar redete er mit ihnen viel über seine Zukunftspläne, und sie schienen sich auch beide sehr dafür zu interessieren, doch die Bitte um ein Darlehen bekam er nicht über die Lippen. Ihm fiel jetzt auch ein, daß eine solche Bitte leicht bei ihnen Verdacht erregen könnte, weil sie sich ja unmöglich vorstellen konnten, wie peinlich es ihm war, Geld von seinem Schwiegervater anzunehmen.

So ließ er denn die Frage vorläufig bis zu seiner Abreise ruhen, und diese verschob er von einem Tag auf den anderen. Rein körperlich fühlte er sich auf Kærsholm ungewöhnlich wohl, und bei dem Gedanken an den bevorstehenden Aufenthalt in einem fremden Erdteil wurde es ihm doppelt schwer, sich vom Wohlbefinden des Augenblicks loszureißen.

Die meiste Zeit des Tages verbrachte er draußen in der Natur. Hier gab es stets soviel Neues, das ihn beschäftigte, und soviel Altbekanntes, das ihn auf neue Weise interessierte.

Er hatte noch immer eine große Vorliebe, sich mit seiner Angel draußen auf dem Fluß aufzuhalten – nicht so sehr wegen des Fischens, sondern wegen des Genusses, mitten in dieser wüstenähnlichen Stille zu sitzen, dem Glucksen des Wassers unter dem Boot zu lauschen und auf die breitblättrigen grünbraunen Wasserpflanzen zu blicken, die sich lautlos und sachte im Wirbel der Strömung bewegten – eine schlafende Welt, die, durch einen Zauberspruch gebannt, von unruhigen Träumen geplagt wurde. Er mußte dann oft an Pastor Blombergs Worte von der Lebensweisheit denken, die aus der Natur zu schöpfen sei, wenn man auch nur dem Tirilieren einer einzigen Lerche lausche. In solchen Augenblicken fühlte man sich in mystischer Weise mit allem Leben seelenverbunden. Es lag etwas von einer wollüstigen geistigen Schwängerung in solchem Sichversenken in eine Naturstimmung. Die Phantasie wurde so lebendig, und die Ideen strömten herbei. Des Lebens Urkraft selbst schien sich dann sanft und still in einen zu ergießen wie ein goldener Nebel voll wimmelnder Gedankenkeime.

Die Sache war wohl die, dachte Per, daß diese Naturlaute an das ewig Unvergängliche im Dasein erinnerten. Völker konnten aussterben und Weltstädte spurlos verschwinden. Aber so wie das Wasser hier unter dem Kahn gluckste, hatte es unter dem ersten Kanu des ersten Menschen gegluckst. Und dieser Laut würde sich wiederholen bis ans Ende der Zeiten, nicht nur hier auf Erden, sondern auf den Weltkugeln aller Himmelssysteme, wo es überhaupt Wasser gab und ein Ohr, zu hören.

Eines Tages erhielt er einen Brief von Ivan, der seinen Aufenthaltsort von Jakobe erfahren hatte. Der Schwager schrieb, er warte mit großer Ungeduld auf Pers Rückkehr, denn er hoffe trotz allem noch auf günstige Ergebnisse in seiner Angelegenheit. Obergerichtsanwalt Hasselager und Hofbesitzer Nørrehave verhandelten ständig darüber, schrieb er, und die Abneigung gegen das Kopenhagener Projekt breite sich immer mehr aus, vor allem in der Provinz. Er schlug Per vor, diese Gelegenheit zu nutzen und eine Reihe von öffentlichen Vorträgen über seinen Plan in einigen größeren jütischen Städten zu halten, wozu um so mehr Anlaß vorhanden sei, da er erfahren habe, daß jener geheimnisvolle Ingenieur Steiner augenblicklich durch Jütland reise und in verschiedenen Industrievereinen Reden halte.

Dieses Schreiben wirkte auf Pers Stimmung wie das Messer auf ein Geschwür. Er wurde sich endlich klar darüber, daß er mit den geschäftlichen Dingen nichts mehr zu tun haben wollte. Er war Erfinder, Techniker – aber kein Börsenspekulant. In einem Brief, den er noch am selben Abend an Jakobe schrieb, sprach er sich ausführlich aus. Zugleich eröffnete er ihr, daß er es unter diesen Umständen für richtig halte, sich von Kopenhagen fernzuhalten, bis die gesetzliche Frist für das Aufgebot in ein paar Wochen abgelaufen war und sie heiraten konnten.

»Was nun speziell mein kombiniertes Kanal- und Hafenprojekt angeht«, schrieb er, »so betrachte ich es meinerseits für beendet. Ich überlasse hiermit der Nation die Idee zur freundlichen Benutzung. Ich werde mich mit ungeteilter Kraft meiner nächsten Aufgabe, der Weiterentwicklung meiner Wind- und Wellenmotore, zuwenden, wie es mir Professor Pfefferkorn seinerzeit empfahl. Zu diesem Zweck gedenke ich jetzt nützliche Erfahrungen in Amerika zu sammeln. Du wirst vielleicht einwenden, wie Du es ja bereits früher getan hast, daß mir solch ein respektloses Verhältnis zur Geldmacht nur schaden kann; aber das ist mir gleichgültig. Ich gestehe, ich besitze wahrscheinlich nicht genügend Ehrgeiz oder Eitelkeit, um meiner Natur in diesem Punkte trotzen zu können. Das ist natürlich ein Mangel. Aber er gehört wohl kaum zu denen, die man sehr zu beklagen hat. Morgen schreibe ich noch an Deinen Bruder und übertrage ihm gesetzmäßig die Wahrung meiner Interessen während meiner Abwesenheit. Sie sind ja bei ihm in den besten Händen.«

Diesmal kam eine Antwort. Wenn sie sich bislang nicht hatte überwinden können zu schreiben, dann deswegen, weil sie von dem Augenblick an, da sie seinen ersten Brief erhielt, überzeugt war, ihn zum letzten Mal gesehen zu haben. Und sie hatte sich selbst gefragt, ob es für beide Teile nicht das beste wäre, wenn sie ein für allemal Schluß machte. Sie war dieses Kampfes gegen eine fremde, verborgene, gespenstische Macht schrecklich müde geworden, die ihn von Mal zu Mal von ihrer Seite riß, immer dann, wenn sie meinte, ihn ganz fest in ihre Liebe eingeschlossen zu haben.

Sie war sich auch nicht sicher, ob sie diesmal imstande sei, ihn zurückzugewinnen. Auf seine eigene Widerstandskraft konnte sie immer weniger rechnen. Sie sah ihn jetzt, wie er wirklich war. Diejenige Seite seines Wesens, für die sie überhaupt keine Voraussetzungen besaß, sie zu überschauen und zu beurteilen, kannte sie nun zur Genüge. Bei all seiner Naturkraft war er ein Mensch ohne Leidenschaft, ohne Selbsterhaltungstrieb. Oder richtiger: Er besaß nur die negativen Eigenschaften der Leidenschaft, ihre kalte Nachtseite: den Trotz, den Egoismus und den Eigensinn, nicht ihr stürmisches Verlangen, ihre verzehrende Sehnsucht, nicht ihre härtende und läuternde Glut und Flamme.

War es da nicht ganz hoffnungslos, den Kampf fortzusetzen? Sie erinnerte sich in diesen Tagen oft daran, wie er sich einmal im Scherz mit jenem Bergtroll aus dem Märchen verglichen hatte, der durch ein Maulwurfsloch nach oben kroch, um unter den Menschen zu leben, der aber die Sonnenstrahlen nicht ertragen konnte und sich in seiner Scheu vor dem Licht ständig nach seiner kleinen Erdhöhle zurücksehnte. Sie begriff jetzt, daß darin tiefere Selbsterkenntnis gelegen hatte, als sie damals geahnt oder ihm zugetraut hätte.

Ja, er gehörte zutiefst einer anderen Welt an, einer anderen Sonne. Wie ganz anders er auch im Vergleich zu den meisten seiner Zeitgenossen war und sich selbst gefühlt hatte – er war doch ein echter Sohn seines Landes, ein vollendetes Kind des leidenschaftslosen dänischen Volkes mit den blassen Augen und dem furchtsamen Gemüt . . . dieser Bergtrolle, die nicht in die Sonne schauen konnten, ohne zu niesen, die erst im Dunkeln richtig auflebten, wenn sie auf ihren Maulwurfshügeln saßen und im Abendschein Lichtstrahlen hervorzauberten zu Trost und Erbauung für ihre bedrängten Sinne . . . ein Zwergenvolk mit großen nachdenklichen Köpfen, aber mit den kraftlosen Gliedmaßen eines Kindes . . . ein Volk des Zwielichts, das das Gras wachsen und die Blumen seufzen hörte, aber das sich in der Erde verkroch, sobald morgens der Hahn krähte.

Ohne ihr langes Schweigen irgendwie zu begründen oder mit einem Wort die Hochzeitsvorbereitungen oder ihre Reisepläne zu erwähnen, kritisierte sie in spöttischem Ton den Entschluß, zu dem seine »Entwicklung« ihn geführt hatte.

