Bertha Pappenheim
Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel
Bertha Pappenheim

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»Schmückt Maruschka, schmückt das Mädchen, schmückt das Kind für den Mädchenhändler!« Rumänisches Volkslied. Karikatur von Pascin aus dem Simplicissimus (aus: Eduard Fuchs, Sozialgeschichte der Frau. Die Frau in der Karikatur. 3. verm. Auflage München 1928

Über die Verantwortung der jüdischen Frau

1910

Eine jüdisch internationale Konferenz zur Bekämpfung des Mädchenhandels ist ein Bekenntnis und zugleich ein moralischer Sieg. Einerlei, welche praktischen Erfolge er zeitigen mag, der Umstand, daß wir von führender Stelle zusammenberufen sind, um frei und offen das traurigste Kapitel der jüdischen Sittengeschichte zu besprechen, ist bedeutsam.

Beschäftigt sich die Konferenz auch ihrem Namen nach nur mit dem Schutze von Tausenden unserer jungen Stammesgenossinnen, so steht doch in ungeschriebenen Zeichen Ehre und Ansehen, Gesundheit und die sittliche Wurzelständigkeit der jüdischen Volksgesamtheit auf der Tagesordnung. Wenn es uns gelingt, diesen Gedanken so überzeugend herauszuarbeiten, daß er in der Judenschaft ein erhöhtes Gefühl der Verantwortlichkeit erregt, dann hat die Konferenz Großes geleistet.

Ich möchte es versuchen, den Standpunkt, den die jüdischen Frauen zur Bekämpfung des Mädchenhandels einnehmen, zu beleuchten.

Um dieser Aufgabe – trotz der gegebenen kurzen Zeit – einigermaßen gerecht werden zu können, sowohl in den Tatsachen wie in den Postulaten, die wir aufzustellen haben, muß ich ziemlich weit ausgreifen und ebenso meine persönlichen Erfahrungen aus der allgemeinen Fürsorgetätigkeit, als auch solche von meinen Studienreisen heranziehen.

Ich glaube aber, daß der Umstand, daß die gegenwärtige Konferenz, die die Bekämpfung des Mädchenhandels jüdisch international und sozial zu beleuchten wünscht, meiner Auffassung und meinen Ausführungen die nötige Berechtigung gibt. Ich erinnere mich noch der Zeit, da trotzdem ich schon einige Jahre in sozialer Hilfsarbeit tätig war – zum erstenmal das Wort Mädchenhandel an mein Ohr klang. Es war mir fremd, und ich wußte nicht, was es bedeutete, und konnte gar nicht fassen, daß es Menschen geben sollte, die Menschen, Mädchen und Kinder, kaufen und verkaufen zu Zwecken, die meinem damaligen Erfahrungskreise auch so fern lagen wie vielleicht heute noch manchen von Ihnen.

Und die grauenhafte Tatsache der Existenz eines Mädchenhandels, sie bedrückte und verfolgte mich. Ich forschte, hörte, ließ mich belehren, und ich erfuhr zu dem an sich Schrecklichen noch das tief Beschämende: viele Juden sind Händler, viele jüdische Mädchen sind Ware. Man sagte es nicht laut, man flüsterte sowohl von jüdischer wie von christlicher Seite; die Juden, sogar solche, die an der Spitze philantropischer Institutionen standen, glaubten die Angaben nicht und sprachen von Verleumdung! Die Christen sprachen davon, wie von etwas längst Gewußtem, Selbstverständlichem. Mir kam es unglaublich vor. In unserem Volke, dessen Ethik so einfach und logisch Sittlichkeit bedeutet, in unserem Volke, dessen Familienleben vorbildlich rein genannt wird, Juden sollten Händler, Ware, Konsumenten sein?

So widerstrebend und widerwärtig uns der Gedanke auch sein mag, er ist Tatsache, wir können sie nicht verleugnen. In den beiden Arten von Handel, im Außenhandel und im Innenhandel, sind Juden in großen Verhältniszahlen beteiligt. Unter Außenhandel sind, wie Sie wissen, all' die komplizierten verbrecherischen Vorgänge zu verstehen, die aus Ueberredung, Vorspiegelung falscher Tatsachen, Verführung, Kuppelei, Freiheitsberaubung usw. zusammengesetzt, Mädchen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen und in fremden Ländern der Prostitution als Erwerb zugeführt zu werden. Wie bekannt, sind die Händler und Agenten vielfach Frauen, kapitalkräftige Kaufleute, die oft unter dem Deckmantel größter Ehrbarkeit ihr Geschäft betreiben. Fast ebenso unfaßlich wie das Gewerbe selbst ist, daß in Rumänien sowie in Galizien die Mädchenhändler als solche in den jüdischen Gemeinden gekannt und dennoch geduldet sind. In einigen Orten, die ich besuchte, hat man mir am Samstag Nachmittag solche Herren gezeigt, die mit Kaftan und Schläfenlocken scheinbar fromm einher wandelten und vielleicht im stillen im üblichen Corso ihre Auswahl trafen und Pläne machten.

