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Margot

I

In einem großen gotischen Haus der Rue du Perche im Maraisviertel wohnte im Jahre 1804 eine alte Dame, die im ganzen Stadtteil bekannt und beliebt war. Sie hieß Frau Doradour und war – reich, fromm, fröhlich und mildherzig – ein Kind der alten Zeit, nicht jener höfischen, sondern der gutbürgerlichen. Sie lebte sehr zurückgezogen und fand ihre einzige Beschäftigung im Almosengeben und im Bostonspiel mit den Nachbarn. Man aß bei ihr um zwei Uhr zu Mittag und um neun Uhr zu Abend. Sie ging nur aus, um die Kirche zu besuchen, und promenierte zuweilen auf dem Rückweg einmal um die Place Royale. Mit einem Wort, sie hatte sich die Gewohnheiten und fast auch die Kleidung ihrer Zeit bewahrt, bekümmerte sich nur lau um die unsere, verfolgte ihr Stundenbuch aufmerksamer als die Zeitungen, ließ die Welt ihren Gang gehen und hatte nichts weiter vor, als in Frieden zu sterben.

Da sie gern plauderte und sogar ein wenig schwatzhaft war, hatte sie in den zwanzig Jahren ihrer Witwenschaft stets eine Gesellschafterin gehabt. Dieses Fräulein verließ sie nie und war ihr eine Freundin geworden. Sie waren immer zusammen: in der Messe, auf der Promenade und am Kaminfeuer. Fräulein Ursule hatte die Schlüssel zum Keller, zu den Schränken und selbst zum Schreibtisch. Sie war ein großes und etwas vertrocknetes Mädchen mit einer männlichen Frisur, sehr gebieterisch, ziemlich mürrisch, und sprach mit spitzen Lippen. Die kleine Frau Doradour hängte sich plappernd an den Arm der Häßlichen, nannte sie ihre Liebe und Gute und ließ sich am Gängelband führen. Sie bezeugte ihrem Liebling blindes Vertrauen und hatte ihr im voraus einen beträchtlichen Anteil in ihrem Testament zugesichert. Fräulein Ursule wußte es sehr wohl, machte es sich daraufhin zur Pflicht, ihre Herrin mehr als sich selbst zu lieben, und sprach davon nicht anders als die Augen gen Himmel erhoben und mit Seufzern der Dankbarkeit.

Unnötig zu sagen, daß sie die eigentliche Herrin im Hause war. Während Frau Doradour in der Salonecke auf der Chaiselongue wohlig lag und strickte, durchschritt Fräulein Ursule schlüsselrasselnd und majestätisch die Korridore, schlug Türen zu, bezahlte die Kaufleute und schimpfte die Dienstboten. Doch sobald die Stunde des Essens und des Zusammenseins kam, erschien sie schüchtern, bescheiden und dunkel gekleidet. Sie grüßte demütig, wußte sich beiseite zu halten und scheinbar zu entsagen. Niemand betete in der Kirche so inbrünstig wie sie, und niemand senkte die Augen tiefer. Wenn es zuweilen der Frau Doradour, deren Frömmigkeit aufrichtig war, geschah, daß sie während einer Predigt einnickte, stieß Fräulein Ursule sie am Arm, und der Prediger wußte ihr Dank dafür. Zu Frau Doradour kamen Pächter, Mieter und Geschäftsleute; Fräulein Ursule berichtigte ihre Rechnungen und zeigte sich im Schikanieren unvergleichlich. Dank ihr gab es im ganzen Haus kein Stäubchen. Alles war sauber, ordentlich, geputzt, gebürstet, die Möbel an ihrer Stelle, die Wäsche weiß, das Geschirr glänzend, die Uhren gestellt. Alles das war für sie Notwendigkeit, damit sie sich ausschimpfen und in ihrer ganzen Herrlichkeit regieren konnte.

Frau Doradour verbarg sich die Fehler ihrer lieben Freundin nicht; allein sie hatte in ihrem Leben nur das Gute auszumachen verstanden. Das Böse dünkte sie niemals klar; sie ertrug es, ohne es zu begreifen. Und die Gewohnheit vermochte alles über sie. Fräulein Ursule reichte ihr seit zwanzig Jahren den Arm und trank mit ihr seit zwanzig Jahren zusammen den Morgenkaffee. Und wenn sie gar zu arg schrie, legte Frau Doradour das Strickzeug weg und flötete mit ihrem Stimmchen: »Was ist denn, meine Beste?« Aber die Beste würdigte sie nicht immer einer Antwort oder gab sie, zur Auseinandersetzung bereit, solchermaßen, daß Frau Doradour rasch zum Strickzeug zurückkehrte, mit einem Liedchen auf den Lippen, um nichts mehr zu hören.

Nach so langem Vertrauen mußte sie mit einem Male erkennen, daß Fräulein Ursule alle Welt täuschte, und ihre Herrin obenan. Nicht nur verschaffte sie sich ein Nebeneinkommen von den Ausgaben, die sie zu verwalten hatte, sie eignete sich auch, als Vorschuß auf das Testament, Kleider, Wäsche und selbst Juwelen an. So geschah es denn, daß sie, durch Straflosigkeit ermutigt, einen Diamantschmuck stahl, den Frau Doradour, wenn sie ihn auch nicht trug, seit undenklichen Zeiten ehrfürchtig in einer Schublade aufbewahrte, als Erinnerung an ihre vergangenen Reize. Madame wollte keineswegs eine Frau, die sie so geliebt hatte, dem Gericht überliefern. Sie begnügte sich damit, sie fortzuschicken, und wünschte sie auch kein letztes Mal mehr zu sehen. Doch die Einsamkeit, die plötzlich um sie war, erschien so unerbittlich, daß sie schmerzlich weinte. Ihrer Frömmigkeit zum Trotz konnte sie nicht umhin, das Unstete der irdischen Dinge zu beklagen und die mitleidlosen Launen des Schicksals, das nicht einmal vor einem guten alten Irrtum haltmachte.

Herr Després, einer von den freundlichen Nachbarn, kam, um sie zu trösten. Sie fragte ihn um Rat.

»Was soll jetzt aus mir werden?« fragte sie ihn. »Ich kann nicht allein leben. Wo soll ich eine neue Freundin finden? Jene, die ich verlor, war mir so lieb und so an mich gewöhnt, daß ich bedaure, sie nicht mehr zu haben, trotz der bösen Art, wie sie mir vergalt. Wer will mir für eine andere bürgen? Und was für ein Vertrauen soll ich jetzt für eine Unbekannte haben?«

»Das Unglück, das Ihnen geschah«, antwortete Herr Després, »ist um so bedauernswerter, als es eine Seele wie Sie an der Tugend hat zweifeln lassen. Es gibt auf der Welt viele Erbärmliche und Heuchlerische, es gibt aber auch ehrenwerte Menschen. Nehmen Sie eine andere Gesellschafterin, nicht so leichthin, aber auch nicht mit zuviel Bedenken. Ihr Vertrauen ist das erste Mal getäuscht worden; Grund genug, daß es nicht ein zweites Mal geschehe.«

»Sie reden wahr, glaube ich«, entgegnete Frau Doradour. »Ich bin aber doch sehr traurig und mitgenommen, kenne ich doch keine Seele in Paris. Wollen Sie mir nicht behilflich sein und sich ein wenig umschauen, ob Sie nicht für mich ein ehrliches Mädchen finden, das gut behandelt wird und wenigstens dazu taugt, mir den Arm zu reichen, wenn ich nach Saint François d'Assise gehe?«

Herr Després war als Maraisbewohner weder allzu flink noch allzu bekannt. Er fing indessen zu suchen an. Einige Tage später hatte Frau Doradour ein neues Fräulein, der sie nach Ablauf zweier Monate ihre ganze Freundschaft schenkte; leichtgläubig und gutherzig, wie sie war. Doch als zwei oder drei Monate herum waren, mußte sie die Neue vor die Tür setzen, nicht weil sie unehrlich, sondern weil sie wenig tugendhaft war. Das wurde für Frau Doradour ein zweiter Born des Leides. Sie wollte aufs neue wählen, sah sich in der ganzen Nachbarschaft um und wandte sich selbst an den »Kleinen Anzeiger«. Doch alles vergebens.

Sie wurde mutlos. Man sah die Gute auf einen Stock gestützt und allein in die Kirche gehen. Sie habe sich entschlossen, sagte sie, ihre Tage ohne jemandes Hilfe zu beschließen; und sie war bemüht, vor den Menschen Traurigkeit und Last der Jahre fröhlich zu tragen. Doch ihre Beine zitterten, wenn sie die Treppe hinaufstieg; denn sie war fünfundsiebzig Jahre alt. Der Abend fand sie neben dem Kamin mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf. Sie konnte Einsamkeit nicht ertragen, und ihre schon schwache Gesundheit verschlechterte sich. Allmählich wurde sie melancholisch.

Sie hatte einen Sohn, der Gaston hieß, in früher Jugend das Kriegshandwerk ergriffen hatte und gerade in Garnison stand. Sie schrieb ihm von ihrer Not, bat ihn zu kommen und ihr aus der schlimmen Lage herauszuhelfen. Gaston liebte seine Mutter zärtlich und nahm gehorsam Urlaub. Doch seine Garnison war unglücklicherweise in Straßburg, wo sich nach allgemeiner Ansicht die hübschesten kleinen Mädchen von ganz Frankreich in Hülle und Fülle zusammenfanden. Dort allein wurden jene dunklen deutschen Frauen gesehen, die germanische Sehnsucht und gallisches Temperament reich in sich vereinen. Gaston erfreute sich der Gunst zweier hübscher Tabakverkäuferinnen, die ihn nicht ziehen lassen wollten. Er versuchte sie vergeblich zu überzeugen; er ging sogar so weit, ihnen den Brief der Mutter zu zeigen: Sie nannten ihm so unsinnige Gründe, daß er sich überreden ließ und die Abreise von Tag zu Tag aufschob.

Frau Doradour wurde in dieser Zeit ernstlich krank. Sie war von Natur fröhlich und der Kummer für sie ein so unnatürlicher Zustand, daß er ihr eins wurde mit Kranksein. Die Ärzte wußten nicht, was sie tun sollten. »Lassen Sie nur«, sprach sie. »Ich will einsam sterben. Zu was soll ich noch leben, wenn sich keiner mehr um mich kümmert und alle, die ich liebte, mich verlassen haben?«

Im Hause herrschte düstere Schwermut und zugleich auch gewaltige Unordnung. Die Dienstboten sahen die Herrin todkrank, und da sie wußten, daß das Testament gemacht war, wurden sie nachlässig. Die ehemals so gut gepflegte Wohnung, die wohlgeordneten Möbel bedeckte Staub. »O du meine teure, gute Ursule«, rief Frau Doradour, »wo bist du? Du würdest mir diese Schlingel zum Teufel jagen!«

An einem Tage, da es ihr sehr schlecht ging, saß sie mit einemmale und zu aller Erstaunen im Bett aufrecht, schob die Vorhänge beiseite und setzte die Brille auf. In der Hand hielt sie einen Brief, der ihr gerade gebracht worden war und den sie mit Sorgfalt entfaltete. Oben auf dem Blatt war eine schöne Vignette, die den Tempel der Freundschaft darstellte mit einem Altar in der Mitte, auf dem zwei Herzen brannten. Der Brief war mit großen Buchstaben geschrieben, die Worte genau in einer Linie und mit dicken Strichen unter den großen Buchstaben. Es war ein Glückwunsch zum neuen Jahr, der ungefähr in diese Sätze gefaßt war:

 

»Verehrte Frau und teure Patin!