»Du sprichst von Deinem Mangel an Eitelkeit«, schrieb sie. »Du schlägst an Deine Brust und dankst Gott, daß Du nicht bist wie gewisse andere Sünder. Herrgott, dieser armselige Rest von Stolz, soll er denn nun auch verdächtigt werden? Ich bin allerdings selbst einmal in diesem Punkt revolutionär gewesen, mit den Jahren aber nüchterner geworden. Meine Menschenbeurteilung wird überhaupt immer mehr konventionell. Selbst solchen verachteten Dingen wie Orden und Titeln gegenüber habe ich mich geändert. Ich fange an, die Bedeutung solcher Narreteien für das Wohl der Menschheit zu begreifen. Ganz bestimmt kann sich vor allem das dänische Volk nicht leisten, etwas von dem zu opfern, was es zu seiner ›Kraftentfaltung‹ anspornen könnte – ein Wort, das Du in früheren Tagen immerfort im Munde führtest und das ich selbst liebgewonnen habe. Wäre ich eine Dichterin, ich schriebe Gesänge zu seinem Preis. Und wenn ich Priesterin wäre – mit oder ohne Halskrause –, würde ich die Eitelkeit aus allen Sündenregistern der Menschheit ausrotten, die ja wahrhaftig lang genug sind.«

 

Einige Tage nach dem Besuch von Pastor Blomberg und seiner Tochter auf Kærsholm machte die Hofjägermeisterin den Vorschlag, den üblichen Nachmittagsausflug diesmal nach Bostrup zu machen, um der Pfarrersfamilie einen Gegenbesuch abzustatten. Per hatte keine rechte Lust dazu, erhob aber keine Einwände. Auch der Hofjägermeister versprach mitzukommen. Doch als der Wagen vor der Tür stand, änderte er seinen Entschluß. Er hatte wieder einen Anfall seiner dickblütigen Melancholie bekommen, und seine Frau mußte all ihre Geschicklichkeit aufwenden, um seine boshaften Launen auch nur einigermaßen zu bemänteln.

Per war durch die Erzählungen des Inspektors auf die plötzlichen Stimmungsumschläge bei seinem Gastgeber schon vorbereitet. Trotzdem war er ein wenig im Zweifel, wie er dessen finstere Blicke deuten sollte. Er begann sich Sorgen zu machen, daß er die Gastfreundschaft der Familie vielleicht mißbraucht habe. Er nutzte nun die Spazierfahrt, um sich bei der Hofjägermeisterin in diesem Punkt zu vergewissern. Sie aber erklärte rundweg, wenn er daran dächte, schon jetzt abzufahren, würden sie und ihr Gatte es so auffassen, als habe er sich auf Kærsholm nicht wohl gefühlt. Und sie müßten es dann in hohem Grad bedauern, ihn jemals zu einem Aufenthalt bei ihnen aufgefordert zu haben.

Per war sehr froh über diese nachdrückliche Versicherung, zumal sie sein Verhalten Jakobe gegenüber gleichsam entschuldigte.

Die Entfernung zwischen Kærsholm und dem Bøstruper Pfarrhof betrug etwa fünf bis sechs Kilometer. Bei starker Steigung führte der Weg über die Hügel und folgte dann ziemlich genau den Windungen des Wiesentals. Es war ruhiges Wetter; der Himmel war leicht bewölkt, so daß die Sonne ihnen nicht lästig wurde. Auf der einen Seite hatten sie die Aussicht auf die grüne Ebene mit dem sich schlängelnden Fluß, auf der anderen blickte man hinauf zu den vielen Wäldchen mit ihren unendlichen Krähenschwärmen.

Entzückt von diesem Anblick, begann die Baronin zu deklamieren:

»Sieh, ein Vogel schwebt mit Singen
So hoch auf seinen dunklen Schwingen.
Weit blickt er aus der Lüfte Blau
Hinab auf diese schöne Au,
Wo mannigfache Töne herrlich klingen.«

Nicht weit hinter Kærsholm fuhren sie durch ein kleines Dorf, Borup; dort lag die Kirche, zu der der Herrensitz gehörte. Auch hier gab es Vögel in Überfluß, die von der Fruchtbarkeit der Äcker zeugten. Scharen von Spatzen tummelten sich im Straßenstaub. Zu Tausenden saßen Stare ringsum in den Baumwipfeln.

Am Weg standen mehrere strohgedeckte Hütten und offenbarten ohne Scham die Armut ihrer Bewohner. Die Bauernhöfe lagen mehr im Hintergrund, umgeben von alten Apfelbäumen, mit Storchennestern auf den Dächern. Per kannte fast jedes Haus und jeden Menschen in dem kleinen Dorf. Auf seinen Spaziergängen war er täglich hierhergekommen und hatte sich dann zuweilen mit den Leuten unterhalten. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Gelegenheit gehabt, Landbewohner so aus der Nähe kennenzulernen. Und es interessierte ihn, wie sie sich über ihre Lebensverhältnisse äußerten. Es war ihm aufgefallen, daß sie von den hohen Hypotheken auf ihren Gehöften augenscheinlich nicht sonderlich beeindruckt waren. Sie führten ihn mit freundlichem, zufriedenem Lächeln über ihre Höfe, als dächten sie gar nicht daran, daß die ganze Herrlichkeit nur geliehen und verpfändet war. Und viele von ihnen stammten doch von Eltern ab, die gut und gern ihre hunderttausend Silbertaler in der Truhe gehabt hatten. Jetzt sprach man überall nur davon, wie viel oder wie wenig Schulden jemand hatte.

Ein Stückchen weiter unten, zum Wiesental hin, lag ein verfallenes Pfarrhaus. Von der Straße aus konnte man seine rußigen Schornsteine und die Baumwipfel des Gartens erkennen. Hier lebte ein älterer Mann, Pastor Fjaltring, über den man auf Kærsholm mehrfach recht abfällige Bemerkungen gemacht hatte. Die Hofjägermeisterin hatte sogar erklärt, die einzige Entschuldigung für das Auftreten und die ganze Lebensweise dieses Mannes sei, daß er nicht ganz normal wäre. Die meisten Mitglieder der Pfarrgemeinde waren denn auch wie die Gutsbesitzerfamilie zu Pastor Blomberg übergegangen.

Per begann von diesem Pastor zu sprechen und äußerte sich verwundert darüber, daß er ihn nie auf seinen Spaziergängen getroffen habe. Aber die Hofjägermeisterin entgegnete, dies sei gar nicht verwunderlich. Nur selten komme Pastor Fjaltring aus seiner Höhle heraus und auf alle Fälle nicht gern vor dem Abend. Er sei eine rechte Eule, ein lichtscheues Wesen, wirklich so etwas wie ein Geist der Finsternis, der vielen in der Gegend ein Ärgernis geworden war.

»Ist er etwa nicht gläubig?« fragte Per vorsichtig. »Mir scheint, ich hätte gehört, er ist streng orthodox?«

»Ja, auf der Kanzel gibt er sich so. Aber in seinem Herzen ist er ein Spötter und Leugner. Einmal soll er zu jemand gesagt haben: ›Ich glaube fest und zuversichtlich an Gott und auch an den Teufel. Ich bin mir bloß nicht immer ganz sicher, welcher von beiden mir mehr zuwider ist.‹ – Was sagen Sie dazu?«

»Aber wie kann denn solch ein Mensch Pastor bleiben?«

»Das ist ja gerade der Skandal! Aber er ist so schlau, daß er seine anstößigen Reden aufspart, bis er mit jemand allein ist. In seinen Predigten ist er, wie gesagt, sehr rechtgläubig, aber scheußlich trivial und langweilig.«

Vor dem Dorf ging der Weg wieder bergab. Und nach zehn Minuten rascher Fahrt erreichte man das Dorf Bøstrup, das sehr schön gelegen war am Fuße eines bewaldeten Höhenzuges.

Die Familie des Pastors war hinter dem Garten auf einem Feld versammelt, wo für die Jugend eine Art Sportplatz eingerichtet worden war. Drei Jungen mit goldblonden Haaren im Alter von zehn bis sechzehn Jahren spielten in Hemdsärmeln Schlagball, und der Pastor selbst führte das Spiel an und schrie am lautesten, wenn es galt, einen Ball schleunigst in das Ziel zu befördern. Seine Frau stand daneben, hatte ein kleines Mädchen an der Hand und schaute zu. Fräulein Inger, die älteste Tochter des Pastors, saß abseits am Gartenzaun, hatte ein Buch in ihrem Schoß und las.

Niemand hatte die Gäste kommen hören, und diese hatten sich nicht gemeldet, sondern waren direkt vom Wagen in den Garten gegangen, um den Pastor zu überraschen.

Fräulein Inger war die erste, die sie erblickte. Im selben Augenblick sprang sie mit einem leisen Schrei des Entzückens auf und fiel der Hofjägermeisterin um den Hals. Dann folgte ein allgemeiner Empfang mit herzlichen Ausrufen der Freude und Überraschung.

Der Pastor schlug Per auf die Schulter und hieß ihn willkommen. »Haben Sie was übrig für den Sport, Herr Ingenieur?« fragte er und nahm seinen großen Strohhut vom Kopf. Er fuhr sich mit seinem Taschentuch über die Stirn. »Oha, ist was Wunderbares! In der Hinsicht haben wir Älteren was versäumt. Und jetzt bin ich zu alt, um anzufangen. Ich muß mich damit begnügen, Zuschauer auf dem Sportplatz zu sein. Aber sogar das tut schon wunderbar wohl. Es ist, als ob sich die eigenen Muskeln spannen, wenn man sieht, wie die Bengels hier herumtollen. Ich kann diese Entspannung überhaupt nicht mehr entbehren.« Und mit munterem Lachen führte der kleine Mann die Gesellschaft durch den Garten zurück, indem er majestätisch voranschritt in seiner weißen Leinenjacke und den weißen Hosen, die kaum bis an die Knöchel reichten.

Man setzte sich auf eine Bank und ein paar Stühle im Schatten des Hauses vor der Gartentür, wo ein ländlicher Kaffeetisch mit Kupferkessel und duftendem Backwerk gedeckt wurde. Fräulein Inger deckte den Tisch und tat das mit sehr viel Anmut. Im stillen mußte Per allerdings einwenden, daß sie selbst vielleicht ein wenig zu überzeugt davon war.

Wie es zu sein pflegt, wenn Frauen auf dem Lande um einen gedeckten Kaffeetisch sitzen, ging die Unterhaltung allmählich auf das häusliche Gebiet über. Sogar Pastor Blomberg gab mit ein paar spaßigen Bemerkungen seinen Senf dazu, als vom Backen und Einkochen die Rede war, bis er abgerufen wurde, weil ihn ein Mann zu sprechen wünschte.