In einer großen österreichischen Stadt wurden mir jüdische Frauen genannt, Besitzerinnen von Mietshäusern, die ihr Vermögen notorisch durch Mädchenhandel gesammelt hatten. Von der einen wußte man, daß sie z. Zt. auf dem Wege nach Indien war und daß sie bestimmte Beziehungen zu ihrer Heimat erhalte.

Ich bin nicht imstande, Ihnen zu sagen, ob zwischen den Händlern wirklich ein »Trust«, ein Ring, besteht, oder ob sie ihre Geschäfte vereinzelt in kleinen Compagnien betreiben. Sicher ist nur, daß die Polizei und die anderen Behörden vielfach von den Verhältnissen Kenntnis haben, daß sie aber, wenn es nicht zu einem eklatanten Skandal kommt, keine Eingriffe tun. Das gilt nicht nur von den vielfach angeführten Ländern östlicher Unkultur. Auch in anderen Staaten, anderen Weltteilen sollen Polizeiorgane oft die Schutzpatrone der Mädchenhändler sein.

Tatsache ist, daß die Juden selbst vielfach beide Augen zudrücken. Für die armen Juden in Osteuropa kann dafür die Entschuldigung angeführt werden, daß die einzelnen so sehr mit ihren eigenen Nöten und Kämpfen zu tun haben, daß sie nicht die Zeit und nicht die Kraft haben, ihrem sittlichen Empfinden nachzugehen und einen schwierigen Kampf gegen Gewalten aufzunehmen, deren Macht in der tolerierten Unsittlichkeit festwurzelt. Aber auch besitzende Juden, die kraft ihres Vermögens sich einer gewissen Autorität erfreuen, denken nicht daran, die Gemeinde von Elementen zu säubern, die ihnen zur Schande gereichen. Gleichgültigkeit und frivole Lebensanschauung, die nur Erwerb und Genuß als erstrebenswerte Ziele kennen, lassen die sogenannte jüdische Intelligenz in Galizien und Rumänien zu Mitschuldigen der Mädchenhändler werden. Und wo es mir aber noch geglückt ist Interesse und Verständnis für die Schmach der vorhandenen Zustände zu erwecken, da waren es Frauen, die sich zum Kampf aufrufen ließen. Leider sind deren noch gar wenige. Neben dem Außenhandel, über den Sie durch andere Redner noch mehr hören werden, gibt es einen blühenden Innenhandel. Es ist das Verdienst der abolitionistischen Föderation, diesen in den Bereich der internationalen Besprechungen gezogen zu haben. Dieser Innenhandel versorgt die Bordelle und andere den Prostitutionszwecken dienende Unternehmungen, wie Animierkneipen, Variétés, Damenkapellen usw. mit dem nötigen Mädchenmaterial, das, um das Publikum immer neu anzulocken und anzureizen, beständig ausgewechselt, also neu angeworben und weiter geschickt werden muß. Die Agenten auch dieses Handels sind vielfach Juden und Jüdinnen, ebenso wie die Bordellhälterinnen es sind. Ich habe in einer rumänischen Hafenstadt sieben offiziell tolerierte Bordelle gesehen, von denen vier in jüdischen Händen waren. In Krakau, Lemberg, Czernowitz sind ganze Straßen vorherrschend von Juden bewohnt, die alle Art von Gelegenheitsmacherei, also im übertragenen Sinne Mädchenhandel zu ihrem Gewerbe haben.

Was von diesem Innenhandel zu sagen ist, bezieht sich absolut nicht nur auf Osteuropa, sondern es gilt für die ganze Welt, nur sind vielleicht in den Ländern der Kultur und Hyperkultur die Formen glatter, das Laster verhüllter; in den Centren des Großstadtlebens ist kein Grund vorhanden, mit Kopfschütteln von der Sittenverderbtheit der Osteuropäer zu sprechen.

Und wie verhalten sich die Frauen im allgemeinen, die jüdischen im besonderen zu diesen Verhältnissen?