Um Ihnen ein gutes und glückliches Jahr zu wünschen, deshalb ergreife ich, im Namen der ganzen Familie, die Feder, da ich die einzige bin, die bei uns schreiben kann. Papa, Mama und die Brüder wünschen Ihnen ein gleiches. Wir haben vernommen, daß Sie krank sind, und wir bitten zu Gott, daß er Sie erhalte, was auch sicherlich geschehen wird. Ich bin so frei, Ihnen anbei Schweinefleisch zu schicken, und bleibe in respektvoller Zuneigung

Ihr gehorsames Patenkind
Marguerite Piédeleu.«

 

Frau Doradour las den Brief und schob ihn unter das Kopfkissen. Sogleich dann ließ sie Herrn Després rufen und diktierte ihm die Antwort. Keiner im Hause wußte, wie sie lautete, doch kaum war sie fort, wurde die Kranke ruhiger, und wenige Tage später fand man sie so fröhlich und guter Dinge wie nur je zuvor.

 

II

Der gute Piédeleu war aus der Provinz Beauce gebürtig, hatte dort sein Leben lang geschafft und gedachte, dort zu sterben. Er war ein alter ehrlicher Pächter des Honviller Landes, das, in der Nähe von Chartres gelegen, der Frau Doradour gehörte. Er hatte in seinem Leben weder einen Wald noch einen Berg gesehen; denn er verließ seinen Pachthof nur, um in die Stadt oder in die Umgebung zu fahren; und die Beauce ist, wie man weiß, eine große Ebene. Einen Fluß kannte er allerdings, die Eure, die nahe seinem Haus vorbeifloß. An das Meer glaubte er wie an das Paradies, das heißt, er meinte, das müsse man sich unbedingt ansehen. Herr Piédeleu fand in der Welt nur drei bewunderungswürdige Dinge: den Kirchturm von Chartres, ein hübsches Mädchen und ein schönes Kornfeld. Seine Bildung beschränkte sich auf das Wissen, daß es im Sommer warm, im Winter kalt ist und daß beim letzten Markt das Korn soundsoviel kostete. Doch in der Mittagsglut, wenn die Knechte sich ausruhten und er den Wirtschaftshof verließ, um seiner Ernte guten Tag zu sagen, wußte er wohl seine hohe Gestalt und breiten Schultern sehen zu lassen. Dann dünkte es ihn, als ob das Korn noch gerader und stolzer sich recke als gewöhnlich und daß die Pflugschar noch heller blinke. Wenn sie ihn sahen, nahmen die Bauernburschen, die im Schatten lagen und gerade ihr Mittagsbrot aßen, ehrerbietig den Hut vom Kopf, während sie ihre prächtigen Käsebrote verschlangen. Die Rinder kauten mit Gemütsruhe wieder und die Pferde schnupperten hoch, klopfte sie die Hand des Herrn auf die wohlgenährte Kruppe. »Unser Land ist Frankreichs Kornkammer«, sagte der gute Mann manchmal; und senkte dann weiterschreitend den Kopf, besah sich die gut ausgerichteten Furchen und verlor sich in dieser Betrachtung.

Frau Piédeleu, sein Weib, hatte ihm neun Kinder geschenkt, davon acht Jungen; und wenn nicht alle acht ihre sechs Fuß hoch waren, so fehlte kaum viel daran. Das war allerdings die Figur des braven Vaters, die Mutter maß nur fünf Fuß fünf Zoll und war die schönste Frau der Gegend. Die acht Burschen, stark wie die Stiere, der Schrecken und das Wunder des Dorfes, gehorchten ihrem Vater wie die Sklaven. Sie waren sozusagen seine ersten Knechte und seine eifrigsten und versahen einmal den Dienst des Fuhrmanns und das andre Mal den des Bauern oder Dreschers. Es war ein hübscher Anblick, wenn die acht Kerle mit aufgekrempelten Ärmeln, die Heugabel in der Faust, einen Schober aufrichteten; oder wenn man sie untergehakt des Sonntags in die Messe gehen sah, mit dem Vater an der Spitze; oder wenn sie des Abends nach der Arbeit um den großen Küchentisch herumsaßen, bei der Suppe vertraulich plaudernd und einander mit den großen Zinnkrügen zuprostend.

Und mitten in diese Riesenfamilie war ein kleines Wesen hineingeschneit, nicht weniger gesund als sie, aber ganz zierlich: das neunte Kind, Marguerite. Man nannte sie Margot. Das Köpfchen ging nicht bis zu der Brüder Ellenbogen, und wenn der Vater ihr einen Kuß gab, hob er sie zuvor auf und setzte sie auf einen Tisch. Die kleine Margot war noch nicht sechzehn Jahre alt und wie der leibhaftige Frohsinn: Stupsnäschen, der Mund hübsch, mit guten Zähnen und immer lachend, die Haut sonnengebräunt, runde Arme, runde Hüften. Wenn sie unter den Brüdern saß, blitzte sie hervor wie eine fröhliche Blume im Korn.

»Ich weiß wahrhaftig nicht«, meinte Vater Piédeleu, »wie meine Frau es angestellt hat, mir so ein Kind zur Welt zu bringen. Es ist Gottes Geschenk, und doch ist es mir immer, als müßte mich dieses Hälmchen von einem Mädel mein Leben lang lachen lassen.«

Margot versah den Haushalt. Mutter Piédeleu, obgleich noch selber rüstig genug, ließ sie schaffen, um sie schon frühzeitig an Ordnung und Sparsamkeit zu gewöhnen. Margot verwahrte Wäsche und Wein und herrschte über das Geschirr, das zu waschen sie sich nicht herabwürdigte. Doch sie deckte den Tisch, schenkte ein und sang ihr Liedchen als Dreingabe. Das Gesinde nannte sie nie anders als »Fräulein Marguerite«; denn sie hatte ein gewisses Etwas, das Abstand schuf. Und sie war sehr zurückhaltend. Damit will ich nicht sagen, daß sie nicht kokett gewesen sei; sie war doch jung, hübsch und eine Evastochter. Es war aber noch keinem Burschen, auch nicht dem saubersten der ganzen Gegend, geglückt, sie auch nur fest um die Taille zu greifen. Es war ihm auch nicht anzuraten; denn der Nichtsnutz Jarry zum Beispiel, ein Pächterssohn, der ihr einmal beim Tanz einen Kuß gab, heimste eine schallende Ohrfeige dafür ein.

Selbst Hochwürden Herr Pfarrer bezeugte ihr die höchste Wertschätzung. »Nehmt euch ein Beispiel an Margot«, sagte er zuweilen. Er tat ihr sogar einmal die Ehre an, sie in der Predigt zu erwähnen und sie den Gläubigen als Musterkind hinzustellen. Hätte der sogenannte Aufklärungsfortschritt nicht jene schöne alte Wahl des Rosenmädchens beseitigt, so hätte Margot die weißen Tugendrosen tragen dürfen. Und das gilt mehr als eine Predigt. Aber die Herren von 89 haben noch vieles andere unterdrückt. Margot konnte nähen und sogar sticken. Ihr Vater hatte auch gewollt, daß sie zu schreiben und lesen verstünde, ein wenig Orthographie, Grammatik und Geographie lerne. Eine fromme Karmeliterin war mit ihrer Erziehung betraut worden. Sie war sozusagen das Orakel der ganzen Gegend. Wenn sie den Mund öffnete, staunten die Bauern. Sie sprach, die Erde sei rund: Man glaubte ihr aufs Wort. Sonntags schloß man einen Kreis um sie, wenn sie auf der Wiese tanzte; denn sie hatte einen Tanzlehrer gehabt, und ihr »Pas de bourrée« entzückte jeden. Sie verstand es, sich zugleich lieben und bewundern zu lassen. Und das ist wirklich keine Kleinigkeit.

Der Leser weiß bereits, daß Margot Frau Doradours Patenkind war und daß sie ihr auf einem schönen Bogen mit Vignetten einen Neujahrsgruß geschrieben hatte. Dieser Brief war nicht zehn Zeilen lang, aber er hatte die kleine Pächterin beträchtliche Überlegung und viele Mühe gekostet; denn sie war nicht sehr bewandert in der Literatur. Doch Frau Doradour hatte sie schon von jeher recht lieb gehabt und kannte sie als das ehrlichste Mädchen vom Lande. Sie hatte sich entschlossen, Margot von ihrem Vater als Gesellschaftsfräulein zu erbitten.

An einem Abend war der gute Mann in seinem Hof sehr mit einem neuen Rad beschäftigt, das an einen seiner Karren gehörte. Mutter Piédeleu stand unter dem Schuppen und hielt gewichtig einen scheuen Bullen mit einer großen Zange an der Nase, damit er sich nicht bewegte, während ihn der Tierarzt verband. Die Pächtersburschen rieben mit Strohwischen die Pferde ab, die von der Tränke kamen. Das Vieh kehrte langsam heim. Eine majestätische Kuhprozession trabte bei Sonnenuntergang zu den Ställen. Margot saß auf einem Bündel Klee und las eine alte Nummer des »Journal de l'Empire«, die ihr der Pfarrer geliehen hatte.

In diesem Augenblick kam Hochwürden selbst, näherte sich dem Alten und übergab ihm einen Brief von Frau Doradour. Der Pächter öffnete ihn respektvoll; doch kaum hatte er die ersten Zeilen gelesen, als er sich vor Erregung und Staunen auf eine Bank setzen mußte. »Man will meine Tochter von mir!« schrie er. »Meine einzige Tochter, meine arme Margot!«

Auf seine Worte lief Frau Piédeleu erschrocken zu ihm. Die Burschen, die gerade vom Feld heimkamen, versammelten sich um den Vater. Nur Margot blieb in der Ecke, wagte sich nicht zu rühren, nicht zu atmen. Nach dem ersten Ausrufen herrschte Totenstille in der Familie.