Als sich herausstellte, daß die Kuchen auf dem Tisch Fräulein Ingers eigenhändiges Werk waren, wetteiferten die Baronin und die Hofjägermeisterin, darüber Lobreden zu halten, worauf die Frau Pastor ihrer Tochter die Wange streichelte und sagte, daß sie wirklich recht tüchtig sei.

Das junge Mädchen schien diese Anerkennung ziemlich gleichgültig hinzunehmen. Es war fast so, als ärgere sie sich ein wenig, weil die Mutter sie liebkoste. Per dachte, daß sie bestimmt sehr verhätschelt wurde. Aber sie war sehr hübsch. Er fand sie sogar viel anziehender als neulich, da er sie im dämmrigen Park von Kærsholm gesehen hatte. Hier kam sie ihm viel wirklicher vor, wie sie da im vollen Tageslicht stand, eine kleine weiße Schürze umgebunden, und die Tassen vollschenkte. Ähnlichkeit mit Fransisca konnte er übrigens nicht mehr entdecken.

Aus Rücksicht auf Per versuchte die Hofjägermeisterin mehrmals das Thema zu wechseln. Sie fing an, von Kopenhagen zu sprechen. Aber Per war nicht sehr unterhaltend, und jedesmal führte die Frau Pastor die Unterhaltung sehr bald – und wie es schien, demonstrativ – zu häuslichen Themen zurück. Sie war eine große schlanke Frau mit einem Anstrich von Vornehmheit. Es war unschwer zu sehen, daß die Tochter ihre äußeren Vorzüge von ihr geerbt hatte. Per gegenüber verhielt sie sich im Gegensatz zu ihrem Gatten sehr zurückhaltend. Ohne direkt unhöflich zu sein, hatte sie noch nicht ein einziges Mal das Wort an ihn gerichtet, und um das wiedergutzumachen, war die Hofjägermeisterin ständig bemüht, ihn in die Unterhaltung einzubeziehen.

Doch jetzt erhob man sich auf Wunsch der Wirtin, um sich ein wenig in dem großen und schön gepflegten Garten umzuschauen.

Die drei Damen gingen in lebhafter Unterhaltung voran. Per folgte mit Fräulein Inger, und er fühlte sich nicht wohl, weil er nicht wußte, was er ihr sagen sollte. Sonst so beredt, konnte er hier diesem kleinen Dorfmädchen gegenüber nicht den rechten Ton finden.

Sie ihrerseits wirkte auf heimischem Grund ihn gegenüber viel freier als kürzlich auf Kærsholm. Sie schien mehr erwachsen, mehr Dame zu sein. Offenbar war sie sich als älteste Tochter des Hauses ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung bewußt und nahm sie mit Anstand wahr.

»Sie kommen viel nach Kærsholm«, sagte Per, um doch etwas vorzubringen.

»Nicht so oft, wie ich gern möchte. Aber der Weg dahin ist ja ziemlich lang, und einen Wagen kann ich nicht immer bekommen.«

»Sie mögen die Hofjägermeisterin sehr?«

»Ja«, antwortete sie, diesmal sehr kurz, als sei das Thema zu erhaben, um von ihnen berührt zu werden. – »Sie haben die Hofjägermeisterin und die Baronin ja in Italien kennengelernt«, fuhr sie ablenkend fort.

»Ja.«

»Es muß schön sein, so zu reisen«, meinte sie und erzählte, es sei schon lange die Rede davon gewesen, daß sie mit ihren Eltern eine Reise in die Schweiz machen sollte. Aber der Vater habe bisher nie Zeit gehabt. In der Gemeinde wolle man ihn nicht so lange entbehren. Es sei schon schwer genug für ihn, einmal acht Tage Urlaub zu nehmen, um nach Kopenhagen zu fahren.

Per bemerkte, daß sie sich gleichsam aufrichtete, wenn sie von ihrem Vater sprach. Darin lag etwas, das ihn an seine Schwester Signe erinnerte; und ohne sich klarzuwerden, warum, begann er zu lächeln.

Im selben Augenblick sah er einen rot angestrichenen eisernen Haken, der in Mannshöhe an einem Baumstamm am Weg angebracht war. »Soll man sich vielleicht daran aufhängen?« fragte er und blieb stehen, um ihn zu betrachten.

Fräulein Inger lächelte wider Willen. Sie machte ihn auf einen kleinen Eisenring aufmerksam, der an einem langen Bindfaden von einem anderen Baum auf der anderen Seite des Gartenwegs herabhing. Das Ganze war ein Unterhaltungsspiel. Die Kunst, so erklärte sie ihm, bestehe darin, den Ring so nach dem Haken zu werfen, daß er daran hängenblieb.

Per bekam Lust, es zu versuchen. Damit verging auf jeden Fall die Zeit, dachte er. – Er hatte kein Glück. »Dazu gehört Übung«, sagte er nach ein paar vergeblichen Versuchen und bat sie, ihm zu zeigen, wie man es macht. »Sie sind natürlich eine Meisterin darin!«

Inger zögerte, aber sie konnte der Versuchung, mit ihren Talenten zu glänzen, nicht widerstehen. Der Ring entfuhr ihrer Hand, beschrieb einen prachtvollen langen Bogen in der Luft und legte sich auf dem Rückweg über den Haken, mit der Innigkeit eines jungen Mädchens, das beim Pfänderspiel von den Armen ihres Liebsten aufgefangen wird.

Per war beeindruckt. Er mußte es noch einmal versuchen. Doch auch diesmal hatte er kein Glück. »Nein, es geht nicht! . . . Versuchen Sie es noch einmal, gnädiges Fräulein«, sagte er und gab ihr den Ring.

Inger ließ sich überreden, obwohl sie schon mehrmals zu den anderen Damen hinübergeblickt hatte, die eine gute Strecke vorausgegangen waren. Und – war es nun die Unruhe hierüber, oder hatte es einen anderen Grund – ihre Sicherheit ließ sie diesmal im Stich. Der nächste Wurf mißlang ihr. Sie bekam einen roten Kopf, zielte noch sorgfältiger und warf wieder. Doch wieder verfehlte sie ihr Ziel.

Per sah ihr an, daß ihr das Mißgeschick naheging, und wagte nicht zu triumphieren.

Obwohl Inger diese Rücksichtnahme einerseits als neuerliche Demütigung empfand, eroberte er andererseits dadurch doch ein Stückchen von ihrem Herzen. Als sie in ihrer Aufregung einen Fehlwurf nach dem anderen tat, lachte sie zuletzt darüber, nannte sich tolpatschig und wurde immer eifriger.

Mitten in diese Szene hinein kehrten die Frauen zurück. Weder Per noch Inger bemerkten es, denn sie blieben hinter ihnen stehen.

»Inger«, sagte die Pastorsfrau ziemlich scharf. »Geh jetzt bitte und kümmere dich ein bißchen um deine Geschwister, mein Kind!« Zu den anderen gewandt, fügte sie hinzu: »Jetzt gehen wir vielleicht ein wenig ins Haus!«

An der Gartentür trat Pastor Blomberg, mit seiner Pfeife hantierend, den Gästen entgegen. »Na, eben wollte ich Ausschau halten nach Ihnen, lieber Ingenieur! Sicherlich haben Sie Appetit auf eine Pfeife Tabak! Kommen Sie, gehen wir in mein Zimmer hinüber. Da belästigen wir die Damen nicht mit unseren verständigen Reden«, sagte er übermütig und drehte sich mit fröhlichem Lachen herum.

Um in das Zimmer des Pastors zu gelangen, mußte man durch die ganze große Wohnung gehen. Und auf diesem langen Weg gewann Per einen deutlichen Eindruck von der soliden Gemütlichkeit, die in dem Hause Pastor Blombergs herrschte. Es war ein richtiges dänisches Pfarrhaus, ein Sinnbild der Unwandelbarkeit. Große, unverrückbare Mahagonimöbel standen an den Wänden, dunkel, schwer und massig – sie schienen für die Ewigkeit gezimmert. Frau Blomberg entstammte einer alten Beamtenfamilie, die in guten Verhältnissen gelebt hatte. Einer aus der Familie war sogar Landrat und Kammerherr gewesen, was im Haus keineswegs verschwiegen wurde. Die Familie des Pastors erwähnte man hingegen nicht so oft, und am wenigsten tat er es selbst. Die meisten wußten lediglich, daß er der Sohn eines Lehrers aus einer kleinen Stadt war, und seine Aussprache verriet, daß er von einer der Inseln stammte.

Das Zimmer des Pastors lag ganz für sich am anderen Ende der Diele und war eine echte Pfarrhausstudierstube, mit mehreren großen Regalen voller Bücher, die so sehr dazu beitragen, das Ansehen der Kirche unter den Laien aufrechtzuerhalten, obwohl sie so häufig nur der Deckmantel für Unwissenheit sind.

Hier war es jedoch anders. Pastor Blomberg war zwar weit entfernt, ein gelehrter Mann zu sein, aber er las viel und war empfänglicher für Belehrung durch Bücher, als er es sich mitunter selbst eingestehen wollte. Er hatte den Ehrgeiz, überall mit dabeizusein, wo es in dieser Zeit etwas Neues gab. Andrerseits eignete er sich von diesem Neuen nur das an, was seinem Geist Nahrung geben konnte, ohne sich störend auf seinen Christenglauben auszuwirken. Er war in diesem Punkt eine Art Jesuit. Im übrigen lag ihm das folgerichtige Denken nicht. Er war ein Gefühlsmensch, und weil sich zudem sein äußeres Leben stets ungewöhnlich harmonisch gestaltet hatte, war für ihn kein Grund zu strengerer Selbstprüfung vorhanden gewesen. In seiner Jugend hatten ihn Nahrungssorgen mitunter geplagt; später hatte er ein paarmal bei Amtsbesetzungen Enttäuschungen erlitten. Und obwohl seine Gemeinde ihn sehr verehrte und er einen Namen hatte, der überall im Land bekannt war, besaß er noch eine ganze Portion unbefriedigten Ehrgeiz. Vor ernsterem Unglück hatte ihn das Leben bewahrt; und was ihn an Mißgeschick außerhalb der eigenen Familie getroffen hatte, war merkwürdig leicht an der glücklichen Rundlichkeit seiner Natur abgeglitten.

