Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1869-1874, Band 1
Friedrich Wilhelm Nietzsche

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[ Sommer – Herbst 1873]

[Dokument: Heft]

29 [1]

Die Wahrheit zu sagen ohne eudämonologischen Zweck rein aus Pflicht. Dabei wird häufig die eigenthümliche Lust vergessen, die das Aussprechen der W<ahrheit> mit sich bringt. Der reinste Fall der, in dem die Wahrheit eine viel größere Unlust mit sich führt, selbst den Untergang – und trotzdem wird die Wahrheit gesagt. Ein Staatsmann hat die Existenz eines Staates durch ein Wort in der Hand: er sagt die Wahrheit und zerstört den Staat. Rede Kant's an die Pflicht. Ein großer Mensch ist mehr werth als ein Reich, weil er heilsamer für alle Nachwelt ist. Sinn der großen That – große Thaten zu erzeugen.

29 [2]

Analyse des gewöhnlichen Wahrheitssinnes bei Gelehrten. Lüge aus Nothwehr, Nothlüge enthält einen eudämonologischen Charakter: sie sucht das Individuum zu retten.

29 [3]

Begriff der Unmöglichkeit in allen Tugenden, in denen der Mensch groß ist.

29 [4]

1. Wahrheit als Pflicht – verderbliche Wahrheit. Analyse des Wahrheitstriebes – Pathos.

2. Das Unmögliche in den Tugenden.

3. Der Mensch ist nicht aus diesen höchsten Trieben herausgewachsen, sein ganzes Wesen zeigt eine laxere Moral, er springt über sein Wesen mit der reinsten Moral hinaus.

4. Lüge in der menschlichen Natur – Traum z. B. Selbstbewußtsein (Verschleierung der Wahrheit).

5. Sprache Empfindung Begriffe.

6. Materie.

7. Kunst. Noth-Lüge und Frei-Lüge. Letztere doch wieder auf eine Noth zurückzuführen.

Alle Lügen sind Nothlügen. Die Lust an der Lüge ist künstlerisch. Sonst hat nur die Wahrheit eine Lust an sich. Die künstlerische Lust die größte, weil sie die Wahrheit ganz allgemein spricht in der Form der Lüge.

Begriff der Persönlichkeit, ja der der moralischen Freiheit nothwendige Illusionen, so daß selbst unsere Wahrheitstriebe auf dem Fundament der Lüge ruhn.

Die Wahrheit im System des Pessimismus. Das Denken ist etwas, was besser nicht wäre.

29 [5]

Ika! Ika! Bäh-Bäh-

29 [6]

Benjamin Constant: "der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen."

Der Ungar und der Hegelsche Professor in Berlin.

Rameau's Neffe. Man schlingt die Lüge, die uns schmeichelt, in vollen Zügen hinab, und kostet Tropfen für Tropfen die Wahrheit, die uns bitter ist."

29 [7]

"Wahrheit."

  1. Wahrheit als unbedingte Pflicht feindselig weltvernichtend.
  2. Analyse des gemeinen Wahrheitssinnes (Inconsequenz).
  3. Das Pathos der Wahrheit.
  4. Das Unmögliche als Correctiv des Menschen.
  5. Das Fundament des Menschen lügnerisch, weil optimistisch.
  6. Die Körperwelt.
  7. Individuen.
  8. Formen.
  9. Die Kunst. Feindschaft gegen sie.
  10. Ohne Unwahrheit weder Gesellschaft noch Kultur. Der tragische Conflikt. Alles Gute und Schöne hängt an der Täuschung: Wahrheit tödtet – ja tödtet sich selbst (insofern sie erkennt, daß ihr Fundament der Irrthum ist).

29 [8]

1. Was entspricht der Askese in Betreff der Wahrheit? – Wahrhaftigkeit, als Fundament aller Verträge und Voraussetzung des Bestehens des Menschengeschlechts, ist eine eudämonistische Forderung: dagegen tritt die Erkenntniß, daß die höchste Wohlfahrt der Menschen vielmehr in Illusionen liegt: daß also, nach dem eudämonistischen Grundsatze, Wahrheit und Lüge angewendet werden müßten – wie es auch geschieht. Begriff der verbotenen Wahrheit d. h. einer solchen, die gerade die eudämonistische Lüge verhüllt und maskirt. Gegensatz: die verbotene Lüge, dort eintretend, wo die erlaubte Wahrheit ihr Bereich hat.

2. Symbol der verbotenen Wahrheit: fiat veritas, pereat mundus.

Symbol der verbotenen Lüge: fiat mendacium! pereat mundus.

Das Erste, was durch die verbotenen Wahrheiten zu Grunde geht, ist das Individuum, das sie ausspricht. Das Letzte, was durch die verbotene Lüge zu Grunde geht, ist das Individuum. Jenes opfert sich selbst sammt der Welt, dieses opfert die Welt sich und seiner Existenz.

Casuistik: ist es erlaubt, der Wahrheit die Menschheit zu opfern? – 1) Es ist nicht wohl möglich! Wollte Gott, die Menschheit könnte an der Wahrheit sterben. 2) Wenn es möglich wäre, so wäre es ein guter Tod und eine Befreiung vom Leben. 3) Niemand kann ohne einigen Wahn so fest glauben die Wahrheit zu haben: die Skepsis wird nicht ausbleiben. Die Frage: ist es erlaubt, einem Wahne die Menschheit zu opfern, müßte verneint werden. Aber praktisch geschieht <es>, weil Wahn eben Glauben an die Wahrheit ist.

3. Der Glaube an die Wahrheit – oder der Wahn. Ausscheidung aller eudämonistischen Bestandtheile (1. als mein eigner Glaube, 2. als gefunden von mir, 3. als Quelle guter Meinungen bei andern, des Ruhms, des Geliebtwerdens, 4. als herrisches Widerstands-Lustgefühl).

Ist, nach Abzug aller dieser Bestandtheile, das Aussprechen der Wahrheit rein als Pflicht noch möglich? Analyse des Glaubens an die Wahrheit: denn alles Wahrheit-haben ist im Grunde nur ein Glaube die Wahrheit zu haben. Das Pathos, das Pflichtgefühl geht von diesem Glauben aus, nicht von der angeblichen Wahrheit. Der Glaube setzt eine unbedingte Erkenntnißkraft voraus, bei dem Individuum, sodann die Überzeugung, daß nie ein erkennendes Wesen hierin weiterkommen werde: also die Verbindlichkeit für alle Weiten erkennender Wesen. Die Relation hebt das Pathos des Glaubens auf, etwa die Begrenzung auf das Menschliche, mit der skeptischen Annahme, daß wir vielleicht alle irren.

Wie ist aber Skepsis möglich? Sie erscheint als der eigentlich asketische Standpunkt des Denkers. Denn sie glaubt nicht an den Glauben und zerstört damit alles Segensreiche des Glaubens.

Selbst die Skepsis enthält aber in sich einen Glauben: den Glauben an die Logik. Das äußerste ist also Preisgeben der Logik, das credo quia absurdum est, Zweifel an der Vernunft und deren Verneinung. Wie dies im Gefolge der Askesis auftritt. Leben kann niemand darin, ebensowenig wie in der reinen Askesis. Womit erwiesen ist, daß der Glaube an die Logik und überhaupt der Glaube zum Leben nothwendig ist, daß also das Bereich des Denkens eudämonistisch ist. Dann tritt aber die Forderung der Lüge hervor: wenn nämlich Leben und ευδαιμονια ein Argument ist. Gegen die verbotenen Wahrheiten wendet sich die Skepsis. Dann fehlt das Fundament für die reine Wahrheit an sich, der Trieb darnach ist nur ein maskirter eudämonischer.

4. Jeder Naturvorgang ist uns im Grunde unerklärlich: wir können nur die jedesmalige Scenerie feststellen, bei der das eigentliche Drama sich begiebt. Wir sprechen dann von Kausalitäten, während wir im Grunde nur ein Nacheinander von Ereignissen sehen. Daß dies Nacheinander bei einer bestimmten Scenerie immer eintreten müsse, ist ein Glaube, der unendlich oft widerlegt wird.

5. Die Logik ist nur die Sklaverei in den Banden der Sprache. Diese aber hat ein unlogisches Element in sich, die Metapher usw. Die erste Kraft bewirkt ein Gleichsetzen des Ungleichen, ist also Wirkung der Phantasie. Darauf beruht die Existenz der Begriffe, Formen usw.

6. Formen.

7. "Naturgesetze". Lauter Relationen zu einander und zum Menschen.

8. Der Mensch als fertig und hart gewordenes Maaß der Dinge. Sobald wir ihn uns als flüssig und schwankend denken, hört die Strenge der Naturgesetze auf. Die Empfindungsgesetze – als Kern der Naturgesetze. Mechanik der Bewegungen. Der Glaube an die Außenwelt und an die Vergangenheit, in der Naturwissenschaft.

9. Das Wahrste in dieser Welt – die Liebe Religion und die Kunst. Erstere sieht durch alle Verstellungen und Maskeraden hindurch auf den Kern, das leidende Individuum und leidet mit, letztere tröstet, als praktische Liebe, über das Leiden, indem sie von einer anderen Weltordnung erzählt, und diese verachten lehrt. Es sind die drei unlogischen Mächte, die sich als solche bekennen.

"auf der ausgedörrten Steinwüste des morschen Erdballs"

29 [9]

Penzel, von Preußischen Werbern angeworben, stand als gemeiner Musketier in Königsberg. Kant hält ihn vom Katheder zurück, "(Kant) indem er ihn für einen niederträchtigen Menschen hielt, weil er seinen Soldatenstand so ruhig bisher ertragen habe." Eine Stelle bei Luther, dass wenn Gott an das schwere Geschütz gedacht hätte, er die Welt nicht geschaffen hätte.

29 [10]

Analysis des Gelehrten, hinsichtlich seines Wahrheitssinnes.

1) Gewohnheit 2) Flucht vor der Langenweile 3) Broderwerb 4) Achtung bei anderen Gelehrten, Furcht vor ihrer Mißachtung 5) Erwerbssinn von etwas Eignem (es muß "wahr" sein, sonst rauben es die Andren wieder) 6) Knötchen knüpfen, Knötchen lösen. – Maaß des Wahrheitssinnes: beim Umwerfen einer alten Theorie, bei Angriffen auf ihren Stand, ihre Bildung, beim Lautwerden der Unzünftigen, Haß gegen die Philosophie, weil sie sich nichts aus dem Gelehrten macht. Die Unwahrheit, wenn sie in allgemeiner Geltung ist, wird von dem Gelehrten als Wahrheit behandelt. Furcht vor Religionen und Regierungen. – 7) Ein gewisser Stumpfsinn, sie sehen die Folgen nicht und sind mitleidslos. 8) Sie merken die Hauptprobleme des Lebens nicht, deshalb beschäftigen sie sich mit den kleinsten Problemchen, d. h. in der Hauptsache haben sie kein Bedürfniss nach Wahrheit. Daher giebt es nirgends eine Gelehrten-Republik, sondern immer nur eine Gelehrten-Ochlokratie. Verhaßt und durch Scherbengericht vertrieben ist der seltene geniale Kopf, der Wahrheitsfreund, ebenso der Künstler.

29 [11]

Die unbedingte Übereinstimmung im Logischen und Mathematischen weist nicht auf ein Gehirn, auf ein leitendes und abnorm ausfallendes Organ hin – auf eine Vernunft? Seele? – Das ganz und gar Subiektive ist es, vermöge dessen wir – Menschen sind. Es ist das angehäufte Erbgut, an dem alle Theil haben.

29 [12]

Naturwissenschaft ist Sichbewußtwerden, was man alles als Erbgut besitzt, Registratur der festen und starren Empfindungsgesetze.

29 [13]

Der Gelehrte.

1. Eine gewisse Biederkeit, fast nur Ungelenkigkeit zur Verstellung, zu der einiger Witz gehört. Überall wo dialektische Advocatenmanier da ist, mag man auch in Betreff dieser Biederkeit Zweifel haben und auf seiner Hut sein. Es ist bequemer, in adiaphoris die Wahrheit zu sagen, es entspricht einer gewissen Trägheit. Gegen das copernikanische System z. B. machte gerade die Biederkeit Opposition, weil es dem Augenschein widersprach: Augenschein und Wahrheit fällt aber für die trägen Geister zusammen. Auch der Hass gegen die Philosophie bei den Gelehrten ist vor allem Hass gegen die langen Schlussketten und die Künstlichkeit der Beweise: die Bewunderung des Scharfsinns ist mit Furcht verbunden, und im Grunde hat jede Gelehrtengeneration ein Maass für den erlaubten Scharfsinn: was darüber hinaus ist, wird abgelehnt.

2. Scharfsichtigkeit in der Nähe mit grosser Myopie in die Ferne und in das Allgemeine. Das Gesichtsfeld sehr klein und die Augen werden sehr nahe heran gehalten. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu einem neuen, so rückt er den ganzen Sehapparat zu jenem Punkte: er zerlegt ein Bild, wie durch Anwendung eines Opernglases, in lauter Flecke. Sie alle sieht er nie verbunden, sondern berechnet nur ihren Zusammenhang: deshalb hat er von allem Allgemeinen keinen starken Eindruck. Er beurtheilt z. B. eine Schrift, die er im Ganzen nicht zu überschauen vermag, nach einem Flecken aus dem Bereiche seiner Studien: er würde nach seiner Art zu sehen zuerst behaupten müssen, ein Oelgemälde sei ein wilder Haufen von Klexen.

3. Normalität seiner Motive, Nüchternheit, insofern zu allen Zeiten die gemeineren Naturen und somit die Masse von gleichen Motiven geleitet worden ist. Diese wittert er heraus. In einem Maulwurfsloch findet sich der Maulwurf am besten zurecht. Er ist behütet vor vielen künstlichen und abnormen Hypothesen und vor allem Ausschweifenden und gräbt, wenn er beharrlich ist, alle gemeinen Motive der Vergangenheit, durch seine eigne Gemeinheit, aus. Freilich ist er deshalb unfähig, das Seltne Grosse und Abnorme, d. h. das Wichtige und Wesentliche zu verstehen.

4. Gefühlsarmut befähigt sie selbst zu Vivisectionen. Er ahnt das Leiden nicht, das manche Erkenntniss mit sich führt und fürchtet sich deshalb nicht auf gefährlichstem Bereiche. Das Maulthier kennt den Schwindel nicht. Sie sind kalt und erscheinen deshalb leicht grausam, ohne es zu sein.

5. Geringe Selbstschätzung, ja Bescheidenheit. Sie fühlen, im dürftigsten Studienbezirk, nichts von Vergeudung, selbst nichts von Aufopferung, sie wissen es im tiefsten Grunde, dass sie kriechendes, nicht fliegendes Gethier sind. Darin sind sie oft rührend.

6. Treue gegen ihre Führer und Lehrer; diesen wollen sie helfen und sie wissen wohl, dass sie ihnen am besten mit der Wahrheit helfen. Gegen diese sind sie dankbar gestimmt, weil sie nur durch sie Einlass in die würdigen Hallen der Wissenschaft bekommen haben, in die sie, auf eignem Wege, nie hineingekommen wären. Wer in Deutschland ein Gebiet zu erschliessen weiss, auf dem die geringen Köpfe arbeiten können, ist ein berühmter Mann: so gross ist alsbald der Schwarm. Freilich ist Jedermann aus diesem Schwarm zugleich die Caricatur des Meisters, in irgend einem Sinne: selbst dessen Gebresten erscheinen karikirt, nämlich unmässig gross und übertrieben, an einem viel kleineren Individuum: während die Tugenden des Meisters an eben demselben Individuum proportional verkleinert erscheinen. In so fern ist es eine Missgestalt, und wirkt als solche, wenn sie es aus Treue ist, rührend-drollig.

7. Gewohnheitsmässiges Fortlaufen auf der Bahn, in die man ihn gestossen hat: Wahrheitssinn aus Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit in der einmal angenommenen Gewöhnung. Dies gilt besonders von dem Lernen, das Viele von ihrer Übung im Gymnasium her, wie im Bann einer unentrinnbaren Noth, betreiben. Solche Naturen sind Sammler, Commentatoren, Verfertiger von Indices, Herbarien etc. Der Fleiss derselben entsteht beinahe aus Trägheit, ihr Denken aus Gedankenlosigkeit.

8. Flucht vor der Langeweile. Während der wirkliche Denker nichts mehr ersehnt als Musse, flieht der Gelehrte vor ihr, weil er mit ihr nichts anzufangen weiss. Seine Tröster sind die Bücher: d. h. er hört zu, wie jemand Anderes denkt und lässt sich auf diese Art unterhalten und über den langen Tag hinweg unterhalten. Besonders wählt er Bücher, bei denen sein Interesse, sein persönlicher Wille irgendwie aufgeregt wird, wo er ein wenig, durch Neigung oder Abneigung, in Affect gerathen kann. Schriften, wo er in Betracht kommt, oder sein Stand, seine politische oder ästhetische oder grammatische Meinung: hat er erst eine eigne Wissenschaft, so hat er auch ein Mittel, immer wieder interessirt zu werden.

9. Broderwerb. Der Wahrheit wird gedient, wenn sie im Stande ist, zu höheren Stellungen und Gehalten zu verhelfen, wenn durch sie Beförderung bei Höheren erreicht werden kann. Aber eben auch nur dieser Wahrheit wird gedient: weshalb sich eine Grenze für die erspriessliche Wahrheit und die unerspriessliche W<ahrheit> finden lässt. Letztere wirkt nicht zu Gunsten des Broderwerbs und, da sie Mühe und Zeit braucht und diese der ersteren wegnimmt, sogar gegen den Broderwerb. Ingenii largitor venter. Die "Borborygmen eines leidenden Magens".

10. Achtung bei andern Gelehrten, Furcht vor ihrer Missachtung. Sie Alle überwachen sich eifersüchtig, damit die Wahrheit, an der so viel hängt, Ehre, Broderwerb, Beamtungen, wirklich auf den Namen des Erfinders lautet. Die Achtung vor der Wahrheit, die ein Andrer gefunden, wird gezollt, weil man sie wieder fordert, bei der, die man selbst findet. Die Unwahrheit wird schallend explodirt, damit sie nicht als Wahrheit gelte und Ehren und Titel an sich reisse, die nur der unwiderstehlichen Wahrheit gegönnt werden. Gelegentlich wird auch die wirkliche Wahrheit explodirt, damit wenigstens Platz für andre Wahrheiten, die Anerkennung wollen, geschafft werde. "Moralische Idiotismen, die man Schelmenstreiche nennt." "Ausnahmen vom allgemeinen Gewissen."

11. Der Gelehrte aus Eitelkeit, schon eine seltnere Spielart. Er will etwas ganz für sich haben, wählt deshalb die Curiositäten als sein Forschungsfeld und freut sich, wenn er selbst als Curiosität neugierig betrachtet wird. Er begnügt sich meistens mit dieser Art Ehrbezeigung und gründet nicht seinen Lebensunterhalt auf einen solchen Wahrheitstrieb.

12. Der Gelehrte aus Spieltrieb. Seine Ergötzlichkeit ist, Knötchen zu suchen und sie zu lösen: wobei er sich nicht zu sehr anstrengen mag, damit er das Gefühl des Spiels nicht verliert. Deshalb dringt er nicht gerade in die Tiefe, doch sieht er oft etwas, was der Brodgelehrte in seiner stumpfen und mühsam kriechenden Befangenheit des Auges nicht wahr nimmt: er hat doch wenigstens ein Vergnügen an der Wahrheit und ist Dilettant, bildet in sofern sogar den Gegensatz des unlustigen Brodgelehrten, der nur gezwungen und gleichsam unter dem Joche des bezahlten Berufs oder dem Peitschenschlag seiner Beförderungssucht seine Arbeit thut.

29 [14]

Es giebt keinen Trieb nach Erkenntniss und Wahrheit, sondern nur einen Trieb nach Glauben an die Wahrheit. Die reine Erkenntniss ist trieblos.

29 [15]

Triebe, die mit einem Wahrheitstriebe leicht verwechselt werden:

1. Neubegier, gesteigert Sucht nach Abenteuern der Erkenntniss. Das Neue, Seltne im Gegensatze zum Langweilig-Alten.

2. Dialektischer Spür- und Spieltrieb, Lust an verschmitzten Fuchsgängen: nicht die Wahrheit wird gesucht, sondern das listige Herumschleichen, Umzingeln usw.

3. Trieb zum Widerspruch, die Persönlichkeit will sich einer andern gegenüber geltend machen. Klopffechterthum, der Kampf ist die Lust, persönlicher Sieg das Ziel.

4. Trieb aus Unterthänigkeit gegen Personen Religionen Regierungen, gewisse "Wahrheiten" zu finden.

5. Trieb aus Liebe Mitleid usw. gegen einen Menschen, Stand oder die Menschheit, eine rettende beglückende Wahrheit zu finden – Trieb der Religionsstifter.

29 [16]

Alle Triebe mit Lust und Unlust verbunden – einen Trieb zur Wahrheit d. h. zur völlig folgenlosen reinen affectlosen Wahrheit kann es nicht geben, denn dort hörte Lust und Unlust auf, und es giebt keinen Trieb, der nicht in seiner Befriedigung eine Lust ahnte. Die Lust zu denken weist nicht auf ein Begehren nach Wahrheit. Die Lust aller Sinneswahrnehmung<en> liegt darin, dass sie mit Schlüssen zu Stande gebracht sind. Der Mensch schwimmt insofern immer in einem Lustmeere. In wiefern kann aber der Schluss, die logische Operation, Lust bereiten?

29 [17]

Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich!

Mein Auge, geschlossen, sieht in sich zahllose wechselnde Bilder – diese producirt die Phantasie und ich weiss dass sie der Realität nicht entsprechen. Also ich glaube ihnen nur als Bildern, nicht als Realitäten.

Oberflächen Formen.

Kunst enthält die Freude, durch Oberflächen Glauben zu erwecken: aber man wird ja nicht getäuscht? Dann hörte ja die Kunst auf!

Die Kunst legt es doch auf eine Täuschung ab – aber wir werden nicht getäuscht?