Jetzt begann der Pfarrer zu sprechen und alle Vorteile aufzuzählen, die Margot bei der Patin haben würde. Frau Doradour habe den Piédeleus große Gefälligkeiten erwiesen und sei ihre Wohltäterin. Jetzt habe sie jemanden nötig, der ihr das Leben angenehm mache und sich um sie und um das Haus sorgen solle. Voll Vertrauen wende sie sich an ihre Pächter. Sie werde ihr Patenkind sehr gut behandeln und für seine Zukunft sorgen. Der Biedermann hörte dem Pfarrer wortlos zu und erbat sich dann einige Tage Bedenkzeit, bevor er sich entschied.

Dann, nach einer Woche voll Zögern und Tränen, wurde beschlossen, Margot solle sich nach Paris begeben. Die Mutter war untröstlich. Sie sagte, es sei eine Schande, ihre Tochter zur Dienstbotin zu machen, zumal sie unter den hübschesten Burschen der Gegend nur zu wählen hatte, um eine reiche Pächterin zu werden. Den Söhnen gelang es zum erstenmal in ihrem Leben nicht, einer Meinung zu sein. Sie stritten sich den ganzen Tag, die einen dafür, die anderen dagegen. Es war ein unerhörter Tumult und Kummer im Haus. Aber der Alte erinnerte sich, daß ihm Frau Doradour in einem schlechten Jahr nicht den Zins abverlangt, sondern ihm noch dazu einen Sack Taler geschickt hatte. Er brachte alle zum Schweigen und bestimmte die Abreise seiner Tochter.

Der Tag kam. In einem zweirädrigen Wagen sollte Margot nach Chartres fahren, von wo sie die Post nehmen konnte. Kein Mensch ging aufs Feld. Fast das ganze Dorf versammelte sich im Hof. Man hatte Margot eine vollständige Aussteuer mitgegeben. Hinten, vorne und im Innern des Wagens waren Schachteln und Kartons untergebracht. Die Piédeleus wollten nicht, daß ihre Tochter in Paris eine schlechte Figur mache. Margot hatte allen Leuten Lebewohl gesagt und den Vater umarmt; dann nahm der Pfarrer ihre Hand und hielt an sie eine väterliche Ansprache: über die Reise, über ihr künftiges Leben und die Gefahren, denen sie begegnen würde. »Wahre deine Reinheit, mein Kind«, schloß der würdige Mann, »sie ist das köstlichste der Güter; und wache über sie, dann wird Gott dir weiter helfen.«

Vater Piédeleu war zu Tränen gerührt, wenn er auch nicht alles in der Rede des Pfarrers so recht verstanden hatte. Er drückte die Tochter ans Herz, küßte sie, ließ sie los, umarmte sie wieder. Er wollte sprechen, konnte nicht. »Merk dir wohl Hochwürdens Ratschläge«, sagte er endlich stockend; »merk sie dir wohl, mein armes Kind.« Dann setzte er brüsk hinzu: »Herrgottsakrament! Mach keine Dummheiten.«

Der Pfarrer, der die Hände zum Segen über sie gebreitet hatte, stutzte bei den groben Worten. Doch es war ja nur Rührung, die der Alte überwinden wollte. Er drehte dem Pfarrer den Rücken und ging wortlos ins Haus zurück.

Margot kletterte in den Wagen, das Pferd zog an. Da hörte man einen so schweren Seufzer, daß sich alle Leute umwandten. Sie sahen einen kleinen Burschen von ungefähr vierzehn Jahren, der bisher nicht beachtet worden war. Er hieß Pierrot. Sein Handwerk war nicht gerade vornehm; denn er hütete die Truthähne, aber er hing leidenschaftlich an Margot. Auch sie mochte den armen kleinen Teufel gern. Sie hatte ihm oft genug eine Hand voll Kirschen oder Weintrauben zu seinem trockenen Brot gegeben. Da er nicht unintelligent war, machte es ihr Spaß, mit ihm zu plaudern und ihn das wenige zu lehren, das sie wußte. Sie waren beide fast gleichaltrig, und es geschah oft, daß nach beendigter Lektion Lehrerin und Schüler gemeinsam Versteck spielten. Pierrot trug ein paar Holzpantinen, die Margot ihm gegeben hatte, weil sie seine nackten Füße dauerten. Er stand in einer Hofecke, umgeben von seiner bescheidenen Herde, sah auf seine Pantinen und weinte herzzerbrechend. Margot winkte ihn heran und reichte ihm die Hand. Er nahm sie und brachte sie an das Gesicht, als wolle er sie küssen. Doch er tat nur die Augen auf sie. Margot zog sie zurück, von seinen Tränen naß. Sie sagte ein letztes Mal der Mutter Adieu. Der Wagen rollte fort.

 

III

In Chartres stieg Margot in die Post. Der Gedanke, daß sie nach zwanzig Meilen Paris sehen sollte, regte sie so auf, daß sie weder ans Essen noch ans Trinken dachte. Sie war ganz verzweifelt gewesen, als sie die Heimat verlassen hatte; jetzt aber wurde Neugierde in ihr groß. Sie hatte schon so oft von dem Wunder Paris sprechen hören und konnte es gar nicht glauben, daß sie mit ihren eigenen Augen die schöne Stadt sehen würde. Unter ihren Fahrtgenossen war ein Handlungsreisender, der getreu seinem Beruf nicht zu schwatzen aufhörte. Margot hörte seine Geschichten mit andächtiger Aufmerksamkeit an. An den wenigen Fragen, die sie wagte, erkannte er ihre Unerfahrenheit und überbot sich selbst. Er schilderte die Hauptstadt so übertrieben und aufgebauscht, daß der Zuhörer nicht wußte, ob es sich um Paris oder um Peking handelte. Margot ließ jede Erwiderung wohl bleiben; und er war nicht der Mann, seiner Phantasie aus dem Bedenken Einhalt zu tun, ihr erster Schritt in die Stadt strafe ihn Lügen. Man kann weiß Gott den letzten Reiz der Prahlerei nie ganz ausmessen. Ich erinnere mich, daß ich auf meiner Italienreise einen ebensolchen Fahrtgenossen hatte wie Margot. Er beschrieb mir Genua, wohin wir fuhren. Er log auf dem Schiff, das uns hinführte. Er log angesichts der Stadt. Er log noch im Hafen.

Die Wagen von Chartres erreichen Paris durch die Champs-Élysées. Das kleine Fräulein aus der Beauce konnte sich vor Staunen kaum fassen, als sie die wunderbare Einzugsstraße sah, die ihresgleichen auf der Welt nicht hat und die angelegt schien, einen triumphierenden Heros, einen Herrn des Universums zu empfangen. Die stillen, engen Straßen des Maraisviertels schienen ihr dann recht düster. Doch als der Fiaker vor dem Hause Frau Doradours hielt, war sie wieder entzückt, so schön war es. Sie hob den Hammer mit zitternder Hand und klopfte furchtsam und halb freudig. Frau Doradour erwartete ihr Patenkind. Sie empfing es mit offenen Armen, sagte ihr tausend Schmeicheleien, nannte sie Töchterchen, setzte sie in einen Sessel und gab ihr vorerst einmal zu essen.

Noch halb betäubt von dem lärmvollen Weg, besah sich Margot die Tapeten, das Getäfel, die vergoldeten Möbel, vor allem aber die schönen Wandspiegel, die den Salon schmückten. Sie, die sich bisher nur vor dem Rasierspiegel des Vaters frisiert hatte, fand es zauberhaft und wunderbar, ihr Bild ringsherum und auf so unterschiedliche Art zu sehen. Der zarte und höfliche Ton der Patin, ihre Ausdrücke, die vornehm und zurückhaltend waren, machten auf sie nicht weniger großen Eindruck. Selbst das Kostüm der guten Dame, ein weites blumengeschmücktes Seidenkleid, ihre große Haube und die gepuderten Haare gaben ihr allerlei zu denken und ließen sie glauben, einem auserwählten Wesen gegenüberzustehen. Da sie gewandten und aufgeweckten Geistes war und zugleich – es ist den Kindern natürlich – gerne alles nachmachte, brauchte sie nur eine Stunde mit Frau Doradour zu plaudern, um sich ihr anzupassen. Sie gab sich gute Haltung, haspelte an ihrem Häubchen und nahm alle Grammatik zu Hilfe, die sie wußte. Zum Unglück hatte ihr die Tante ein wenig zu starken und zu guten Wein gegeben, um ihre Lebensgeister aufzufrischen. Schon umnebelten sich ihre Gedanken, und die Lider fielen ihr zu. Frau Doradour nahm sie bei der Hand und führte sie in ein schönes Zimmer. Dann gab sie ihr noch einen Kuß, wünschte gute Nacht und ging.

Gleich darauf klopfte es an die Tür. Ein Zimmermädchen trat ein, nahm ihr Schal und Haube ab und kniete hin, um ihr die Stiefel auszuziehen. Margot schlief schon stehend und ließ alles mit sich geschehen. Erst als sie ohne Hemd war, merkte sie, daß man sie entkleidete. Sie bedachte nicht viel ihre Nacktheit und grüßte das Zimmermädchen förmlich; dann verrichtete sie das Abendgebet und legte sich rasch ins Bett. Beim Licht der Nachtlampe sah sie, daß auch dieses Zimmer vergoldete Möbel besaß und gar einen dieser wundervollen Spiegel, die sie so sehr ins Herz geschlossen hatte. Über dem Spiegel war ein Trumeau, und die kleinen geschnitzten Amoretten schienen ihr gute Genien, die sie einluden, sich zu spiegeln. Sie versprach, es daran nicht fehlen zu lassen, und schlief, von den süßesten Träumen gewiegt, köstlich.

Auf dem Land steht man frühzeitig auf. Unsere kleine Bäuerin erwachte am andern Morgen zusammen mit den Vögeln. Sie setzte sich im Bett auf, sah in ihrem lieben Spiegel das hübsche kleine unregelmäßige Gesichtchen und beehrte sich mit einem anmutigen Lächeln. Das Zimmermädchen erschien bald und fragte respektvoll, ob das Fräulein ein Bad zu nehmen beabsichtige. Zugleich legte sie auf ihre Schultern einen Mantel von scharlachrotem Flanell, der der Kleinen wie ein Königspurpur vorkam.

Das Badezimmer Frau Doradours war eigentlich für eine fromme und einfache Frau ein wenig zu elegant. Es war unter Ludwig XV. gebaut. Die Wanne ruhte hoch auf einer Estrade in einem Stuckbogen, in dem vergoldete Rosen eingelassen waren. Die unvermeidlichen Amoretten drängten sich an der Decke. Auf der Estradenfüllung sah man eine Kopie der »Badenden« von Boucher, die vielleicht von ihm selbst gemalt war. Auf dem Getäfel wand sich eine Blumengirlande. Ein weicher Teppich bedeckte das Parkett, und ein Seidenvorhang, geschickt gerafft, ließ durch die Jalousien ein geheimnisvolles Dämmerlicht scheinen. Aller Luxus war wohl etwas durch die Zeit geblichen und die Vergoldungen stumpf. Aber vielleicht gefielen sie gerade darum. Ein Duftrest jener sechzig fröhlichen Jahre, da der liebenswürdige König herrschte.