Als Per im Sofa Platz gefunden und sich eine Zigarre angesteckt hatte, setzte sich Pastor Blomberg mit seiner Pfeife auf einen Lehnstuhl in der Fensterecke und wurde sogleich mitteilsam. Er gab ein paar unterhaltende Geschichten aus der Nachbarschaft zum besten, und wie bei ihrem ersten Gespräch fühlte sich Per nicht wenig geschmeichelt durch die Einfachheit, mit der der Pfarrer zu ihm sprach wie zu einem Gleichaltrigen.

Das wäre indessen weit weniger der Fall gewesen, hätte er gewußt, daß das Ganze ein abgekartetes Spiel zwischen dem Seelsorger und der Hofjägermeisterin war, denn sie hatte ihm Per in ihrem missionarischen Eifer als einen Menschen anempfohlen, der »offensichtlich nicht unempfänglich ist für religiöse Beeinflussung«. Es dauerte auch nicht lange, da nahm der Pastor die Unterhaltung von neulich genau an der Stelle wieder auf, wo er sie das letztemal wegen mangelhafter Vorbereitung hatte abbrechen müssen.

Jetzt war er besser gerüstet und begann damit, Per zu fragen, wie es eigentlich zugegangen sei, daß er sich in so jungen Jahren auf Ziele von so bürgerlich vernünftiger Art gestürzt habe, wie es doch die Verbesserung der ökonomischen Bedingungen des Landes sei. Und Per berichtete ganz freimütig, er glaube sein Interesse hierfür auf Kindheitseindrücke aus der Zeit nach dem Krieg zurückführen zu können, besonders auf Eindrücke aus seinem Elternhaus. Im übrigen aber habe ihn sein Studium sehr früh mit der Entwicklung im Ausland auf dem Gebiet der Industrie und der Verkehrsmittel vertraut gemacht, und da habe sich ja ein Vergleich geradezu angeboten.

»Ja – gewiß«, sagte der Pastor. »Diese Vergleiche zwischen unserer engen Heimat und der großen Welt mit ihren vielen Herrlichkeiten – die empfindet man in der Jugend ja oft als besonders bedrückend. Ich kann mir übrigens denken, daß die Schriften Nathans auch auf Sie in dieser Hinsicht Einfluß gehabt haben, wie bei so vielen jungen vorwärtsstrebenden Leuten von heute. Habe ich nicht recht?«

Per erhob Einwände. Nathan sei schlecht und recht Ästhetiker. Er stehe am Ende einer Kulturperiode und sei allenfalls nur in dem Sinn Mitbegründer einer neuen Zeit, als er den Boden dafür urbar gemacht habe. In Wirklichkeit verstehe er sie sicherlich gar nicht.

»Ach so – hm!« Der Pastor paffte mächtig aus seiner Pfeife und schwieg einen Augenblick. Daß man Nathans Standpunkt als überwunden betrachten konnte, war so überraschend für ihn, daß es ihn verwirrte. Und obschon er im Grunde Lust hatte, auf die Angelegenheit näher einzugehen, unterließ er es, aus Angst, wieder in etwas hineinzugeraten, was er nicht übersehen konnte. »Jaja, aber Sie meinen doch wohl auch, daß der Einfluß Nathans auf die geistige Entwicklung der heutigen Jugend bedeutend gewesen ist«, fuhr er fort in Übereinstimmung mit seinem im voraus für die Unterhaltung festgelegten Plan. »Ich meinerseits denke da natürlich zuerst an das Verhältnis zur Religion. Ich glaube beispielsweise zu wissen, daß Sie selbst – obwohl ein Pfarrerssohn – von der Kirche Abstand genommen haben. Und mir scheint, man muß dem Wirken Nathans einen Anteil daran zuschreiben.«

Per räumte ein, daß dies so sei, hielt jedoch daran fest, daß die Schriften Nathans lediglich die Lebensauffassung bestätigt hatten, zu der er schon während seines Heranwachsens im Elternhaus gelangt sei.

»Sieh mal an! So früh haben Sie sich schon der Gemeinde Gottes entfremdet!« Der Geistliche schüttelte wohlmeinend den Kopf. »Jaja! So geht das ja leider! – Wie ich Ihnen schon das letztemal sagte, habe ich Ihren verstorbenen Herrn Vater nicht persönlich gekannt; aber ich weiß ja, daß er die etwas enge und wunderlich einseitige Auffassung der Altlutheraner über viele Seiten des menschlichen Lebens besaß. Ach ja – diese mißverstandene Rechtgläubigkeit! Sie lastet ja an so vielen Stellen noch wie ein Alpdruck auf Kirche und Elternhaus und macht viele der besten und rührigsten jungen Leute geistig heimatlos. Und tritt dann so ein talentierter und redegewaltiger Mann wie Nathan auf und bestärkt sie in dem Glauben, die Kirche Gottes sei ein verfallenes Haus – ja, so endet das mit der völligen Verleugnung Gottes. Ich verstehe das so gut!«

Per entgegnete nichts. Ihm war nicht recht wohl bei der Richtung, die das Gespräch genommen hatte. Doch der Pastor fing nun an, voll Anerkennung von Nathan zu reden. Er beklagte nur, daß ein hochbegabter und kenntnisreicher Mann ein so entschieden feindliches Verhältnis zum Christentum habe, und meinte, die Ausschreitungen der Orthodoxie hier in der Heimat und im Ausland hätten zweifellos ihren Anteil daran.

»Aber natürlich ist er selbst nicht ganz unschuldig an dieser Fehlauffassung über die gewaltigste Geistesmacht, die die Welt je kannte. Ihm geht es wie all den anderen, die das Christentum vom Standpunkt der Wissenschaft aus bekämpfen. – Selbst konnten sie sich nie von ihrer Einseitigkeit frei machen, sind aber in ihrer negativen Haltung dogmatisch geworden. Ihr Fehler besteht nicht so sehr darin, daß sie die Vernunft walten lassen, sondern in der Tatsache, daß sie ihre Gedanken nicht ganz zu Ende denken. Wenn sich die heutige Wissenschaft beispielsweise naturalistisch nennt und damit glaubt, nur die Existenz dessen anzuerkennen, was sich in Atome mit gewissen mechanischen oder chemischen Eigenschaften auflösen läßt, so ist das doch wahrhaftig eine ziemlich unvollkommene Auffassung, ein richtiges Studierstuben- und Laboratoriumspostulat, das zu guter Letzt gar nichts erklärt. Wir, die wir wirklich mit der Natur leben, können eine so armselige Betrachtungsweise unmöglich anerkennen. Denn wir wissen es ja und haben es unzählige Male gefühlt, daß die Natur beseelt ist, daß hinter den sichtbaren Dingen und mechanisch wirkenden Kräften, die unsere Sinne beeinflussen, ein Geist lebt, der zu unserem Herzen spricht. Und ist unser Ohr erst so recht erschlossen für diese Stimme des Geistes, dann hören wir schließlich nur sie, vernehmen sie aus dem Brausen des Sturmes ebenso wie aus dem leisesten Rauschen des Grashalms. Und wir hören sie nicht nur, sondern verstehen auch ihre Sprache. Denn es ist ja derselbe Geist der Unendlichkeit, der in unserem Innern lebt und wirkt. Wenn wir einen Waldspaziergang machen und lauschen, wie das Laub über unserem Kopf raschelt oder wie in der Einsamkeit ein Bächlein rieselt – ja, da kann uns meinetwegen der moderne Physiker erklären, wie diese Laute auf natürliche Weise durch Bewegung der Blätter oder Fall der Wassertropfen entstehen. Wenn er jedoch meint, uns damit alles erklärt zu haben, dann sagen wir: Nein, halt, mein guter Mann! Hier fehlt was! Hier fehlt sogar das Wesentlichste! Mit all deinen Berechnungen kannst du uns doch keinesfalls diese seltsame Vertraulichkeit, diese fast schwesterliche Innigkeit erklären, mit der so ein Bächlein in unserer Einsamkeit mit uns plaudern kann. Denn – nicht wahr? – es liegt ja wahrhaftig nichts Abschreckendes für uns darin, daß die scheinbar toten Dinge auf solche Weise eine Sprache erhalten. Und wir sind ja auch nicht beleidigt, wenn so ein kleiner Bach plötzlich familiär wird und ›du‹ zu uns sagt. Im Gegenteil, da steckt was sehr Vertrauliches und Heimatliches in solch starkem Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der Natur. Was kann all das schon weiter aussagen, als daß hinter der Vielfalt der sichtbaren Welt eine Einheit lebt, die der Ursprung aller Dinge ist. Das wunderbare Träumen, das sich in solchen Augenblicken in uns regt, ist Heimweh. Und wenn jetzt der gelehrte Physiker dieses Gefühl des Träumens als eine in uns wohnende mechanisch oder chemisch wirkende Kraft, als eine Abhängigkeit oder eine Beziehung zum Urstoff definiert, ja, dann kann ich ihm bloß empfehlen, seinen Büchern und dem Laboratorium den Rücken zu kehren und seine Weisheit aus der lebendigen Natur zu schöpfen. Soll er doch einmal zu diesem Waldbächlein gehen! Soll er sich einmal zur Abendstunde da hinsetzen, wenn sein Herz unruhig ist. Und wenn seine Seele noch nicht ganz vertrocknet ist, dann wird er hören, daß dieses murmelnde Quellwasser sozusagen ein offener Weg in die Tiefe der Unendlichkeit ist, eine Himmelsleiter, die die Zeit mit der Ewigkeit, den Staub mit dem Geist, den Tod mit dem ewigen Leben verbindet. Er wird spüren, daß die Nabelschnur zwischen uns und unserem überirdischen Ursprung noch nicht durchtrennt ist, sondern daß der Seele durch sie in den Augenblicken des Gebets und der Andacht stets neue lebendige Kraft vom ewigen Lebensquell zugeführt wird, den wir Christen unseren Gott, Erhalter und allerbarmenden Vater nennen.«

Per hatte die ganze Zeit über geschwiegen. Der Ton des Pastors, der mittlerweile ziemlich dozierend geworden war, reizte ihn. Aber er wußte nichts gegen seine Betrachtungen einzuwenden, die zudem an verschiedenen Stellen das ganz klar ausdrückten, was er in letzter Zeit während seines erneuten Lebens in der Natur selbst dunkel gefühlt hatte.

