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5. Kapitel.
Ein gefährlicher Nachbar

Die Jagd wurde um so einträglicher und genußvoller, je mehr das Frühjahr die Natur belebte. Des Morgens bei Sonnenaufgang war der Wald von Stimmen erfüllt, von Stimmen, die dem Bewohner der Stadt fremd und schwer voneinander unterscheidbar waren. Da balzte der Auerhahn und sang seinen Liebesgesang. Er saß auf den spitzen Zweigen der Zeder und bewunderte die graue unter ihm in den gefallenen Blättern kratzende Henne. Es war ganz leicht, an diesen befiederten Caruso heranzukommen und ihn mit einem Schuß aus seinen poetischen in seine mehr utilitaristischen Pflichten herabzubringen. Sein Tod war ein leichter, denn er war verliebt und hörte nichts. Draußen in der Lichtung kämpften die Haselhähne mit weit ausgespreizten gefleckten Schwänzen, während die Hennen dicht dabei herumstolzierten, die Hälse reckten und miteinander schwatzten, wahrscheinlich irgendeinen Klatsch über ihre Kampfhähne. Aus der Entfernung tönte festes und tiefes Gebrüll, doch voller Zärtlichkeit und Liebe, der Liebesschrei des Hirsches, während von der Klippe über mir die kurze, abgerissene Stimme des Bergbocks erklang. Unter den Büschen trieben die Hasen lustige Streiche. Oft lag ganz in ihrer Nähe ein roter Fuchs platt auf dem Bauch, seine Gelegenheit erspähend. Ich habe dort niemals etwas von Wölfen gehört; sie befinden sich gewöhnlich nicht in den sibirischen Gebirgs- und Waldgegenden.

Aber ein anderes Tier wurde zu meinem Nachbar. Einer von uns beiden mußte das Feld räumen. Eines Tages, als ich mit einem großen Birkhahn von der Jagd zurückkam, bemerkte ich plötzlich eine schwarze, bewegliche Masse unter den Bäumen. Ich blieb stehen und sah einen Bären, der in einem Ameisenhügel wühlte. Als er Witterung von mir erhielt, schnaubte er heftig und stampfte schnell davon. Die Geschwindigkeit seiner ungeschickten Beine überraschte mich in hohem Maße. Als ich am folgenden Morgen noch mit meinem Mantel bedeckt in meiner Hütte lag, wurde meine Aufmerksamkeit durch ein Geräusch hinter mir erweckt. Ich spähte hinaus und entdeckte den Bären. Er stand auf seinen Hinterbeinen und schnupperte geräuschvoll. Offenbar untersuchte er die Frage, was für ein Geschöpf die Sitte der Bären, im Winter unter den Stämmen gefallener Bäume zu leben, angenommen haben mochte. Ich stieß einen Schrei aus und schlug mit der Axt auf den Kessel. Mein früher Besucher lief darauf mit aller Energie davon. Doch sein Besuch bereitete mir kein Vergnügen. Es war im anbrechenden Frühjahr, als sich dies ereignete. Der Bär hätte seine Ueberwinterungsstelle eigentlich noch nicht verlassen haben sollen. Er gehörte zu der Klasse der sogenannten Ameisenfresser. Ein anormaler Bärentypus, dem es an jeder Etikette der Familien des Bärenstammes fehlt.

