Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente Juli 1882 bis Herbst 1885, Band 4
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Ende 1883]

[Dokument: Heft]

23 [1]

Eine kleine unschuldige Geschichte, die aber viel Unfug gestiftet hat: ich erzähle sie euch, – den Unfug mögt ihr euch selber erzählen!

Es gab einmal einen Knaben, dem sagte man mit Blicken und Reden: "was dein Vater ist, das ist nicht dein rechter Vater!"

Das verdroß das Kind und machte es nachdenken; und endlich sagte es sich zu seinem Herzen, ganz heimlich: es giebt wohl nichts Schöneres in der Welt als einen rechten Vater?

Und als das Kind beten lernte, war seine erste Bitte "Gott, gieb mir doch einen rechten Vater!"

Das Kind aber wuchs und mit dem Kinde seine heimliche Liebe und sein Gebet: unter Frauen und Priestern erwuchs der Jüngling: –

Ein Jüngling, unter Frauen und Priestern tief geworden und scheu vor der Liebe und noch vor dem Worte "Liebe"

tief geworden und durstig nach dem Thau der Liebe, gleich dem Thymian in der Nacht –

durstig und zitternd vor seinem Durste und der Nacht freund, weil die Nacht voller Scham und duftenden Weihrauchs ist –

Nach dem Weihrauche der Priester duftete selber seine Seele und nach der Unschuld der Frauen: sie schämte sich aber dieses Duftes noch.

Und wie sonst ein Jüngling betend begehrt, daß ein Weib ihn liebe, so begehrte er betend nach der Liebe eines Vaters und schämte sich auch seines Gebetes noch.

Da geschah es, daß sein Gebet einst in lichte Wolken zerfloß und Worte aus lichten Wolken stiegen: "Siehe, das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe."

Ist dies möglich! sprach der Jüngling. Ich der liebe Sohn dessen, den ich eben um einen Vater bat? Gott mein Vater! Ist dies möglich?

Dieser alte allmächtige Stirnrunzler und Lippen-Aufwerfer von Judengotte – ist mein Vater! Kann das möglich sein?

Aber er sagt es selber und log noch nie: was kann ich thun! Ihm muß ich's glauben!

Bin ich aber sein Sohn, so bin ich Gott: bin ich aber Gott, wie bin ich Mensch? – Es ist nicht möglich – aber ihm muß ich's glauben!

Der Mensch an mir – das ist wohl nur seiner Liebe Nothdurft: denn wie ich nach dem Vater, so dürstete er wohl nach seinen Kindern.

Daß ich Mensch bin, das ist wohl der Menschen wegen: ich soll sie zu meinem Vater locken –

– sie zur Liebe locken: oh diese Thoren, die man zur Liebe erst noch locken muß!

Sie sollen Gott lieben: das ist eine leichte Lehre und ein Wohlgefallen – ein leichtes Joch wird uns Gottes-Kindern aufgelegt: wir sollen thun, was wir am liebsten thun.

Diese Lehre und Weisheit ist leicht zu fassen: auch die Armen im Geiste dürfen die Hände nach ihr ausstrecken

Manches am Menschen ist wenig göttlich: wenn man Koth läßt, wie soll man dabei Gott sein?

Aber schlimmer noch ist <es> mit dem anderen Kothe, der Sünde heißt: den wollen die Menschen gar noch bei sich behalten und nicht von sich lassen.

Nun aber muß ich's glauben: man kann Gott sein und doch Koth lassen: so lehre ich sie, ihren Koth lassen und Götter werden.

23 [2]

Eine alte Weisheit trank ich jüngst, einen unvordenklich alten starken Wein der Weisheit.

23 [3]

Vom Ruhme.

Ein Andres ist Wollust, ein Andres Gebären. Fragt die Weiber! Man gebiert nicht, weil es Vergnügen macht.

Der Schmerz macht Hühner und Künstler gackern. Die Wollust stammelt –: nun hört mich mein Wort vom Ruhme stammeln.