Der Pfarrer wollte fortfahren, aber im selben Augenblick vernahm man draußen auf dem Gang Schritte. Inger steckte den Kopf zur Tür herein und teilte mit, daß die Hofjägermeisterin und die Baronin zu fahren wünschten.

»Na ja, dann müssen wir für heute Schluß machen«, sagte der Pastor und stand auf. Er legte vertraulich seine Hand auf Pers Schulter und fügte hinzu: »Ist mir wahrhaftig eine Freude gewesen, mit Ihnen zu reden. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, unsere Debatte ein andermal fortzusetzen. Ich habe das Gefühl, im Grunde sind wir gar nicht so verschieden voneinander, daß wir nicht zu gegenseitigem Verständnis kommen könnten.«

Als sie jedoch das Wohnzimmer betraten, in dem sich die Damen aufhielten, rollte eine Kalesche in den Hof.

»Das sind Justizrats«, rief Inger, die am Fenster stand. »Gerda und Lise sind auch dabei.«

Justizrat Clausen, der Verwalter einer Grafschaft in der Nachbarschaft, gehörte zu den eifrigsten Blombergianern der Gegend. Er verkehrte als solcher auch vertraulich mit der Hofjägermeisterin, und als sich jetzt herausstellte, daß die Justizratsfamilie die Absicht hatte, den Abend im Pfarrhaus zu verbringen, ließen sie und die Schwester sich überreden, ebenfalls zu bleiben. Man fragte Per, und er wagte nicht, Einspruch zu erheben, obwohl er am liebsten nach Hause gefahren wäre.

Der Justizrat war ein schmächtiger kleiner Mann mit weißem Backenbart und goldener Brille. Seine Frau dagegen war ein Fleischberg; noch lange nachdem sie vom Wagen heruntergestiegen war, stöhnte sie laut vor Anstrengung. Die Töchter waren in Ingers Alter.

Beim Abendessen, das im Garten aufgetragen wurde, entwickelte sich eine lebhafte Unterhaltung. Bald kam die Rede auf Pastor Fjaltring. Der Justizrat hatte soeben eine neue empörende Geschichte über diesen geistlichen Zweifler und Spötter gehört, der ein furchtbar liederliches Leben in Gemeinschaft mit einer verkommenen Frau führte. Einer der achtbarsten jüngeren Bauern aus der Gegend, der zur Blombergschen Richtung gehörte, hätte sich kürzlich wegen eines Amtsgeschäfts an ihn gewandt, und da habe ihm Pastor Fjaltring im Lauf der Unterhaltung empfohlen, sich vielmehr den Ausschweifungen hinzugeben. »Sie müssen ein bißchen mehr sündigen«, habe er gesagt. »Bei dem Leben, das Sie führen, können Sie nie ein überzeugter Christ werden.«

Die Damen ergingen sich in Ausrufen des Ärgers und Abscheus, aber Pastor Blomberg schüttelte nachsichtig den Kopf und sagte: »Er ist ein armer, unglücklicher Mensch!«

Im selben Augenblick begannen die Glocken oben im weißen Kirchturm zu läuten, der rot im Abendschein hinter den Baumkronen des Gartens aufragte. Der gellende Ton erschreckte die Gäste beinahe, die nicht daran gewöhnt waren, ihn so aus der Nähe zu hören. Pastor Blomberg, der augenscheinlich gern das Thema Fjaltring abschließen wollte, begann zu lachen und sagte, dieser Spektakel mit den Glocken sei im Grunde unverantwortlich. Die Gesundheitskommission müßte ihn einfach verbieten.

Die Hofjägermeisterin wandte ein, daß die Abendglocken doch aus der Ferne so schön klängen und zur Erbauung dienten, als Ermahnung, den Sinn zu sammeln nach der Unruhe des Tages. Pastor Blomberg hielt jedoch nicht viel vom Widersprechen, am allerwenigsten, wenn seine eigenen Anhänger sich dessen befleißigten. Obwohl er die Äußerung nur so hingeworfen hatte, ohne sich etwas dabei zu denken, denn er wollte ja nur einen jener derben Späße machen, mit denen er auf Lutherart gern seine Rede würzte, fing er jetzt allen Ernstes an, die Frage zu erörtern.

Um derlei Ermahnungen an die Uhrzeit kümmere er sich nicht, sagte er. Er wolle es sich doch sehr verbitten, so auf Kommando zur Andacht gerufen zu werden. Da liege etwas Katholisches darin, das ihm zuwider sei. Gott habe keine Konsultationszeit wie ein Arzt oder ein Rechtsanwalt. Und was das Sinnbildliche betreffe, so sei es ein ziemlich kindisches Unterfangen, beispielsweise die Sonne als goldene Taschenuhr des lieben Gotts zu betrachten. In Wirklichkeit sei das fast lasterhaft.

Seine Rede entwickelte sich nach und nach zu einem ganzen Vortrag, während dessen die Frage zu einer Sache von ernstester Bedeutung für ein gesundes, aufrichtiges Gottesverhältnis aufgebläht wurde.

Inzwischen war man mit dem Essen fertig geworden. Die jungen Mädchen waren aufgestanden und spazierten im Garten umher. Die Fräulein Clausen waren zwei hübsche, frische Brünetten. Besonders die ältere war eine üppige Evastochter mit vor Lebenslust glänzenden Augen.

Als abgedeckt wurde, machte Pastor Blomberg den Vorschlag, ein Abendlied zu singen. Man rief die jungen Mädchen zurück, und die Pastorsfrau ging in den Wintergarten, wo das Klavier stand.

»Es träumt das Land in tiefer Ruh,
Die Welt schläft ohne Laut.«

Die Dämmerung senkte sich auf den Garten herab. Eine Drossel in einer Haselnußhecke mischte ihre Naturtöne in den etwas unregelmäßigen Gesang der Gesellschaft.

»Der Mond, der lacht der Wolke zu,
Ein Stern zum andern schaut.«

Die Mädchen hatten sich auf die Treppe vor der Gartentür gesetzt. Da saßen sie in ihren weißen Kleidern und sangen laut und froh mit klaren Stimmen; der Pastor und der Justizrat begleiteten mit ihrem Baß. Der letztere hatte die Arme vor der Brust verschränkt und brummte mit zusammengezogenen Brauen, wobei er einen Mund wie eine Flunder machte. Die drei fremden Damen am Tisch summten etwas ungeschickt, während die Frau Pastor, die eine schöne gutgeschulte Stimme besaß, allmählich den Gesang ganz beherrschte:

»So blank und ruhig liegt das Meer,
Den Himmel es umschlingt . . .«

Per sang als einziger nicht mit. Und doch gab es niemanden, den das Lied tiefer ergriff. Er erinnerte sich, unter welchen Umständen er es zum letztenmal gehört hatte. Damals hatte er vor der Hecke eines Gartens gestanden und sich hineingesehnt. Nun saß er hier drinnen, fühlte sich aber überflüssig und als ungebetener Gast. Das war nun einmal sein Schicksal. Er war und blieb ein ruheloser Fremdling dort, wo der Geist seines Elternhauses herrschte.

Als das Lied zu Ende war, faltete der Pastor die Hände und betete das Vaterunser. Dann sang man noch ein paar Lieder, wonach die Wagen vorfuhren.

Sobald die Gäste weg waren, setzte sich der Pastor mit seiner Abendpfeife zu seiner Frau in das Gartenzimmer und redete über den Besuch. Auch Inger war zugegen. Sie hatte schon gute Nacht gesagt. Als sie aber auf dem Weg zur Tür den Vater Pers Namen nennen hörte, machte sie sich noch am Notenschrank zu schaffen.

Pastor Blomberg sprach sich anerkennend über Per und dessen Fähigkeiten aus. Auch Pers Äußeres lobte er sehr. Da aber wurde die Pfarrersfrau plötzlich unruhig, da die Tochter immer noch anwesend war.

»Was machst du da eigentlich, mein Kind? . . . Nun sieh zu, daß du ins Bett kommst!«

Während der ganzen Rückfahrt verhielt sich Per sehr still, und die Hofjägermeisterin, die den Grund für seine Verschlossenheit ahnte, störte ihn nicht, sondern beredete mit ihrer Schwester häusliche Dinge.

Als das Fuhrwerk ein Stück aus dem Dorf Borup herausgekommen war, ging am Wegesrand ein großer Mann an ihnen vorbei. Per sah ihn nicht, aber die Hofjägermeisterin packte ihre Schwester am Arm und flüsterte: »Das war ja Pastor Fjaltring!«

Per beugte sich aus dem Wagen und bemerkte eine hohe schlanke Gestalt, noch bevor die Dunkelheit ihre Umrisse verwischte. »War das der verrückte Pastor?« fragte er.

»Ja – jetzt ist seine Zeit. Man sagt, manchmal geht er hier ganze Nächte lang auf der Straße hin und her.«

Per versank wieder in Schweigen. In Gedanken folgte er dem einsamen, ruhelosen Nachtwanderer, und ein kalter Schauer durchfuhr ihn. Der biblische Fluch »Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden« klang ihm wieder unheimlich in den Ohren mit der festen Stimme des Vaters. Ihm war, als habe er hier ein Bild seines eigenen zukünftigen Schicksals gesehen.