Woher die Lust an der versuchten Täuschung, an dem Schein, der immer als Schein erkannt wird?

Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr.

Das reine begierdenlose Betrachten ist nur an dem Scheine möglich, der als Schein erkannt wird, der gar nicht zum Glauben verführen will und insofern unsern Willen gar nicht anregt.

Nur der, der die ganze Welt als Schein betrachten könnte, wäre im Stande, sie begierden- und trieblos anzusehen – Künstler und Philosoph. Hier hört der Trieb auf.

So lange man Wahrheit an der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes: der aber will Lust und nicht Wahrheit, er will den Glauben an die Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens.

Die Welt als Schein – Heiliger Künstler Philosoph.

29 [18]

Alle eudämonistischen Triebe erwecken Glauben an die Wahrheit der Dinge, der Welt – so die ganze Wissenschaft –auf das Werden gerichtet, nicht auf das Sein.

29 [19]

Plato als Kriegsgefangner, auf einem Sclavenmarkte ausgeboten – wozu wollen wohl die Menschen den Philosophen? – Das lässt errathen, wozu sie die Wahrheit wollen.

29 [20]

29 [21]

  1. Schilderung der Diener der Wahrheit.
  2. Bändigung und Beschränkung der Erkenntniss zu Gunsten des Lebens, der Cultur.
  3. Gerechtigkeit unter den Objecten der Erkenntniss, Abschätzung ihrer Wichtigkeit. Das Grosse. Zurückzurufen zur Hauptsache und den Hauptproblemen. Beseitigung des falschen Glanzes.

29 [22]

Die geistig wirksamen Mächte sind über alle Vergangenheiten hin zerstreut – Colonienbildung! Aber die eigentliche Heimat verarmt, wenn alles auswandert. Sie sind zurückzurufen zum Nothwendigsten. Gegen das laisser aller in der Wissenschaft.

Alle sind so zerstreut und von einander entfernt, dass kein Band sie alle umschlingt: den verbindenden Kitt giebt unsre Zeitungscultur.

Ist es erlaubt, dass ein Jüngling seine beste Kraft in der mikroscopischen Arbeit verschwendet und abgezogen wird von der Ausbildung seiner selbst?

29 [23]

Allerlei Diener der Wahrheit.

Zuerst optimistisches Staunen! Wie viele Wahrheitsforscher!

Ist es erlaubt, dass die besten Kräfte sich so zerstreuen?

Bändigung des Erkenntnisstriebes: classisch – antiquarisch.

- Pessimistisches Erstaunen! Das sind ja alles keine Wahrheitsforscher!

Preis der Gerechtigkeit als der Mutter des wahren Wahrheitstriebes.

Prüfung der "Diener der Wahrheit" nach ihrem Sinn für Gerechtigkeit.

Es ist recht gut, dass diese alle exilirt sind: denn sie würden überall nur stören und Schaden anrichten. Wir wollen sie die Lohnarbeiter der Wahrheit nennen, sie dienen ihr wider Willen und seufzend.

Die Wissenschaft ist für jene eine Correctionsanstalt, eine Galeere.

Hinweis auf Socrates, der sie alle wahnsinnig nennt, im Hause wissen sie nicht, was gut und böse.

Unschädlichmachung der Wissenschaft durch Klöster.

Unsre Aufgabe: das Gespaltene Zerstreute wieder zusammenzubringen und zusammenzuschweissen, einen Herd für die deutsche Culturarbeit zu gründen, abseits von aller Zeitungscultur und Popularisirung der Wissenschaften.

29 [24]

Was Zöllner beklagt, das unendliche Experimentiren und der Mangel an logisch-deductiver Kraft, ist ebenfalls in den historischen Disciplinen zu sehen – Unterschätzung des Classischen im Gegensatze zu dem Antiquarischen: so geht der Sinn der historischen Wissenschaft verloren, alles verflacht sich. Wie dort das Weltbild immer gemeiner wird und eigentlich nur noch von den Popularisirern gezeichnet wird, so hier das Vergangenheitsbild.

29 [25]

Schiller: ihr geht aus, die Wahrheit mit Stangen zu fangen, aber. sie geht mitten hindurch.

29 [26]

"Allerlei Diener der Wahrheit."

Schilderung des laisser faire der Wissenschaft. Es fehlt die Dictatur.

Folge. es fehlt der rechte Kitt – (dafür Zeitungscultur-Kitt!)

im Allgemeinen immer grössere Roheit.

Verkümmerung des Bildes des Wahrheitsdieners.

Daher haben sich Viele eingeschlichen. Schilderung.

Stellung der deutschen Cultur dazu: was ist die Aufgabe? (Goethes Stellung zur Naturwissenschaft.)

29 [27]

Protest gegen die Section des Lebendigen d. h. sie sollen leben lassen, was noch nicht todt ist, und es nicht sofort als wissenschaftliches Object behandeln.

29 [28]

Durch Wissen tödten: eig<entlich> ist es nicht einmal das Wissen, sondern nur das neugierige unruhige Belauern, also ein nothwendiges Mittel und conditio der Wissenschaft. Mitreden-Wollen, wo man nur stört, wenn man redet.

Defienda me Dios de my "Gott behüte mich vor mir".

29 [29]

Alles Erinnern ist Vergleichen d. h. Gleichsetzen. Jeder Begriff sagt uns das; es ist das "historische" Urphänomen. Das Leben erfordert also das Gleichsetzen des Gegenwärtigen mit dem Vergangnen; so dass immer eine gewisse Gewaltsamkeit und Entstellung mit dem Vergleichen verbunden ist. Diesen Trieb bezeichne ich als den Trieb nach dem Klassischen und Mustergültigen: die Vergangenheit dient der Gegenwart als Urbild. Entgegen steht der antiquarische Trieb, der sich bemüht das Vergangne als vergangen zu fassen und nicht zu entstellen, nicht zu idealisiren. Das Lebensbedürfniss verlangt nach dem Klassischen, das Wahrheitsbedürfniss nach dem Antiquarischen. Das Erste behandelt das Vergangne mit Kunst und künstlerischer Verklärungskraft.

Denkt man sich die andre Richtung übermächtig, so hört die Vergangenheit auf, vorbildlich und mustergültig zu wirken, weil sie aufhört, Ideal zu sein, und individuelle Wirklichkeit wie die Gegenwart selbst geworden ist. Sie dient dann nicht mehr dem Leben, sondern ist gegen dieses Leben. Man erreicht so praktisch, was man erreichte, wenn man alle Kunstkammern und Bibliotheken verbrennen würde. Die Gegenwart wird isolirt, wird zufriedner mit sich und entspricht ihrem Wesen und ihren Bedürfnissen, zeigt also, was sie ist, wie gross oder gemein sie ist. – Wodurch nützt aber der Trieb zum Klassischen der Gegenwart? Er deutet an, dass, was einmal war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb wohl auch wieder möglich sein wird ( wie die Pythagoreer meinen dass, wenn die Sterne die gleiche Stellung haben, alles wieder völlig gleich geschehen werde). An das Mögliche und Unmögliche denkt aber der Muthige und der Verwegene: ihn stärkt die Vergangenheit: z. B. wenn er hofft, dass 100 productive Menschen im Stande sind, die ganze deutsche Cultur zu gründen und findet, dass auf ähnliche Weise die Cultur der Renaissance möglich geworden ist. Am Grossen und Unmöglichen aber pflanzt sich die Menschheit fort.

29 [30]

Nehme man an dass jemand glaube, es gehörten nicht mehr als 100 productive, in einem neuen Geiste erzogene Menschen dazu, um der in Deutschland jetzt gerade modischen Gebildetheit den Garaus zu machen, was müsste es ihn bestärken wahrzunehmen, dass die Cultur der Renaissance auf den Schultern einer solchen Schaar Hundert-Männer sich heraushob.

29 [31]

Die Schätzung der Geschichte und die in ihr verschwendete Kraft. Die antiquarische Manier, die das Klassische möglichst beseitigt oder als ganz individuelle Möglichkeit zu begreifen sucht. Weil viel Vernunft verwendet wird, irgend ein Stückchen Vergangenheit so zu begreifen, meint man zuletzt auch, dass Vernunft sie zu Stande gebracht. So entsteht der Aberglaube an die Vernünftigkeit der Geschichte: wobei die absolute Nothwendigkeit verstanden wird als Manifestation des Vernünftigen und Zweckmässigen. Aber die grösste historische Macht ist die Dummheit und der Teufel. Es schwächt den Muth ab, so viele Möglichkeiten zu wissen als dagewesen: wenn es nicht darauf abgesehn ist, abzuschätzen (also das Klassische und Gute aus dem Vergangnen auszuscheiden), sondern nur alles als geworden zu begreifen, so lähmt der antiquarische Sinn; denn er wittert auch im Unsinnigen Zweck und Vernunft. Die Geschichte will nur , eine grosse Behandlung; sonst macht sie Sclaven.

Nun giebt es zweitens ein Maass des erlaubten Retrospectiven und des Unerlaubten. Verboten ist die Vivisection; es soll den Kindern verboten werden zu lauern, wo Eier gelegt werden. Der Wahrheitstrieb, der den eben erlebten Moment secirt, tödtet den nächsten. Solange erkannt wird, wird nicht gelebt.

Dazu – welche Gefahren bringt der antiquarische Sinn, wenn er sich der Menge und der geringen Köpfe bemächtigt! Zuletzt zerfällt alles in Solche, welche historisch leben, und Solche, welche nur historisch tödten. Welche fatale Neubegierde, Unruhe, Belauern, Verrathen, Ablisten des eben Werdenden. Am Tag wird kein Geist citirt. Jede Zeit bedarf so viel Historie, als sie in Fleisch und Blut, durch Verdauen, umsetzen kann; so dass die stärkste und gewaltigste am meisten Geschichte vertragen wird. Wie aber, wenn schwächliche Zeiten mit ihr überfüllt werden! Welche Verdauungsbeschwerden, welche Ermüdung und Kraftlosigkeit!

29 [32]

Es ist möglich, dass ein Volk durch Geschichte sich selbst tödtet: etwa wie ein Mensch, der sich dem Schlaf entzieht. Wiederkäuen ist die Sache gewisser Thiere: sich aber durch Wiederkäuen ruiniren scheint hier und da einmal bei dem menschlichen Rindvieh vorzukommen. Wenn alles, was wird, interessant, des Studiums würdig erachtet wird, so fehlt bald für alles, was man thun soll, der Maassstab und das Gefühl, der Mensch wird in der Hauptsache gleichgültig.

29 [33]

Die Mythologie, mit der sich die antiquarischen Menschen umgeben – die Ideen "die es lieben, sich in immer reineren Formen zu offenbaren" usw.

29 [34]

Das Monumentale sieht von den Ursachen ab. "Effect an sich" das, was zu allen Zeiten Effect macht" (oder das zu allen Zeiten entstehen kann, zu dem die Ursachen immer da sind).

29 [35]

3. Wie ist nur das Monumentale möglich? Oder über den Nutzen der Geschichte. Hülfsbegriff das rein-Menschliche – oder das Grosse und Ungemeine, an dem sich immer wieder das Grosse entzündet. Bestreben der Antiquare, das Ungemeine in das Verständliche d. h. Gemeine herabzuziehn. Deshalb vernichten sie das Monumentale nach besten Kräften.

Sodann wird aber aus dem Codex des Monumentalen ein Zwang und Canon der gegenwärtigen Künstler, mit dem gegen das Entstehn, gegen die Entwicklung angekämpft wird: das Grosse soll nicht werden, es soll dasein.

Die Antiquare sagen: das Grosse ist im Grunde das Gemeine und Allgemeine; auch sie kämpfen gegen das Werden des Grossen (durch Verkleinern, Begeifern usw.).

So kämpfen beide historische Schulen gegen das Grosse an: sowohl mit dem Monumentalen, als dem Gemeinen. Dies war zu allen Zeiten so. Gegen Beides muss das Historisch-Grosse Recht behalten, gegen ersteres, dadurch dass es sich den Eintritt im Tempel des Monumentalen erzwingt, gegen die Antiquare, dadurch dass es endlich wieder selbst Erkenntnissobject wird und damit auch den Antiquaren "interessant" wird.

29 [36]

Die Geschichte gehört dem Thätigen. Es ist ein widerliches Schauspiel, neugierige Mikrologe<n> oder Egoisten oder Touristen auf Pyramiden herumklettern zu sehn. Die Geschichte ist jetzt ebenso zur Schau gestellt wie Bilder in der Gallerie: für den Müssiggänger. Früher suchte man sich von dort Kraft und Trost, jetzt will man Gewissheit, Unterhaltung im Realen, aus Feindschaft gegen die Kunst und gegen das Grosse.

29 [37]

Woraus erklärt sich die Hypertrophie des historischen Sinnes?

29 [38]

Die historische Krankheit.

29 [39]

Im Grunde ist jedermann zufrieden, wenn ein Tag vorüber ist. Ihn so ernst zu nehmen, dass er am andern Tag bereits historische Untersuchungen anstellt, ist lächerlich. Denn damit ist die Hauptlehre, die jeder Tag giebt, verwirkt, "das Leben ist abzu leiden" "es ist eine Busse". In der Hauptsache d. h. gerade in dem, was die Gesammtschätzung des Lebens betrifft, kann kein Ereigniss etwas wesentlich Neues lehren und einer, der vor ein Paar tausend Jahren lebte, kann ebenso weise sein wie einer, der die Geschichte dieser 2000 Jahre zu Hülfe nimmt. Für den Menschen, der das Dasein ableidet, ist Geschichte nichts: er findet überall dasselbe Problem, das jeder Tag ihm zeigt. Sie ist aber etwas für den Thätigen, Unweisen, der alles noch zu hoffen hat, der nicht resignirt, der kämpft – der braucht Geschichte als Exempla dessen, was Einer erreichen kann, wie Einer geehrt werden kann, besonders aber als Tempel des Ruhms. Sie wirkt vorbildlich und stärkend.

29 [40]

Nun aber die Geschichte als Wissenschaft! Da handelt es sich also um Gesetze, die Personen kommen wenig in Betracht, Muth und Begeisterung sind hier nicht mehr zu gewinnen, sie stören vielmehr. Vorausgesetzt dass sich Gesetze finden liessen, so bekämen wir als Resultat den Determinismus und der Thätige würde mit Gewalt wieder zu einem Leidenden gemacht, ohne dass eine moralische Empfindung ihn zur Resignation brächte. Zudem sind die Gesetze wenig werth: weil sie aus den Massen und deren Bedürfnissen abgeleitet sind, also als Bewegungsgesetze der niederen Lehm- und Thonschichten. Die Dummheit und der Hunger sind immer dabei, wie bei jedem französischen Criminalprozess la femme. Wozu sollte man auch solche Gesetze wissen, da ja Jedermann, ohne sie zu kennen, schon Jahrtausende hindurch, nach ihnen gehandelt hat! Der starke und grosse Mensch hat sich immer, wider diese Gesetze, durchgeschlagen: von ihm sollte eigentlich allein die Rede sein. Die Massen sind nur zu betrachten einmal 1) als verschwimmende Copien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten 2) als Widerstand gegen die Grossen 3) als Werkzeug der Grossen. Im Übrigen hole sie der Teufel.

29 [41]

Die Statistik beweist dass es Gesetze in der Geschichte giebt. Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist. Ihr hättet einmal in Athen Statistik treiben sollen! Da würdet ihr den Unterschied gefühlt haben! Je niedriger und unindividueller eine Masse ist, um so strenger das statistische Gesetz. Ist die Menge feiner und edler zusammengesetzt, geht sofort das Gesetz zum Teufel. Und ganz hoch oben, bei den grossen Geistern, könnt ihr gar nicht mehr rechnen: z. B. wann haben die grossen Künstler geheirathet! Hoffnungslos ihr, die ihr da ein Gesetz suchen wollt. Also: so weit es Gesetze giebt in der Geschichte, sind sie nichts werth und ist die Geschichte d. h. das, was geschehen ist, nichts werth.

Überdies: was heisst denn hier "Gesetze"? Stehen sie irgendwie gleich einem Naturgesetz oder einem Rechtsgesetz? Es sagt doch nicht "ihr sollt", sondern "leider war es so". Es ist der Ausdruck eines dummen faktischen Verhältnisses, bei dem Niemand mehr nach dem Warum? fragen darf. "Hier werden jährlich c. 40 Ehen geschlossen" – Warum denn so viel und nicht 80? "Es ist nun einmal nicht anders"! – Sehr belehrend! Wir danken.

Es giebt aber eine Richtung, welche die grossen Massentriebe als das Wichtige betrachtet und alle grossen Männer nur als den Ausdruck, gleichsam das sichtbar werdende Bläschen auf der Wasserfluth betrachtet. Da soll die Masse aus sich heraus das Grosse, das Chaos aus sich heraus die Ordnung gebären. Am Ende wird natürlich der Hymnus auf die gebärende Masse angestimmt; es lebe die Geschichte!

Eine andre Richtung will alles in Betracht ziehn, was "eine historische Macht" gewesen ist und schätzt darnach "das Grosse" ab: "Gross" heisst, was historisch nachhaltig gewirkt hat. Das heisst recht Quantität und Qualität verwechseln. Wenn die plumpe Masse irgend einen Gedanken, eine Religion sich recht adäquat gefunden hat und ihn zäh vertheidigt: soll der Finder und Gründer jenes Gedankens "gross" sein! Warum doch! Das Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf die Massen: und der historische Erfolg des Christenthums beweist glücklicherweise nichts über seinen Gründer, da es im Grunde gegen ihn beweisen würde: hier scheint aber das Ursprüngliche ganz verloren gegangen zu sein und der Name für Tendenzen der Massen und vieler ehrsüchtig-egoistischen Einzelnen geblieben zu sein.

29 [42]

Vergötterung des Erfolgs ist recht der menschlichen Gemeinheit angemessen. Wer aber nur einen einzigen Erfolg einmal genau studirt hat, weiss, was für Faktoren (Dummheit, Bosheit, Faulheit usw.) immer mitgewirkt haben, und nicht als die schwächsten Faktoren. Es ist toll, dass der Erfolg mehr werth sein soll als die unmittelbar vorher noch bestehende schöne Möglichkeit! Gar aber in der Geschichte die Verwirklichung des Guten und Rechten sehen ist Blasphemie gegen das Gute und Rechte. Diese schöne Weltgeschichte ist, um Heraklitisch zu reden, "ein wirrer Kehrichthaufen"! Das Kräftige schlägt sich durch, das ist das allgemeine Gesetz: wenn es nur nicht so oft gerade das Dumme und das Böse wäre!

29 [43]

Luther: "Cicero, ein weiser und fleissiger Mann, hat viel gelitten und gethan".

29 [44]

Der Engländer über Berlin: "in Berlin, wer nicht Geschmack hat an Bierstuben und Weinstuben, er sei arm oder reich, er lebt und stirbt armselig."

29 [45]

Die schreckliche Übung, Charactere und Individuen zu begreifen und somit aus ihrem Lebensnerv zu rechtfertigen, scheint vielleicht auf Gerechtigkeit zu beruhen und auf Gerechtigkeit gegen die Zeitgenossen hinzuwirken. Dem steht entgegen, dass wir gerade an den Zeitgenossen die fatalste Uniformität fordern und am wenigsten gerecht gegen die mannigfachen Charactere sind. Der geübteste Historiker ist, der Zeit gegenüber, "un personnage haineux" , und ist ungerecht oder blasirt.

29 [46]

Der wissenschaftliche Stand ist eine Art Clerus und missachtet die Laien; er ist der Erbe des geistlichen Clerus, ohne diese vererbte Ehrfurcht würde schwerlich unsere Zeit so die Wissenschaften pflegen. Was man früher der Kirche gab, giebt man jetzt, obzwar spärlicher, der Wissenschaft: dass man aber giebt, hat einstmals die Kraft der Kirche bewirkt, die noch jetzt, in dem wissenschaftlichen Clerus, nachwirkt. Und gerade Geschichte zu treiben ist immer noch eine verkappte Theologie, als Lehre von dem Wirken Gottes oder des Vernünftigen. Bemächtigt sich der Menge die Meinung, Geschichte sei ein Wust und keine Wissenschaft, so ist es aus mit ihrer Förderung.

29 [47]

Die verfluchte Volksseele! Wenn wir von deutschem Geiste reden, so meinen wir die deutschen grossen Geister, Luther, Goethe, Schiller und einige Andere, nicht den mythologischen Phantom der vereinigten Ungeistermasse, in der – – – Besser wäre es schon, von lutherartigen Menschen usw. zu reden. Wir wollen vorsichtig sein, etwas deutsch zu nennen –. zunächst ist es die Sprache, diese aber als Ausdruck des Volkscharacters zu fassen, ist eine reine Phrase und bis jetzt bei keinem Volke möglich gewesen, ohne fatale Unbestimmtheiten und Redensarten. Griechische Sprache und griechisches Volk! Das bringe Einer zusammen! Überdies steht es ähnlich wie bei der Schrift: das allerwichtigste Fundament der Sprache ist eben nicht griechisch, sondern wie man jetzt sagt, indogermanisch. Schon besser steht es mit Stil und Mensch. Von einem Volke Prädikate auszusagen, ist immer sehr gefährlich: zuletzt ist alles so gemischt, dass erst immer später eine Einheit wieder an der Sprache sich einfindet oder eine Illusion der Einheit sich an ihr einstellt. Ja Deutsche! Deutsches Reich! Das ist etwas, Deutschsprechende ist auch etwas. Aber Race-Deutsche! Das Deutsche als künstlerische Stileigenschaft ist erst noch zu finden, wie bei den Griechen der griechische Stil erst spät gefunden ist: eine frühere Einheit gab es nicht, wohl aber eine schreckliche κρασις.

29 [48]

Gegen die Parallele der Geschichte mit Jugend, Mannesalter und Greisenalter: auch nicht die Spur Wahrheit daran! Ein fünf-sechs Jahrtausende ist gar nichts und vor allem keine Einheit, weil immer wieder neue Völker hinzukommen und alte in einen Winterschlaf verfallen. Zuletzt aber handelt es sich gar nicht um Völker, sondern um Menschen, die Nationalität ist zumeist nur die Consequenz starrer Regierungsmassregeln, d. h. einer Art Züchtung durch umschliessende Gewalt und Bändigung, nebst Nöthigung, sich zu heirathen und mit einander zu sprechen und zu leben.