Wollust ist es, auf Jahrtausende seine Hand zu drücken wie auf Wachs. Wollust, auf den Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz.

Wollust ist es, Sterne der Zukunft im Becher seines Willens zu schmelzen; Wollust, Welten auf die Teppiche der Ewigkeit huldigend vor sich auszuschütten.

23 [4]

Eins! Mitternacht hebt an! Fern her geweht, herauf aus tiefer Welt – bei mir, dem Einsiedler sucht ihr Wort die letzte Ruhe?

Zwei! Die letzte Ruhe der tiefen Welt – ist sie denn eines Einsiedlers Höhe? Sucht sie, wenn mir ihr Klang durch Ohr und Mark und Bein geht – sucht und findet sie also noch ihren Frieden?

Drei!

23 [5]

Von den Wegen des Erkennenden.

"Wie kamst du, oh Zarathustra zu deiner Weisheit: hast du sie erflogen? – so fragt ihr mich – auf daß wir dir ablernen, wie wir zu unserer Weisheit fliegen möchten?"

Gut fragtet ihr: gut sollt ihr auch belehrt sein. Dem guten Frager ist schon halb geantwortet.

Auf vielerlei Weg und Weise kam ich zu meiner Wahrheit, nicht auf Einer Leiter und Treppe stieg ich zur Höhe, wo meine Augen in meine Ferne schweifen.

Und niemals fragte ich Menschen: ich fragte und versuchte die Wege selber. Ein Versuchen und Fragen war all mein Gehen.

Unter Menschen war ich immer der Gut-Verborgene: ob ich stieg oder flog oder stand und zögerte: sie sahen mich nicht mit ihren Augen.

Sie hörten mich nicht mit ihren Ohren: und oft horchte ich auf Wiederhall aber ich hörte nur – Lob.

Ich sagte es ihnen in's Ohr, als ich mich in neue furchtbare Meere einschiffte: also verbarg ich's? Nun aber, als ich vor ihren Augen in neue furchtbare Wüsten wanderte – wer sah mich wandern?

Und wenn ich mit Strickleitern in manches Fenster kletterte, mit hurtigen Beinen manchen Mast erritt: der Gut-Verborgene blieb ich ihnen auch mit meinen Bosheiten und Abenteuern.

Eine boshafte Seligkeit dünkte mich's oft, auf den höchsten Masten, gleich einer Flamme sitzen: ein kleines Licht zwar, aber doch ein großer Trost für verschlagene Schiffer und Schiffbrüchige.

Eine andere Seligkeit und Bosheit lernte ich, wenn mir ein Thauwind kam: daß mein Strom stieg und stieg und mein Eis sich thürmte – da jauchzte ich.

Genug fand ich der Schwachen und Zärtlichen – sie heißen sich gut und thun auch mit der Tugend zärtlich; genug auch der Heuchler, die den Namen der Gerechtigkeit mißbrauchen.

Die Selbst-Verlogenen hörte ich zu mir reden, denen die Lüge unschuldig auf Herz und Lippe sitzt; auch mancher Schmarotzer drängte sich lüstern an das Mahl meiner Weisheit.

23 [6]

Erst wenn ihr dürstet, sollt ihr trinken: und erst wenn der Geist euch treibt, sollt ihr tanzen. Und lernt erst lügen, damit ihr versteht, was Wahrheit-reden ist!

Der Hunger erst soll euch zur Wahrheit zurücktreiben: und wenn ihr voll seid der guten Weine der Wahrheit, werdet ihr auch tanzen wollen.

23 [7]

Vorspiel.

Oh meine Brüder! Daß ihr erst Stille von mir lerntet! Und Einsamkeit!

23 [8]

Vom letzten Troste.

Siehe, wie Alles zur Werkstatt für Schaffende Seelen hergerichtet ward: alles was Schaffenden Seelen unentbehrlich ist, ist im Überflusse da: so auch der Schmerz.

23 [9]

3. Von der Selbst-Verkleinerung

1. Vom Willen zum Leiden

2. Von der Seligkeit wider Willen.

23 [10]


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