Ich wußte, daß die Ameisenfresser sehr reizbar und kühn sind. Ich bereitete mich deshalb sofort sowohl auf die Verteidigung als auch auf den Angriff vor. Meine Vorbereitungen waren kurz. Ich rieb die Spitzen von fünf meiner Patronen ab und machte sie dadurch zu Dumdums. So wurden sie einem so unwillkommenen Gast zu einem genügend verständlichen Argument. Ich zog meinen Rock an und begab mich an die Stelle, wo ich den Bären zum ersten Male getroffen hatte und wo sich viele Ameisenhügel befanden. Ich suchte den ganzen Berg ab, schaute in sämtliche Schluchten, doch entdeckte ich nirgends meinen Besucher. Enttäuscht und ermüdet näherte ich mich meinem Obdach, ohne irgendwelche Vorsicht walten zu lassen. Da sah ich plötzlich den König des Waldes selber, wie er gerade aus meiner niedrigen Wohnung heraustrat und überall am Eingang herumschnupperte. Ich schoß. Er brüllte vor Schmerz und Wut und richtete sich auf seinen Hinterbeinen auf. Als eine zweite Kugel eines seiner Beine zerschmetterte, ging er nieder. Doch schickte er sich sofort an, mich anzugreifen, indem er sein krankes Bein hinter sich herzog und sich bemühte, sich wieder aufzurichten. Erst die dritte Kugel, die ihn in die Brust traf, erledigte ihn. Er wog ungefähr 200 bis 250 Pfund und schmeckte ausgezeichnet. Am besten präsentierte er sich in Koteletts. Doch machte er sich auch als Hamburger Steak gut, auf heißen Steinen gerollt und geröstet, auf denen das Fleisch zu großen Klumpen anschwoll, die so leicht waren wie die feinsten Omelettes soufflées im »Medved« in Petersburg. Nach dieser willkommenen Zugabe für meine Speisekammer lebte ich an meiner Zufluchtsstelle, bis der Boden ausgetrocknet und der Fluß genügend abgeströmt war, um mir die Reise sein Ufer entlang nach dem Lande zu erlauben, auf das Iwan mich hingewiesen hatte.

Ich reiste mit der größten Vorsicht und machte den Weg den Fluß entlang zu Fuß, indem ich meine ganze Haushaltseinrichtung und mein Eigentum in einen Hirschfellbeutel eingepackt mit mir schleppte. So beladen durchwatete ich die kleinen Ströme und die Sümpfe, die auf meinem Wege lagen. Nach ungefähr fünfzig Meilen gelangte ich in das Gebiet, das Sifkowa genannt wird. Dort fand ich die Hütte eines Bauern mit Namen Tropow, die dem Walde am nächsten lag. Bei ihm wohnte ich eine Zeitlang.

*

Wenn ich nun meine Erfahrungen in der sibirischen Taiga zusammenfassen soll, so komme ich zu folgenden Schlußfolgerungen: In jedem gesunden Individuum unserer Zeit erweckt die Gelegenheit von neuem die Eigenschaften des primitiven Menschen, ob Jägers oder Kriegers, und ermöglicht ihm den Kampf mit der Natur. Der Mensch mit ausgebildetem Verstand ist dem ungebildeten gegenüber im Vorteil, da dieser nicht genügend Wissen und Willenskraft besitzt, sich durchzuschlagen. Doch der Preis, den der kultivierte Mensch zu zahlen hat, liegt darin, daß es für ihn nichts Fürchterlicheres gibt als die absolute Einsamkeit und das Bewußtsein der völligen Isolierung von der menschlichen Gesellschaft und vom Leben, von der geistigen und ästhetischen Kultur. Ein Schritt, ein Augenblick der Schwäche, und völliger Wahnsinn wird diesen Menschen umklammern und ihn in unvermeidbare Zerstörung reißen. Ich habe fürchterliche Tage des Kampfes mit der Kälte und dem Hunger zugebracht. Aber noch schrecklicher waren für mich die Tage des Kampfes meines Willens gegen die schwächenden und zermürbenden Gedanken. Die Erinnerung an diese Tage läßt mir Herz und Gemüt noch heute erzittern, und wenn ich sie jetzt, bei der Niederschrift meiner Erfahrungen, wieder ins Leben zurückrufe, wirft sie mich erneut in einen Zustand der Furcht und des Zagens zurück.

Schließlich möchte ich noch bemerken, daß die Menschen in hochzivilisierten Staaten der Ausbildung in Bezug auf das, was dem Menschen unter primitiven Verhältnissen nützlich ist, unter Verhältnissen, die aus dem Lebenskampf gegen die Natur erwachsen, zu wenig Beachtung schenken. Dies zu ändern wäre der einzige Weg, eine neue Generation von starken, gesunden, eisernen Menschen heranzubilden, die zugleich aber auch entwickelte Seelen haben.

Die Natur vernichtet den Schwachen, aber sie hilft dem Starken; sie erweckt in der Seele Bewegungen, die unter den gewöhnlichen Verhältnissen des modernen Lebens schlafend bleiben.


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