29 [49]

Christlich ausgedrückt: so ist der Teufel der Regent der Welt und dabei wird es im Wesentlichen bleiben. Aber jetzt sagt man gebildeter: das System miteinander kämpfender Egoismen: wobei man an den Wald denkt, der so gleichförmig und regelmässig wächst, weil alle Bäume nur ihren Egoismus befriedigen.

29 [50]

1) Die Gefahr des Monumentalen, das, zusammengeschleppt aus allen Zeiten, den suchenden Instinkt verwirrt und schwächt. So auch die Kenntniss aller Verhältnisse und Gesellschaftsschichten: hätte sie der Bauer, was würde er wohl mit dem Pfluge anfangen!

29 [51]

Eine Bändigung des unbegrenzten historischen Sinnes ist nöthig: und thatsächlich besteht eine schon, die aber nicht nöthig ist, die Bändigung durch den nüchternen uniformirten Zeitgeist, der sich überall sucht und zu finden glaubt, und die Geschichte auf sein Maass herunterschraubt. Ein solches Herunterschrauben nehme ich wahr bei Cicero (Mommsen), Seneca (Hausrath), Luther (Protestantenverein) usw. In andrer Art bändigte und streckte Hegel die Geschichte, er, der recht eigentlich der deutsche "Genius der Historie" zu nennen ist; denn er fühlte sich auf der Höhe und am Ende der Entwicklung und damit auch im Besitz aller ehemaligen Zeiten, als deren ordnender νους. Jeder Versuch, das Gegenwärtige als das Höchste zu begreifen, ruinirt die Gegenwart, weil er die vorbildliche Bedeutung des Geschichtlichen leugnet. Die schrecklichste Formel ist die Hartmannsche "sich dem Weltprozess hinzugeben".

Wohin es führt, die Geschichte als einen Prozess anzusehen, zeigt E. von Hartmann p. 618 (woraus mir der ungeheure Erfolg klar wird). Die historische Ansicht verbrüdert sich hier mit dem Pessimismus: nun sehe man die Consequenzen! Die Lebensalter des Einzelnen bieten die Analogie, die gar nicht schmeichelhafte Schilderung der Gegenwart erweckt nur den Schluss, dass es noch schlimmer kommt und dass dies der nothwendige Process sei, dem man sich hinzugeben habe. Zur Analogie dient ein recht gemeines Menschenkind, dessen Mannesalter es zur "gediegenen Mittelmässigkeit" und zu einer Kunst bringt, die ihm durchschnittlich etwa das ist, "was dem Berliner Börsenmann etwa Abends die Posse ist". Er nimmt vor allem "auf eine bedächtig in die Zukunft schauende praktisch wohnliche Einrichtung in der irdischen Heimath Bedacht". Dabei eine Art von sauersüssem Imperativ: "Unbarmherzig und grausam ist dieses Handwerk der Zerstörung der Illusion, wie der rauhe Druck der Hand, der einen süss Träumenden zur Qual der Wirklichkeit erweckt; aber die Welt muss vorwärts; nicht erträumt werden kann das Ziel, es muss erkämpft und errungen werden, und nur durch Schmerzen geht der Weg zur Erlösung." Nur ist unbegreiflich, wie der Process, dessen Mannesalter vorhin geschildert wurde, endlich "in eine Periode der reifen Beschaulichkeit eintritt, wo sie die ganzen wüst durchstürmten Leiden ihres vergangnen Lebenslaufes mit wehmüthiger Trauer in Eins fassend überschaut und die ganze Eitelkeit der bisherigen vermeintlichen Ziele ihres Strebens begreift." p. 625 f. Wenn aber die Menschheit als eine Art Leopardi ihr Greisenalter erleben soll, so müsste sie edler sein als sie ist und vor allem ein anderes Mannesalter haben, als Hartmann ihr ertheilt. Der Greis, der einem solchen Mannesalter entspräche, würde sehr ekelhaft sein und würde mit widriger Gier am Leben hängen, in die gemeinsten Illusionen mehr als je verstrickt.

29 [52]

Hartmann ist wichtig, weil er den Gedanken eines Weltprozesses todtmacht, dadurch dass er consequent ist. Um ihn zu ertragen, legt er als τελος zu Grunde die bewusste Erlösung und Freiheit von Illusionen und das Wählen des Unterganges. Aber das Ende der Menschheit kann jeden Augenblick durch eine geologische Umwälzung da sein: und jene Illusionslosigkeit setzte eine höhere Entwicklung der moralischen und intellectuellen Kräfte voraus: was ganz unwahrscheinlich ist: vielmehr dürften, wenn diese alt würden, die Illusionen nur immer mächtiger werden und das Greisenalter mit einem Kindisch-werden schliessen. Tröstlich ist somit das letzte Resultat keinesfalls und könnte gewiss nicht als τελος bezeichnet werden. So wie er das Mannesalter schildert, nimmt überdies die Fähigkeit, das Dasein als Problem zu nehmen, immer mehr ab und das Bedürfniss nach Erlösung wird immer geringer. Wir wollen uns ja aller Constructionen der Menschheitsgeschichte enthalten und überhaupt nicht die Massen betrachten, sondern die überall hin zerstreuten Einzelnen: diese bilden eine Brücke über den wüsten Strom. Diese setzen nicht etwa einen Prozess fort; sondern sie leben gemeinsam und gleichzeitig, Dank der Geschichte, die ein solches Zusammenwirken zulässt.

Es ist die "Genialen-Republik". Die Aufgabe der Geschichte ist, zwischen ihnen zu vermitteln und so immer wieder zur Erzeugung des Grossen und Schönen Anlass zu geben und Kraft zu verleihen. Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern in den höchsten Exemplaren, die, zerstreut durch Jahrtausende, zusammen alle höchsten Kräfte, die in der Menschheit verborgen sind, repräsentiren.

Überdies: Weltprozess!! Es handelt sich doch nur um die Lumperei der menschlichen Erdflöhe!

Hartmann sagt p. 637. "So wenig es sich mit dem Begriff der Entwicklung vertragen würde, dem Weltprozess eine unendliche Dauer in der Vergangenheit zuzuschreiben, weil dann jede irgend denkbare Entwicklung bereits durchlaufen sein müsste, was doch nicht der Fall ist (!!!), ebensowenig können wir dem Prozess eine unendliche Dauer für die Zukunft zugestehen; beides höbe den Begriff der Entwicklung zu einem Ziele auf und stellte den Weltprozess dem Wasserschöpfen der Danaïden gleich. Der vollendete Sieg des Logischen über das Unlogische muss also mit dem zeitlichen Ende des Weltprozesses, dem jüngsten Tage zusammenfallen (!!)".

Von diesem Hartmannschen "Weltprozess" flüchtet man gern zu dem demokritischen Atomengewirr und zur Darwinistischen Lehre vom Bestehen des Lebensfähigen unter den zahllosen Combinationen. Hier ist doch noch ein Platz für die grossen Individuen, sei es auch dass ein Zufall sie herausgeschleudert. Bei Hartmann ist die Willensverneinung eine Verirrung und die Bejahung des Lebens die eigentliche Pflicht. Zuletzt sollen gar die Majoritäten auf der Erde für die Vernichtung und die Rückkehr in's Nichts abstimmen!

Dagegen unsre Lehre, dass das Bewusstsein nur durch immer höhere Illusionen gefördert und entwickelt wird. Wir stehen deshalb mit unserm "Bewusstsein" so niedrig (verglichen etwa mit den Griechen), weil unsre Illusionen niedriger und gemeiner sind, als die ihrigen. Diesen Fortschritt zur Gemeinheit bin ich nicht im Stande, einen Fortschritt zum "Mannesalter" zu nennen. Dächte man die Illusionen verschwinden, so verdunstet das Bewusstsein bis zur Pflanze. Illusionen sind übrigens nur der Ausdruck für einen unbekannten Sachverhalt. Die Menschheit zur Blasirtheit zu führen ist das Hartmannsche Ziel: dann allgemeiner Selbstmord: von der Majorität der Menschen ausgeführt! Dann kippt die Welt um und versinkt wieder ins Meer des Nichts. Aufgabe der nächsten Generationen, durch Hingabe an den Weltprozess d. h. Bejahung des Willens zum Leben die Blasirtheit einzuleiten!

Ekelhaftes Buch, eine Schande für die Zeit! Wie unendlich reiner, höher und sittlicher wirkt Schopenhauers Pessimismus! Diese Hartmannsche Philosophie ist die Fratze des Christenthums, mit ihrer absoluten Weisheit, ihrem jüngsten Tag, ihrer Erlösung usw. Die Speculation auf den Effect der monströsen Paradoxie, verbunden mit dem laissez faire, war nie toller. Die David-Straussische Gegenwart wird in den Weltprozess eingeordnet, findet ihre Stelle und wird also justificirt. Daher der Erfolg bei der Litteraten-Masse (das heisst nämlich jetzt "Erfolg" überhaupt: die vermögen es schon, das Publikum zum Kaufen aufzureizen!).

29 [53]

Der Hegelsche "Weltprozess" verlief sich in einen fetten preussischen Staat mit guter Polizei. Das ist alles verkappte Theologie, auch bei Hartmann noch. Wir vermögen aber Anfang und Ende nicht zu denken: so lassen wir doch diese "Entwicklung" auf sich beruhen! Es ist sofort lächerlich! Der Mensch und der "Weltprozess"! Der Erdfloh und der Weltgeist!

29 [54]

Wozu die Menschen da sind, wozu "der Mensch" da ist, soll uns gar nicht kümmern: aber wozu Du da bist, das frage dich: und wenn Du es nicht erfahren kannst, nun so stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde! Ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen zu Grunde zu gehen: animae magnae prodigus.

29 [55]

29 [56]

Das Historische in der Erziehung. Der junge Mensch wird durch alle Jahrtausende gepeitscht, das wurde der Grieche und Römer nicht. Dazu politische Geschichte für Jünglinge! Die nichts von einem Kriege, nichts von einer Staatsaktion, von Handelspolitik, Machtfragen usw. verstehen können! So geht der moderne Mensch durch Galerien, so hört er Concerte! Das klingt anders als jenes, fühlt er, und das nennt er dann "historisches Urtheil". – Die Masse ist so gross, dass Abstumpfung die Folge sein muss. Das Schreckliche und Barbarische dringt hinzu, im Übermaass, und wo ein feineres Bewusstsein da ist, muss das Gefühl eins sein: Ekel. Dazu wird der junge Mensch seiner Heimat entfremdet und lernt an allen Sitten und Begriffen zweifeln. Es war in jeder Zeit anders: "es kommt nicht darauf an, wie du bist". Je nach dem ηθος, wird jetzt der Mensch sich zum Schlimmen oder Guten (d. h. Grossen) lösen: "So geht frei, aber gefährlich, ohne Gängelband." Glücklicher Weise ist der Sinn der Jugend meist so stumpf, dass gar nichts wesentlich herauskommt, ausser einer unklaren Betäubung; es fehlt die starke Phantasie und dazu sind die einströmenden Massen zu gewaltig, es wird alles überfluthet.

Ein solches Maass von Historie ist für Niemanden nöthig, wie die Alten zeigen, ja im hohen Grade gefährlich, wie die Neueren zeigen.

Nun der historische Student! Ein ganz isolirtes Capitelchen der Vergangenheit hat er erforscht: jetzt ist er Diener der Wissenschaft, der Wahrheit, jetzt ist es vorbei mit aller Bescheidenheit, er ist fertig! Der gelehrte Dünkel hindert die höhere Erziehung. Ich betrachte junge Doktoren der Geschichte als Menschen, welche in der Bildung nicht bis drei zählen können und meistens auch nie zählen werden: denn sie sind bereits "produktiv"! Herr Je!

29 [57]

Alles "objectiv" nehmen, über nichts zürnen, nichts lieben, alles "begreifen" – das heisst jetzt "historischer Sinn". Die Regierungen fördern einen solchen Sinn ebenso gern, als sie die Hegelei gefördert haben; denn er macht gefügig und schmiegsam. Vor allem aber ist die ganze Presse darin erzogen: man zürnt und ärgert sich nur noch "artistisch", übrigens ist man "blasirt" und "versteht" alles: tout comprendre c'est tout pardonner: aber man "verzeiht" nicht, man justificirt alles. Selbst nicht gebunden, leugnet der historische Journalist alle Bande: er lässt sie nur im utilitarischen Sinne bestehn.

Es soll nicht mehr das Zeitalter der harmonischen Persönlichkeit sein, sondern das der "gemeinsamen Arbeit". Das heisst doch nur: die Menschen, bevor sie fertig sind, werden in der Fabrik gebraucht. Aber seid überzeugt, in Kurzem ist die Wissenschaft ebenso ruinirt, wie die Menschen dieser Fabrikarbeit. Die "gediegene Mittelmässigkeit" wird immer mittelmässiger, der Mensch ist weiser als irgend ein Mensch in einem Punkt und in allen andern dümmer als irgend ein ehemaliger Gelehrter: in summa aber unendlich dünkelhafter. System der Kärrner, die das Genie als überflüssig dekretiren: man wird es euren Bauten ansehen, dass sie zusammenge karrt, nicht zusammen gebaut sind. Dem, der ewig "Arbeitstheilung!" "In Reih und Glied" usw. im Munde hat, ist klärlich und voll zu sagen: wollt ihr die Wissenschaft möglichst schnell fördern, so werdet ihr sie auch möglichst schnell vernichten: wie auch die Henne zu Grunde geht, die ihr künstlich zum allzuschnellen Eierlegen zwingt. Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnden schnell gefördert: aber seht euch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an. Es sind wahrhaftig keine "harmonischen" Naturen mehr: nur gackern können sie mehr als je, aber die Eier sind auch kleiner als je. Daher nun auch die beliebte "Popularisirung" der Geschichte für "gemischtes Publikum". Das wird den Gelehrten so leicht, weil sie selbst, von einem ganz kleinen Bereiche abgesehn, "sehr gemischtes Publikum" sind und dessen Bedürfnisse in sich tragen. Sie brauchen sich nur einmal bequem im Schlafrock hinzusetzen, so gelingt es ihnen, auch ihr kleines Studienbereich jenen gemischt-populären Bedürfnissen aufzuschliessen: für diesen Bequemlichkeits-Akt affichirt man den Namen "bescheidne Herablassung des Gelehrten zum Volk", während im Grunde der Gelehrte nur zu sich, so weit er nicht Gelehrter, sondern Pöbel ist, herabstieg. Schafft erst ein Volk – das könnt ihr euch nie edel und hoch genug denken! Euer "gemischtes Publikum" kann man sich aber nicht leicht gemein genug denken!

29 [58]

Zum Schlusse. Wenn ihr durch diese Betrachtung unmuthig geworden seid, so kann euch der Autor sagen, dass er dies vorausgesehen hat: etwas aber, was er nicht voraussehen kann, ist, wohin ihr nun jenen Unmuth richten werdet: ob nämlich gegen den Autor oder gegen euch selbst. Im letzteren, gewiss seltnen Falle, werdet ihr am besten thun, den Autor ganz zu vergessen: was kommt auch darauf an, wer eine Wahrheit sagt: wenn sie nur überhaupt gesagt wird und solche da sind, die sie zu Herzen nehmen. Geschrieben habe ich für beide Classen und, wie ich hoffe, deutlich genug.

29 [59]

In der ganzen Welt redet man nicht vom Unbewussten, weil es seinem Wesen nach ungewusst ist; nur in Berlin redet und weiss man etwas davon und erzählt uns, worauf es eigentlich abgesehn ist. Nämlich darauf, dass unsre Zeit gerade so sein muss wie sie ist, wenn die Menschheit dieses Dasein einmal satt bekommen soll: was wir von Herzen glauben – während nur E. von H<artmann> es weiss. – Was David Strauss als naive Thatsächlichkeit hinnimmt, wird bei H<artmann> nicht nur von hinten, ex causis efficientibus gerechtfertigt, sondern sogar von vorn, ex causa finali: von dem jüngsten Tage her lässt H<artmann> das Licht über unsre Zeit strahlen, und da findet sich, dass sie sich dem Mannesalter der Menschheit nähert, jenem beglückten Zustande, wo es nur noch gediegene Mittelmässigkeit, Kunst von der Art, wie sie der Berliner Börsenmann am Abend braucht, wo die "Genies kein Bedürfniss der Zeit mehr sind, weil es hiesse, die Perlen vor die Säue werfen oder auch weil die Zeit über das Stadium, welchem Genie's gebührten, zu einem wichtigeren hinweggeschritten ist" (p. 619¹). Wir wünschten, wir hätten uns verschrieben; aber ich habe nur abgeschrieben. Moral: es steht ganz und gar erbärmlich, es wird noch erbärmlicher kommen, aber es muss so stehen, es muss so kommen, "sichtbar greift der Antichrist weiter und weiter um sich" (p. 610). Aber wir sind auf dem besten Wege mit dem allem: "darum rüstig vorwärts im Weltprozess als Arbeiter im Weinberge des Herrn, denn der Prozess ist es allein, der zur Erlösung führen kann" p. 638. Errathen wir den Sinn des H<artmann>, wenn wir in ihm den ironischen Farceur wittern, der ein für allemal die Vorstellung vom "Weltprozess" der Lächerlichkeit preisgeben will? In diesem Sinne haben wir selten eine lustigere Erfindung und eine philosophischere Schelmerei gelesen: aber das gesammte Litteratenthum hat nicht recht hingehört und nur seine eigene Rechtfertigung im apokalyptischen Lichte darin gefunden, so dass ihm entgangen ist, dass H<artmann> geradezu die Weltprozess-Philosophie als eine Philosophie für zeitgenössisches Strolchthum geschrieben hat. Das ist der eigentliche Reiz bei allen Erfindungen H<artmann>'s: der Wissende fühlt, dass er es gar nicht ernsthaft meint, ausser so weit es nöthig ist, die Unwissenden zu biederem Ernste zu verführen.

29 [60]

Grillparzer "jeder Mensch hat zugleich seine Separat-Nothwendigkeit, so dass Millionen Richtungen parallel, in krummen und geraden Linien nebeneinander laufen, sich durchkreuzen, fördern, hemmen, vor- und rückwärtsstreben, und dadurch für einander den Character des Zufalls annehmen, und es so, abgerechnet die Einwirkungen der Naturereignisse, unmöglich machen, eine durchgreifende, alle umfassende Nothwendigkeit des Geschehenden nachzuweisen".

Übrigens wäre nur das Abgeschlossne Fertige Todte zu studiren, weil die letzten belehrenden Consequenzen sichtbar werden. – Geschichte als "Weltsystem von Irrthümern und Leidenschaften". Negative Lehre: wovor man sich zu hüten hat.

Grillparzer: "es ist etwas Eigenes um das Aufblühen und Verwelken der Völker. In jedem ist eine hervorstechende Kraft, die heilsam wirkt, solange sie Hindernisse zu besiegen hat, nach diesem Siege aber sich gegen sich selbst kehrt.

29 [61]

Wenn ein Stoiker und ein Epicureer eins werden, dann verschwören sie sich, Cäsar zu ermorden.

29 [62]

Die Fakta selbst werden als "unmittelbare Ausflüsse des Weltgeistes" betrachtet, nur sie allein hätten deshalb die nöthige Würde und Tiefe, deshalb solle die tragische Kunst sich der Geschichte unterordnen. Lächerlich! Der Geschichte! "Was ist denn Geschichte anders als die Art, wie der Geist des Menschen diese ihm undurchdringlichen Begebenheiten aufnimmt; das, weiss Gott ob Zusammengehörige, verbindet; das Unverständliche durch etwas Verständliches ersetzt; seine Begriffe von Zweckmässigkeit nach Aussen einem Ganzen unterschiebt, das wohl nur eine nach innen kennt; und wieder Zufall, wo tausend kleine Ursachen wirkten. Was anders ist die Geschichte! Was anders als das Werk der Menschen! Da es nun aber nicht die Begebenheiten, sondern ihre Verbindung und Begründung ist, worauf es dem Dichter ankommt, so lasst ihn in Gottes Namen sich auch seine Begebenheiten selbst erfinden, wenn er anders dazu Lust hat."

29 [63]

Wie man vom Schauspieler gesagt hat, seine Kunst habe drei Stufen: "eine Rolle verstehen, eine Rolle fühlen und das Wesen einer Rolle anschauen", und nur alles dreies den wahren Schauspieler macht: so wird man anders vom historisch grossen Menschen sagen: er schaut vor allem das, was zu thun ist, seine Mission, als eine Summe von lauter einzelnen anschaulichen Fällen, selten fühlt er die Einheit aller dieser Fälle als seine Mission und am seltensten versteht er seine Mission. Aber der Historiker folgt ihm auf den Fersen und kann alles dreies.

29 [64]

Ungar und der Hegelsche Professor.

Die Geschichte als "der sich selbst realisirende Begriff, mit nachweisbarer Nothwendigkeit und zu immerwährendem Fortschritt. Sie bekommt dadurch "einen theoretischen Heiligenschein", sie ist "das Wandeln Gottes auf der Erde, welcher Gott aber seinerseits erst durch die Geschichte gemacht wird". Da möchte ich fast dem Spanier Juan Huart<e> beistimmen, der von den Deutschen sagt, sie hätten ein starkes Gedächtniss und wenig Verstand; ihr Verstand wäre immer wie der Verstand der Betrunknen, weil ihnen die viele Feuchtigkeit, womit ihr Gehirn und ihr übriger Körper ausgefüllt sind, nicht verstatte in die Natur der Dinge einzudringen." Auch wird man daran erinnert, dass er ihnen grosse Erfindungskraft in Uhrwerken, Wasserkünsten und mechanischen Kunststücken zuschreibt und wäre geneigt, ein solches sich selbst realisirendes Begriffs-Uhrwerk in diese Reihe zu stellen.