 

Am nächsten Morgen machte Per wirklich Ernst und wandte sich der kleinen Erbauungsbibliothek zu, mit der die Hofjägermeisterin sein Zimmer ausgestattet hatte. Er nahm eine von Pastor Blombergs Predigtsammlungen, »Der Weg zu Gott«. Obwohl es draußen sehr windig war, blieb er doch nicht im Zimmer, sondern ging mit dem Buch dem Wald zu. Hier legte er sich auf seinen Lieblingsplatz dicht hinter der Umfriedung, so daß er den schützenden Wald im Rücken hatte, während sich vor ihm eine freie Aussicht über den Fluß und die Wiese bot bis an die mit Bäumen bedeckten Höhen auf der anderen Seite.

Das war die Umgebung, die genau zu seiner Lektüre paßte. In der Verkündigung Pastor Blombergs lag ein gut Teil, das an solche dänische Wiesenlandschaft bei kühlem Sommerwetter erinnerte: klare Luft, blauer Himmel, sonnenhelle Wolken, viel Vogelgezwitscher, hier und da Kälberblöken, überall üppiges Grün, sanfte Linien, ein weiter Ausblick – und ein einförmiger, flacher Horizont. Pastor Blomberg verwendete als Prediger virtuos eine poetische und volkstümliche Sprache. Damit gehörte er ganz der Richtung an, die aus dem grundtvigianischen Psalmengesang entstanden war und nie ihren dichterischen Ursprung verloren hatte.

Per fesselte jedoch nicht so sehr die Art der Darstellung. Für den Zauber der bildhaften Sprache hatte ihn seine naturwissenschaftliche und mathematische Ausbildung so ziemlich unempfänglich gemacht. Stets suchte er den Beweis hinter den vielen schönen Worten. Er suchte den Gedanken, um zur Klarheit über das große Mysterium des Lebens zu kommen, das für ihn bis zur Verzweiflung dunkel geworden war.

Bereits seine zwei Unterredungen mit Pastor Blomberg hatten ihm einen Begriff vom Christentum dieses Mannes gegeben, das so ganz anders war als das, worin man ihn erzogen hatte. Jetzt erst wurde ihm richtig klar, wie weit man sich selbst in kirchlichen Kreisen von der düsteren Gläubigkeit der alten Zeit mit ihrer Verdammung des Fleisches, Kreuzigung des Verstands, der ganzen mittelalterlichen Seelentortur entfernt hatte, die man zu versüßen suchte mit nebulösen Hinweisen auf die Herrlichkeiten des Paradieses. Hier dagegen war nichts, was erschreckte oder das Gefühl verletzte, was in Wolken der Spekulation verschwand oder in nebelhaften Ahnungen zerging. Hier waren vor allem keine Widersprüche zu überwinden. Das Mysterium des Lebens entfaltete sich hier in einfacher Klarheit. Alles erschien so natürlich, fast selbstverständlich, und außerdem den Bedürfnissen der Menschen auf wunderbare Weise angepaßt. Der Teufel wurde als Ausgeburt einer verschüchterten Mönchsphantasie mit gutem Humor in die Rumpelkammer gebracht, und vom Glauben an die ewige Verdammnis hieß es ganz offen, er sei barbarisch und stehe im Widerspruch zur christlichen Vorstellung von Gott als dem alliebenden Vater. Über das Jenseits wurde insgesamt sowenig wie möglich gesprochen. Nach dieser Anschauung bestand die Hauptsache darin, fromm und fröhlich seinen vorgeschriebenen Lebensweg zu Ende zu gehen, in kindlicher Zuversicht auf die Liebe des himmlischen Vaters.

In alldem lag tatsächlich eine Art frohe Botschaft für Per. Er erkannte die Wahrheit dessen, was die Hofjägermeisterin stets von Pastor Blombergs Verkündigung gesagt hatte: Sie wirke so wunderbar beruhigend. Die schwere Bürde, die seit dem gestrigen Abend sein Gemüt belastete und ihn bis in seine Träume verfolgt hatte, wurde in diesen Stunden von ihm genommen.

Endlich schloß er das Buch und lag noch eine Weile da, die Hand unter dem Kopf, und starrte auf die Wiesen. Ihm war zumute wie jemandem, der sich beim Gedanken an eine bevorstehende lange, qualvolle Nachtreise über ein stürmisches Meer in ein unbekanntes Land geängstigt hat und der nun am Morgen erwacht und sieht, daß die Fahrt überstanden, der Sturm durchkämpft ist und daß ihn das fremde Land heimatlich grüßt mit Sonnenschein und grünen Wäldern. Er gestand sich: Wenn er in jüngster Zeit wieder gegen eine geistige Krise angekämpft hatte, dann war dies nicht nur aus Angst vor Gewissensqualen geschehen, sondern auch aus unbestimmter Furcht vor dem neuen, unerprobten Leben, in das ihn solche innere Veränderung führte. Nun war er aber beruhigt. Denn was hier verlangt wurde, war ja im wesentlichen nur dieselbe strenge, aufrichtige Selbstdisziplin, die er seit längerem aus eigenem Antrieb übte.

Beim Frühstück erzählte ihm die Hofjägermeisterin von einem Volksfest, das am Nachmittag in einem nahe gelegenen Wald stattfinden sollte und wo unter anderen auch Pastor Blomberg sprechen würde. Sie habe, sagte sie, mit den Familien des Pastors und des Justizrats verabredet, daß sie sich dort alle treffen wollten. Auch die Baronin käme sicherlich mit. Ob er nicht Lust habe, ebenfalls dabeizusein?

Per erwiderte – und es stimmte –, er würde Pastor Blomberg recht gern einmal reden hören. Daß auch die Aussicht, mit den jungen Mädchen zusammenzukommen, etwas Verlockendes für ihn hatte, davon sprach er nicht, und das wurde ihm selbst auch erst in diesem Augenblick klar. Seit gestern abend hatte er überhaupt nicht an sie gedacht. Und selbst da hatten sie ihn bewußt in keiner Weise beschäftigt. Und doch war es der Fall. So wie seine Augen die ganze Zeit über den drei hellgekleideten Mädchen gefolgt waren, als sie nach dem Abendessen Arm in Arm um den Grasplatz gingen, so war er, obwohl mit sich selbst beschäftigt, in einem verborgenen Winkel seines Herzens doch stetig für Eindrücke von ihnen empfänglich gewesen. Und auch jetzt sah er die drei wieder recht deutlich vor sich.

Gegen vier Uhr hielt der Landauer vor der Tür, und nach einigem Warten – die Baronin wurde wieder einmal nicht fertig – fuhr man los. Der Hofjägermeister hatte sich im letzten Augenblick entschlossen mitzufahren. Während der Fahrt mühte er sich redlich ab, seine gesellschaftlichen Sünden der letzten Tage in Vergessenheit zu bringen.

Nach einer Stunde Fahrt kam man auf dem Festplatz an; es war eine kleine Wiese in einem tiefen Waldkessel, der Schutz gegen den Wind bot. Einige hundert Landbewohner – Männer und Frauen – standen vor einer mit Fahnen geschmückten Rednertribüne. Und man hatte schon zu singen begonnen. Die Ankunft der vornehmen Herrschaften erregte gewisses Aufsehen in der Menge, aber von Respekt war nichts zu spüren – ja die langbeinige Gestalt des Hofjägermeisters in der junkerlichen Jacke mit der Auerhahnfeder auf dem Hut rief sogar hier und da Heiterkeit hervor, als er seine Damen nach den Sitzplätzen unmittelbar vor der Rednertribüne führte, die für die Standespersonen der Gegend frei gehalten wurden.

Per hielt sich im Hintergrund. Der Anblick dieser großen Volksansammlung hatte ihn verblüfft, und er wollte nicht in das Gewühl kommen. Er sah, wie vorn der Herr Justizrat aufstand und Hofjägermeisters begrüßte. Er entdeckte auch Pastor Blombergs braunen Samthut und den hocherhobenen Kopf seiner Gattin in der vordersten Bankreihe. Fräulein Inger und ihre Freundinnen suchte er dagegen die ganze Zeit über vergeblich. Da sah er, wie sich die Hofjägermeisterin zur Seite wandte und zum Waldhang hinauf grüßte. Und hier erblickte er nun die drei sommerlich gekleideten Mädchen, die sich da oben wie auf einer Empore plaziert hatten.

Nun schwiegen die Sänger, und Pastor Blomberg trat an das Rednerpult.

Er redete über die Muttersprache. Es sei die Sprache des Herzens, im Gegensatz zu allen anderen fremden Sprachen, die höchstens Ausdrucksmittel für den Verstand werden könnten. Die Muttersprache, sagte er, sei wie die Mutterbrust, aus der man den Geist der Nation saugen könne. Unsere Sprache enthalte wie in einer Schale das geistige Eigentum des Volkes. Unsere Vorfahren sprächen durch sie in Hunderten von Gliedern vertraulich zu uns und hätten uns durch sie zu ihrem Bilde geschaffen. Deshalb müßte man sie ehren und heilighalten. So wie wir die Brunnen umfrieden, aus denen wir trinken wollen, damit sie nicht verunreinigt werden, müsse in noch höherem Maße die geistige Nahrungsquelle – das Wort – bewahrt werden. Betrachte man jedoch die Alltagssprache der Leute, so finde man leider viel Unreines, ja viel Verdorbenes darin, und in dieser Hinsicht seien die Landbewohner nicht viel besser als die Leute in den Städten. Sie könnten ja den Mund nicht öffnen, ohne daß zweideutige Worte und schmutzige Andeutungen daraus hervorkämen. Hier sei eine große Aufgabe zu erfüllen. Er wolle sich vor allem an die jungen Leute wenden, bei denen die Gewohnheit, unflätige Reden zu führen, noch nicht so fest verwurzelt sei. Überhaupt, es müsse eine Bewegung ins Leben gerufen werden, um den Sinn für Seelenhygiene zu entwickeln, die ja genauso wichtig sei wie die Körperpflege. Alle gutwilligen Kräfte im Volk müßten vereint werden, um die junge Generation gegen die Verunreinigungen durch das Wort zu schützen, denen sie jetzt täglich ausgesetzt sei.