Mit Ausnahme einer relativ verschwindend geringen Anzahl ist den Frauen die Ausbeutung und die Sklaverei ihrer Geschlechtsgenossinnen nur wenig bekannt. Viele werden von den Männern absichtlich in Unkenntnis der Tatsachen gehalten, weil die Männer an dem verstaubten Ideal der unwissenden Frau festhalten. Die meisten Frauen sind aber gleichgültig. Wenn sie manchmal durch Sensationslüsternheit, oder Neugierde, aus Büchern oder durch einen Blick in die Wirklichkeit von gewissen Vorgängen Kenntnis bekommen und sie, erschrocken oder entrüstet, Fragen stellen, dann werden sie von männlicher Seite meist dahin belehrt: »Das muß so sein, die menschliche, die männliche Natur braucht diese Opfer.«

Daß dieses Argument nur in beschränktem Maße gilt, daß die Zunahme der Prostitution und damit verbunden, die Zunahme der Geschlechtskrankheiten eine ebenso große, vielleicht noch größere Volksgefahr bedeutet, wie z. B. ein Krieg, das wird den Frauen verschwiegen. Und so geht dann die jüdische Frau, nicht anders als die nicht-jüdische, gleichgültig oder mit einem frivolen Lächeln – je nach ihrem Charakter oder dem Ton, der in ihrem Kreise gilt – an den Plakaten, Annoncen, deutlichen oder verhüllten Schaustellungen und Anpreisungen von Ware auf dem Menschenmarkt vorbei. Betrachtet man die Ware, die der Moloch Prostitution braucht und verschlingt, dann sieht man in den Ländern des Ostens wieder in erschreckender Menge jüdische Mädchen, die ihm verfallen, indem sie Prostitutionsware für die ganze Welt, bis nach den Bordellen von Japan bilden.

Als Ursache dafür wird meist die ökonomische Notlage der jüdischen Bevölkerung in Rußland, Galizien und Rumänien angegeben.

Daß die ökonomische Not einen großen Faktor in der Frage bildet, ist zweifellos. Mir scheint die geistige Not und der Zerfall des Familienlebens ein noch größerer und unendlich schwerwiegenderer. Aber ich habe noch andere Gründe beobachtet, Erziehungssünden, verschrobene Anschauungen von Ehre und Schande, der Begriff der Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechtes, seine Auffassung als nur Geschlechtswesen u. a. Stellt man diese Verhältnisse in Verbindung mit dem niedrigen Niveau der sittlichen Begriffe der besitzenden Klasse jener Länder – bei Juden und Christen – dann werden die traurigsten Vorkommnisse erklärlich, ebenso erklärlich, wie es die Parallelerscheinungen in Westeuropa und Amerika sind, wo die gleichen Ursachen, Geschlechtsegoismus und kurzsichtige Sozialpolitik, die gleichen Wirkungen hervorrufen.

Die Nichtachtung der Menschenrechte der Frau, die in der doppelten Moral ihren Ausdruck findet, läßt sie zur Ware herabsinken.

Und wenn wir wieder fragen, wie verhält sich die Frau, die besitzende jüdische Frau, diesen Verhältnissen gegenüber, in der ganzen Welt, in Osteuropa, in Westeuropa, in Amerika?

Bedauerlicherweise ist zu konstatieren: die wenigsten Frauen haben den moralischen Mut, sich derer anzunehmen, denen in der Mangelhaftigkeit ihrer moralischen Ausrüstung die übermenschliche Kraft fehlte, allein dem Ansturm der Verhältnisse zu trotzen. Die wenigsten haben den Willen und das Verständnis, schützend, vorbeugend, helfend, stützend, im einzelnen sowie im großen, an ihren bedrängten Schwestern Menschenpflicht zu üben. Doch sind uns, was den Mädchenschutz betrifft, die christlichen Frauen allerorts voraus.

Die katholischen sowie die protestantischen Frauen sind darin von ihren Geistlichen angeregt und unterstützt, und es entwickeln sich die christlichen Mädchenschutzorganisationen auf beschränkt confessioneller Basis. Die Rabbiner sollten sich eingehend mit der Frage des Mädchenhandels und der Prostitution befassen und die heute aller Welt bekannten Tatsachen energisch ins Auge fassen.