29 [65]

Grillparzer eifert "gegen den in neuerer Zeit prätendirten Nutzen der Litterargeschichte selbst für die praktische weitere Fortbildung der Litteraturzweige und zählt sie vielmehr jenen mitunter gefährlichen Bestrebungen zu, die, indess sie einerseits die Masse der oberflächlichen Kenntnisse, will sagen: Notizen vermehren, auf der anderen Seite den Gesichtskreis in's Unermessliche erweitern, so dass endlich jene innere Concentration immer schwieriger wird, ohne die eine That oder ein Werk nicht möglich wird. Im Mangel dieser Concentration liegt aber der Fluch unserer Zeit."

Wir empfinden mit Abstraction, sagt Grillparzer. Wir wissen kaum mehr, wie sich die Empfindung bei unsern Zeitgenossen äussert; wir lassen sie Sprünge machen, wie man sie heut zu Tage nicht mehr macht. Shakespeare hat uns Neueren alle verdorben. – Wer wird an die Wahrheit der Empfindung eines Heine glauben! Etwa so wenig ich an die eines E. von Hartmann glaube. Aber sie reproduciren mit einem ironischen Hange, in der Manier grosser Dichter und grosser Philosophen: wobei sie im Grunde eine satirische Richtung haben und ihre Zeitgenossen verspotten, die sich gerne etwas vorlügen lassen, in Philosophie und Lyrik, und daher mit ihren neugierigen Brillenaugen ernsthaft zusehen, um sofort die historische Rubrik zu finden, wo diese neuen Genie's ihren Platz haben: Goethe und Heine, Schopenhauer und Hartmann! Es lebe der feine "historische" Sinn der Deutschen!

29 [66]

Alles redet fortwährend vom Volksgeist, vom Unbewussten, von den Ideen in der Geschichte usw., aber für die Gegenwart kommt nichts dabei heraus. Man scheint nur zu schätzen, was aus dem tiefsten Borne des Volksgeistes unbewusst entspringt und praktisch macht man alles, möglichst bewusst und leider möglichst ungeschickt, nach: englischen Parlamentarismus, französische Moden und englische Krämermoral und französische, ja internationale Fortschritt-Phraseologien, dazu Gemälde aller Zeiten und Völker, und das Befremdende gilt nun einmal dem modernen Deutschen als der schönste Luxus. Man denke sich Freitag an der Siegessäule: was für Gefühle schwellen ihn an! Dann steht es freilich bei uns, wie der Schalk Hartmann erzählt, dass wir uns "seit dem letzten Jahrhundert jenem idealen Zustande nähern, wo das Menschengeschlecht seine Geschichte mit Bewusstsein macht" (p. 291); wir ahnen sogar den noch idealeren Zustand, wo die Menschheit mit ihrer Geschichte und mit dem Weltprozess überhaupt ein Ende macht und sich sammt der Welt "in's Nichts zurückschleudert", vielleicht nach telegraphischer Verständigung über den Erdball hin, dass dafür die Majorität (s. p. 640) gewonnen sei und mit der polizeilichen Verordnung, dass nächsten Samstag Abends pünktlich 12 Uhr die Welt untergehen soll, die überstimmte Minorität mit eingeschlossen. "Von morgen an wird keine Zeit mehr sein": wozu Hartmann der Schalk citiren würde Offenbarung Johannis 10,6 (s. Philosophie des Unbewussten, p. 637).

Derselbe Schalk bezeichnet als die "vierte und letzte" Phase der socialen Entwicklung die freie Association: der Arbeiter ist zur Reife zu erziehen, diese Erziehung (durch Schultze-Delitzsch'sche Vereine, bessere Schulbildung, Arbeiterbildungsvereine usw.) zu üben, das ist die wichtigste sociale Aufgabe der Gegenwart. p. 296: "Das Endziel dieser socialen Entwicklung würde das sein, dass jeder bei einer Arbeitszeit, die ihm für seine intellectuelle Ausbildung genügende Musse lässt, ein comfortables Dasein führe."

29 [67]

Hartmann und Heine sind unbewusste Ironiker, Schalke gegen sich selbst: Kant leugnet zwar, dass jemand sich selbst belügen könne.

29 [68]

"In die Zukunft schauen ist schwer, sagt Grillparzer in die Vergangenheit rein zurückblicken, noch schwerer. Ich sage rein, d. h. ohne von dem, was in der Zwischenzeit sich begeben oder herausgestellt hat, etwas in den Rückblick mit einzumischen."

Grillparzer: "Der Grundfehler des deutschen Denkens und Strebens liegt in einer schwachen Persönlichkeit, zufolge dessen das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck auf den Deutschen macht."

29 [69]

Innerlichkeit – nach aussen Unehrlichkeit. Philosophie.

29 [70]

Polybios sagt "gleichwie ein Thier durch den Verlust der Augen durchaus untauglich wird, so ist' die der Wahrheit beraubte Geschichte nichts als eine unnütze Erzählung."

"Geschichte die Vorbereitung auf die Staatsverwaltung und die vorzüglichste Lehrerin, weil sie durch Erinnerung an die Unfälle Anderer die Abwechslungen des Glücks standhaft zu ertragen uns ermahne."

29 [71]

Wie sich die kriegerischen Leit- und Lärmartikel der Kölnischen Zeitung während des letzten Krieges zu einer Demosthenischen Rede verhalten, so verhält sich dieses ausgeblasene Präparat, der historische Fiebermann, zu den historischen Thatenmännern. Ein Zeitungsredacteur mit der tyrtäischen Schlachttrompete ist eben so komisch als Demosthenes als Leitartikelschreiber. Wer etwas ordentliches thun will, muss vorempfinden und nicht nachempfinden und darf sich überhaupt nicht umsehn.

29 [72]

Hegel "wenn der Geist einen Ruck macht, da sind wir Philosophen auch dabei." In der Philosophie ist es der Geist eines Volkes, der Geist einer Zeit, der sich darin zum Bewusstsein kommt. Nun da wird wohl auch bei Hartmann etwas von dem ironischen Bewusstsein zu finden <sein.>

Gott soll "der in allen Völkergeistern thätige allgemeine Geist der Menschheit" sein, die Erhebung zum Genuss der Idee an und für sich soll Religion sein. Hegel: "die allgemeine Weltgeschichte, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völker geister, – die er auf Fläschchen hat, – das Weltgericht darstellt." "Dass der Geschichte und zwar wesentlich der Weltgeschichte ein Endzweck an und für sich zum Grunde liege und derselbe wirklich in ihr realisirt worden sei und werde – der Plan der Vorsehung – dass überhaupt Vernunft in der Geschichte sei, muss für sich selbst philosophisch und damit als an und für sich nothwendig ausgemacht werden." "Eine Geschichte ohne solchen Zweck und ohne solche Beurtheilung wäre nur ein schwachsinniges Ergehen des Vorstellens, nicht einmal ein Kindermährchen, denn selbst die Kinder fordern in den Erzählungen ein Interesse, das ist einen wenigstens zu ahnden gegebnen Zweck und die Beziehung der Begebenheiten und Handlungen auf denselben." Schluss: jede Erzählung muss einen Zweck haben, also auch die Geschichte eines Volkes, die Geschichte der Welt. D. h. Weil es "Weltgeschichte" giebt, muss auch im Weltprozess ein Zweck sein. D. h. wir fordern Erzählungen nur mit Zwecken: aber wir fordern gar keine Erzählungen vom Weltprozess, weil wir es für Schwindel halten, davon zu reden. Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar; dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas anderes. Aber ein Staat hat keinen Zweck: sondern nur wir geben ihm diesen oder jenen.

29 [73]

Zur Mythologie des Historischen. Hegel "was einem Volke geschieht und innerhalb desselben vorgeht, hat in der Beziehung auf den Staat seine wesentliche Bedeutung; die blossen Particularitäten der Individuen sind am entferntesten von jenem der Geschichte angehörigen Gegenstand." Der Staat ist aber immer nur das Mittel zur Erhaltung vieler Individuen: wie sollte er Zweck sein! Die Hoffnung ist, dass bei der Erhaltung so vieler Nieten auch einige mit geschützt werden, in denen die Menschheit kulminirt. Sonst hat es gar keinen Sinn, so viele elende Menschen zu erhalten. Die Geschichte der Staaten ist die Geschichte vom Egoismus der Massen und von dem blinden Begehren, existiren zu wollen: erst durch die Genien wird dieses Streben einigermassen gerechtfertigt, insofern sie dabei existiren können. Particular- und Collectiv-Egoismen im Kampf mit einander – ein Atomenwirbel der Egoismen – wer wird da nach Zwecken suchen wollen!

Durch das Genie kommt bei jenem Atomenwirbel doch etwas heraus und jetzt denkt man milder über das Sinnlose jenes Treibens: etwa als ob ein blinder Jäger viele hundert Male umsonst schiesst und endlich, aus Zufall, einen Vogel trifft. Endlich kommt doch was dabei heraus, sagt er sich und schiesst weiter.

29 [74]

Hegel "das Interesse einer Biographie scheint direkt einem allgemeinen Zwecke gegenüber zu stehen, aber sie selbst hat die historische Welt zum Hintergrunde, mit welchem das Individuum verwickelt ist." Daher also die Entschuldigungstitel "Demosthenes und seine Zeit" usw. Wenn es 10 Biographien aus Einer Zeit giebt, so hat man zehn Mal dasselbe: Buchmacherei! Über den "Geist der Zeit des Ambrosius und sogar – mit Lichter zu reden – etwas über die individuelle Paticularität Ambrosius, soweit sie mit dem Hintergrunde dieser Zeit verwickelt ist."

Übrigens wäre alles ganz schön, wenn es nur nicht so absurd wäre, von "Weltgeschichte" zu reden: gesetzt es gäbe einen Weltzweck, so wäre es unmöglich ihn zu wissen, weil wir Erdflöhe und nicht Weltregierer sind. Jede Vergötterung der abgezogenen Allgemeinbegriffe, Staat, Volk, Menschheit, Weltprozess hat den Nachtheil, die Bürde des Individuums kleiner zu machen und seine Verantwortung zu erleichtern. Wenn es auf den Staat ankommt, dann liegt wenig am Einzelnen: wie jeder Krieg zeigt. In's Moralische gewendet: wer dem Menschen den Glauben nimmt, dass er etwas Fundamental-Werthvolleres sei als alle die Mittel zu seiner Existenz, der macht ihn schlechter. Die Abstracta sind seine Erzeugnisse, seine Mittel zur Existenz – nichts mehr, nicht seine Herren. Es muss ihm als dem moralischen Wesen, jederzeit erlaubt sein, im Kampfe gegen übermächtig werdende, zu Zwecken umgedeutete Mittel zu Grunde zu gehen, d. h. Märtyrer zu werden: um nicht propter vitam vitae perdere causas.

29 [75]

Was der Mensch als Ursache und Wirkung in einander greifen sieht, ist er geneigt, als Mittel und Absicht zu verbinden. Schiller: "eine Erscheinung nach der andern fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freiheit zu entziehen und sich einem übereinstimmenden Ganzen – das freilich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist – als ein passendes Glied einzureihen." Ich stelle als allgemeinen Kanon auf, die Geschichte der Völker mit Anwendung eines Minimums von Geist und Absicht, im Ganzen rein materiell, nach Analogie von stossenden Atomencomplexen, zu erklären. Schwerkraft Dummheit. – Gegen die Mythologie.

29 [76]

Gewiss ist das Bedürfniss des Umgangs mit grossen Vorgängern das Zeichen einer höheren Anlage, aber eben so sehr hat Goethe Recht, dass ein Lump freilich ein Lump bleibt und dass eine kleinliche Natur durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Grossheit antiker Gesinnung um keinen Zoll grösser werde. Wenn aber solche kleinliche Naturen nun gar noch mit vergangnen Kleinheiten und Schlechtigkeiten vertraut umzugehen lernen und in der Geschichte die Wirkungen des Kleinen mit Vorliebe herausspüren, so werden sie von Tag zu Tag immer koboldartiger, schadenfroher, tückischer und treiben ihre üble Behendigkeit zum Ärgerniss aller Rechten und Grossen.

29 [77]

Wie sehr das historische Wissen tödtet, hat Goethe einmal ausgedrückt. "Hätte ich so deutlich wie jetzt gewusst, wie viel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes gethan."

29 [78]

Goethe: "unsre Zeit ist so schlecht, dass dem Dichter im umgebenden menschlichen Leben keine brauchbare Natur mehr begegnet. Um sich nun aufzuerbauen, griff Schiller zu zwei grossen Dingen: zu Philosophie und Geschichte."

Goethe "eigentlich ist es nicht mein Bestreben, in den düstern Regionen der Geschichte bis auf einen gewissen Grad deutlicher und heller zu sehn – Niebuhr war es eigentlich und nicht die römische Geschichte, was mich beschäftigte. So eines Mannes tiefer Sinn und emsige Weise ist eigentlich das, was uns auferbaut. Die sämmtlichen Ackergesetze gehen mich eigentlich gar nichts an, aber die Art, wie er sie aufklärt, wie er mir die complicirten Verhältnisse deutlich macht, das ist's, was mich fördert, was mir die Pflicht auferlegt, in den Geschäften, die ich übernehme, auf gleiche gewissenhafte Weise zu verfahren."

Goethe an Lavater "Resultate und Abstractionen mag ich nicht, Geschichte und Einzelheiten will ich nicht."

29 [79]

Goethe "Schiller erscheint hier, wie immer, im absoluten Besitz seiner erhabnen Natur; er ist so gross am Theetisch, wie er es im Staatsrath gewesen sein würde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht den Flug seiner Gedanken herab; was in ihm von grossen Ansichten lebt, geht immer frei heraus, ohne Rücksicht und ohne Bedenken. Das war ein rechter Mensch, und so sollte man auch sein!"

29 [80]

Mit der historischen Bildung steht es wie mit der Gelehrsamkeit.

Lichtenberg sagt ich glaube, dass einige der grössten Geister, die je gelebt haben, nicht halb so viel gelesen hatten und bei weitem nicht so viel wussten, als manche unserer mittelmässigen Gelehrten. Und mancher unserer sehr mittelmässigen Gelehrten hätte ein grösserer Mann werden können, wenn er nicht so viel gelesen hätte."

Lichtenberg "sollte es nicht sehr viel besser um das menschliche Geschlecht stehen, wenn wir gar keine Geschichte, wenigstens keine politische, mehr hätten? Der Mensch würde mehr nach den jedesmaligen Kräften handeln, die er hat; da jetzt hier und da das Exempel, gegen einen, den es bessert, Tausende schlimmer macht."

Goethe "Wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder Handwerk legt, der wird übel daran sein. Das Wissen fördert nicht mehr, bei dem schnellen Umtrieb der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man sich selbst."

29 [81]

Durch die historischen Studien ist der Gegensatz von "Gebildet" und "Ungebildet" in die Welt gekommen: was hat der produktive Geist dabei verloren! Es ist unaussprechlich! Er hat das Zutrauen zu seinem Volk verloren, weil er dessen Empfindung gefälscht und verfärbt weiss. Mag auch diese Empfindung bei einem kleinen Theile feiner und edler geworden sein: das entschädigt ihn nicht, denn er redet dann gleichsam zu einer Sekte und fühlt sich nicht mehr nothwendig in seinem Volke. Er vergräbt seinen Schatz lieber, weil er einen Ekel empfindet, von einer Classe anspruchsvoll patronisirt zu werden, während sein Herz voll ist von Mitleid mit Allen. Es ist mit den Religionen zu Ende, wie mit den Künsten, wenn es nicht einem blitzenden Gotte gelingt, jene Mauer niederzuwerfen.

29 [82]

Die Zahl der jährlich erscheinenden historischen Schriften? Dazu noch zu rechnen, dass fast die ganze Alterthumswissenschaft noch hinzugehört! Und überdiess in fast allen Wissenschaften beinahe die überwiegende Masse Schriften historisch ist, ausgenommen die Mathematik und einzelne Disciplinen der Medecin und Naturwissenschaft.

Ich wundere mich immer, dass die Menschen nicht einen Widerwillen gegen sich bekommen, wenn sie immer das Vergangne betrachten. Aber neben einander steht das historische Fieber und die grösste augenblickliche Eitelkeit.

29 [83]

Goethe Natur.

Gesetzt es wäre wahr – dann fehlt der Wahn:

bei grossen Dingen,

die nie ohn' ein'gen Wahn gelingen.

29 [84]

"Nur durch eine erhöhte Praxis, sagt Goethe, sollten die Wissenschaften auf die äussere Welt wirken; denn eigentlich sind sie alle esoterische und können nur durch Verbesserung irgend eines Thuns exoterisch werden. Alle übrige Theilname führt zu nichts. – Dass man auch die übrige Welt dazu beruft und ihr davon Notiz giebt, wie es in der neueren Zeit geschieht, ist ein Missbrauch und trägt mehr Schaden als Nutzen."

Goethe "Durchaus aber bleibt ein Hauptkennzeichen, woran das Wahre vom Blendwerk am sichersten zu unterscheiden ist: jenes wirkt immer fruchtbar und begünstigt den, der es besitzt und hegt; dahingegen das Falsche an und für sich todt und fruchtlos daliegt, ja sogar wie eine Nekrose anzusehen ist, wo der absterbende Theil den lebendigen hindert die Heilung zu vollbringen."

29 [85]

"Brav, meiner Treu, Nachbar Schlehwein! Seht ihr, der liebe Gott ist ein guter Mann; wenn ihrer zwei auf Einem Pferde reiten, so muss schon einer hinten aufsitzen."

29 [86]

"Fragen Sie sich selbst, sagt Hume, oder jeden ihrer Bekannten, ob sie die letzten zehn oder 20 Jahre ihres Lebens noch einmal zu durchleben wünschten. Nein! Aber die nächsten 20 werden besser sein, sagen sie –

And from the dregs of live hope to rec<e>ive,

What the first sprightly running could not give."

Das Elend treibt die Menschen in die Zukunft, das Elend treibt sie in eine frühere Vergangenheit, um sich daran das relative Glück der Gegenwart zu demonstriren oder sich zu trösten, dass andern es doch einmal gut gegangen. Der Trieb nach Glück ist es, der die Menschen abhält, die Lehre ihres Tages, Resignation, zu finden; da das Glück nicht da ist, muss es offenbar kommen, schliessen sie, oder dagewesen sein. Oder es ist schon da, verglichen mit dem früheren Unglück usw. Was jeden Menschen vorwärts treibt, treibt sie alle vorwärts: sie benutzen die Geschichte zum Glücklicherwerden in der Zukunft.

Es giebt zwei Betrachtungsarten des Vergangnen: für die eine genügt jeder Zeitraum, jedes Volk, jeder Tag; die andre ist unersättlich, weil sie nirgends die Antwort findet, die sie sucht: wie sich's glücklich lebt. Nach der ersten lebt der Weise, nach der zweiten, der historischen, der Unweise, thätige Mensch. Nun giebt es eine Art, Geschichte zu treiben, die die Menschen hindert, thätig zu sein, ohne sie zur Resignation zu bringen. Das ist unsere Manier.

David Hume "diese Welt ist, im Vergleiche mit einem höhern Maassstabe, sehr gebrechlich und unvollkommen. Sie war nur der erste rohe Versuch einer noch jugendlichen Gottheit, welche nachher dieselbe aus Schaam über die misslungne Arbeit im Stiche liess: sie ist vielleicht nur das Werk irgend einer abhängigen Untergottheit und der Gegenstand des Hohngelächters höherer Wesen: vielleicht ist sie die Geburt des Alters und der Schwachheit, einer der Last der Jahre unterliegenden Gottheit und hat, seit dem Tode derselben, nach dem ersten Anstosse und der von ihr mitgetheilt erhaltenen Thätigkeit, sich auf gut Glück fortbewegt."

Hume: "wenn ein Fremder plötzlich auf unsere Erdkugel verschlagen würde, so würde ich, um ihm ein Vorbild ihrer Leiden zu geben, demselben ein mit Krankheiten angefülltes Hospital zeigen, oder ein Gefängniss, das von Missethätern oder Schuldnern überladen ist, oder ein Schlachtfeld mit Leichen übersäet, eine untergehende Flotte auf der See, eine Nation, die unter Tyrannei, Hungersnoth und Pest dahinschmachtet. Um ihm die fröhliche Seite des Lebens zu zeigen und ihm einen Begriff von den Vergnügungen desselben zu geben – wohin soll ich ihn führen? Auf einen Ball, in eine Oper, an einen Hof? Mit Recht würde er glauben, ich wollte ihm nur eine andre Art von Kümmernissen und Sorgen zeigen."

29 [87]

Jemanden über den Sinn des Erdenlebens aufzuklären – das eine Ziel; jemanden im Erdenleben festzuhalten und mit ihm zahlreiche kommende Generationen (wozu es nöthig ist, ihm die erste Betrachtung vorzuenthalten) – das ist das andre Ziel. Das erste sucht nach einem Quietiv für das Wollen, das zweite auch: das erste findet es in der nächsten Nähe und ist bald satt am Dasein, das andre ist unersättlich und schweift in jede Ferne.

Bei der zweiten Art sollte eigentlich die Vergangenheit immer nur pessimistisch betrachtet werden – um nämlich die Gegenwart relativ erträglich zu finden. Jedoch wieder nicht so pessimistisch, dass sie jene erste Lehre von der Werthlosigkeit gäbe, sondern so, dass sie zwar schlechter ist als die Gegenwart, und der Gegenwärtige mit ihr nicht tauschen mag, aber doch einen Fortschritt in sich zeigt, eben zur Gegenwart hin, damit der Glaube bekräftigt werde, dass das Glück bei einem weitern Fortschreiten zu erreichen sei. Je nachdem also eine Zeit ihr eignes Elend erkennt, um so dunkler wird sie die Vergangenheit zeichnen, je weniger, um so heller. Und die Glücklichen d. h. die Behaglichen werden alles Vergangene im fröhlichen Lichte sehn, die Gegenwart aber im fröhlichsten. Aber überhaupt wird der Trieb, rückwärts zu sehen, um so stärker sein, je grösser die Noth der Gegenwart: für die fröhlich-thätigen Zeiten ist Geschichte wenig nöthig und wird, für die Behäbigen, sogar zum Luxus.