Per hörte zuerst interessiert zu; doch allmählich, als der Redner immer mehr zu moralisieren begann, ließ seine Aufmerksamkeit nach. Die Anwesenheit der jungen Mädchen trug ihr Teil dazu bei wie auch der Umstand, daß alles so neu für ihn war. Zum ersten Mal nahm er ja an solch einer Versammlung teil, und daher beschäftigten ihn die Zuhörer genausosehr wie der Redner. Er beobachtete diese dichten Reihen solider ländlicher Gestalten, diese gespannt lauschenden, offenen, aufgeweckten Gesichter. Und erst jetzt wurde ihm so recht klar, in welch eine geistige Bewegung er da hineingeführt worden war. Oft hatte er von den grundtvigianischen Aufklärungsbestrebungen gehört, von dem Ziel, eine volkstümliche Kultur zu schaffen, im Gegensatz zur Ausbildung der Wissenschaft, die auf die ganze Welt orientiert war. Da jedoch der Begriff des Bauern an und für sich in seinen Augen ganz unzeitgemäß war, hatte er sich allein deswegen nie die Mühe gemacht, mit dieser Volksbewegung näher bekannt zu werden, so verbreitet sie auch war. In den Kopenhagener Kreisen, in denen er umging, hatte man sie häufig mit nachsichtiger Geringschätzung behandelt.

Unwillkürlich verglich er jetzt diese dänischen Landleute mit den österreichischen und italienischen Bauern, die er auf seinen Reisen kennengelernt hatte. Und er kam zu dem Ergebnis, daß er sich keinesfalls seiner Landsleute zu schämen brauchte. Ihm fiel auf, wie groß der Unterschied zwischen diesem wachen, verständnisvollen Zuhörerkreis und der schläfrigen Herde Tiroler Bergbewohner war, die sonntags von den Priestern in Prozessionen wie blökende Schafherden durch Dresack getrieben wurden. Aber auch mit den früheren Bauern dieser Gegend verglichen, so wie er sich an sie aus seiner Kindheit erinnerte, wenn sie an Markttagen in der Stadt erschienen, wies der hiesige Kreis einen mächtigen Fortschritt auf. Hier hatte offensichtlich eine Entwicklung, eine Befreiung stattgefunden, die parallel zu derjenigen verlief, die ihn selbst vorangetrieben hatte. Und sie war ganz offenbar sehr glücklich verlaufen.

Nach Pastor Blombergs Vortrag sang man noch einige Lieder. Dann trat der Festleiter, ein jüngerer, blonder Bauer, lächelnd vor und teilte mit, jetzt folge eine halbstündige Vesperpause, und danach werde Volkshochschulleiter Broager sprechen.

Die Menge verstreute sich langsam über den Festplatz, und diejenigen, die während des Vortrags stehen mußten, setzten sich in das Gras.

Per ging zu Inger und ihren Freundinnen. Die jungen Mädchen waren gerade aufgestanden und wollten zu den anderen hinüberlaufen. Da schlug Per vor, man könne doch die Wartezeit nutzen und sich ein wenig im schönen Wald umschauen. Die Fräulein Clausen waren auch sofort bereit. Inger hingegen zögerte mit der Antwort. Unschlüssig lugte sie zum Platz vor der Rednertribüne hinunter, wo ihre Mutter eine lebhafte Unterhaltung mit der Hofjägermeisterin führte. Inger ähnelte auch in der Hinsicht ihrer Mutter und deren Provinzpatrizierfamilie: Sie war ängstlich darauf bedacht, die Formen zu wahren. Doch die älteste Clausen, die vollbusige Gerda, faßte sie energisch unter, hakte sich mit dem anderen Arm bei der Schwester ein und zog mit ihnen davon.

Dieses Fräulein Gerda hatte die ganze Zeit über große Mühe, ihre lebhaften braunen Augen von Per fernzuhalten. Ihr burschikoses Auftreten war ein Deckmantel für ihre weibliche Bewunderung. Die Schwester, die noch fast ein Kind war, ließ sich von ihrem Ton anstecken und hängte sich lachend an ihren Arm wie ein übermütiges Schulmädchen.

Per aber hatte nur Augen für Inger. Er fand die anderen bei näherer Bekanntschaft ziemlich gewöhnlich und mußte unwillkürlich daran denken, ob sich Inger nicht ein wenig peinlich berührt fühlte wegen ihrer Freundinnen. Jedenfalls schaute sie zu Boden und wurde immer einsilbiger, je alberner die anderen kicherten.

Schon am Abend zuvor war ihm aufgefallen, wie vornehm ihre Haltung im Vergleich zu den anderen war, wie selbstbewußt und stolz sie den Kopf trug, als wolle sie sich hinwegsetzen über alles Platte, Gewöhnliche und Schmutzige. Jetzt begriff er auch, daß es mehr diese frische Unberührtheit als bestimmte äußere Züge war, die ihr beim ersten Anblick Ähnlichkeit mit Fransisca verliehen hatte. Auch Fransisca war von dieser keuschen Frische gewesen, die an den Duft wilder Rosen erinnerte. Er entsann sich noch, wie selbst die leiseste Anspielung auf die Geheimnisse des Geschlechtslebens ihr das Blut in die Wangen trieb, während Jakobe – na ja, bei der war das anders gewesen. Und er konnte nicht leugnen, daß ihn ihr Mangel an Schamgefühl mitunter verletzt, daß er überhaupt etwas Geschmackloses in der unbeherrschten Leidenschaft gefunden hatte, mit der sie ihn geliebt hatte.

Sie waren aus dem Wald herausgekommen. Vor ihnen erhob sich ein mächtiger Kieshügel, ganz kahl, nur mit armseligem Gras und einzelnen dunklen Flecken von Heidekraut bedeckt. Das war der bekannte Rolhøj, der höchste Punkt der Gegend, von dem aus man ein Zwanzigstel von Jütland überblicken konnte.

Obgleich die beiden Clausen inzwischen eingesehen hatten, daß sie überflüssig waren, ließen sie sich nichts davon anmerken. Sie zeigten sich zumindest nicht beleidigt. Im Gegenteil, als echte Jütinnen rächten sie sich für die ihnen versagte Anerkennung durch immer gröber werdende Ausgelassenheit.

»Wer ist zuerst oben?« schrie Fräulein Gerda und rannte die Anhöhe hinauf, unmittelbar gefolgt von ihrer Schwester. Beim Laufen riß ihr der Wind den Hut vom Kopf. Und nun entstand eine wilde Jagd hinterher, am Abhang entlang.

Inger schien ihnen folgen zu wollen. Per aber erinnerte sich an die Warnung der Hofjägermeisterin ihr gegenüber, nicht schnell zu laufen.

Er riet ihr eindringlich ab und sagte: »Bedenken Sie, daß Sie erst kürzlich krank waren, gnädiges Fräulein! Ich weiß, daß Sie sich nicht überanstrengen dürfen.«

Durch diese Fürsorge für ihre Person eroberte Per erneut ein Stückchen von Ingers sonst so wohlbefestigtem Herzen. Noch war sie so weit eine Genesende, daß es ihr Genugtuung bereitete, schwächer gemacht zu werden, als sie war. Jetzt erklärte sie jedoch, indem sie den Kopf in den Nacken warf, sie wolle doch auf den Berg hinauf. Als Per vorschlug, sie solle sich wenigstens auf seinen Arm stützen, wollte sie nichts davon hören. Ihr fehle nicht das mindeste, meinte sie; es liege kein Grund zur Beunruhigung vor.

Beim Aufstieg blieb Per jedoch dicht vor ihr, um zufassen zu können, falls sie stolpern sollte. An einer besonders steilen Stelle nahm sie auch tatsächlich seine ausgestreckte Hand. Es geschah jedoch nicht ohne Zögern. Aber sie konnte nicht sehen, daß etwas Unpassendes darin liege, um so weniger, da er ja verlobt war. Und es war wirklich kein so unangenehmes Gefühl, fast schwebend den steilen Abhang hinaufgeführt zu werden.

Die ganze Zeit über hatte Per Lust, ihr zu erzählen, daß er den Vormittag mit der Lektüre eines der Bücher ihres Vaters verbracht hatte und welche Freude das für ihn war. Doch er fürchtete, sie würde es nur als höfliche Phrase auffassen, und unterließ es daher. Er sagte lediglich, bei seinem Besuch gestern im Pfarrhaus habe er viel Freude gehabt – was sie offenbar als völlig selbstverständlich betrachtete.

Ihr war warm geworden von den Anstrengungen, und sie blieb stehen, um Atem zu schöpfen. Sie hielt ihren Hut in der Hand, und das feine blonde gekräuselte Haar umgab ihren Kopf wie ein Glorienschein. In diesem Augenblick war sie wieder ganz Fransisca, fand er. Fransisca in verklärter Gestalt.

Die beiden Fräulein Clausen hatten unterdessen die Bergspitze längst erreicht. Da oben standen sie und hielten ihre Hüte fest. Aber der Sturm zerrte an ihren Röcken, als wolle er ihnen mit unsichtbaren Händen die Kleider vom Leib reißen.

Beim Anblick von Inger und Per, die sich nun wieder in Bewegung gesetzt hatten, rief die jüngere: »Sieh nur, wie die kriechen!«

»Es ist schade um Inger«, sagte Fräulein Gerda. »Wenn ihr jemand nur ein bißchen den Hof macht, wird sie gleich so affektiert.«

»Man muß schon sagen, er ist wirklich hübsch, der Bengel«, sagte die Jüngere.