Margot, allein, näherte sich zaghaft der Estrade. Sie prüfte zuerst die vergoldeten Griffe rechts und links von der Wanne. Ins Wasser wagte sie nicht zu gehen. Es schien ihr zum wenigsten Rosenwasser. Sachte tauchte sie ein Bein hinein, das andere, stand dann versunken vor dem Bild. Sie war keine Kennerin. Bouchers Nymphen dünkten sie Göttinnen. Sie glaubte nicht, daß solche Frauen auf Erden leben, mit diesen weißen Händen essen, mit diesen kleinen Füßen gehen könnten. Was hätte sie gegeben, um auch so schön zu sein! Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß sie mit ihren braunen Händen hundertmal wertvoller war als diese Puppen. Ein leichter Hauch wellte den Vorhang. Sie sah auf. Sie zitterte bei dem Gedanken, man könne sie so überraschen, und tauchte bis zum Hals ins Wasser.

Ein weiches Gefühl von Wohlbehagen kam über sie. Sie spielte im Wasser, wie es Kinder tun, mit dem Zipfel ihres Bademantels. Dann vergnügte sie sich, die Blumen und Rosetten im Zimmer zu zählen. Sie besah sich die kleinen Amoretten; aber ihre dicken Bäuche gefielen ihr nicht. Sie lehnte den Kopf gegen den Rand der Badewanne und schaute durch das halboffene Fenster.

Der Raum lag zu ebener Erde, und das Fenster ging auf den Garten. Es war kein englischer Park, doch ein schöner Garten nach altem französischem Stil, der nicht weniger wert ist als ein anderer. Prächtige Kiesalleen, von Buchsbaum flankiert, große Beete, in allen Farben blitzend, hie und da hübsche Statuetten und im Hintergrund ein Hagebuchenlabyrinth. Margot sah hin. Die schattigen Gänge ließen sie träumen. Versteckspiel kam ihr in den Sinn. Sie meinte, in den Irrwegen der Hagebuchen müßte man sich gut verbergen können.

Ein schöner junger Mann in Husarenuniform trat in diesem Augenblick aus dem Labyrinth heraus und ging auf das Haus zu. Er durchquerte den Garten und kam so dicht an dem Fenster des Badezimmers vorbei, daß sein Arm die Jalousie streifte. Margot riß der Schrecken hin. Sie schrie leicht auf. Der junge Mann blieb stehen, öffnete die Lade und streckte den Kopf vor. Er sah sie im Bad und wurde, obgleich Husar, rot. Margot noch mehr. Er ging eiligst fort.

 

IV

Es ist etwas Ärgerliches auf Erden, zumal für die kleinen Mädchen: nämlich, daß Artigsein recht mühevoll ist und daß allein das bißchen Vernünftigbleiben viel Unangenehmes bringt, während man, um Dummheiten zu machen, sich nur gehen zu lassen braucht. Homer lehrt uns, daß Sisyphos der Vernünftigste der Sterblichen gewesen war. Dennoch verdammen ihn die Poeten einhellig, einen schweren Felsen den großen Berg hinanzurollen, von wo er gleich wieder auf den Ärmsten zurückfällt, auf daß er wieder von unten anfangen muß. Die Kommentatoren haben sich weidlich abgemüht, den Sinn dieser Strafe zu finden. Ich für meine Person zweifle nicht, daß die Alten mit dieser schönen Allegorie nichts anderes als die Vernünftigkeit haben zeigen wollen. Das ist wahrlich ein schwerer Stein. Wir rollen ihn ohne Unterlaß, und er fällt uns fortwährend auf den Kopf. Entgleitet er uns einmal, so hält man uns nicht zugute, daß wir ihn jahrelang gewälzt haben. Tut dagegen der Tollkopf zufällig eine vernünftige Handlung, dann weiß man ihm unendlichen Dank. Die Torheit ist wahrlich kein Stein. Sie ist eine Seifenblase, die vor uns hertanzt, bunt wie der Regenbogen und die Farben der Schöpfung. Gewiß, es kommt vor, daß die Seifenblase platzt und wir scharfe Tropfen in die Augen bekommen. Doch bald ist eine neue geformt. Man braucht ja nur, um sie in der Luft zu halten, ein wenig zu blasen.

Diese philosophischen Reflexionen sollen zeigen, daß es gar nicht erstaunlich ist, daß sich Margot ein bißchen in den jungen Menschen verliebte, der sie im Bad sah. Sie sollen auch sagen, daß man deshalb von ihr nicht schlecht denken darf. Wenn Amor sich in unsere Angelegenheiten mischt, braucht man ihm nicht sehr zu helfen. Selbst wenn man vor ihm die Tür schließt, weiß er hereinzukommen. Er steigt eben durch das Fenster, wie zum Beispiel hier.

Der Junge in Husarenuniform war kein anderer als Gaston, der Sohn Frau Doradours. Er hatte sich nicht ohne Mühe von seinen Garnisonsliebchen losgerissen und war zur Mutter gekommen. Der Himmel wollte es, daß Margots Zimmer im selben Flügel lag wie seines. Die beiden Fenster waren fast einander gegenüber und sehr nahe. Margot speiste zusammen mit Frau Doradour, verbrachte bei ihr den Nachmittag bis zum Abendessen. Von sieben Uhr früh aber bis zum Mittag blieb sie im Zimmer. Auch Gaston war zumeist dieselbe Zeit auf dem seinen. Margot hatte also nichts Besseres zu tun, als am Fenster zu nähen und den Nachbarn anzugucken.

Nachbarschaft ist zu allen Zeiten die Ursache von vielem Unglück gewesen. Es gibt nichts Gefährlicheres als eine hübsche Nachbarin. Selbst wenn sie häßlich ist, sagt das nicht viel; denn da man sie immerfort sieht, kommt doch früher oder später der Tag, an dem man sie hübsch findet. Gaston hatte einen kleinen runden Spiegel, den er nach Burschenbrauch am Fenster aufhängte. Vor diesem Spiegel rasierte und kämmte er sich und band sich die Krawatte. Margot bemerkte, daß er hübsche blonde Haare hatte, die in natürlichen Wellen zurückfielen. Schon war es der Grund, daß sie sich ein Fläschchen Veilchenöl kaufte und sorgsam die beiden schwarzen Haarzöpfchen, die aus der Haube sahen, behandelte und glatt und glänzend machte. Auch sah sie bei Gaston hübsche Krawatten, die er sehr oft wechselte. Gleich besorgte sie sich ein Dutzend Seidentücher, die schönsten, die sie im Maraisviertel auftreiben konnte. Außerdem hatte Gaston jene Gewohnheit, die den Genfer Philosophen sehr ärgerte und mit seinem Freund Grimm entzweite: Er machte sich die Nägel mit einem eigens dazu geschaffenen Instrument sauber, wie Rousseau sagt. Margot war kein so großer Philosoph wie Rousseau. Im Gegenteil. Sie ärgerte sich nicht, sondern kaufte sich eine Bürste. Da ihre Hände ein wenig rot waren, trug sie von nun an stets schwarze Halbhandschuhe, die nur die Fingerspitzen sehen ließen. Gaston hatte noch viele andere schöne Dinge, die Margot leider nicht imitieren konnte; zum Beispiel eine rote Hose, einen himmelblauen Rock mit schwarzen Tressen. Wohl besaß sie einen Morgenrock aus scharlachrotem Flanell. Aber was konnte einen blauen Rock wettmachen? Sie gab vor, sie habe Ohrenschmerzen und machte sich für den Morgen ein kleines Barett aus blauem Samt. Da sie über Gastons Bett ein Bild Napoleons bemerkte, wollte sie eines von Josephine haben. An einem Morgen beim Frühstück bemerkte Gaston einmal, er äße sehr gerne einmal einen guten Eierkuchen. Margot überwand die Furcht und vollbrachte eine Heldentat. Sie erklärte, kein Mensch könne Eierkuchen so gut backen wie sie. Bei ihren Eltern habe sie sie immer gemacht, und sie bitte die Patin, einen von ihrer Hand zu kosten.

So versuchte das arme Kind, seine Liebe zu zeigen. Aber Gaston achtete gar nicht auf sie. Er war jung, keck, stolz und an die lauten Vergnügungen des Garnisonlebens gewöhnt. Wie sollte er da kindliche List beachten? Die Straßburger Grisetten benehmen sich anders, wenn sie eine Laune im Kopf haben. Gaston speiste mit seiner Mutter und ging dann für den ganzen Abend weg. Margot konnte nicht schlafen, bevor er zu Hause war; sie erwartete ihn hinter der Gardine. Es geschah zuweilen, daß der junge Mensch über den Hof ging, noch Licht bei ihr sah und sich fragte: »Warum schläft nur die Kleine noch nicht?« Hin und wieder auch warf er, wenn er sich ankleidete, auf sie einen zerstreuten Blick, der sie bis in die Seele traf. Doch sie wandte schnell den Kopf und wäre lieber gestorben, als daß sie den Blick ausgehalten hätte. Im Salon zeigte sie sich ganz anders. Sie saß neben der Patin, gab sich Mühe, gewichtig und reserviert zu erscheinen und geziemend Doradours Geplauder anzuhören. Wenn Gaston das Wort an sie richtete, antwortete sie nach bestem Ermessen, aber seltsam gefühllos. Wer will wissen, was sich in einem fünfzehnjährigen Kopf abspielt? Ihre Liebe war in ihr Zimmer eingeschlossen. Dort fand sie sie wieder, und dort ließ sie sie, wenn sie wegging. Aber sie hütete den Schlüssel wohl, damit niemand in ihrer Abwesenheit das kleine Heiligtum entweihen konnte.

Es ist auch leicht möglich, daß die Gegenwart Frau Doradours sie behutsam machte und zur Überlegung zwang; denn dann sah sie die Distanz, die sie von Gaston trennte. Eine andere als Margot wäre vielleicht verzweifelt oder auch bald wieder genesen, wenn sie die Gefahr dieser Leidenschaft erkannt hätte; doch Margot hatte sich nie, auch nicht in den geheimsten Tiefen ihres Herzens, gefragt, zu was ihre Liebe dienen solle. Gibt es denn auch eine schalere Frage als jene, die man beständig an Liebende richtet: Zu was soll das führen? – Mein Gott, ihr guten Leute, es führt zur Liebe!