Bei uns ist nun der historische Trieb ausserordentlich stark wie noch nie: und trotzdem ist die Überzeugung von dem Glück der Gegenwart eben so stark. Ein Widerspruch! Hier scheint das natürliche Verhältniss zu fehlen.

Man denke an Livius' Ziel, an Tacitus, an Macc<h>iavell –Flucht vor der Gegenwart und Trost – oft genügt schon die Betrachtung, dass es einmal anders war, oft dass es ebenso war, oft dass es besser war.

Unsre Zeit dagegen capricirt sich auf die objective Geschichtsschreibung, das heisst Geschichte als Luxus: und verräth das allergrösste Behagen an sich selbst.

Geschichte treiben ist zum luxuriirend en Triebe geworden: deshalb soll man sich der Nöthe bewusst werden und damit ein naturgemässes Verhältniss von Geschichte und gegenwärtiger Noth herstellen.

Wie kommt es, dass das Nothgefühl so schwach geworden ist? Von der schwachen Persönlichkeit.

Der luxuriirende historische Trieb macht diese aber immer schwächer.

29 [88]

Es giebt zwei Arten das Vergangne zu betrachten, und wenn ich die eine die historische, die andre die unhistorische nenne, so will ich doch damit die erstere nicht gelobt, die letztere noch weniger etwa getadelt haben. Nur wolle man mit der zweiten nicht die schlecht-historische verwechseln, d. h. die erste in ihrer Entartung oder Unreife. Die unhistorische Art der Betrachtung findet in jedem Zeitmoment, jedem Erlebniss, unter jedem Himmel und jedem Volke, den Sinn des Menschenlebens überhaupt: und wie alle Sprachen die gleichen Bedürfnisse des Menschen ausdrücken, so scheint dem unhistorischen Betrachter jener allen Geschichten im Grossen und Kleinen zu Grunde liegende Ursinn von innen heraus hellseherisch erleuchtet, so dass die mannichfachen Hieroglyphen ihn nichts mehr kümmern: Bettler und Fürst, Dorf und Stadt, Griechen und Türken – alle lehren über das Dasein das Gleiche. Solche Betrachtung ist bei uns selten: wir fordern Historie, wie wir den geschichtlichen Völkern und Personen soweit den Vorzug geben, dass wir die anderen verachten. Am Ganges leben nach unserer Meinung schwach gewordene, in heissem Clima und Trägheit überdrüssige Menschen; wir werfen ihnen die schwache Persönlichkeit vor und erklären ihre unhistorische Betrachtungsart als Zeichen der Stagnation. Vielleicht aber ist auch unsere Forderung geschichtlicher Menschen und Völker nur ein occidentalisches Vorurtheil. Gewiss ist wenigstens, dass die Weisen aller Zeiten so unhistorisch gedacht haben und dass durch Jahrtausende von historischen Erlebnissen auch keinen Schritt breit mehr Weisheit zu erlangen ist. Die folgende Untersuchung aber wendet sich an die Unweisen und Thätigen, um zu fragen, ob nicht gerade unsre jetzige Manier Geschichte zu treiben erst recht der Ausdruck schwacher Persönlichkeiten ist: während wir doch mit dieser Manier so weit als möglich von jenem unhistorischen Betrachten und Weisewerden entfernt sind. –

Nehmen wir an, die historische Untersuchung vermöchte in Betreff von etwas Lebendigem die Wahrheit zu erreichen, z. B. in Betreff des Christenthums: dann hätte sie jedenfalls den Wahn zerstört, der um alles Lebendige und Thätige, wie eine Atmosphaere, sich breitet, – nämlich

"bei allen grossen Dingen,
"die nie ohn' einigen Wahn gelingen."

Man hätte durch die Beseitigung des Wahns, z. B. in Betreff der Religion, die Religiosität bei sich selbst, d. h. die productive Stimmung, zerstört und hätte ein kaltes leeres Wissen, nebst dem Gefühle der Enttäuschung in den Händen zurück behalten.

29 [89]

Wer einmal nicht mehr in jedem Sperling, der vom Dache fällt, das Walten eines persönlichen Gottes sieht, der wird viel besonnener sein, weil er jetzt keine mythologischen Wesen, wie die Idee, das Logische, das Unbewusste usw. an dessen Stelle setzt, sondern den Versuch macht, mit einer blinden Weltbeherrscherin das Bestehen der Welt verständlich zu machen. Mag er also einmal von Naturzwecken absehn, noch mehr von dem Zwecke, den ein Volksgeist, oder gar den ein Weltgeist zu erfüllen habe. Wage er es, den Menschen als ein zufälliges Ohngefähr, als ein unbeschütztes und jedem Verderben preisgegebenes Nichts zu betrachten: von hier aus gelingt es ebenfalls den Willen des Menschen zu brechen, wie von dem einer göttlichen Regierung. Der historische Sinn ist nur eine verkappte Theologie "wir sollen es noch einmal herrlich weit bringen!" Ein Endzweck schwebt dem Menschen vor. Das Christenthum, das die Menschheit verdammt und seltne Exemplare herausnimmt, ist deshalb durch und durch unhistorisch, weil es leugnet, dass bei den folgenden Jahrtausenden etwas herauskäme, was nicht jedem jetzt schon und seit 1800 Jahren zu Gebote stünde. Wenn trotzdem die gegenwärtige Zeit durch und durch historisch gesinnt ist, so giebt sie zu verstehen, dass sie nicht mehr von dem Christenthum niedergehalten ist, dass sie wieder unchristlich ist, wie sie es vor ein Paar Jahrtausenden war.

29 [90]

(Mythologie der Geschichte.)

Mittel gegen das historische Fieber:

1) Keine Geschichte?

2) Leugnung aller Zwecke: das Atomengewirr.

3) Goethe Naturwissenschaft.

4) Pflege des unhistorischen Sinns: Philosophie – Religion –

Kunst. Seher: Zukunft.

29 [91]

Viele Schwachen machen noch nichts Furchtbares: wohl aber viele Dummen, die geben den Esel in concreto, ein furchtbares Thier. Dumm ist die Zeit nicht.

Starker, freue dich der Kraft.

29 [92]

Wenn solche Historiker wie Ranke allgemein werden, belehren sie nicht: solche Sätze wusste man längst vor ihrer Arbeit: sie erinnern an das unsinnige Experimentiren, über das Zöllner in den Naturwissenschaften klagt.

29 [93]

Mirabeau: si j'ai dit la vérité, pourquoi ma vehémence en l'exprimant, diminuerait elle de son prix?

29 [94]

- Der Weg, auf den die Blindheit der letzten Generationen hintreibt, ist der, an dessen Ende, nach einem wahren Wort des Herrn von Stein, "die Juden die herrschende Klasse, der Bauer ein Lump und der Handwerker ein Pfuscher sein wird: wo alles aufgelöst sein wird und nur das Schwert herrscht".

29 [95]

Niebuhr (fere): "zu einer Sache wenigstens ist die Geschichte, klar und ausführlich begriffen, nutz: dass man weiss, wie auch die grössten und höchsten Geister unsres menschlichen Geschlechts nicht wissen wie zufällig ihr Auge die Form angenommen hat, wodurch sie sehen, und wodurch zu sehen sie von Jedermann gewaltsam fordern, gewaltsam nämlich, weil die Intensität ihres Bewusstseins ausnehmend gross ist. Wer dies nicht ganz bestimmt und in vielen Fällen weiss und begriffen hat, den unterjocht die Erscheinung eines mächtigen Geistes, der in eine gegebene Form die höchste Leidenschaftlichkeit bringt: ist der Leser unreif, so bewirkt das unmittelbare Anschauen des täglichen intellectuellen Lebens eines Mächtigen in seiner Seele den gleichen Nachtheil, den Romanlecture für ein schwaches Mädchen hat."

29 [96]

"Objectivität des Historikers" ist ein Unsinn. Man meint, es bedeute, dass ein Ereigniss in allen seinen Motiven und Folgen so rein angeschaut werde, dass es keine Wirkung mehr thut, nämlich ein reiner intellectueller Process bleibt: wie die Landschaft für den Künstler, der sie nur darstellt. "Interesseloses Anschauen", ein ästhetisches Phänomen, Abwesenheit aller Willensregungen. Mit "objectiv" ist also ein Zustand im Historiker gemeint, die künstlerische Beschaulichkeit: ein Aberglaube aber ist es, dass das Bild, das die Dinge in einem solchermassen gestimmten Menschen zeigen, das wahre Wesen der Dinge offenbare. Oder meint man, dass in jenem Zustande die Dinge sich förmlich abphotographiren, meint man, es sei ein rein passiver Zustand? Im Gegentheil: es ist die eigentliche Zeugungszeit des Kunstwerks, ein Compositionsmoment allerhöchster Art: der Einzelwille schläft dabei. Das Gemälde ist künstlerisch wahr, gewiss noch nicht historisch; es sind die facta nicht, sondern deren Gewebe und Zusammenhang, der hier hinzugedichtet ist und der zufällig wahr sein kann: ist er aber falsch, immer noch objectiv".

Objectiv Geschichte denken ist die stille Arbeit des Dramatikers: alles an einander denken, alles Vereinzelte zum Ganzen zu weben: überall mit der künstlerischen Voraussetzung, dass der Plan, der Zusammenhang darin sei: eine Voraussetzung, die gar nicht empirisch-historisch ist und aller "Objectivität", wie man sie gewöhnlich versteht, widerstreitet. Dass der Mensch die Vergangenheit überspinnt und bändigt, ist Kunsttrieb: nicht Wahrheitstrieb. Die vollkommene Form einer solchen Geschichtsschreibung ist rein Kunstwerk: ohne einen Funken der gemeinen Wahrheit.

Ist es erlaubt, dass alles küntlerisch betrachtet werde? Für das Vergangne wünsche ich vor allem die moralische Abschätzung. Also eine bedenkliche Verwechslung des Künstlerischen und des Moralischen: wodurch das Moralische abgeschwächt wird.

Nun aber ist meistens jene Objectivität nur eine Phrase, weil die künstlerische Potenz fehlt. An Stelle jener künstlerischen Ruhe tritt die schauspielerische Affectation der Ruhe: der Mangel an Pathos und moralischer Kraft kleidet sich als überlegne Kälte der Betrachtung. In gemeineren Fälle<n> tritt die Banalität, und Allerweltsweisheit, die allerdings gar nichts Aufregendes hat, an Stelle der künstlerischen Interesselosigkeit. Alles Nichtaufregende wird gesucht –

Wo nun gerade das Höchste und Seltenste behandelt wird, da ist die gemeine und flache Motivation empörend, wenn sie aus der Eitelkeit des Historikers herstammt. (Swift : "jeder Mann hat gerade soviel Eitelkeit, als es ihm am Verstande mangelt.")

Soll der Richter kühl sein? Nein: er soll nicht parteiisch sein, nicht Nutzen und Schaden für sich im Auge haben. Vor allem muss er wirklich über den Parteien stehen. Ich sehe nicht ein, weshalb ein Spätgeborner schon deshalb Richter aller früher Gebornen sein solle. Die meisten Historiker stehen unter ihren Objecten!

Man nimmt jetzt an: der, den ein Moment der Vergangenheit gar nichts angeht, sei berufen ihn darzustellen: Philologen und Griechen verhalten sich meistens so zu einander: sie gehen sich nichts an. Das nennt man auch "Objectivität": selbst zum Photographiren gehört, ausser Object und Platte, das Licht: doch meint man, es genüge Object und Platte. An strahlendem Sonnenlicht fehlt es: im besten Falle glaubt man, dass das Oellicht der Studirstube genüge.

Ganz unbesonnene Menschen glauben überhaupt dass sie und ihre Zeit, in allen Popularansichten, Recht habe<n>: wie jede Religion es von sich glaubt. Sie nennen "Objectivität" das Messen vergangner Meinungen an den Allerweltsmeinungen, in denen sie den Canon aller Wahrheiten suchen. Übersetzung der Vergangenheit in die Trivialität der Gegenwart ist ihre Arbeit. Feindselig sind sie gegen jede Geschichtsschreibung, die diese Popularmeinungen nicht für kanonisch hält: das soll "subjectiv" sein!

Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangne deuten: nur in der höchsten Anspannung werdet ihr errathen, was in dem Vergangnen wissenswürdig ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst seid ihr verloren, sonst zieht ihr das Vergangne zu euch nieder. Glaubt einer Geschichtsschreibung nicht, wenn sie nicht in den Händen der seltensten Geister ist: ihr werdet es immer merken, welcher Qualität ihr Geist ist, wenn einmal ein allgemeiner Satz ausgesprochen wird. Es kann Keiner zugleich ein grosser Historiker und ein Flach- oder Duselkopf sein. Verwechselt mir aber die Arbeiter nicht: z. B. les historiens de Ms. Thiers wie man in Frankreich naiver sagt. Ein grosser Gelehrter und zugleich ein Flachkopf – das ist möglich!

Also: Geschichte bedarf der Thätige, Geschichte schreibt der Erfahrne! Wer nicht Einiges grösser und höher erlebt hat als alle, wird auch nichts aus der Vergangenheit zu deuten vermögen. – Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Seher in die Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn deuten. Man erklärt jetzt die Wirkung Delphi's besonders daraus, dass diese Priester genaue Kenner des Vergangnen waren: jetzt geziemt sich zu wissen, dass nur der, welcher die Zukunft baut, ein Recht habe, die Vergangenheit zu richten: als Seher nur ist er Historiker. Die Gegenwart ist schlecht und, nur eine Linie.

29 [97]

  1. Keine Betrachtung des Vergangnen. Thier – Leopardi.
  2. Monumental – Antiquarisch.
  3. "Objectivität".
  4. Hypertrophie aus Schwäche.
  5. Wirkungen.
  6. Erziehung darin.
  7. Mythologie der Historie.
  8. Ursachen.
  9. Hartmann.
  10. Reaction – Atomengewirr.
  11. Gegenmittel.
  12. Maassstab der zukünftigen Historiker.

29 [98]

Die Heerde weidet an uns vorüber: sie fühlt keine Vergangenheit, springt frisst ruht verdaut, springt wieder und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks: so dass der Mensch sie sehend seufzen muss und sie anreden möchte, wie Giacomo Leopardi im Nachtgesang des Hirten in Asien:

Ach wie muss ich dich beneiden!
Nicht nur weil frei du scheinest
Beinah von allen Leiden,
Mühsal, Verlust, die schlimmste
Beängstigung im Augenblick vergessend –
Mehr noch, weil nie der Überdruss dich quälet!

Wir seufzen aber über uns, dass wir das Vergangne nicht los werden können: während es uns scheinen will, als ob das Thier glücklich sein müsse, weil es <nicht> überdrüssig wird, sofort vergisst und fortwährend den erlebten Augenblick in Nebel und Nacht zurückweichen sieht. So geht es auf in der Gegenwart, wie eine Zahl in einer andern ohne Rest aufgeht, und erscheint ais das ganz und gar, was es ist, in jedem Moment, ohne alle Schauspielerei und absichtliches Verbergen. Wir dagegen leiden alle an dem dunkeln und unauflöslichen Reste des Gewesenen und sind etwas anderes als was wir erscheinen, <wir> fühlen uns ergriffen, die Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch ohne dieses Leiden zwischen den beiden Thoren der Vergangenheit und Zukunft in allzu kurzer und allzu seliger Blindheit spielt, ja vielleicht nur zu spielen scheint, wir scheuen uns sein Spiel zu stören und es aus der Vergessenheit zu wecken – weil wir wissen, dass mit dem Wort "es war" das Leiden und der Kampf beginnt und das Leben als ein unendliches Imperfectum inaugurirt wird: zuletzt drückt der Tod auf diese Erkenntniss, dass das Dasein ein ewiges Imperfectum ist – als ewiges Gewesensein –, sein Siegel, indem er zwar das begehrte Vergessen bringt, aber die Gegenwart und Dasein selbst dabei unterschlägt.

Wir müssen also das Vergangne betrachten – das ist nun einmal Menschenloos: unter diesem harten Joche hart zu werden soll keinem erspart sein, und wenn einer sehr hart geworden ist, bringt er es vielleicht sogar so weit, das Menschenloos eben wegen jenes Nichtvergessenkönnens zu preisen, eben deshalb weil das Vergangne in uns nicht sterben kann und uns mit der Unruhe eines Gespenstes rastlos weiter treibt, die ganze Stufenleiter alles dessen hinauf, was die Menschen gross, erstaunlich, unsterblich göttlich nennen.

29 [99]

Dass die gewöhnliche Geschichtsschreibung als angenehm gilt, führe ich auf denselben Grund zurück, aus dem eine gewöhnliche Unterhaltung als angenehm gilt: ihr Character ist aus Höflichkeit und Lüge zusammengesetzt.

29 [100]

Diejenige Betrachtung der Geschichte ist die beste, welche die fruchtbarste ist, aber für das Leben. Was nützt es, die Ursachen streng zu sammeln, daraus das Factum herzustellen und so zu mortificiren! Bei einer anderen Betrachtung hätte es noch lebendig weiterzeugen können: sobald es als Resultat der Rechnung erscheint, wirkt es nicht mehr, sondern vergeudet alle Kräfte in der Erklärung seiner selbst.

29 [101]

Antiquarisch – Monumental.

Alle Gefahren beider vereinigt in der "Objectivität".

Welche Menschen dadurch an die Historie gekommen sind –

Allgemeine Hypertrophie dadurch eingetreten.

Niebuhr – Goethe fanden kein Verhältniss; Niebuhr siegte. Das mag gut sein, des Nationalen wegen: aber jetzt ist die höchste Zeit zurück zu gehen.

29 [102]

Einwirkung auf's Leben.

Natürliche Bedingungen bei Monumentalem und Antiquarischem.

Historie als Luxus – Einwirkung rein negativ.

Diese Triebe bringen Gefahren für die Wahrheit der Geschichte mit sich: deshalb hat man sie exstirpiren wollen: aber jetzt hat Historie keinen Sinn.

Höchste Schätzung des Wahren ein Characteristikum der Zeit: Kant – Lüge.

Jetzt reines Begreifen, ohne Beziehung zum Leben – übernimmt die Ausartung des Antiquarischen (das Todte ohne Verehrung) und des Monumentalen (das Lebende ohne Nachahmung).

Schilderung der Objectivität.

Motive der Hypertrophie.

29 [103]

Was bedeutet Historie für die Bildung einer Cultur?

Sie warnt und räth ab: sie ist gleich dem Dämonion zu benutzen: sonst nicht.

29 [104]

Historie ohne Nachahmung (ohne sich dem Grossen zu unterwerfen), ohne Pietät (ohne die Atmosphaere des Lebendigen zu schonen), ohne gegenwärtige Noth – – –

29 [105]

Niebuhr schreibt 1796, dass es mit Deutschland's Litteratur sichtbarlich auf die Neige gehe, dass Schiller und Goethe schlimmer als todt seien "soll Voss allein stehen bleiben?" Als Grund wird zunächst angeführt "der gewöhnliche Naturgang, der sich durchgängig bewiesen hat bei allen Völkern". Mich freuts die Erbitterung über den heurigen Schillerschen Almanach mit Baggesen zu theilen."

29 [106]

Hölderlin "du wirst durchaus finden, dass jetzt die menschlichen Organisationen, Gemüther, welche die Natur zur Humanität am bestimmtesten gebildet zu haben scheint, dass diese jetzt überall die unglücklicheren sind, eben weil sie seltener sind als sonst in anderen Zeiten und Gegenden. Die Barbaren um uns her zerreissen unsre besten Kräfte, ehe sie zur Bildung kommen können, und nur die feste tiefe Einsicht dieses Schicksals kann uns retten, dass wir wenigstens nicht in Unwürdigkeit vergehen. Wir müssen das Treffliche aufsuchen, zusammenhalten mit ihm, so viel wir können, uns im Gefühle desselben stärken und heilen und so Kraft gewinnen; das Rohe, Schiefe, Ungestalte nicht nur im Schmerz, sondern als das, was es ist, was seinen Character, seinen eigenthümlichen Mangel ausmacht, zu erkennen."

29 [107]

Hölderlin, "auch ich, mit allem guten Willen, tappe mit meinem Thun und Denken diesen einzigen Menschen (den Griechen) in der Welt nur nach und bin in dem, was ich treibe und sage, oft nur um so ungeschickter und ungereimter, weil ich wie die Gänse mit platten Füssen im modernen Wasser stehe und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle."

29 [108]

Den grössten Nutzen, wenn sich alles (pythagoreisch) wiederholte: dann müsste man die Vergangenheit und Constellation kennen, um die Wiederholung genau zu erkennen. Nun wiederholt sich nichts.

29 [109]

Man klagt, dass der Cosmopolitismus vorüber sei: in der Geschichte besteht er, als Residuum: aber die Voraussetzung, die universale Pietät ist verloren, der Wunsch überall zu helfen.

29 [110]

Goethe an Sch<iller> "Sie haben ganz Recht, dass in den Gestalten der alten Dichtkunst, wie in der Bildhauerkunst, ein Abstractum erscheint, das seine Höhe nur durch das, was man Styl nennt, erreichen kann. Es giebt auch Abstracta durch Manier, wie bei den Franzosen."

29 [111]

Epische und dramatische Behandlung des Vergangenen. Schiller: "der epische Dichter schildert uns bloss das ruhige Dasein und Wirken der Dinge nach ihren Naturen; sein Zweck liegt schon in jedem Punkte der Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig zu einem Ziele, sondern verweilen mit Liebe bei jedem Schritte."

29 [112]

Goethe "es ist doch nur die Neigung, die alles sehen kann, was das Kunstwerk enthält, und die reine Neigung, die dabei noch sehen kann, was ihm mangelt."

Goethe "es ist lustig zu sehen, was diese Menschenart eigentlich geärgert hat, was sie glauben, dass einen ärgert, wie schaal leer und gemein sie eine fremde Existenz ansehen, wie sie ihre Pfeile gegen das Aussenwerk der Erscheinung richten, wie wenig sie auch nur ahnen, in welcher unzugänglichen Burg der Mensch wohnt, dem es nur immer Ernst um sich und um die Sachen ist."