Daher gibt es für die jüdischen Mädchen wenig Schutz, weder den Händlern noch den Konsumenten gegenüber. Daraus ergibt sich die folgende Sachlage: Der internationalen Convention zufolge schützen die Staaten die ihnen politisch zugehörigen Mädchen und zugleich schützen die beiden christlichen Confessionen ihre Glaubensschwestern. Die meist gefährdeten Mädchen, die Jüdinnen aus Rußland, Rumänien und Galizien, genießen nicht nur keinen staatlichen Schutz, sondern sie werden durch die antisemitische Tendenz ihres respektiven Vaterlandes geradezu zum Prostitutionsgewerbe getrieben. Wenn wir Juden nicht anfangen, unsere Schuldigkeit zu tun, dann können wir die Schmach erleben, daß je mehr christliche Mädchen dem Marktverkehr entzogen werden, um so mehr und um so sicherer wird die jüdische Ware die Nachfrage zu bestreiten haben.

Und so wie wir Händler und Ware jüdisch wissen, so wissen wir auch, daß viele Konsumenten jüdisch sind. Das was Jahrtausende hindurch das Bollwerk des Judentums war, die Reinheit des Familienlebens, wir sehen sie benagt und untergraben. Der Mißbrauch von Freiheit unter der Jugend, die abnehmende Autorität der Eltern, Assimilation mit den Lastern der christlichen Gesellschaft, vereinen sich, den Verfall der Familien einzuleiten und zu beschleunigen. Einerlei, ob ein reicher Mann sich eine Maitresse oder mehrere hält, ob ein minder reicher vorübergehend und gewissenlos außerhalb seiner Ehe unter dem Schlagwort »polygamer männlicher Veranlagung« seine Opfer sucht, ob Einjährige, Studenten, Gymnasiasten, junge Kaufleute »das Leben kosten« oder »sich ausleben« wollen, immer sind diese männlichen Prostituierten Konsumenten, deren Käufermoral eine so niedere ist, daß sie die grauenhafteste Ausbeutung der Ware selbst bedeutet.

Ich habe hier nicht auf die Einzelheiten der Einwirkung hinzuweisen, die den Mann als Konsumenten im Mädchenhandel zum Zerstörer des Familienlebens, des Familienglückes und der Familiengesundheit macht; er vergeudet Volkskraft in jedem Sinne des Wortes.

Und die Frau, die jüdische Frau als »Hüterin der Familie«, wo bleibt sie? Es ist nicht wahr, daß die veränderten Zeiten, das freie Denken die für ihre Rechte kämpfende Frau von ihren Pflichten als Gattin und Mutter befreit hatten. Im Gegenteil, die denkende Frau muß sich heute noch mehr bewußt werden, daß abgesehen von den Persönlichkeitswerten, die in der Familie zu pflegen sind, die Familie das Element des Staates und des Stammes ist. Staats- und stammeserhaltende Aufgaben drängen sich daher der modernen Frau von allen Seiten auf. Wenn sich auch die allgemeinen Bedingungen, unter denen wir heute leben, gegen frühere Zeiten geändert haben, so bedeutet das nur, daß sich für die Frau die Formen und Mittel ändern müssen, durch die sie nach wie vor »die Hüterin der Familie« bleiben muß.

So wie in die Hand und unter die Verantwortung der jüdischen Frau die Ausführung von Ritualgesetzen gelegt worden waren, die das Haus »koscher«, d.i. rein erhalten sollten, so liegt es auch in der Hand, d.h. in dem Willen und dem Verständnis der Frau, durch Festhalten an den Moralgesetzen das Haus und die Familie für die höchsten Ziele der Fortentwicklung tauglich zu gestalten.

Mit seinen Sinnen hat sie aufzunehmen, mit Klugheit und Takt hat sie zu benutzen und zu verweben, was das Leben draußen an Erfahrungen darbietet, denn sie ist die Erzieherin der Kinder, der Knaben und der Mädchen.

Und da diese Konferenz uns Frauen auffordert, an der Bekämpfung des Mädchenhandels teilzunehmen, so möchte ich Ihnen diese Aufgabe in deutlicher Zweiteilung ans Herz legen: die eine Seite ist die äußere, soziale Fürsorge für gefährdete, bedrohte und entrechtete Mitschwestern, die andere ist das Vertiefen in Probleme, deren Bedeutung und Erhabenheit sie reinigt von dem, was ihnen für die alltägliche Oberflächlichkeit an Schmutz anhaftet.

Haben wir uns heute als Juden hier zusammengefunden, um die Aufgabe in ihrer Gänze auf uns zu nehmen, so geschah es in der Erfüllung des die ganze Ethik des Judentums begreifenden Wortes: »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!«

Aber ich möchte Ihnen noch ein Kampfwort mitgeben: »Es genügt nicht, kein Unrecht zu tun, man darf auch nirgend Unrecht dulden.«


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