Kaum war sie erwacht, sprang sie rasch aus dem Bett und lief mit nackten Füßen und im Schlafhäubchen zum Fenster und lüpfte den Vorhang, um zu sehen, ob Gaston die Jalousien schon geöffnet hatte. Waren sie noch geschlossen, dann ging sie rasch wieder ins Bett und wartete auf den Augenblick, da sie das Geräusch der Fensterriegel hörte. Sie täuschte sich nie. War der Moment gekommen, schlüpfte sie in die Pantoffeln und in den Morgenrock, öffnete ihrerseits das Fenster, bückte sich nach rechts und links hinaus, ganz verschlafen, als ob sie nach dem Wetter sähe. Dann öffnete sie den einen Fensterflügel, dergestalt, daß nur Gaston sie sehen konnte, stellte den Spiegel auf einen kleinen Tisch und kämmte sich ihre schönen Haare. Sie wußte nicht, daß eine echte Kokette sich erst zeigt, wenn sie geschmückt ist, nicht aber, während sie sich schmückt. Weil Gaston sich vor ihr frisierte, kämmte sie sich vor ihm. Hinter dem Spiegel wagte sie schüchterne Blicke auf ihn und war stets bereit, die Augen zu senken, wenn er sie ansah. Waren die Haare gekämmt und aufgesteckt, setzte sie die kleine ländliche Tüllhaube auf, von der sie sich nicht hatte trennen wollen. Das Häubchen war stets schneeweiß, nicht weniger als der große Umlegekragen, der ihr um die Schultern lag und sie ein wenig wie eine kleine Nonne aussehen ließ. Dann blieb sie mit nackten Armen, in kurzem Röckchen und wartete auf den Kaffee. Bald erschien auch Fräulein Pélagie, die Kammerzofe, mit dem Tablett, begleitet von dem Hauskater, der im Maraisviertel unentbehrlich ist und jeden Morgen Margot seine Aufwartung machte. Er erfreute sich des Privilegs, ihr gegenüber auf dem Sessel zu sitzen, um mit ihr das Frühstück zu teilen. Das war für sie natürlich nur ein Vorwand zur Koketterie. Der Kater, der alt und faul war und auf dem Stuhl zusammengerollt lag, bekam die heißesten Küsse. Sie galten nicht ihm. Margot neckte ihn, nahm ihn in die Arme, warf ihn aufs Bett, streichelte ihn, foppte ihn. In den zehn Jahren, da er zum Hause gehörte, hatte er noch niemals so etwas erlebt, und er fühlte sich nicht immer sehr beglückt. Aber er ertrug alles mit Geduld, da er im Grunde genommen ein gutes Gemüt hatte und Margot sehr liebte. Nach dem Kaffee ging sie wieder ans Fenster, schaute nochmals ein wenig, ob es schönes Wetter sei, und stieß dann wieder an den offenen Flügel, schloß ihn aber nicht ganz. Für jemanden mit Jägerinstinkt wäre jetzt die Zeit gekommen, auf den Anstand zu gehen. Margot beendete die Toilette. Will ich sagen, daß sie sich zeigte? Nein. Sie starb vor Angst, gesehen zu werden, und vor Lust, sich sehen zu lassen. War sie ein artiges Mädchen? Ja, sie war artig, ehrenhaft und unschuldig. Und was tat sie? Sie zog sich die Schuhe, das Kleid an. Hin und wieder hätte man durch den Fensterspalt ihren Arm sehen können, der sich eine Nadel vom Tisch holte. Was hätte sie getan, wenn man sie beobachtet hätte? Sie hätte sofort das Fenster geschlossen. Warum ließ sie es dann offen? Fragt sie selbst, ich weiß es nicht.

So standen die Dinge, als an einem Tag Frau Doradour mit ihrem Sohne eine lange Unterredung unter vier Augen hatte. Es war zwischen ihnen ein Geheimnis, und sie sprachen oft in dunklen Worten. Kurze Zeit darauf sagte Frau Doradour zu Margot:

»Mein liebes Kind, du wirst deine Mutter wiedersehen. Wir werden den Herbst auf Honville verbringen.«

 

V

Das Honville-Anwesen lag eine Meile von Chartres entfernt und ungefähr eine halbe Meile von dem Pachthof ihrer Eltern. Es war nicht eigentlich ein Schloß, aber ein sehr schönes Haus mit einem großen Park. Frau Doradour kam nicht oft hin. Seit einer Reihe von Jahren hatte es nur den Verwalter gesehen. Die überstürzte Reise und die heimlichen Gespräche zwischen Sohn und Mutter überraschten Margot und machten sie unruhig.

Frau Doradour war gerade zwei Tage da und das Gepäck noch nicht ganz ausgepackt, als man in der Ebene zehn Riesen in guter Ordnung heranmarschieren sah. Es war die Familie Piédeleu, die ihre Aufwartung machen wollte. Die Mutter trug einen Fruchtkorb, die Söhne je einen Levkojentopf und der Alte in den gewichtigen Taschen zwei enorme Melonen, die er unter den schönsten seines Gartens eigenhändig ausgesucht hatte. Frau Doradour nahm die Präsente gütig wie immer entgegen und zog, als ob sie den Besuch der Pächtersleute vorausgeahnt hätte, aus dem Schrank acht blumenbestickte Seidenwesten für die Burschen, Spitzen für Mutter Piédeleu und für den Alten einen schönen breitrandigen Filzhut, dessen Band eine Goldschnalle hielt. Als die Liebenswürdigkeiten ausgetauscht waren, erschien Margot, blitzend vor Gesundheit und Freude. Sie küßte sich im Kreis herum. Die Patin sagte viel Gutes über sie, lobte ihr sanftes Wesen, ihre Artigkeit und Klugheit. Die Backen der Kleinen, von den empfangenen Küssen ganz rosig, färbten sich noch lebhafter. Mutter Piédeleu sah ihr Kleid und entschied, daß sie glücklich sein müsse. Als gute Mutter konnte sie sich auch nicht versagen, ihr zu verraten, daß sie sie noch nie so hübsch gesehen habe. »Weiß Gott«, sagte der Alte. »Das ist wahr«, sprach eine Stimme, die Margot bis ins Tiefste erzittern ließ. Es war der eintretende Gaston.

In diesem Augenblick bemerkten sie durch die offen gebliebene Tür im Vorzimmer den kleinen Geflügelhirten Pierrot, der so sehr über Margots Abreise geweint hatte. Er war seinen Herren in kleiner Entfernung gefolgt und wagte nicht, in den Salon einzutreten. Schüchtern grüßte er von fern. »Wer ist denn dieser kleine Bengel?« fragte Frau Doradour. »Komm doch näher, Kleiner, sag uns guten Tag.« Pierrot grüßte von neuem; aber nichts konnte ihn bestimmen hereinzukommen. Er wurde rot wie Feuer und lief fort, so schnell ihn seine Beine tragen konnten.

»Sollte er mich wirklich hübsch finden?« fragte Margot sich leise, als sie allein im Park spazierenging. Die Familie war schon fort. »Doch wie keck sind die Burschen und sagen solche Sachen vor aller Welt! Ich wage kaum, ihm ins Gesicht zu sehen; und er sagt mir ganz laut etwas, das mich rot macht, wenn ich es höre. Er muß darin eine große Übung haben oder es für sehr nebensächlich halten. Und doch, einer Frau zu sagen, daß sie hübsch ist, bedeutet viel. Es ähnelt ein wenig einer Liebeserklärung.«

Bei diesem Gedanken blieb Margot stehen und fragte sich, was das eigentlich sei, eine Liebeserklärung. Sie hatte schon viel davon sprechen hören, aber sie war sich nicht recht klar darüber. »Wie sagt man, daß man liebt?« fragte sie sich. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, daß man nichts sagt als: »Ich liebe dich.« Es dünkte sie ganz etwas anderes, Geheimnisvolles, eine besondere Sprache, ein Mysterium voll Reiz und Gefahr. Sie hatte bisher nur einen Roman gelesen. Ich weiß seinen Titel nicht. Es war ein ungebundener Band, den sie auf dem väterlichen Speicher fand. Es war da die Rede von einem sizilianischen Briganten, der eine Nonne entführte. Man las da allerhand unverständliche Sätze, von denen sie meinte, sie gehörten zur Sprache der Liebe. Aber sie hatte den Herrn Pfarrer sagen hören, daß alle Romane Dummheiten seien. Und sie wollte ausschließlich die Wahrheit erfahren. Doch wen konnte sie zu fragen wagen?

Gastons Zimmer auf Honville lag nicht so nah wie in Paris. Nicht mehr heimliche Blicke, nicht mehr das Geräusch der Fenstergriffe. Täglich läutete um fünf Uhr morgens eine schwache Glocke. Es war der Jagdaufseher, der Gaston weckte. Die Glocke hing neben seinem Fenster. Er stand dann auf und ging auf die Jagd. Hinter der Jalousie verborgen, sah ihn Margot, wie er, von den Hunden umringt und das Gewehr in der Faust, auf das Pferd stieg und sich im Morgennebel verlor. Sie folgte ihm mit den Augen, nicht weniger erregt als eine gefangene Burgfrau, deren Geliebter nach Palästina zieht. Oft geschah es, daß Gaston, anstatt den ersten Feldzaun zu öffnen, ihn mit dem Pferd übersprang. Dann seufzte sie vor Angst und Glück. Sie stellte sich vor, wieviel Gefahren man auf der Jagd ausgesetzt sei. Wenn Gaston des Abends staubbedeckt heimkehrte, besah sie ihn vom Kopf bis zu den Füßen, ob er nicht irgendwie verwundet sei, so als käme er aus Kämpfen. Und sah sie ihn aus der Tasche einen Hasen ziehen oder ein paar Rebhühner auf den Tisch werfen, dann schien er ihr als ein Held, siegreich und beutebeladen.

Was sie fürchtete, geschah eines Tages. Als er eine Hecke nahm, stürzte er vom Pferd. Er fiel in Brombeergebüsch und trug ein paar Schrammen davon. Dieser kleine Unfall verursachte ihr viel Aufregung. Fast ließ sie ihre Vorsicht in Stich. Sie war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Sie faltete die Hände und betete leise. Was hätte sie gegeben, wenn sie das Blut hätte abwischen dürfen, das ihm über die Hand lief! Sie steckte das schönste Taschentuch ein, das einzige Gestickte, das sie besaß, und wartete ungeduldig auf die Gelegenheit, es unversehens aus der Tasche zu ziehen und es ihm um die Hand zu binden. Doch sie kam nicht dazu. Als ihm beim Essen ein paar Blutstropfen aus der Wunde liefen, lehnte der Grausame ihr Taschentuch ab und band sich die Serviette um die Faust. Der enttäuschten Kleinen kamen die Tränen in die Augen.