29 [113]

Die Pietät für das Vergangene geht so weit, dass die Griechen den hieratischen Stil neben dem freien und grossen duldeten, mit den spitzen Nasen und dem Lächeln: später wurde daraus eine Feinschmeckerei. So die antiquarische Manier gegenüber der monumentalen.

29 [114]

Antiquarisch. – Pietät gegen das, woraus oder worin wir sind. Heiligende Macht der Persönlichkeit – Urväterhausrath und Gemeindeinstitutionen bekommen Würde und erregen eifriges Nachforschen. Das Kleine, das Beschränkte wird geadelt – frauenhaft – das Idyllische gefunden. Überall Zeugnisse von braver treuer fleissiger Sinnesart.

Schäden: alles Vergangne gleich wichtig genommen, keine Beziehung aufs Leben als bewahrend, nicht schaffend, das Lebendige zu Gunsten des Verehrten (Hieratischen) unterschätzt. Mangel an Urtheil, alles Vergangene liegt wie eine bunte Jagdbeute da. Hindert den kräftigen Entschluss, lähmt den Handelnden, der immer die Pietät verletzt. Der ehrwürdige "Alte"; de mortuis nil nisi bene. Die ältesten Sitten, Religionen usw. rechtfertigen sich durch Alter und verwirren alle Werthabschätzungen: weil sie die viele Sympathie, die die Griechen ihnen geschenkt haben, zusammenrechnen. Das, was die meiste Sympathie erzeugt hat, ist am ehrwürdigsten: man ehrt die Masse Liebe. Man vergisst nach den Motiven dieser Sympathie zu fragen: Faulheit Egoismus Gedankenbequemlichkeit usw.

Wie leidet dabei die Vergangenheit? Es giebt keine Proportion der Dinge zu einander, der Eine hält dies, der Andere das wichtig. Die V<ergangenheit> zerfällt: ein Partikel ist jemandem sympathisch, das nächste kalt und gleichgültig. Dazu wird das Unbedeutende perpetuirt.

Allmählich entsteht eine gelehrtenhafte Gewohnheit, die Pietät stirbt ab, die Sammelwuth tritt ein, völlige Verwirrung der menschlichen Aufgaben: bedeutende Naturen verlieren sich in bibliographische Fragen usw. In summa Ruin der Lebendigen, die fortwährend durch ehrwürdigen Moderduft geplagt werden.

29 [115]

Der Mensch will schaffen monumentalisch
im Gewohnten verharren antiquarisch
von Noth sich befreien kritisch.

29 [116]

Gegen den Contrast von Sentimentalisch und Naiv wäre einzuwenden: dass gerade unsere Gegenwart jene frostig klare und nüchterne Atmosphaere hat, in der der Mythos nicht gedeiht, die Luft des Historischen – während die Griechen in der dämmerigen Luft des Mythischen lebten und dafür in ihren Dichtungen, im Contrast klar und linienbestimmt sein konnten: da wir die Dämmerung in der Kunst suchen, weil das Leben zu hell ist. Damit stimmt, dass Goethe die Stellung des Menschen in der Natur und die umgebende Natur selbst geheimnissvoller räthselhafter und dämonischer nahm als seine Zeitgenossen, um so mehr aber in der Helligkeit und scharfen Bestimmtheit des Kunstwerkes ausruhte.

29 [117]

Schiller gebrauchte die Historie im monumentalen Sinne, doch nicht als handelnder Mensch, sondern als zur That antreibender, als zum Dran drängender Dramatiker. Vielleicht müssen wir jetzt alle Dinge eine Stufe weiter stellen: wozu früher die Historie diente, dazu jetzt das Drama. Schiller's Ahnung war die rechte: das Wortdrama muss die Historie bezwingen, um die Wirkung hervorzubringen, die ursprünglich die Historie (monumentalisch dargestellt) hatte. Das historische Drama darf aber um keinen Preis antiquarisch sein; Shakespeare hat das Rechte, der Römer als Engländer auftreten liess. Im Drama wird der mächtige Mensch vorangestellt: es ist nicht als statistisches Gesetz, darin liegt die Erhebung über die jetzige Wirkung der Geschichte. Nur mache man nicht die höchsten Kunstansprüche daran: man stelle das Drama hin als ein rhetorisches Kunstwerk: was es wirklich bei Schiller ist, man unterschätze nicht die Kraft der Beredsamkeit und lasse wenigstens unsre Schauspieler gut reden lernen, da sie wahrscheinlich gar nicht mehr lernen werden, etwas Poetisches vorzutragen. Dadurch dass wir alle die höchsten Wirkungen der Tragödie für das musikalische Drama separiren, bekommen wir eine freiere Stellung zum Wortdrama: es darf rhetorisch sein, es darf dialektisch sein, es darf naturalistisch sein, es soll auf die Moralität wirken, es soll schillerisch sein. Der Prinz von Homburg ist das Musterdrama. "Natürlich" zu sprechen ist in der höchsten Kunst wieder nöthig: da es aber jetzt auch im Leben keine Natürlichkeit des Sprechens giebt, so übe man die Schauspieler in der Convention des Rhetorischen und verachte die Franzosen nicht. Der Weg zum Stil muss gemacht, nicht übersprungen werden: dem hieratisch bedingten "Stile", das heisst einer Convention, wird man nicht ausweichen können. Goethe's Theaterleitung.

29 [118]

Nachdem wir aus der Schule der Franzosen heraus sind, sind wir hülflos geworden: wir wollten natürlicher werden, sind es auch geworden, indem man sich möglichst gehen liess und im Grunde nur schlotterig und beliebig nachmachte, was man früher peinlich nachmachte. Es ist alles erlaubt zu denken, aber im Grunde ist gerade nur die öffentliche Meinung erlaubt. Man ist scheinbar frei geworden, indem man sich die Fesseln der strengen Convention zerriss und die Stricke der Philisterei eintauschte.

"Einfach und natürlich" zu sein ist das höchste und letzte Ziel der Cultur: inzwischen wollen wir uns bestreben, uns zu binden und zu formen, damit wir zuletzt vielleicht ins Einfache und Schöne zurückkommen. Es ist ein so toller Widerspruch in unserer Schätzung der Griechen und. unserer Befähigung für deren Stil und Leben. Fast ist es unmöglich gemacht, auf einer der unteren und niederen Stufen des Stils stehen zu bleiben (was doch so nöthig wäre!), weil das Wissen um das Höhere und Bessere so mächtig ist, dass man gar nicht mehr den Muth hat, das Geringere auch nur zu können. Hier ist die grösste Gefahr der Historie.

29 [119]

Mein Ausgangspunct ist der preussische Soldat: hier ist eine wirkliche Convention, hier ist Zwang, Ernst und Disciplin, auch in Betreff der Form. Sie ist aus dem Bedürfniss entstanden. Freilich weit entfernt vom "Einfachen und Natürlichen"! Seine Stellung zur Geschichte ist empirisch und darum zuversichtlich lebendig, nicht gelehrt. Sie ist, für einige Personen, fast mythisch. Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst geforderten Pflichttreue.

Goethe sodann ist vorbildlich: der ungestüme Naturalismus: der allmählich zur strengen Würde wird. Er ist, als stilisirter Mensch, höher als je irgend ein Deutscher gekommen. Jetzt ist man so bornirt, daraus ihm einen Vorwurf zu machen und gar sein Altwerden anzuklagen. Man lese Eckermann und frage sich, ob je ein Mensch in Deutschland so weit in einer edlen Form gekommen ist. Von da bis zur Einfachheit und Grösse ist freilich noch ein grosser Schritt, aber wir sollten nur gar nicht glauben Goethe überspringen zu können, sondern müssen es immer, wie er, wieder anfangen.

29 [120]

Wirkung des musikalischen Drama's auf die Entwicklung der Gruppe, der langen Stellung.

29 [121]

In Deutschland ist die Furcht vor der Convention epidemisch. Aber bevor es zu einem nationalen Stile kommt, ist eine Convention nöthig. Dazu lebt man doch in einer bummelig-inkorrecten Convention, wie all unser Gehen Stehen Unterhalten anzeigt. Es scheint, man will die Convention, die am wenigsten Selbstüberwindung kostet, bei der jeder recht schlampen kann. Die Historie ist freilich sehr gefährlich, indem sie alle Conventionen neben einander zur Vergleichung stellt und damit das Urtheil dort aufruft, wo die δυναμις alles entscheidet.

Man gehe durch eine deutsche Stadt alle Convention, verglichen mit anderen Nationen, zeigt sich im Negativen, alles ist farblos, bummelig, abgelebt, jeder treibt es nach Belieben, aber nicht nach einem kräftigen gedankenreichen Belieben, sondern nach der Bequemlichkeit, die unsre Kleidung bereits als Hauptrücksicht anklagt. Zudem will man keine Zeit verlieren, denn man ist in Hast. Nur die Convention ist gebilligt, die dem Faulen – Hastigen gemäss ist.

Es ist wie beim Christenthum; der Protestantismus rühmt sich, dass Alles innerlich geworden ist: darüber ist die Sache verloren gegangen. So ist bei dem Deutschen alles innerlich, man sieht aber auch nichts mehr davon.

29 [122]

Gegensatz der Convention und der Mode. Gerade die letztere wird von dem historischen Sinne befruchtet: sie erwächst aus Luxusbedürfnissen, sucht das Neue seiner selbst wegen, vor allem das Auffallende, ist solange "Mode" als es "neu" ist. Die Deutschen sind fast gewillt, eine französische Convention, rein aus Bequemlichkeit und Sinn für das Gewohnte, zur Convention zu machen.

29 [123]

Ist es wahr, dass es zum Wesen des Deutschen gehört, stillos zu sein? Oder ist es ein Zeichen seiner Unfertigkeit? Es ist wohl so: das, was deutsch ist, hat sich noch nicht völlig klar herausgestellt. Durch Zurückschauen ist es nicht zu lernen: man muss der eignen Kraft vertrauen.

Das deutsche Wesen ist noch gar nicht da, es muss erst werden; es muss irgendwann einmal herausgeboren werden, damit es vor allein sichtbar und ehrlich vor sich selber sei. Aber jede Geburt ist schmerzlich und gewaltsam.

29 [124]

Heilmittel: die Schillersche Benutzung der Historie

ihre Gefahren (Drastiker usw.)

Bedeutung als Warnerin, als Dämonion –

ja sie warnt vor sich selber.

29 [125]

Goethe: Madame de Stael "gerirt sich mit aller Artigkeit noch immer grob genug als Reisende zu den Hyperboreern, deren capitale alte Fichten und Eichen, deren Eisen und Bernstein sich noch so ganz wohl in Nutz und Putz verwenden liessen; indessen nöthigt sie einen doch die alten Teppiche als Gastgeschenk und die verrosteten Waffen zur Vertheidigung hervorzuholen".

Goethe: übrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben."

29 [126]

Schiller: "ich kann nicht anders glauben, als dass der naive Geist, welchen alle Kunstwerke aus einer gewissen Periode des Alterthums gemeinschaftlich zeigen, die Wirkung und folglich auch der Beweis für die Wirksamkeit der Überlieferung durch Lehre und Muster ist. Nun wäre aber die Frage, was sich in einer Zeit wie die unserige von einer Schule für die Kunst erwarten liesse. Jene alten Schulen waren Erziehungsanstalten für Zöglinge, die neueren müssten Correctionshäuser für Züchtlinge sein und sich dabei, wegen Armuth des productiven Genie's, mehr kritisch als schöpferisch bildend beweisen."

29 [127]

Goethe ein alter Hofgärtner pflegte zu sagen: "die Natur lässt sich wohl forciren aber nicht zwingen."

Goethe "wie wird es möglich, dass das Alberne, ja das Absurde sich mit der höchsten ästhetischen Herrlichkeit der Musik so glücklich verbindet? Es geschieht dieses allein durch das Humor; denn dieses, selbst ohne poetisch zu sein, ist eine Art von Poesie und erhebt uns seiner Natur nach über den Gegenstand. Dafür hat der Deutsche so selten Sinn, weil ihn seine Philisterhaftigkeit jede Albernheit nur ästimiren lässt, die einen Schein von Empfindung oder Menschenverstand vor sich trägt."

29 [128]

Schiller zu Goethe "Sie sind wirklich, so lang Sie arbeiten, im Dunkeln, und das Licht ist bloss in Ihnen; und wenn Sie anfangen zu reflectiren, so tritt das innere Licht von Ihnen heraus und bestrahlt die Gegenstände Ihnen und andern."

29 [129]

Schiller "dass die Deutschen nur für's Allgemeine, für's Verständige und für's Moralische Sinn haben" (nichts verriethe "einen Blick in die poetische Oekonomie des Ganzen"). Goethe "in Herrmann und Dorothea habe ich, was das Material <betrifft, den Deutschen einmal ihren Willen gethan und nun sind sie äusserst zufrieden.>

29 [130]

Goethe: "Niemand hat das materielle Costüme mehr verachtet als er; er kennt recht gut das innere Menschen-Costüme, und hier gleichen sich Alle. Man sagt, er habe die Römer vortrefflich dargestellt; ich finde es nicht; es sind lauter eingefleischte Engländer, aber freilich Menschen sind es, Menschen von Grund aus, und denen passt wohl auch die römische Toga." "Der Dichter lebt zur würdigen und wichtigen Zeit und stellt ihre Bildung, ja Verbildung mit grosser Heiterkeit uns dar". –

- Nun frage ich, ob es auch nur möglich wäre, Römer als moderne Deutsche im Überrock und Litteraten- Beamten- oder Leutnantsmanieren vorzuführen. Es wäre eine Carikatur: woraus sich ergiebt, dass sie keine Menschen sind.

Dies gehört zum historischen Thema. Wir pflegen uns durch fremde Zeiten und Sitten zu drapiren: sobald wir die fremden Zeiten und Menschen mit uns drapiren wollten, machen wir sie zur läppischen Carikatur.

29 [131]

Goethe "genau aber genommen, so ist nichts theatralisch, als was für die Augen zugleich Symbolisch ist: eine wichtige Handlung, die auf eine noch wichtigere deutet."

29 [132]

Man findet, dass "der Deutsche isolirt lebe und eine Ehre darin suche, seine Individualität originell auszubilden." Ich kann <das> jetzt nicht mehr zugeben: ja, eine gewisse Freiheit der Sinnesart ist erlaubt: die Handlungsart ist uniformirt und starr imperativisch. Es bleibt überall bei dem Innern ohne ein Äusseres, wie der Protestantismus das Christenthum gereinigt zu haben glaubt, indem er es durch Verinnerlichung verflüchtigte und aus der Welt schaffte. An Stelle der Sitte d. h. der natürlich zutreffenden und angemessenen Tracht steht die Mode, die willkürlich übergehängte, die Individuen auszeichnende und sofort wieder uniformirende Tracht. Man erlaubt jetzt die Mode, aber nicht mehr die abweichende Denk- und Handlungsart. Umgekehrt hätte der antike Mensch die Mode ausgelacht, aber die individuelle Manier zu leben, bis auf die Kleidung, gutgeheissen. Die Individuen waren stärker und freier und unabhängiger in allem, was sichtbar werden kann in Handlung und Leben. Unsre Individuen sind schwach und furchtsam: ein widerhaariger Geist des Individuellen hat sich in's Innere zurückgezogen und zeigt seine Mucken hier und da; er widerstrebt verdriesslich und versteckt. Die Pressfreiheit hat diesen muckenden Individuen Luft gemacht: sie können jetzt ohne Gefahr sogar ihr elendes Separatvotumchen schriftlich geben: für das Leben bleibt es beim Alten. Die Renaissance zeigt freilich einen andern Anlauf, nämlich in's Heidnisch-stark-Persönliche zurück. Aber auch das Mittelalter war freier und stärker. Die "Neuzeit" wirkt durch Massen gleichartiger Natur: ob sie "gebildet" sind, ist gleichgültig.

29 [133]

Das Wort "Tugend" ist in Deutschland alt und doch verrostet und ein wenig lächerlich geworden: man merkt aber auch praktisch nichts mehr von der Strenge der Selbstzucht, von dem kategorischen Imperativ und einer bewussten Moralität. Wie viele Lehrer würden sich nicht lächerlich fühlen, wenn sie davon reden sollten! Man beruhigt sich dabei, die Sache zu haben: was mir aber auch zweifelhaft wird.

29 [134]

Die reife Goethesche Weisheit kann man nicht im Sprunge erfassen; nicht als junger Mensch. Da ist es nur "Blasirtheit".

29 [135]

Man kann seine Ehrfurcht vor dem deutschen Soldaten nur dadurch ausdrücken, dass man sagt "er wusste nicht was er sang, er hörte es gar nicht"; jene Lieder des letzten deutschen Kriegs, jene Märsche der vorangehenden preussischen Kriege sind plumpe, mitunter sogar süsslich-widrige Gemeinheit, die Hefe jener "Bildung", die jetzt so gerühmt wird. Freilich nur die Hefe! Aber es gab andre Hefen! Kein Zug wahrer Volksthümlichkeit darin, wahre Beschimpfung der Worte "Volkslied, Volksweise"! Etwa wie sich ein Kölner Leitartikelschreiber zu Tyrtäus verhält. Pfui dich mal an, Junfer Bildung, würde Luther sagen.

29 [136]

Der historische Sinn des Deutschen wurde offenbar in dem Sturm der Empfindung, mit der Goethe an Erwin von Steinbach dachte: im Faust, in W<agner>'s R<ing> d<es> N<ibelungen>, in Luther, in dem deutschen Soldaten, in Grimm. Ein Hindurchfühlen und –Ahnen, ein Wittern auf fast verlöschten Spuren, ein Herauslesen des Palympsest, ja Myriopsest – vieles Irren Vergreifen möglich!

29 [137]

Programm. 6. November 1873.

Herstellung der Volksgemeinde und der Gefolgschaften (Armee, Diplomaten).

29 [138]

Zu Lichtenberg's Zeiten wusste man nichts davon, dass die Deutschen die Historie im Übermaasse trieben. Wohl aber spricht er ihnen Begabung für die höhere Historie zu. Neuerdings ist die ganze Bildung historisch fundirt: liegt es nun an der Historie, wenn die deutsche Bildung im Ganzen so wenig werth ist?

Geschichte rein als Erkenntnissproblem, in niederem Grade nur auf Kunde, nicht auf Einsicht gerichtet, im höheren Sinne ohne Rückwirkung auf das Leben.

Ungeheurer Aufwand der Mittel, ohne kräftige Praxis.

29 [139]

Die Statistik betrachtet die handelnden grossen Personen auf der Bühne der Geschichte nicht, sondern nur die Statisten, das Volk usw.

29 [140]

Wie leicht geht die objective Geschichtsschreibung in die tendenziöse über! Das ist eigentlich das Kunststück, das zweite zu sein und das erste zu scheinen.

29 [141]

Platonische Erziehung ohne Historie. Hartmann.

Progressive Hast: wo stürzt man hin?

Gründung der modernen Institute.

Die Welt utilisirt sich immer mehr.

Alles wird abstrakter, was die Menschen ehemals gebunden hat.

Man macht das Experiment, ob der Mensch von Natur gut oder böse ist.

Die Institutionen werden auf Furcht und Noth basirt.

Im Grunde muss der Kosmopolitismus um sich greifen.

Die willkürlichen Begrenzungen Staat Nation sind ohne Mysterium allmählich und erscheinen viel grausamer und schlechter. Die Gegensätze schärfen sich heillos. Am Fieber zu Grunde gehen.

29 [142]

Schilderung der Ruhe der unhistorischen Welt.

Sehnen nach der Umschattung des Kunstwerks: in dem leben wir wenigstens auf Stunden unhistorisch.

"Zu den redenden Künsten gehört die schweigende." Jean Paul.

"Es braucht viel Zeit, bis eine Welt untergeht – weiter aber auch nichts" sagt Gibbon.

29 [143]

Wenn Glück das Ziel wäre, so stünden die Thiere am höchsten. Ihr Cynismus liegt im Vergessen: das ist der kürzeste Weg zum Glücke, wenn auch zu einem, das nicht viel werth ist.

29 [144]

Schopenhauer meint, vielleicht liege alles Genie im genauen Erinnern des eignen Lebenslaufes. Wenn reine Erkenntniss das Ziel wäre – wäre dann unsre Zeit die genialste Zeit? Ist die grösste Menschen- und Sachkenntniss Zeichen der Grösse? Ist Richter zu sein die Aufgabe jeder Generation? Ich denke, die Aufgabe ist vielmehr, etwas zu thun, was Spätere richten mögen.

29 [145]

Alles Historische misst sich an etwas. Was hat unsre Zeit entgegenzusetzen?

29 [146]

  1. Innerlich.
  2. Gerecht und objectiv.
  3. Illusion zerstört.
  4. Alter der Menschheit.
  5. Mythologie.
  6. Hartmann.
  7. Unhistorisch.
  8. Die naivsten Stufen der Historie.
  9. Umgränzung des Horizontes.

29 [147]

Plan.

  1. Unhistorisch – Historisch.
  2. Nutzen und Schaden der Historie. Allgemein.
  3. Übergang zur Zeitschilderung.
  4. Innerlichkeit.
  5. Gerecht, objectiv.
  6. Illusion zerstört.
  7. Alter der Menschheit. Hartmann. Mythologie.
  8. Ob Unhistorisch? Plato.
  9. Maass des Historischen. Begrenzung. Beherrschung.
  10. Deutsche Kultur. Werth der Historie für dieselbe. Stil. Nationale Modification.

29 [148]

Er sagt seine Sachen immer noch etwas deutlicher als er sie denkt.

29 [149]

Fortsetzung der Zoologie.

Dass der Mensch als Heerdenthier ist, beweist die Statistik.

29 [150]

Wartburgwettkampf: von der Hagen, Minnesinger, II 2ff. vom Jahr 1300.

Ludus Paschalis de adventu et interitu Antichristi. Pezii thesau<us> Anecdot<orum> N<ovissimus> 2.

