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Bakunins Kindheit im Elternhaus, von ihm selbst geschildert.

Aus dem in »La Société Nouvelle« (Brüssel), September 1896 von mir veröffentlichten autobiographischen Fragment. M. N.

… Wir waren elf Kinder. Noch heute habe ich fünf Brüder und zwei Schwestern Das undatierte Manuskript fällt hierdurch in die Zeit zwischen 1866 und 1871 und liegt seinem äußeren Ansehen nach dem letzteren Jahr weit näher als dem ersteren.. Wir wurden unter der Obhut meines Vaters mehr auf westliche als auf russische Art erzogen. – Wir lebten sozusagen außerhalb der russischen Wirklichkeit in einer Welt voll Gefühl und Phantasie, die aber jeder Wirklichkeit bar war. – Unsere Erziehung war zunächst eine sehr liberale. Aber seit dem verhängnisvollen Ausgang der Dezemberverschwörung [1825] änderte mein Vater, den diese Niederlage des Liberalismus erschreckte, sein System. Er suchte seitdem, treue Untertanen des Zars aus uns zu machen. Zu diesem Zweck wurde ich vierzehnjährig 1830 [Irrtum für Dezember 1828] nach St. Petersburg geschickt, um in die Artillerieschule einzutreten.

Ich blieb dort drei Jahre, und im Alter von 17 Jahren und einigen Monaten, 1832 [Januar 1833] wurde ich Offizier [im Alter von achtzehneinhalb Jahren].

Einige Worte über meine geistige und moralische Entwicklung während dieser ganzen Zeit. Als ich das Haus meines Vaters verließ, sprach ich ziemlich gut Französisch, die einzige Sprache, die ich grammatikalisch lernen mußte, etwas Deutsch, und ich verstand schlecht und recht Englisch, kein Wort Lateinisch und Griechisch, und ich hatte keine Idee von russischer Grammatik. Mein Vater hatte uns die Geschichte des Altertums nach Bossuet gelehrt und ließ mich etwas Livius und Plutarch lesen, letzteren in Amyots [alter französischer] Uebersetzung. Ich hatte dazu noch einige recht ungewisse und vage Begriffe von der Geographie und durch einen Onkel, einen pensionierten Generalstabsoffizier, hatte ich Arithmetik ziemlich gut gelernt, kannte die Algebra bis einschließlich der Gleichungen ersten Grades und die Planimetrie. Das ist mein ganzes wissenschaftliches Gepäck, das ich vierzehnjährig mit mir nahm. Die religiöse Erziehung war null gewesen. Der Familiengeistliche, ein ausgezeichneter Mann, den ich sehr gern hatte, weil er mir Pfefferkuchen brachte, gab uns einige Lektionen im Katechismus, die absolut keinen, weder positiven noch negativen Einfluß auf mein Herz oder meinen Verstand ausübten. Ich war eher skeptisch als gläubig, oder vielmehr indifferent.

siehe Bildunterschrift

Zeichnung von Félix Valloton

Meine Ideen über Moral, Recht und Pflicht waren folglich auch vag. Ich hatte Gefühle, aber kein Prinzip. Ich liebte instinktiv, das heißt durch eine in meiner Kindheit, in dem Milieu, wo ich lebte, angenommene Gewohnheit, die Guten und das Gute und verabscheute die Bösen, ohne daß ich mir darüber Rechenschaft ablegen konnte, was das Böse und das Gute ist; ich empfand Unwille und Empörung gegen jede Grausamkeit und jede Ungerechtigkeit. Ich glaube sogar, daß Indignation und Empörung die ersten Gefühle waren, die sich in mir energischer als andere Gefühle entwickelten. Meine moralische Erziehung war schon durch die Tatsache gefälscht, daß meine ganze materielle, geistige und moralische Existenz auf einer schreienden Ungerechtigkeit begründet war, auf der absoluten Unmoralität, auf der Sklaverei unserer Bauern, die uns in Müßiggang ernährten. – Mein Vater war sich dieser Unmoralität vollbewußt, aber als praktischer Mann sprach er nie zu uns darüber, und wir blieben sehr lange, zu lange darüber in Unwissenheit. – Ich besaß endlich einen sehr abenteuerlichen Geist. Mein Vater, der viel gereist war, hatte uns seine Reisen beschrieben. Zu unserer Lieblingslektüre, die wir immer zusammen mit ihm vornahmen, gehörten Reisebeschreibungen. Mein Vater war ein sehr gelehrter Naturkenner. Er verehrte die Natur und übertrug auf uns diese Liebe zur Natur, diese brennende Neugier für alles in der Natur, ohne daß er uns jedoch die geringsten wissenschaftlichen Begriffe davon beibrachte. Die Idee, zu reisen, Länder, neue Welten zu sehen, wurde unser Aller fixes Ideal. – Diese beständige, eindringliche Idee hatte meine Phantasie entwickelt. In meinen Mußestunden erzählte ich mir Geschichten, in denen ich mir immer vorstellte, daß ich aus dem väterlichen Haus weglief und weit, sehr weit Abenteuer suchte. Bei all diesem betete ich meine Brüder und Schwestern an, vor allem meine Schwestern, und ich verehrte meinen Vater wie einen Gott.

siehe Bildunterschrift

Bakunins Vater im Jahre 1824.

Bakunins Mutter.

Bakunins Schwester Tatjana.
(1815-1871) die dem Bruder Michael sehr nahe stand. Vier Schwestern, alle charakteristische Persönlichkeiten, suchten eine zeitlang mit M. B. in der geistigen Entwicklung Schritt zu halten.

So war ich, als ich als Kadett in die Artillerieschule eintrat – und meine erste Begegnung mit der russischen Wirklichkeit …


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