Und doch wollte sie nicht glauben, daß er ihre Liebe verachte. Aber er sah sie nicht. Was tun? Bald resignierte sie, bald war sie ungeduldig. Sie schwankte von Freude zu Leid und von Leid zur Freude. Irgendein freundliches Wort von ihm, ein Blick von ihm ließen sie einen ganzen Tag glücklich sein. Ging er durch den Salon und nahm er keine Notiz von ihr, zog er sich des Abends zurück und schenkte er ihr nicht wie gewöhnlich einen kleinen Gruß, dann sann sie die Nacht hindurch, warum sie ihm wohl mißfallen hatte. Wenn er sich zufällig neben sie setzte und irgendein artiges Wort über ihre Stickerei sagte, wurde sie heiß vor Glück und Dankbarkeit. Wollte er bei Tisch nicht mehr essen, wenn sie ihm anbot, dann liebte er sie nicht mehr, glaubte sie.

Es gab Tage, wo sie Mitleid mit sich selbst hatte. Sie zweifelte an ihrer Schönheit, hielt sich einen Nachmittag lang für häßlich. In anderen Momenten empörte sich ihr weiblicher Stolz. Zuweilen, vor dem Spiegel, hob sie vor Ärger die Schultern und dachte an seine Gleichgültigkeit. Zorn und Mutlosigkeit kamen sie an, sie zerknüllte den Halskragen und riß sich die Haube über die Augen, dann wieder ließ sie der Stolz kokett werden. Sie erschien mit einemmal mitten am Tage im besten Staat, im Sonntagskleid, als ob sie mit allen Kräften gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals protestieren wolle.

Auch in ihrer neuen Lage hatte sie sich die Liebhabereien ihrer ländlichen Zeit bewahrt. Während Gaston auf der Jagd war, blieb sie den Vormittag im Garten. Sie verstand mit Hippe, Rechen und Gießkanne umzugehen und konnte mehr als einmal dem Gärtner einen guten Rat geben. Der Gemüsegarten breitete sich vor dem Hause aus und diente zugleich auch als Ziergarten. Blumen, Früchte und Gemüse standen dort beisammen. Margot liebte vor allem ein großes wunderschönes Pfirsichspalier. Sie sorgte sich ängstlich darum und wählte täglich mit vorsichtiger Hand Früchte für den Nachtisch. An dem Spalier hing ein Pfirsich, der viel größer war als alle andern. Margot konnte es nicht über sich gewinnen, ihn zu pflücken. Er war so samtweich und purpurrot, daß sie ihn nicht abreißen mochte. Ihn zu essen schien ihr wie ein Mord. Sie ging niemals vorbei, ohne ihn zu bewundern, und hatte dem Gärtner ans Herz gelegt, ihn ja nicht anzustoßen, wolle er sich nicht ihren Zorn und die Vorwürfe der Patin zuziehen. Eines Tages kam Gaston bei sinkender Sonne von der Jagd zurück und durchquerte den Garten. Durst peinigte ihn. Er hob die Hand im Vorbeigehen zum Spalier. Der Zufall wollte es, daß er gerade Margots Lieblingsfrucht herunterriß, in die er ohne Respekt hineinbiß. Sie war ein paar Schritte entfernt und begoß ein Gemüsebeet. Schnell lief sie herbei; aber er sah sie nicht und ging weiter. Nach ein oder zwei Bissen warf er die Frucht zur Erde und ging ins Haus. Margot hatte mit einem Blick erkannt, daß ihr lieber Pfirsich verloren sei. Gastons brüske Bewegung und die unbekümmerte Art, mit der er ihn fortwarf, wirkten auf die Kleine unerwartet und merkwürdig. Sie war trostlos und zu gleicher Zeit außer sich vor Freude; denn Gaston mußte bei der Sonnenglut großen Durst gehabt haben, und ihre Frucht war es, die ihn löschte. Sie hob den Pfirsich auf, blies den Staub herunter, sah sich um, ob sie niemand sähe und küßte ihn. Doch zugleich auch mußte sie ein wenig hineinbeißen, um von ihm zu kosten; irgendein absonderlicher Gedanke ging ihr durch den Kopf, vielleicht dachte sie an die Frucht, vielleicht aber auch an sich, als sie flüsterte: »Böser Junge, wenn du wüßtest, was du vergeudest!«

Ich bitte den Leser um Vergebung, daß ich ihm solche Kindlichkeiten erzähle. Doch was anderes soll ich ihm erzählen, da doch meine Heldin ein Kind ist? Frau Doradour war auf ein nahes Schloß zum Mittagessen eingeladen worden. Sie nahm Gaston und Margot mit. Man trennte sich sehr spät, und es war finstere Nacht, als man wieder nach Hause fuhr. Margot und ihre Patin saßen im Fond des Wagens. Gaston saß vorne; und da er niemanden neben sich hatte, legte er sich breit in die Kissen und schien schon zu schlafen. Es war heller Mondschein, doch das Wageninnere finster. Nur für kurze Augenblicke drang ein blasser Strahl hindurch. Die Unterhaltung verstummte. Gutes Essen, ein wenig Müdigkeit, Dunkelheit, die weiche Schwingung der Kutsche luden zum Schlafen ein. Frau Doradour schlummerte als erste ein und tat ihre Füße auf die Vorderbank, ohne sich zu beunruhigen, ob es Gaston störe. Die Luft war frisch. Ein warmer Mantel schützte Patin und Mündel. Margot war in ihre Ecke vergraben und rührte sich nicht, obwohl sie noch wach war. Aber sie wußte nicht, ob Gaston schlief; und das beunruhigte sie. Da sie die Augen offen hatte, meinte sie, er müsse sie auch offen haben. Sie sah ihn an, ohne ihn zu sehen, und fragte sich, ob er wohl dasselbe tue. Als ein schwacher Schimmer durch den Wagen glitt, wagte sie, ganz leicht zu hüsteln. Doch er bewegte sich nicht. Die Kleine hatte nicht den Mut zu sprechen, aus Furcht, den Schlaf der Patin zu stören. Sie streckte den Kopf vor und blickte hinaus. Der Gedanke an eine lange Reise hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Gedanken an eine lange Liebe. Sie sah Mond, Licht und Felder, vergaß schließlich, daß sie auf dem Weg nach Honville war. Sie schloß halb die Lider, sah die Bäume vorbeihuschen und bildete sich ein, sie führe mit Frau Doradour und ihrem Sohn in die Schweiz oder nach Italien. Der Traum erzeugte andere Träume, so süße, daß sie sich ihnen ganz ergab. Sie sah sich, nicht als seine Frau, sondern als seine Braut, durch die Welt fahren, von ihm geliebt, ihn lieben dürfend. Und am Ziel der Fahrt war das Glück. Sie sagte das Zauberwort immer wieder, das sie – glücklicherweise – so wenig verstand. Um besser zu träumen, schloß sie die Augen. Sie schlief ein. Mit unwillkürlicher Bewegung hob sie, wie Frau Doradour, den Fuß auf das Kissen vor ihr. Der Zufall wollte, daß sie diesen ihren Fuß, einen sehr kleinen und hübsch beschuhten Fuß, gerade auf Gastons Hand legte. Er schien nichts zu merken; doch sie fuhr aus dem Schlaf, zog aber den Fuß nicht sofort zurück, sondern rückte ihn nur ein klein wenig zur Seite. Der Traum war so schön gewesen, daß das Erwachen ihn nicht bannen konnte. Und kann man nicht den Fuß auf die Bank setzen, wo der Geliebte schläft? Wenn man mit ihm in die Schweiz fährt? Ganz allmählich schwand die Illusion. Sie begann zu denken. Was für eine Dummheit wollte sie begehen?

»Ob er es bemerkt hat?« fragte sie sich. »Schläft er, oder scheint es nur so? Wenn er es bemerkt hat, warum hat er die Hand nicht weggezogen? Und wenn er schläft, warum ist er dann nicht aufgewacht? Vielleicht verachtet er mich so sehr, daß er mir nicht einmal zeigt, wenn er meinen Fuß gefühlt hat. Vielleicht ist es ihm ganz angenehm, und er tut nur so, als ob er nichts gemerkt hat, und wartet darauf, daß ich es noch einmal mache. Vielleicht glaubt er, daß auch ich schlafe. Es ist doch nicht angenehm, einen Fuß auf seiner Hand zu haben, vor allem, wenn man die Betreffende nicht liebt. Mein Schuh mag seinen Handschuh beschmutzt haben, denn wir sind heute viel gelaufen. Aber vielleicht will er sich nicht mit solchen Bagatellen abgeben. Was würde er sagen, wenn ich wieder anfinge? Aber er weiß recht gut, daß ich es nicht wage. Vielleicht ahnt er meine Ungewißheit und freut sich an meiner Qual.« Solches überlegte sie und zog den Fuß sacht und mit aller möglichen Vorsicht zurück. Der kleine Fuß zitterte wie Espenlaub, und als er im Dunkeln umhertastete, streifte er von neuem seine Fingerspitzen, doch so leicht, daß Margot selbst es kaum merkte. Ihr Herz schlug wie noch nie. Sie sah sich verloren. Sie glaubte, sie habe eine unsägliche Torheit begangen. »Was wird er meinen? Was wird er von mir denken? In welcher Verlegenheit werde ich sein? Ich werde nicht mehr wagen, ihm ins Gesicht zu sehen. Es war eine Sünde, daß ich ihn das erstemal berührte, aber jetzt ist es noch viel schlimmer. Wie soll ich beweisen, daß ich es nicht absichtlich tat? Die Burschen glauben ja nichts. Er wird sich über mich lustig machen und es aller Welt sagen, der Patin vielleicht, und die Patin wird es dem Vater sagen. Ich werde mich nicht mehr auf dem Land zeigen können. Wohin soll ich gehen? Was soll aus mir werden? Wie kann ich mich verteidigen! Es steht doch fest, daß ich ihn zweimal berührt habe! Noch niemals hat eine Frau so etwas getan! Zum allerwenigsten werde ich das Haus verlassen müssen.« Bei diesem Gedanken fröstelte sie. Sie suchte lange nach irgendeiner Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Sie plante, ihm am nächsten Morgen einen großen Brief zu schreiben, den sie ihm heimlich übergeben wollte und in dem sie ihm erklären würde, sie sei nur aus Unvorsichtigkeit mit dem Fuß auf seine Hand gekommen, sie bitte ihn um Verzeihung und flehe ihn an zu vergessen. Aber wenn er doch nicht schläft? dachte sie von neuem; wenn er ahnt, daß ich ihn liebe? Wenn er es erraten hat? Wenn er es ist, der mir morgen von unserm Abenteuer sprechen wird? Wenn er mir sagt, daß er auch mich liebt? Wenn er mir eine Liebeserklärung macht ... In diesem Augenblick hielt der Wagen. Gaston, der wirklich schlief, dehnte erwachend und mit sehr wenig Zeremonie die Arme. Er brauchte einige Zeit, um sich zu erinnern, wo er war. Bei dieser traurigen Entdeckung verflüchtigten sich ihre Träume. Als er ihr beim Herabsteigen die Hand bot, die sie gestreift hatte, wußte sie nur zu gewiß, daß sie allein in die Schweiz gereist war.