29 [151]

Thier Mensch – Historisch Unhistorisch.

Plastische Kraft.

Unhistorisches Fundament.

Staat als Beispiel. (Vergessen des Vergangnen und Illusion über das Vergangne.)

Geschichte dient dem Leben, sie steht im Dienste des Unhistorischen.

29 [152]

Was heisst unhistorisch?

Leidenschaft wirkt unhistorisch.

Auch grosse Ziele, ob Mensch ob Volk.

Übermässige Schätzung – Niebuhr. Leopardi.

29 [153]

  1. Thema und Thesen.
  2. Monumental.
  3. Geschichte zum Leben. Antiquarisch.
  4. Kritisch.
  5. Übergang zur Zeitkritik.
  6. innerlich.
  7. Geschichte angebliche Gerechtigkeit dem Leben, Objectivität.
  8. feindlich. nicht mehr reif.
  9. Spätlinge.
  10. Weltprocess.
  11. Übergang zu den Remedia:
  12. Plato. Keine Historie.
  13. Remedia

29 [154]

Erdichtetes Mythisches.

Liebe und Selbstvergessen.

Das Leben als Problem.

Recht reif zu werden.

Die Ehrlichkeit und die Keckheit des Wortes.

Die Hitze des Rechtsgefühls.

29 [155]

Das Übermaass bewiesen

1) dadurch dass alles innerlich bleibt

2) dass nichts mehr reif wird

3) das Gefühl Spätlinge zu sein

4) Stadium der Selbstverspottung

5) die Historie selbst erlahmt: angebliche Objectivität.

Übergang: da wirft man sich gern einmal in den Gedanken: gar keine Historie. Rousseau.

29 [156]

Die historische Bildung als die Bildung überhaupt.

Die historische Objectivität als die Gerechtigkeit.

Unreif.

Ironie – Alter der Menschheit.

Weltprozess.

Kluger Egoismus.

Vorrede.

Einleitung.

Historie zum Leben.

Historie dem Leben schädlich.

29 [157]

  1. Historisch, Unhistorisch und Überhistorisch.
  2. Die Historie im Dienste des Lebens.
  3. Die Historie dem Leben schädlich.
  4. Das Unhistorische und das Überhistorische als Heilmittel für das durch Historie geschädigte Leben.

29 [158]

Die Historie dem Leben feindlich.

  1. erzeugt den gefährlichen Contrast von Innerlich und Äusserlich.
  2. erweckt den Anschein der Gerechtigkeit.
  3. hindert das Reif- und Fertigwerden.
  4. erweckt den Glauben an das Alter der Menschheit und ist der advocatus diaboli.
  5. eignet <sich> für den Dienst des klugen Egoismus.

29 [159]

Kennt mein Leser die Stimmung, in der der Betrachtende lebt? Vermag er sich zu vergessen, den Autor zu vergessen und in seine Seele gleichsam Dinge, die wir zusammen betrachten, überwandern zu lassen? Ist er bereit aus dem ruhigen in ein bewegtes Wellenspiel fortgetragen zu werden, ohne die Stimmung des Betrachtenden dabei zu verlieren? Liebt er das Pfeifen des Sturmes und erträgt er die Ausbrüche des Zorns und der Verachtung? Und noch einmal: vermag er es, bei dem allen, weder an sich noch an den Autor zu denken? – Nun wohlan, ich glaube von ihm ein Ja gehört zu haben und halte mich nun nicht länger zurück, ihn also anzureden.

29 [160]

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.

Vorrede.

I. Historisch, Unhistorisch, Überhistorisch.

II. Die Historie im Dienste des Lebens.

a) die monumentale Historie

b) die antiquarische

c) die kritische

III. Die Historie dem Leben feindlich.

a) Sie erzeugt den gefährlichen Contrast von Innerlich und Äusserlich.

b) Sie erweckt den Anschein der Gerechtigkeit.

c) Sie zerstört die Instinkte und hindert das Reifwerden.

d) Sie pflanzt den Glauben an das Alter der Menschheit.

e) Sie wird von dem klugen Egoismus benutzt.

IV. Das Unhistorische und das Überhistorische als Heilmittel für das durch Historie geschädigte Leben.

29 [161]

Capitel über Leben und Historie: was die Wissenschaft dazu sagt: laissez faire. Es fehlt die dazu gehörige Praxis, die Heilkunst.

29 [162]

Zum Schluss.

Von der Ironie zum Cynismus.

Plato's Mittel die Jugend für den Staat zu retten.

Schiller – Correctionsanstalten.

Hülfswissenschaft nöthig – angewandte Historie, Gesundheitslehre.

Heilmittel das Unhistorische, das Überhistorische. Lob der Kunst und ihrer Kraft Atmosphaere zu bilden.

29 [163]

Entwurf der Unzeitgemässen Betrachtungen.

1873 David Strauss.

Nutzen und Nachtheil der Historie.

1874 Viel-Lesen und Viel-Schreiben.

Der Gelehrte.

1875 Gymnasien und Universitäten.

Soldaten-Kultur.

1876 Der absolute Lehrer.

Die sociale Crisis.

1877 Zur Religion.

Klassische Philologie.

1878 Die Stadt.

Wesen der Kultur (Original-).

1879 Volk und Naturwissenschaft.

29 [164]

  1. Vorspiel.
  2. – – –
  3. Die Bedrängniss der Philosophie.
  4. Der Gelehrte.
  5. Die Kunst.
  6. Die höhere Schule.
  7. Staat Krieg Nation.
  8. Social.
  9. Klassische Philologie.
  10. Religion.
  11. Naturwissenschaft.
  12. Lesen Schreiben Presse.
  13. Weg zur Freiheit (als Epilog).

29 [165]

Plato und seine Vorgänger.

Homer.

Skeptische Einfälle.

29 [166]

Ausgezeichnete Schilderung der Deutschen und der Franzosen:

Görres, Europa und die Revolution, p. 206.

Wie veränderlich und schwimmend die Grenzlinien jeder gemachten Zeichnung sind. Licht<enberg> I 206.

29 [167]

Cyclus von Vorlesungen.

Rhetorik.

Rhythmik.

Geschichte der Poesie.

Prosa.

Alte Philosophie:

1) Vorplatoniker und Plato.

2) Aristoteles und Socratiker.

Choephoren.

Hesiod's Erga.

Thucydides, B: I.

Lyriker.

Aristoteles Poetik.

29 [168]

Römer und Griechen: Stellung der Römer zu der griechischen Kultur. Ihre Urtheile darüber. Von ihnen stammt die dekorative Manier der Cultur.

29 [169]

Drei Abhandlungen von Friedrich Nietzsche.

Homer und die klassische Philologie.

Über Wahrheit und Lüge.

Die Grundlagen des Staats. (Wettkampf, Krieg.)

29 [170]

3.

Schilderung des chaotischen Durcheinanders in einem mythischen Zeitalter. Das Orientalische. Anfänge der Philosophie als Ordnerin der Kulte, Mythen, sie organisirt die Einheit der Religion.

4.

Anfänge einer ironischen Stellung zur Religion. Neues Auftauchen der Philosophie.

5. usw. Erzählung.

Schluss: Plato's Staat als überhellenisch, als nicht unmöglich. Philosophie erreicht hier ihre Höhe, als Staatengründerin eines metaphysisch geordneten Staates.

29 [171]

Griechen und Barbaren.

Erster Theil: Geburt der Tragödie.

Zweiter Theil: die Philosophie im tragischen Zeitalter.

Dritter Theil: über dekorative Kultur.

29 [172]

Es ist gar nichts Unsinniges zu denken, dass das Gedächtniss für die Vergangenheit auch bei uns geringer sei und dass der historische Sinn etwa ebenso schliefe, wie er in der höchsten Akme der Griechen schlief. Bald hinter der Gegenwart begänne das Dunkel: in ihm wandeln schattenhaft unsicher grosse Gestalten ins Ungeheure sich ausdehnend, wirkend auf uns, aber fast wie Heroen, nicht wie gemeine helle Tageswirklichkeit. Alle Tradition wäre jene fast unbewusste der ererbten Charactere: die lebenden Menschen wären, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grunde durch sie tradirt werde; mit Fleisch und Blut liefe die Geschichte herum, nicht als vergilbtes Document und als papiernes Gedächtniss. Die Sitten der Eltern und der Grosseltern gelten bei den Kindern als die Vergangenheit: was ferne dahinter lag, wirkt kaum noch als übrig gebliebene Architectur, als Tempel, als Aberglaube auf die Gegenwärtigen ein. Ähnlich lebt jetzt noch der Bauer, ähnlich fast jedes grosse Volk der Vergangenheit. Der Hauptgewinn für beide ist und war, dass die gegenwärtige Generation nicht so peinlich vergleicht und sich misst, so dass sie über sich selbst in Unbewusstheit des Urtheils bleiben kann. Sie wird zutrauensvoller zu ihrer Kraft sein, weil ihre Kraft nur durch das wirkliche, nicht durch das eingebildete und anerzogene Bedürfniss in Anspruch genommen wird und Kraft und Bedürfniss sich meistens entsprechen. Sie wird vor dem Überdrusse mehr bewahrt bleiben als ein Volk, das historischer und gebildeter ist, als seine Productionskraft auszuhalten vermag. Nicht so oft irregeführt nach dem unerreichbaren Ziele, zum Ekel gestimmt über das Erreichte, kommt der Mensch zu einer Ruhe, die der Gegensatz der modernen durch und durch historischen Welt und ihrer Hast ist. Sollte man es nicht zu büssen haben, wenn man in kostbaren Bildergallerien aller Zeiten lebt und der Blick immer vergleichend zu dem Betrachter zurückkehrt, mit Frage, was er eigentlich in diesen Räumen zu suchen habe? Und so entfährt dem Verwegensten wohl einmal der Fluch: "weg mit allem Vergangenen, ins Feuer mit den Archiven, Bibliotheken, Kunstkammern! Lasst doch die Gegenwart selbst produciren, was ihr noththut, denn nur dessen, was sie selbst kann, ist sie werth. Quält sie nicht durch Mumisirung des einmal, in ferner Zeit Gültigen und Nothwendigen und schafft das Todtengerippe weg, damit die Lebenden ihres Tages und Thuns froh werden können." Ja, wenn Glück, Freiheit von Überdruss, Behagen unsre Losung sein dürfte: dann wäre es erlaubt, das Thier zu preisen, das immer auf der schmalen Linie der Gegenwart lebt und ohne Verdrossenheit und Überdruss frisst, verdaut, wieder frisst, ruht und springt. "Historisch fühlen" heisst wissen, dass man jedenfalls zum Leiden geboren ist und dass alles unser Arbeiten im schönsten Fall Vergessenheit des Leidens erringt. Immer lebten früher die Halbgötter, immer ist das gegenwärtige Geschlecht das entartete. Was seine Auszeichnung ist, weiss es selten; denn das Vergangne umgiebt uns wie eine geschwärzte verdunkelnde Zimmerwand. Erst der Nachkomme vermag zu würdigen, worin auch wir Halbgötter waren. Nicht dass es somit ewig abwärts gienge und alles Grosse in immer kleineren Proportionen sich wiederholte: aber immer ist jede Zeit zugleich eine absterbende und seufzt unter dem herbstlichen Fall der Blätter. Man sehe nur das einzelne Menschenleben an: was der Jüngling verliert, wenn er die Kindheit verlässt, ist so unersetzlich, dass er wünschen müsste, nach diesem Verlust das Leben als gleichgültig hinzugeben. Und doch verliert er als Mann noch einmal Unschätzbares, um endlich als Greis auch noch das letzte Gut zu verlieren, so dass er nun das Leben kennt und es zu verlieren bereit ist. Welches verlorne Bemühen, wollten wir als Jünglinge nach dem ringen, was der Kindheit Glück und Kraft ausmachte. Der Verlust ist zu erleiden, die Erinnerung häuft immer mehr Verluste zusammen, und am Schluss, wenn wir wissen alles verloren zu haben, nimmt uns tröstlich der Tod dieses Wissen, unser letztes Erbgut.

29 [173]

Homer und die klassische Philologie. 24.

Der Wettkampf bei den Griechen. 15.

Über Wahrheit und Lüge. 20.

Der griechische Staat. 15.

Vier Abhandlungen.

29 [174]

Plato.

Jugend. Pest.

Critias.

Das Künstlerische in Plato.

Heracliteer.

Sokrates. Der platonische Socrates.

Reisen. Ziele – das praktische Ideal.

l'ythagoreer-Ideen (geringere Conception).

Dion.

Akademie. Der Philosoph im Staate. Sophist. Rhetor.

Kunst.

Schriftstellerei – Eros. Dialektik.

Zweite Reise.

Dritte Reise – Staatsideal.

Dion's Ende. Andre politische Wirkungen.

Parmenides. Präludirende Skepsis zu der

Theorie: Plato hauptsächlich Legislator und Reformator, nie darin Skeptiker.

29 [175]

Empedocles.

Democrit.

Pythagoreer: Kampf gegen die Eleaten, mehr um sich zu schützen. Beschreibung ihres Bundes.

Socrates. Moralisch – dialektisch – plebejisch.

29 [176]

"Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wichtig zu halten, hat sehr viel Grosses hervorgebracht" sagt Lichtenberg.

29 [177]

Historie, die zwar nicht unmittelbar oder mittelbar zu besseren Menschen und zu besseren Bürgern macht, ist nur, nach einem Ausdrucke, den Bolingbroke in seinen berühmten Briefen on the study and use of history anwendet "a specious and ingenious sort of idleness".

29 [178]

Aristoteles "zwei Dinge sind es ja, welche vorzüglich die Menschen zu hegender Sorgfalt und Anhänglichkeit bestimmen: der alleinige Besitz und die Seltenheit der besessenen Sache, durch welche sie dem Besitzer theuer wird." So pflegt der antiquarische Mensch das Vergangne, weil es so ganz und gar individuell und einmalig ist – ganz abgesehen wie gering oder wie kostbar an sich –, er fühlt sich als den Besitzer dieses kleinen Besitzthums, das er vor allen Menschen voraus hat. Die kleinste Erkenntniss, sobald sie Eigenthum ist, macht ihren Erfinder glücklich, z. B. eine Correctur in einem gedruckten oder geschriebenen Buche.

29 [179]

Von der kritischen Historie gilt auch, was Benjamin Constant sagt: "der sittliche Grundsatz, es sei eine Pflicht die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen". Man denke nur an sein eignes Leben: wäre es die Aufgabe, seine Vergangenheit überhaupt laut zu sagen, wer würde es selbst aushalten können? Es gehört sehr viel Kraft zum Vergessen dazu, um leben zu können.

29 [180]

Luther: "dass Gott, wenn er an das schwere Geschütz gedacht hätte, er die Welt nicht erschaffen hätte". Vergessen gehört nun einmal zu allem Schaffen.

29 [181]

Denken wir uns den letzten Menschen auf der ausgedörrten Wüste des morschen Erdballs sitzen –

29 [182]

Was birgt nicht alles der Mensch in sich, was er nie kennen lernen darf: weshalb der alte Spanier sagte "Defienda me Dios de my" "Gott behüte mich vor mir".

29 [183]

Die Antiquare sagen: "das Grosse ist im Grunde das Gemeine und Allgemeine", auch sie kämpfen gegen das Werden des Grossen (durch Verkleinern Begeifern Mikrologie).

29 [184]

Luther "Cicero ein weiser und fleissiger Mann hat viel gelitten und gethan".

Man schraubt die Geschichte je nach seiner Höhe herauf und herunter: so schraubt Mommsen seinen Cicero zum Journalisten herab, Luther nennt ihn (siehe vorher).

29 [185]

Gewiss ist das Bedürfniss des Umgangs mit grossen Vorgängern usw. Umgang mit den kleinen, koboldartig (siehe hinten).

29 [186]

Goethe (wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder ein Handwerk legt usw.).

Pietät für das Vergangene zu Gunsten des Hieratischen (s. h<inten>).

Zu den redenden Künsten gehört die schweigende.

"Es braucht viel Zeit bis eine Welt untergeht – weiter auch nichts."

29 [187]

Zum Schlusse. Goethe über Niebuhr "der Historiker als das eigentlich werthvolle Object, nicht die Historie." Davon ist etwas zu hoffen (siehe hinten).

Schiller von Goethe gepriesen (siehe hinten).

29 [188]

Gegenmittel: 1) Keine Geschichte?

2) Leugnung der Zwecke Atomengewirr?

3) Interesse für den Historiker gegen die Historie gewendet?

Die meisten Historiker unter ihren Objecten.

4) Goethe, Natur.

5) Pflege des Überhistorischen und Unhistorischen. Religion Mitleid Kunst.

29 [189]

Niebuhr zur Vertheidigung Macchiavelli<s> "es giebt Zeiten, in denen Einem jeder Mensch heilig sein muss: andre wo man sie nur als Masse behandeln kann und soll; es kommt darauf an, die Zeit zu kennen".

29 [190]

"Der Deutsche ist von Natur, seitdem er seinen einfachen grossen Character verloren hat, afterrederisch und verunglimpfend, und nichts weniger als billig: und noch weniger liebend."

29 [191]

Gehofftes Resultat:

Character zu offenbaren in der Bildung, keine dekorative Bildung, sondern eine organische.

So gelingt vielleicht den Deutschen noch, was den Griechen in Betreff des Orients gelang – und so das, was "deutsch" ist, erst zu finden.

29 [192]

Von sich selbst Besitz zu ergreifen, das Chaotische zu organisiren, alle Furcht vor der "Bildung" wegzuwerfen und ehrlich zu sein: Aufforderung zum γνωθι σαυτον, nicht im grüblerischen Sinne, sondern um wirklich zu wissen, was unsre ächten Bedürfnisse sind. Von da aus kühn bei Seite werfen, was fremd ist, und aus sich hinaus wachsen, nicht in ein Ausser-uns sich hineinpassen.

Zum Organisiren des Chaotischen eignet sich Kunst und Religion: letztere giebt Liebe zu den Menschen, erstere Liebe zum Dasein

dabei Verachtung – – –

29 [193]

Tradition anpflanzen, fortschreitende Bewegung, Eichbäume für die Enkel. Organisation zu finden, um der ersten Generation ihre Existenz zu ermöglichen und dann die Volksbildung zu übernehmen. Wie ein Gestirn ohne Rast, ohne Hast.

Die Ruhe der Arbeitenden. Der ruhige Blick in die Zukunft erst möglich, wenn wir uns nicht mehr so ephemer fühlen, so wie eine Welle.

29 [194]

Die unhistorischen Mächte heissen Vergessen und Wahn. Die überhistorischen Kunst Religion Mitleid Natur Philosophie.

29 [195]

Handwerk lernen, nothwendige Rückkehr des Bildungsbedürftigen in den kleinsten Kreis, den er möglichst idealisirt. Kampf gegen die abstracte Production der Maschinen und Fabriken.

Ein Hohn und Hass gegen das zu erzeugen, was jetzt als "Bildung" gilt: dadurch dass man eine reifere Bildung dagegen stellt.

29 [196]

Und was wird aus uns, werden die Historiker unwillig entgegnen: wohin soll die Wissenschaft der Historie? unsre berühmte strenge nüchterne mütterliche Wissenschaft? – Geh in ein Kloster, Ophelia, sagt Hamlet; in welches Kloster wir aber die Wissenschaft und den historischen Gelehrten bannen wollen, dieses Räthsel wird der Leser sich selber aufgeben, sich selber lösen, falls er zu ungeduldig ist dem langsamen Gange des Autors zu folgen und einer hiermit versprochenen späteren Betrachtung "über den Gelehrten" und die gedankenlose Einordnung desselben in die moderne Gesellschaft vorauszueilen vorzieht.

Schluss. Es giebt eine Gesellschaft der Hoffenden.

29 [197]

Die Bedrängniss der Philosophie.

Von aussen: Naturwissenschaft Geschichte (Beispiel Instinkt. Begriff geworden).

Von innen: der Muth, eine Philosophie zu leben, ist gebrochen.

Die anderen Wissenschaften (Natur, Geschichte) vermögen nur zu erklären, nicht zu befehlen. Und wenn sie befehlen, vermögen sie nur auf den Nutzen zu verweisen. Jede Religion, jede Philosophie hat aber gerade irgendwo eine erhabene Naturwidrigkeit, eine auffallende Unnützlichkeit. Damit wäre es denn zu Ende? – Wie mit der Poesie, die eine Art Unsinn ist.

Das Glück des Menschen beruht darauf, dass es irgendwo für ihn eine Undiskutirbare Wahrheit giebt, gröbere (z. B. das Wohl seiner Familie als höchsten Beweggrund) feinere, der Glaube an die Kirche usw. Hier hört er gar nicht hin, wenn dagegen gesprochen wird.

In der ungeheuren Bewegtheit sollte der Philosoph Hemmschuh sein: kann er es noch sein?

Das Misstrauen der strengen Forscher gegen jedes deductive System, vid. Bagehot.

29 [198]

Die Bedrängniss der Philosophie.

A. Die Anforderungen an den Philosophen in der Noth der Zeit. Grösser als je.

B. Die Angriffe auf die Philosophie grösser als je.

C. Und die Philosophen schwächer als je.

29 [199]

Die Philosophie rein zur Wissenschaft zu machen (wie Trendelenburg) heisst die Flinte in's Korn werfen.

29 [200]

Die mangelhaft entwickelte Logik! Durch die historischen Studien ist sie verkümmert. Auch Zöllner klagt. Lob des Spir. Und der Engländer.

29 [201]

Welche Naturen werden jetzt noch Philosophen?

29 [202]

"Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste." Hölderlin.

"Ein Räthsel ist Reinentsprungenes. Auch

Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn

Wie du anfingst, wirst du bleiben,

So viel auch wirket die Noth

Und die Zucht, das Meiste nämlich

Vermag die Geburt

Und der Lichtstrahl, der

Dem Neugebornen begegnet." Hölderlin.