»Hübsch? Ich finde ihn abscheulich!«

»Das meinst du ja gar nicht, Gerda. Gestern abend hast du selbst gesagt . . .«

»Ich? Bist du übergeschnappt, du Göre? Hast du dir seine Glotzaugen mal richtig angesehen? Wie 'n Paar Milcheimer!«

Inger und Per kamen nun endlich oben an, und man machte sich daran, die berühmte Aussicht zu genießen. Die Mädchen begannen die Kirchtürme zu zählen. Wenn die Luft ganz klar war, konnte man fünfunddreißig sehen. Die Fräulein Clausen kannten alle ihre Namen. Doch Per hatte nur Interesse für die, die Inger ihm zeigen konnte.

»Nein wirklich, ist das Tepperup? . . . Was sagen Sie? Ach, Ramlev!« rief er in einem Ton, als erweckten diese Namen liebe Erinnerungen in ihm – und die beiden Schwestern stießen sich heimlich mit den Ellenbogen an.

Man konnte sich übrigens nur mit Mühe verständigen, so tobte der Sturm in ihren Kleidern. Daher dauerte es auch nicht lange, bis sie sich entschlossen, wieder hinabzusteigen.

Als sich der Wald wieder über ihnen geschlossen hatte, blieben sie einen Augenblick stehen, um sich ein wenig zurechtzumachen. Der Wind hatte die Frisuren der jungen Mädchen arg zerzaust; besonders Inger war übel zugerichtet. Sie mußte beide Handschuhe ausziehen, um ihr Haar ein wenig in Ordnung zu bringen. Und weil sie gerade die Hutnadel im Mund hielt und die Freundinnen mit sich selbst beschäftigt waren, bat sie Per, ihr die Handschuhe solange zu halten. Sie hatte sich nicht das mindeste dabei gedacht. Aber die beiden Schwestern schauten sich sofort an und fanden auf dem Rückweg durch den Wald mehr als einmal Grund, sich mit den Ellenbogen zu stoßen.

Als man den Festplatz erreichte, hatte die Veranstaltung schon wieder angefangen. Auf der Rednertribüne stand ein langer, ernst dreinblickender Herr mit schwarzem Haar und Bart. Das war also Broager, der Leiter der in der Nachbarschaft gelegenen Volkshochschule und Pastor Blombergs Nebenbuhler um die Volksgunst in der Gegend, vor allem unter der Jugend.

Still nahmen die Mädchen wieder ihre Plätze unter den Bäumen ein, und Inger sah verstohlen zur Mutter hinüber, ihr waren plötzlich Bedenken gekommen wegen ihrer Abwesenheit, die sich ja auch etwas mehr in die Länge gezogen hatte. Zum Glück schien es, als habe die Mutter sie überhaupt nicht vermißt; sie saß vollkommen ruhig da und schien ganz und gar beschäftigt mit der Rede des Schulleiters.

Das war sie auf ihre Art auch wirklich. Frau Pastor wachte nämlich eifersüchtig über das Ansehen ihres Gatten als Redner. Obwohl es ihr niemals jemand ansehen konnte, wurde sie nervös, sobald ein anderer und besonders wenn der Schulleiter eine Rede hielt. Und dies war auch der Grund, weshalb sie trotz Pers Anwesenheit in der Zwischenzeit nicht an ihre Tochter gedacht hatte.

Ähnlich lagen die Dinge auch bei Pastor Blomberg selbst. Zwar gab er anderen Rednern gegenüber stets seinen Beifall am eifrigsten zu erkennen und lachte am lautesten über ihre Witze; aber ihm stieg das Blut verräterisch zu Kopf, wenn er merkte, daß ein anderer Erfolg hatte.

Nachdem man die Veranstaltung mit einigen weiteren Liedern beendet hatte und während man auf die Wagen wartete, die etwas abseits im Wald hielten, entfernte sich die Hofjägermeisterin mit Inger am Arm ein wenig von den anderen und sagte: »Vorhin seid ihr mit Sidenius zusammen gewesen, wie ich gesehen habe?«

»Ja, wir haben einen kleinen Spaziergang zum Rolhøj gemacht. Da war doch wohl nichts Ungehöriges dabei?« fragte Inger und schaute die Hofjägermeisterin etwas ängstlich an.

Die fing an zu lachen. »O nein, auf gar keinen Fall.«

»Besonders, weil er ja auch verlobt ist.«

»Gewiß.«

»Es ist übrigens merkwürdig, wie wenig man es ihm anmerkt – daß er verlobt ist, meine ich.«

»Na – damit ist es wohl nicht so weit her . . .«

Inger blieb stehen und sah sie ganz erschrocken an. »Was Sie nicht sagen!«

»Tja, Genaueres weiß ich allerdings nicht darüber; aber ich habe das so im Gefühl: Er ist nicht sehr froh über diese Verbindung. Sie ist ja eine Jüdin.«

Inger wurde ganz still. Das hätte sie wissen sollen! Plötzlich schämte sie sich sehr bei dem Gedanken, wie unbefangen sie sich ihm gegenüber benommen hatte.

Da rief man nach ihnen von den Wagen her, die nun vorgefahren waren. Pastor Blomberg und seine Frau saßen schon sorgsam verpackt in ihrer offenen Kalesche, und der Pastor war schon recht ungehalten, so daß man sich nur flüchtig verabschieden konnte.

Als Inger endlich richtig saß und ihre Handschuhe anziehen wollte, konnte sie sie nicht finden. Mit neuerlichem Schreck wurde ihr klar, daß sie vergessen hatte, sie von Per zurückzuverlangen, der sie wahrscheinlich in Gedanken eingesteckt hatte.

Noch war Zeit, sie zurückzubekommen. Der Wagen des Hofjägermeisters war noch nicht vorgefahren. Aber sie fühlte sich so schuldbeladen, daß sie nichts zu sagen wagte, um sich der Mutter gegenüber nicht zu verraten. In ihrer Ratlosigkeit getraute sie sich nicht einmal, sich umzudrehen, als sie abfuhren. Und während der Fahrt versteckte sie ihre Hände wohlweislich unter der Wagendecke. Als man ein Stückchen gefahren war, sagte Frau Blomberg zu ihrem Mann: »Ich meine, Broager hatte heute nicht gerade seinen besten Tag.«

»Nein, es war wirklich schade!« erwiderte der Geistliche. »Er war nicht aufgelegt – ganz und gar nicht aufgelegt«, wiederholte er nach einigen Minuten, obwohl man in der Zwischenzeit von ganz anderen Dingen geredet hatte.

Per sprach auf der Heimfahrt mit viel Wärme über alles, was er auf dem Ausflug erlebt hatte. Inger erwähnte er jedoch mit keinem Wort. Die Hofjägermeisterin bemerkte dies und dachte sich ihr Teil.

Die Sonne war untergegangen. Es wurde schon dunkel, ehe sie zu Hause ankamen.

Als sie mit dem hohl dröhnenden Widerhall, den Per schon so gut kannte, auf Kærsholm durch das Tor fuhren und er das Licht aus den Fenstern so gastfreundlich ihnen entgegenleuchten sah, ergriff ihn ein neuartiges, eigentümliches Gefühl. Zum ersten Mal in seinem Leben bekam er den Eindruck, eine Stätte gefunden zu haben, an die er sich heimatlich gebunden fühlte. Wie zur Bestätigung sprang im selben Augenblick der Hund des Verwalters heran, umtänzelte ihn und begann ihm in wilder Wiedersehensfreude die Hand zu lecken. Das arme Tier, dem man die Jungen weggenommen hatte, zeigte seither seine ganze Liebe Per. Bewegt beugte er sich hinunter und tätschelte ihm den Kopf.

Als er auf sein Zimmer kam, zuckte er zusammen beim Anblick eines Briefes, den man auf seinen Tisch gelegt hatte. Seine Augen bekamen einen scheuen Ausdruck – das muß ein Brief von Jakobe sein, dachte er und zögerte, ihn aufzunehmen. Als er Ivans Krähenfüße erkannte, atmete er erleichtert auf. Nur ein leises Unbehagen blieb zurück. Die Handschrift des Schwagers erinnerte ihn auf peinliche Weise an die noch immer ungelöste Geldfrage, die ihm allabendlich vor dem Einschlafen ein paar qualvolle Augenblicke bereitete.

Ungelesen warf er den Brief beiseite – Geschäfte konnten bis morgen warten. Als er darauf in das Wohnzimmer zurückgehen wollte, stieß er in seiner Jackentasche auf ein hellgraues Päckchen. Es waren Ingers Handschuhe, weiche, rauhe, sogenannte Randers-Handschuhe, ganz neu.

Er hatte sie allerdings nicht ohne Hintergedanken da draußen im Walde behalten. Es war ihm eine eigenartige Freude gewesen, etwas ihr Gehörendes bei sich zu tragen. Bei dem Abschied Hals über Kopf hatte er dann vergessen, sie zurückzugeben.

Behutsam faltete er sie auseinander und betrachtete sie lange. Er legte sie an sein Gesicht und sog gierig ihren Duft ein. Er lächelte nachdenklich: Hier hatte er ja den erforderlichen Vorwand, seinen Besuch im Pfarrhaus schon am nächsten Tag zu wiederholen, dachte er. Aber . . .

War es nicht ratsamer, es zu unterlassen? Lief er nicht Gefahr, sich zu verlieben, wenn er sie immer öfter sah? Der alte Adam regte sich wieder in ihm. Doch wohin sollte das führen? Er hatte ja gar nicht das Recht zu einer neuen Liebe. Auf Lebenszeit hatte er sich von den Blumenpfaden der Liebe ausgeschlossen . . . falls er sie überhaupt jemals gekannt hatte.


 << zurück weiter >>