 

VI

Zwei ungeahnte Ereignisse, lächerlich das eine und das andere ernst, geschahen fast zu gleicher Zeit. Gaston probierte eines Morgens in der Auffahrt des Hauses ein neu gekauftes Pferd aus, als ein kleiner, zerlumpter, halbnackter Junge mit entschlossenem Gesicht herankam und sich vor das Pferd stellte. Es war Pierrot, der Geflügelhüter. Gaston erkannte ihn nicht, glaubte, er wolle betteln und warf ihm ein paar Sous in die Mütze. Pierrot steckte die Sous ein, ging aber nicht weg, sondern lief dem Reiter nach und stellte sich ein wenig weiter wieder vor ihm hin. Gaston schrie ihm zwei- oder dreimal zu, er solle sich in acht nehmen. Aber vergebens. Pierrot lief ihm nach und pflanzte sich stets wieder vor ihm auf.

»Was willst du denn eigentlich von mir, du kleiner Kauz!« fragte der junge Herr. »Hast du einen Selbstmord vor?«

»Gnädiger Herr«, entgegnete Pierrot, ohne sich verwirren zu lassen; »ich möchte vom gnädigen Herrn der Diener werden.«

»Von wem?«

»Von Ihnen, gnädiger Herr.«

»Von mir? Und auf was hin fragst du mich das?«

»Um der Diener vom gnädigen Herrn zu werden.«

»Aber ich habe ja gar keinen Diener nötig. Wer hat dir denn gesagt, daß ich einen suche?«

»Niemand, gnädiger Herr.«

»Was willst du also dann?«

»Ich will den gnädigen Herrn fragen, ob ich sein Diener werden kann.«

»Bist du denn verrückt? Oder machst du dich über mich lustig?«

»Nein, gnädiger Herr.«

»Nun also, dann laß mich in Ruhe.«

Gaston warf ihm noch etwas Geld zu, wendete das Pferd und ritt seines Weges. Pierrot setzte sich auf den Rinnstein. Margot, die ein wenig später vorbeikam, fand ihn in heißen Tränen. Gleich lief sie zu ihm.

»Was hast du denn, mein armer Pierrot? Was ist dir denn geschehen?« Pierrot wollte zuerst nicht antworten. »Ich wollte vom gnädigen Herrn der Diener werden«, schluchzte er endlich, »und der gnädige Herr will nicht.«

Nur mit Mühe erfragte sich Margot eine Erklärung. Endlich begriff sie, um was es sich handelte. Seit sie den Pachthof verlassen hatte, härmte Pierrot sich, daß er sie nicht mehr sah. Halb verschämt und halb in Tränen erzählte er ihr seine Leiden, und sie mußte lachen und Mitleid haben zu gleicher Zeit. Der arme Kerl sprach, um seine Schmerzen auszudrücken, einmal von seiner Freundschaft für sie und dann von seinen Schuhen, die abgenutzt waren, von der traurigen Öde der Felder, von einer seiner Truthennen, die eingegangen war. Das alles vermengte sich in seinem Hirn. Er habe schließlich nicht mehr seine Schwermut ertragen können und sei nach Honville gegangen, um sich Gaston als Diener oder Reitknecht anzubieten. Dieser Entschluß habe ihn acht Tage Überlegung gekostet und, wie sie sehe, keinen großen Erfolg gehabt. Er wolle lieber sterben als zum Pachthof zurückkehren. »Da der gnädige Herr mich nicht will«, schloß er seinen Bericht, »und da ich bei ihm nicht sein kann wie Ihr bei Frau Doradour, so will ich lieber vor Hunger sterben.« Tränen überfluteten seine letzten Worte.

Margot tröstete ihn nach besten Kräften, nahm ihn bei der Hand und zog ihn ins Haus. Da sie annahm, daß es jetzt für ihn Zeit sei, Hungers zu sterben, hieß sie ihn in die Küche eintreten und gab ihm einstweilen ein Stück Brot mit Schinken und Früchten. Pierrot, von Tränen überschwemmt, aß mit gutem Appetit und guckte sie mit großen Augen an. Sie konnte ihm dann leicht erklären, daß man auf eine freie Stelle warten müsse, wenn man in den Dienst irgend jemandes gehen wolle. Sie sagte ihm zu, bei der ersten Gelegenheit für ihn zu sprechen, dankte ihm für seine Freundschaft, versicherte ihm, daß sie ihn ebenso gern habe, trocknete seine Tränen, küßte ihn ein wenig mütterlich auf die Stirn und bewog ihn endlich zur Heimkehr. Pierrot ließ sich überzeugen und stopfte die Reste des Frühstücks in seine Taschen. Margot gab ihm noch ein Hundertsousstück dazu, damit er sich eine Weste und Schuhe kaufen könne. So getröstet nahm er ihre Hand, preßte sie an seine Lippen und sagte gerührt: »Auf Wiedersehen, Fräul'n Marguerite.« Er entfernte sich mit langsamem Schritt. Margot sah, daß er eigentlich schon ein großer Bursch war. Er ist ja nur ein Jahr jünger als ich, überlegte sie und nahm sich vor, ihn fürderhin nicht mehr so rasch zu küssen.

Am nächsten Morgen merkte sie, daß Gaston wider seine Gewohnheit nicht auf die Jagd ging und auf seine Kleidung größere Sorgfalt legte als sonst. Nach dem Essen, also etwa gegen vier Uhr, reichte er der Mutter den Arm. Beide gingen zur Auffahrt. Sie plauderten mit leiser Stimme und schienen unruhig. Margot, allein im Salon, schaute ängstlich durch das Fenster. Ein Postwagen rollte in den Hof. Gaston lief hinzu und öffnete den Schlag. Zuerst stieg eine alte Dame heraus und dann ein junges Fräulein von etwa neunzehn Jahren, elegant gekleidet und schön wie der Tag. Aus dem Empfang, der ihnen zuteil wurde, schloß Margot, daß sie nicht nur Personen von Distinktion, sondern auch Verwandte sein müßten. Die beiden besten Zimmer des Hauses waren für sie hergerichtet. Als die Neuangekommenen in den Salon traten, gab Frau Doradour der Kleinen ein Zeichen und flüsterte ihr zu, sich zurückzuziehen. Margot ging schweren Herzens. Der Aufenthalt der beiden Damen schien nichts Gutes zu versprechen.

Sie zögerte am folgenden Tage, zum Frühstück zu gehen. Doch die Patin holte sie und stellte sie Frau und Fräulein von Vercelles vor. So hießen die beiden Fremden. Beim Eintritt in den Speisesaal sah Margot eine weiße Serviette auf ihrem gewohnten Platz neben Gaston. Sie setzte sich schweigend und traurig woanders hin. Ihren Stuhl nahm Fräulein von Vercelles ein. Gaston sah seine Nachbarin sehr oft an. Das war nicht schwer zu beobachten. Margot schwieg die ganze Zeit hindurch. Sie bediente eine Platte, die vor ihr stand. Als sie sie Gaston anbot, schien er gar nicht auf sie zu achten. Nach dem Frühstück spazierten sie im Park. Frau Doradour nahm den Arm der alten Dame und Gaston bot den seinen dem jungen schönen Mädchen. Margot schritt allein hinter der Gesellschaft her. Niemand kümmerte sich um sie, niemand sprach mit ihr ein Wort. Sie blieb stehen und ging ins Haus zurück. Beim Essen ließ Frau Doradour eine Flasche Frontignan bringen und hob, wie es alter Brauch ist, ihr Glas, um mit den Gästen anzustoßen. Alle folgten ihrem Beispiel; nur nicht Margot, die nicht wußte, was sie tun sollte. Schließlich hob sie auch ein wenig ihr Glas und hoffte, ein wenig ermutigt zu werden. Doch niemand antwortete auf ihre furchtsame Geste. Sie stellte das Glas wieder hin und trank nicht. »Wie schade, daß wir keinen Fünften haben«, sagte Frau von Vercelles nach dem Essen. »Wir könnten sonst eine Bouillotte spielen.« (Man spielte damals noch die Bouillotte zu fünft.) Margot saß in einer Ecke und hütete sich wohl zu sagen, daß sie das Spiel kenne. Die Patin schlug Whist vor. Nach dem Abendessen baten sie Fräulein von Vercelles zu singen. Die Dame ließ sich lange bitten und intonierte endlich mit frischer, leichter Stimme ein kleines und hübsches Lied. Margot stöhnte leise, als sie zuhörte, und dachte an das väterliche Haus, wo sie es war, die man nach Tisch zu singen bat. Beim Schlafengehen sah sie, daß man aus ihrem Zimmer zwei Möbelstücke entfernt hatte, die sie sehr liebte: einen großen Sessel und einen kleinen eingelegten Tisch, auf den sie den Spiegel zu setzen pflegte, wenn sie sich frisierte. Sie öffnete zaghaft das Fenster, um das Licht zu sehen, das für gewöhnlich hinter Gastons Vorhängen brannte. Es war ihr das Adieu aller Abende. Doch heute nichts. Gaston hatte die Läden verschlossen. Todtraurig legte sie sich hin und konnte die Nacht nicht schlafen.

Warum waren die beiden Fremden da, und wie lange würden sie bleiben? Das nicht zu wissen quälte sie. Doch es war klar, daß ihre Gegenwart mit den heimlichen Gesprächen zwischen Mutter und Sohn zu tun hatte. Es war da ein Geheimnis, unmöglich zu ahnen; und was es auch sei, Margot fühlte, es müsse ihr Glück zerstören. Sie hatte zuerst geglaubt, die beiden Damen seien Verwandte. Aber man bezeugte ihnen zuviel Freundschaft und Ehrerbietung. Bei den Spaziergängen wandte Frau Doradour viel Mühe auf, der alten Dame die Ausdehnung des Parkes zu zeigen und ihr ins Ohr Ertrag und Wert des Bodens zuzuflüstern. Vielleicht sollte Honville verkauft werden. Was würde dann aus ihrer Familie werden? Würde der neue Besitzer die alten Pächter behalten? Aber andererseits, warum sollte Frau Doradour ein Haus verkaufen, in dem sie geboren war und das dem Sohn zu gefallen schien, zumal sie doch sehr reich waren? Die Fremden kamen aus Paris. Sie sagten es bei allen Gelegenheiten und schienen gar keine Lust zu haben, auf dem Land zu leben. Frau von Vercelles ließ beim Essen oft hören, daß sie häufig zur Kaiserin käme, daß sie sie nach Malmaison begleite und bei ihr in hohen Gnaden stehe. Vielleicht handelte es sich um eine Beförderung für Gaston. Da war es ja natürlich, daß man einer so mächtigen Dame schmeichelte. Vieles überlegte Margot, aber so sehr sie sich auch Mühe gab, ihr Verstand war nicht befriedigt und das Herz drängte sie von der einzigen wahrscheinlichen Vermutung fort, die zugleich die Wahrheit bedeutet hätte.