29 [203]

Zur Religion. Ich bemerke eine Erschöpfung, man ist an den bedeutenden Symbolen ermüdet. Alle Möglichkeiten des christlichen Lebens, die ernstesten und lässigsten, die harmlosesten und die reflektirtesten, sind durchprobirt, es ist Zeit zur Nachahmung oder zu etwas Anderem. Selbst der Spott, der Cynismus, die Feindschaft ist abgespielt – man sieht eine Eisfläche bei erwärmtem Wetter, überall das Eis schmutzig, zerrissen, ohne Glanz, mit Wasserpfützen, gefährlich. Da scheint mir nur eine rücksichtsvolle ganz und gar ziemliche Enthaltung am Platze: ich ehre durch sie die Religion, ob es schon eine sterbende ist. Mildern und beruhigen ist alles, nur gegen die schlechten gedankenlosen Köche, zumal wenn es Gelehrte sind, muss protestirt werden. – Das Christenthum ist ganz der kritischen Historie preiszugeben.

29 [204]

Wenn ich einmal recht in Wünschen ausschweife, So denke ich mir, dass mir die schreckliche Bemühung, sich selbst zu erziehen erleichtert worden wäre und ich einen Philosophen als Erzieher gefunden hätte, dem man gehorchen könnte, weil man ihm mehr als sich vertraute! Dann suche ich wohl die Grundsätze seiner Erziehung zu errathen, z. B. über harmonische und partielle Bildung: und seine Methoden. Mühsam würde es sein, und wir, an die Bequemlichkeit der Erziehung und an das Sichgehenlassen gewöhnt, würden oft verzagen. – So aber, ohne solche Erzieher, fühlt man seine Kräfte oft im Kampfe mit einander, in Empörung, auch seine geistigen Triebe. Zwar glauben die Gelehrten, man könne mit der Wissenschaft nicht leicht genug thun: der Wissenschaft nicht genug, das ist wahr, aber sich übergenug, zuviel: das ist auch wahr. Ich sehe lauter geistige Krüppel: ihre partielle Ausbildung hat ihnen einen Höcker zugetragen. – Was heisst harmonisch und partiell? Sollten wir etwa die partielle Ausbildung überhaupt fürchten? Die pars soll vielmehr nur das Centrum werden für alle andern Kräfte, die Sonne im Systeme. Aber ein Balanciren mit Gegengewichten ist überall nöthig, wo eine grosse Kraft ist. Kleist – Philosophie (ihm fehlte Schopenhauer).

29 [205]

Der Philosoph ist einmal für sich, sodann für andre Philosoph. Es ist nicht möglich, es ganz allein für sich zu sein. Denn als Mensch hat er Beziehung zu andern Menschen: und ist er Philosoph, so muss er es auch in diesen Beziehungen sein. Ich meine: selbst wenn er sich streng von ihnen absondert, als Einsiedler, so giebt er damit eine Lehre, ein Beispiel und ist Philosoph auch für die Andern. Er mag sich benehmen, wie er will: sein Philosoph-sein hat eine Seite, die den Menschen zugekehrt ist.

Das Product des Philosophen ist sein Leben (zuerst, vor seinen Werken ). Das ist sein Kunstwerk. Jedes Kunstwerk ist einmal dem Künstler, sodann den andern Menschen zugekehrt. – Welches sind die Wirkungen des Philosophen auf die Nichtphilosophen und andre Philosophen?

Der Staat, die Gesellschaft, die Religion usw., alle können fragen: was hat uns die Philosophie geleistet? Was kann sie uns jetzt leisten? So auch Cultur.

Frage nach den Culturwirkungen der Philosophie überhaupt.

Umschreibung der Cultur – als einer Temperatur und Stimmung vieler ursprünglich feindselig<er> Kräfte, die jetzt eine Melodie abspielen lassen.

29 [206]

Die feindseligen Kräfte werden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehalten: als dies Band zerreisst, so empört sich eins wider das andre. Die Reformation erklärte vieles für αδιαφορα – von da greift die Scheidung immer mehr um sich. Zuletzt sind es die derbsten Kräfte, die fast allein noch alles bestimmen; der militärische Staat voran. Versuch des Staates alles aus sich zu organisiren und das Band zu sein für die feindseligen Kräfte. Begriffe einer Staatskultur, im Gegensatz zu einer Religionskultur. Nun ist die Macht böse, und will das Nützliche mehr als alles Andre.

Wir befinden uns in dem eistreibenden Strome des Mittelalters, dasselbe ist aufgethaut, in verheerende Bewegung gerathen.

29 [207]

Unter allen Umständen die Revolution: aber von der Klugheit und Menschlichkeit der nächsten Geschlechter hängt es ab, ob daraus die Barbarei oder etwas Anderes hervorgeht: der Mangel an ethischer Philosophie in den gebildeten Schichten ist natürlich in deutlicheren Formen in die ungebildeten gedrungen, die immer das vergröbernde Echo waren. Darin geht alles zu Grunde. Kein neuer grosser Gedanke ist weit und breit zu sehen. Nur dass irgendwann einmal von Neuem angefangen wird.

29 [208]

Ich kann mir Schopenhauer nicht an einer Universität denken: die Studenten liefen vor ihm davon und er selbst liefe vor den Mit-Professoren davon.

29 [209]

Wenn ich denke, was für starke frohe Geschlechter gelebt haben – wo sind nur die Kräfte der Reformationszeit hin! – so kommt mir unsre Art zu leben vor wie die Einwinterung auf hohem Gebirge, selten kommt die Sonne, alles ist grau, alle Freuden sind rührend für den Beschauer – so flüchtiges Glück! Es lebt sich so schwer. Und dazu die Erinnerung an Sommertage.

29 [210]

Ach diese Spanne Zeit! Wir wollen sie wenigstens gross und willkürlich behandeln. Für so kleine Gabe sollen wir doch nicht Sklaven der Geber sein! Das ist das Wunderlichste, wie gebunden die Vorstellung und Einbildung der Menschen ist, sie nehmen das Leben nie als ein Ganzes wahr. Sie fürchten sich vor den Worten und Meinungen ihrer Nächsten – ach, nur zwei Generationen weiter und niemand hat mehr die Meinungen, die jetzt herrschen und euch zu Sklaven machen wollen.

29 [211]

Jede Philosophie muss das können, was ich fordere, einen Menschen concentriren – aber jetzt kann es keine.

29 [212]

Zwei Aufgaben: das Neue gegen das Alte zu defendiren und das Alte an das Neue anzuknüpfen.

29 [213]

Zum Plan.

Der Philosoph hat zwei Seiten: eine kehrt er den Menschen zu, die andre bekommen wir nicht zu sehen, da ist er Philosoph für sich. Wir betrachten zuerst das Verhältniss des Philosophen zu den anderen Menschen. Resultat für unsre Zeit: es kommt bei diesem Verhältniss nichts heraus. Warum wohl? Sie sind nicht Philosophen für sich selbst.

"Arzt hilf dir selber!" Müssen wir ihnen zurufen.

29 [214]

Ach wir Menschen dieser Zeit! Es liegt ein Wintertag auf uns und wir wohnen am hohen Gebirge, gefährlich und dürftig. Kurz ist jede Freude und bleich jeder Sonnenglanz, der an den Bergen zu uns herabblickt. Da tönt Musik –, es erschüttert den Wanderer dies zu hören: so wild, so verschlossen, so farblos, so hoffnungslos ist alles, was er sieht – und jetzt darin ein Ton der Freude, einer gedankenlosen lauten Freude. Aber schon schleichen die Nebel des frühen Abends, der Ton verklingt, der Schritt des Wanderers knirscht; grausam und todt ist das Gesicht der Natur am Abend, der immer so früh kommt und nicht weichen will.

29 [215]

Die fliegenden Spinnefäden des Altmännersommers – Strauss als Bekenner. –

29 [216]

Wenn einmal die Arbeiterstände dahinter kommen, dass sie uns durch Bildung und Tugend jetzt leicht übertreffen können, dann ist es mit uns vorbei. Aber wenn das nicht eintritt, ist es erst recht mit uns vorbei.

29 [217]

Vom Maler auszugehn und <von> dem Kunstkenner vor dem Bilde – Goethe.

29 [218]

Nicht nur den nennen wir unvernünftig, welcher einen unvernünftigen Zweck verfolgt, sondern auch den, der um einen vernünftigen Zweck zu erreichen unzweckmässige und unverhältnissmässige Mittel anwendet: als<o> sowohl den, der das Meer ausschöpfen will, als den, welcher nach Sperlingen schiesst, aber mit Kartätschen. Von dieser zweiten Art der Unvernunft ist die Natur voll. Auch in ihrem höchsten Bereiche, das wir kennen, innerhalb der Menschen, zeigt sie sich nicht klüger, was die Mittel betrifft, so ausserordentlich ihre Zwecke und Absichten sind. Die Art, wie sie die seltenen Begabungen zum Wohl der Menschen verwendet, ist eben so bewunderungswürdig wegen ihrer Unvernunft als jener Gedanke selbst, das Seltene zum Wohle des Gewöhnlichen zu benutzen, erstaunlich ist: denn das Wohl des Gewöhnlichen liegt eben darin, dass es zum Seltenen erhoben, gesteigert, zum Ungewöhnlichen und Neuen umgeprägt werde. Ich frage nach der Teleologie des Philosophen, eines der seltensten Gebilde, die in der Werkstätte der Natur entstehen: wozu ist er da? Für das Wohl eines Volks und einer Zeit, vielleicht auch aller Völker und aller Zeiten. Und wie wird er für jenen Zweck verwendet? Wie das gleichgültigste Spielzeug, das man liegen lässt oder aufhebt, herumwirft oder zertritt, als ob es zu Tausenden auf den Strassen zu finden wäre. Ist es nicht nöthig, dass die Menschen etwas noch hoffen und der Unvernunft der Natur entgegenarbeiten? Ja, es wäre nöthig, wenn es nur möglich wäre! weil die Natur gerade in den Menschen und durch die Menschen wirkt und ein Volk als Ganzes eben jene Doppelheit der Natur zeigt, die wundersamste Vernunft der Zwecke und die nicht minder wunderbare Unvernunft der Mittel. Der Künstler macht sein Werk für die anderen Menschen, es ist kein Zweifel. Trotzdem weiss er es, dass niemals jemand sein Werk so verstehen und lieben wird, wie er selbst. Der hohe Grad der Erkenntniss und der Liebe ist aber nöthig, damit ein niedriger Grad entstehe: jener niedrigere Grad ist der Zweck, den die Natur mit dem Kunstwerk verfolgt, sie verschwendet ihre Mittel und Kräfte, und die Ausgabe ist viel grösser, als der Ertrag ist. Und doch ist dies das natürliche Verhältniss, überall. Wenig Kosten, aber hundertfältiger Ertrag wäre vernünftiger. Geringere Mühe, geringere Lust und Erkenntniss, im Künstler selbst, aber ungemeines Anwachsen von Lust und Erkenntniss im Kunstempfänger – das wäre vortheilhafter eingerichtet. Könnten wir die Rollen tauschen: der Künstler müsste der schwächere Mensch und die Aufnehmenden Zuhörer Zuschauer die stärkeren Menschen sein. Die Kraft der Kunstwerke müsste erst mit der Resonanz im Volke wachsen: wie die Schnelligkeit wächst mit dem Quadrate der Entfernungen. Ist es sinnlos zu wünschen, dass die Kunstwirkung am Anfange das schwächere, zuletzt das stärkere Ende habe? Oder dass mindestens so viel genommen wird als gegeben ist, dass Ursache und Wirkung gleich stark sind?

Deshalb sieht es oft so aus, als ob ein Künstler und zumal ein Philosoph zufällig in ihrer Zeit seien, versprengte Wanderer oder zurückgebliebene Einsiedler.

Wo wir aber ein Verhältniss zwischen einem Philosophen und einem Volk entdecken, so spüren wir folgende Zwecke der Natur, folgende Bestimmung des Philosophen.

29 [219]

29 [220]

Weisheit unabhängig vom Wissen der Wissenschaft.

Jetzt allein zu hoffen auf die Klassen der niedern ungelehrten Menschen. Die gelehrten und gebildeten Stände sind preiszugeben. Damit auch die Priester, die nur jene Stände verstehen und ihnen angehören. Die Menschen, die noch wissen, was Noth ist, werden auch fühlen, was ihnen Weisheit sein kann.

Die grösste Gefahr ist, wenn die ungelehrten Klassen mit der Hefe der jetzigen Bildung angesteckt werden.

Wenn jetzt ein Luther entstünde, so würde er gegen die ekelhafte Gesinnung der besitzenden Klassen sich erheben, gegen ihre Dummheit und Gedankenlosigkeit, dass sie gar nichts von der Gefahr wittern.

Wo suchen wir das Volk!

Die Bildung wird täglich geringer, weil die Hast grösser wird.

29 [221]

Es ist ernsthaft zu erwägen, ob für eine werdende Kultur überhaupt noch Fundamente da sind. Ob die Philosophie als ein solches Fundament zu gebrauchen ist? – Aber das war sie nie.

Mein Vertrauen zur Religion ist grenzenlos gering: die abfluthenden Gewässer kann man sehen, nach einer ungeheuren Überschwemmung.

29 [222]

Zum Anfang. Überall Symptome eines Absterbens der Bildung, einer völligen Ausrottung. (Laissez faire der Wissenschaften). Hast, abfluthende Gewässer des Religiösen, die nationalen Kämpfe, die zersplitternde und auflösende Wissenschaft, die verächtliche Geld- und Genusswirthschaft der gebildeten Stände, ihr Mangel an Liebe und Grossartigkeit. Dass die gelehrten Stände durchaus in dieser Bewegung darin sind, ist mir immer klarer. Sie werden täglich gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die Kunst sowohl wie die Wissenschaft – wohin sollen wir blicken? Die grosse Sündflut der Barbarei ist vor der Thür. Da wir eigentlich nichts zu vertheidigen haben, und alle mit darin stehen – was ist zu machen?

Versuch die wirklich vorhandenen Kräfte noch zu warnen, sich mit ihnen zu verbinden und die Schichten, aus denen die Gefahr der Barbarei droht, noch bei Zeiten zu bändigen. Nur ist jeder Bund mit den "Gebildeten" abzuweisen. Das ist der grösste Feind, weil er den Ärzten hinderlich ist und die Krankheit weglügen will.

29 [223]

Von der Bestimmung des Philosophen.

Es giebt etwas Unzweckmässiges, das der Natur vorzuwerfen ist: man bemerkt es bei der Frage: wozu ist ein Kunstwerk da? Für wen? Für den Künstler? Für die andern Menschen? Aber der Künstler hat es nicht nöthig, ein Bild das er sieht sichtbar zu machen und Andern zu zeigen. Jedenfalls ist das Glück des Künstlers in seinem Werke, ebenso wie sein Verständniss desselben grösser als das Glück und das Verständniss bei allen Übrigen. Diese Disproportion finde ich unzweckmässig. Die Ursache sollte der Wirkung entsprechen. Dies ist nie bei Kunstwerken der Fall. Es ist dumm eine grosse Lawine zu wälzen, um ein wenig Schnee wegzuschieben, einen Menschen zu erschlagen, um die Fliege auf seiner Nase zu tödten. So verfährt die Natur. Der Künstler ist ein Beweis gegen die Teleologie.

Der Philosoph erst recht. Für wen philosophirt er? Für sich? für Andere? Aber das Erstere wäre sinnlose Verschwendung der Natur, das Zweite wieder unzweckmässig. Der Nutzen des Philosophen trifft immer nur Wenige und nicht das Volk: und diese Wenigen trifft er nicht so stark wie den Urheber selbst.

Für wen baut ein Baumeister? Sollte der mannichfache ungleiche Reflex, diese Repercussion in vielen Seelen die Absicht der Natur sein? Ich glaube er baut für den nächsten grossen Baumeister. Jedes Kunstwerk sucht weiter zu zeugen und sucht nach empfänglichen und zeugenden Seelen umher. So der Philosoph.

Die Natur verfährt unverständlich und nicht geschickt. Der Künstler schiesst wie der Philosoph seinen Pfeil in das Gewimmel hinein. Er wird wohl irgendwo hängen bleiben. Sie zielen nicht. Die Natur zielt nicht und schiesst unzählig oft daneben. Künstler und Philosophen gehen zu Grunde, weil ihre Pfeile nicht treffen.

Im Bereiche der Kultur geht die Natur eben so vergeuderisch um wie bei dem Pflanzen und Säen. Ihre Zwecke erfüllt sie auf eine schwerfällige und allgemeine Manier. Sie opfert viel zu viel Kraft auf, zu Zwecken, die nicht im Verhältniss sind. Der Künstler und seine Kenner und Liebhaber verhalten sich zu einander wie ein grosses Geschütz zu einer Anzahl Spatzen.

Die Natur ist gemeinnützig, wendet aber nicht immer die besten und geschicktesten Mittel an. Dass sie mit dem Künstler, dem Philosophen den Andern helfen wollte, ist kein Zweifel: aber wie unverhältnissmässig gering und wie zufällig ist die Wirkung, gerechnet gegen die Ursachen (den Künstler, das Kunstwerk)! Besonders bei dem Philosophen ist die Verlegenheit gross: der Weg von ihm zum Object, auf das gewirkt werden soll, ganz zufällig. Zahllose Male misslingt es. Die Natur verschwendet, doch nicht aus Üppigkeit, sondern aus Unerfahrenheit: es ist anzunehmen, dass sie, wenn sie ein Mensch wäre, aus dem Ärger über sich gar nicht heraus käme.

29 [224]

Ich hasse das Überspringen dieser Welt, dadurch dass man sie in Bausch und Bogen verdammt: aus ihr stammt die Kunst, die Religion. – Ach diese Flucht begreife ich so, hinaus und hinüber in die Ruhe des Einen!

Ach dieser Mangel ah Liebe in diesen Philosophen, die immer nur an die Ausgewählten denken und nicht so viel Glauben zu ihrer Weisheit haben. Es muss die Weisheit wie die Sonne für jedermann scheinen: und ein blasser Strahl selbst in die niedrigste Seele hinabtauchen können.

Einen Besitz den Menschen verheissen! Philosophie und Religion ist Sehnsucht nach einem Eigenthum.

29 [225]

Ich ergötze mich an der Vorstellung, dass die Menschen bald einmal das Lesen satt bekommen werden: und die Schriftsteller dazu; dass der Gelehrte einer kommenden Generation eines Tags sich besinnt, sein Testament macht und verordnet, dass sein Leichnam inmitten seiner Bücher, zumal der eignen Schriften, verbrannt werden solle. Und wenn die Wälder immer spärlicher werden, sollte es nicht bald an der Zeit sein, die Bibliotheken als papiernen Holzstock und Gestrüpp zu behandeln? Sind doch die meisten Bücher aus Rauch und Dampf der Köpfe geboren: so sollen sie auch wieder zu Rauch werden. Ich glaube übrigens, dass ein Geschlecht, das den Geschmack hat mit seinen Bibliotheken seine Öfen zu heizen, gerade deshalb auch den guten Geschmack haben wird, eine kleine Anzahl Bücher und gerade die welche es verdienen auszuwählen und leben zu lassen. Es wäre freilich möglich, dass ein Jahrtausend später gerade unser jetziges Zeitalter als die dunkelste Periode der Vergangenheit gelte, weil nichts von ihm übrig geblieben ist. Wie glücklich sind wir also, dass wir unsre Zeit noch kennen lernen können aus dem überreichen Material, was sie täglich den Druckerpressen übergiebt: hat es nämlich überhaupt einen guten Sinn, sich mit seinem Gegenstand zu beschäftigen, so ist es jedenfalls ein Glück, sich so gründlich mit ihr zu beschäftigen, dass einem kein Zweifel über sie übrig bleibt. Es hat aber einen guten Sinn; denn man lernt viel dadurch selbst kennen, und gerade die schlechte Litteratur einer Zeit erlaubt uns selber im Bilde zu sehen: weil sie den Durchschnitt der gerade herrschenden Moralität usw., also nicht die Ausnahme, sondern die Regel zeigt, während die wirklich guten Bücher der Zeitgenossen meistens von solchen herrühren, die mit der Zeit eben nichts gemein haben als die Zeit. Deshalb sind sie zur Selbsterkenntniss nicht so nützlich wie jene.

Aus den schlechten Büchern und Zeitungen will ich nun beweisen, dass wir alle Stümper in der Philosophie sind und keine Ph<ilosophie> haben.

29 [226]

Lesen und Schreiben.

Denken und Reden dagegen: welchen Einfluss übt darauf das viele Lesen und Schreiben?

29 [227]

Manche Dinge werden erst dauerhaft, wenn sie schwach geworden sind: bis dahin bedroht sie die Gefahr eines plötzlichen Unterganges: das Christenthum wird jetzt so fleissig vertheidigt, weil es die bequemste Religion geworden ist; jetzt hat es Aussicht auf Unsterblichkeit, nachdem es die langwierigste Sache der Welt, die menschliche Trägheit und Bequemlichkeit auf seine Seite gezogen hat. So hat auch die Philosophie jetzt ihre grösste Schätzung, denn sie quält die Leute nicht mehr und macht ihnen doch das Maul flüssig. Die heftigen und starken Dinge sind in Gefahr, plötzlich zu verderben, geknickt und von Blitzen getroffen zu werden. Den Vollblütigen fasst der Schlagfluss. Unsere heutige Philosophie stirbt gewiss nicht am Schlagfluss.

29 [228]

Rührend: ein Fest im tiefen Schneegebirge bei Winterszeit.

29 [229]

Der Weg zur Freiheit. Dreizehnte Unzeitgemässe.

Stufe der Beobachtung. Der Verwirrung. Des Hasses. Der Verachtung. Der Verknüpfung. Der Aufklärung. Der Erleuchtung. Des Kampfes für. Des inneren Friedens und Freisinns. Versuche der Construction. Der historischen Einordnung. Der staatlichen Einordnung. Der Freunde.

29 [230]

Der Philosoph.

29 [231]

Ich würde einem Amte nie erlauben, mir mehr als ein Viertel meiner Kraft zu rauben.

29 [232]

Ich schätze das Glück nicht übermässig, unter den Deutschen geboren zu sein, und würde das Leben mit vielleicht mehr Befriedigung als Spanier betrachten.


 << zurück weiter >>