Zwei Diener hatten mit Mühe eine große Holzkiste in das Zimmer des Fräulein von Vercelles geschleppt. Als Margot aus ihrem Zimmer kam, hörte sie den Klang eines Pianos. Es war das erstemal in ihrem Leben, daß solche Akkorde ihr Ohr trafen. Sie kannte von der Musik nur die heimatlichen Kontertänze. Bewundernd blieb sie stehen, Fräulein von Vercelles spielte einen Walzer. Sie hörte auf, um zu singen. Margot trat sachte an die Tür, damit sie die Worte verstünde. Sie waren italienisch. Die Süße der unbekannten Sprache schien ihr noch schöner als die Harmonien des Instrumentes. Wer war dieses schöne Mädchen, das so geheimnisvolle Worte inmitten fremder Melodien sprechen konnte? Margot duckte sich, trocknete die Tränen, die ihr noch über die Wangen liefen und schaute durch das Schlüsselloch. Sie sah das Fräulein von Vercelles im Morgenkleid, mit nackten Armen, aufgelösten Haaren, die Lippen halb offen und den Blick in der Ferne. Sie glaubte einen Engel zu sehen. Niemals hatten ihre Augen Schöneres geschaut. Sie ging mit langsamen Schritten, geblendet und erschüttert, und wußte nicht, wie ihr geschah. Sie stieg die Treppe hinunter und flüsterte immer wieder: »Heilige Jungfrau, wie ist sie schön!«

 

VII

Seltsam ist es auf der Welt: Gerade die Menschen, die an einer Sache beteiligt sind, täuschen sich in ihr am ehesten. Aus Gastons Betragen gegen Fräulein von Vercelles hätte der Gleichgültigste ahnen können, daß er in sie verliebt war. Margot aber sah es nicht oder wollte es nicht sehen. Sie fühlte, ihrem Leid zum Trotz, etwas Unsägliches für Fräulein von Vercelles, eine Bewunderung, die sie daran hinderte, die Wahrheit zu erkennen.

Das Fräulein von Vercelles war groß, blond und liebreizend. Sie gefiel nicht nur; es war mehr: Sie tröstete mit ihrer Schönheit. In ihrem Blick und Sprechen war eine so seltsame und weiche Ruhe, daß ihre Gegenwart für jeden köstlich wurde. Schon nach wenigen Tagen zeigte sie für Margot viel Freundschaft. Sie selbst war es, die die ersten Schritte tat. Sie sagte ihr ein paar Stickereigeheimnisse, nahm beim Spazierengehen ihren Arm, ließ sie ihre Dorflieder singen und begleitete sie auf dem Piano. Margot wurde von ihrem Wohlwollen gerührt, wenn es ihr auch das Herz zerriß. Als sich ihr die junge Pariserin nach drei Tagen quälenden Verlassenseins näherte und zum erstenmal an sie das Wort richtete, zitterte Margot vor Freude, Furcht und Überraschung. Sie litt, daß Gaston sie ganz vergaß, und ahnte wohl die Ursache. Das Betragen ihrer Rivalin wurde für sie Lust und Bitterkeit zugleich. Zuerst war es für sie nur Freude, daß sie nicht mehr isoliert war. Zugleich auch schmeichelte es ihr, von dem schönen Mädchen ausgezeichnet zu werden. Diese Schönheit, die sie hätte eifersüchtig machen müssen, entzückte sie mit dem ersten Wort. Bald wurden sie vertraut. Margot liebte sie leidenschaftlich. Sie bewunderte ihr Gesicht, ihren Gang, ihre schöne Einfachheit, die Haltung ihres Kopfes, sie bewunderte alles an ihr bis auf das kleinste Seidenband, das sie trug. Sie ließ sie kaum aus den Augen und hörte sie mit atemloser Aufmerksamkeit sprechen. Saß Fräulein von Vercelles am Klavier, dann glänzten die Augen der Kleinen und sagten aller Welt: »Seht, meine gute Freundin will spielen«; denn so nannte jene sie und rührte ein klein wenig an ihrer Eitelkeit. Und wenn sie zusammen durch das Dorf schritten, drehten sich die Bauern um. Fräulein von Vercelles beachtete es gar nicht, aber Margot wurde rot vor Freude. Fast alle Morgen nach dem Frühstück besuchte sie die Freundin. Sie half ihr bei der Toilette, sah sie sich ihre schönen Hände waschen und hörte auf ihre süßen italienischen Lieder. Dann stieg sie mit ihr in den Salon hinunter, stolz eine kleine Arie summend, die sie behalten hatte. War sie allein, zerriß sie wieder Schmerz, daß sie weinte.

Frau Doradour war zu leichten Sinnes, um auf die Veränderung ihres Patenkindes viel achtzugeben. »Du scheinst mir ein wenig blaß«, sagte sie ihr manchmal; »hast du nicht gut geschlafen?« Eine Antwort wartete sie nicht ab und wandte sich anderen Dingen zu. Gaston sah klarer, und wenn er sich die Mühe nahm zu denken, täuschte er sich über ihre Schwermut nicht. Doch er sagte sich, es sei sicherlich nur eine kindliche Laune, ein wenig Fraueneifersucht, die mit der Zeit verginge. Margot hatte stets jede Gelegenheit vermieden, mit ihm allein zu sein. Sie schauderte vor dem Gedanken. Sah sie ihn von ferne und war sie allein, dann drehte sie sich um, so daß ihre Angst, die Leidenschaft zu verbergen, ihm der Beweis eines absonderlichen Charakters schien. »Was für eine merkwürdige Kleine!« sagte er sich oft, wenn er sie weglaufen sah, kaum, daß er Miene machte, zu ihr zu gehen. Deshalb auch sprach er sie gegen ihren Willen zuweilen an. Margot senkte dann den Kopf, antwortete einsilbig und zog sich in sich zurück wie eine Mimose.

Die Tage verrannen monoton. Gaston ging nicht mehr zur Jagd. Man spielte wenig, ging selten spazieren. Nur Unterhaltungen. Zwei- oder dreimal täglich ersuchte Frau Doradour die Kleine, sich zurückzuziehen, um nicht die Gesellschaft zu stören. Das arme Kind hatte nichts anderes zu tun, als hinaufzugehen und wieder herunterzukommen. Erschien sie einmal ungelegen im Salon, so gaben die beiden Mütter Zeichen, und alle schwiegen. Rief man sie nach einer langen heimlichen Unterhaltung, so setzte sie sich, ohne jemanden anzusehen, und fühlte Unruhe, gleich dem Seereisenden, der Unwetter ahnt und es langsam über den klaren Himmel aufsteigen sieht.

An einem Morgen rief das Fräulein von Vercelles, an deren Tür sie stand. Nach einigen belanglosen Worten bemerkte sie am Finger der Freundin einen schönen Ring.

»Streifen Sie ihn mal an«, sprach Fräulein von Vercelles. »Wir wollen sehen, ob er Ihnen steht.«

»Oh, gnädiges Fräulein, meine Hand ist nicht hübsch genug, um solchen Schmuck zu tragen.«

»Aber so lassen Sie doch! Dieser Ring steht Ihnen ja prachtvoll. Ich werde ihn Ihnen an meinem Hochzeitstag schenken.«

»Wollen sie sich verheiraten?« fragte Margot zitternd.

»Wer weiß?« entgegnete lachend die andere. »Wir Mädchen sind alle Tage solchen Gefahren ausgesetzt.«

Ihre Worte erschütterten die Kleine. Tag und Nacht wiederholte sie sie sich, hundertmal, fast mechanisch und ohne weiter zu denken. Doch kurz darauf, als ihr Gaston nach dem Essen eine Tasse Kaffee bot, dankte sie sanft und sprach: »Sie werden sie mir an Ihrem Hochzeitstag anbieten.« Gaston lächelte und schien ein wenig erstaunt. Er antwortete nichts; aber Frau Doradour runzelte die Brauen und bat Margot ernst, sich um ihre Angelegenheiten zu kümmern.

Margot wußte, woran sie war. Das, was sie zu erfahren ersehnte und fürchtete, schien ihr jetzt bewiesen. Sie lief fort und schloß sich in ihr Zimmer ein. Sie legte die Stirn in die Hände, weinte. Als sie wieder zu sich kam, zog sie den Riegel vor, damit keiner sie und ihren Schmerz sehe. Eingeschlossen fühlte sie sich freier und enträtselte allmählich, was in ihrer Seele vorging.

Trotz ihrer großen Jugend und Verliebtheit hatte sie viel gesunden Menschenverstand. Das erste, das sie erkannte, war die Unmöglichkeit, gegen die Ereignisse anzukämpfen. Sie begriff, daß Gaston Fräulein von Vercelles liebte, daß beide Familien sich zusammengetan und die Heirat beschlossen hatten. Vielleicht war der Tag schon festgesetzt. Sie erinnerte sich, in der Bibliothek einen schwarz gekleideten Herrn gesehen zu haben, der auf ein gestempeltes Papier schrieb. Das war wahrscheinlich der Notar, der den Ehekontrakt aufsetzte. Fräulein von Vercelles war reich, Gaston würde es nach dem Tod der Mutter sein. Was konnte sie gegen eine so beschlossene, natürliche und richtige Verbindung tun? Sie verbiß sich in den Gedanken ihrer Ohnmacht und fand die Widerstände immer stärker. Sie konnte die Heirat nicht verhindern, gewiß, aber sie brauchte doch nicht dabei zu sein. Sie zog unter dem Bett einen kleinen Koffer hervor, der ihr gehörte, und stellte ihn in die Mitte des Zimmers, um ihre Habe hineinzutun, entschlossen, zu den Eltern zurückzukehren. Doch ihr fehlte der Mut. Statt den Koffer zu öffnen, setzte sie sich auf ihn und weinte wieder. So blieb sie fast eine Stunde lang und sah wirklich erbarmungswürdig aus. Die Gründe, die sie zuerst erstaunt hatten, verwirrten sie jetzt, und die Tränen quälten sie. Sie schüttelte den Kopf, wie um sie loszuwerden. Sie suchte immer wieder nach einem Grund zur Abreise, bemerkte nicht, daß ihre Kerze am Verlöschen war. Mit einemmal saß sie im Finstern. Sie stand auf und öffnete die Tür, um nach Licht zu rufen. Doch es war schon spät und alle waren zur Ruhe gegangen. Trotzdem tappte sie sich vorwärts, weil sie nicht glaubte, daß die Stunde schon so vorgeschritten sei.

Als sie hinunter wollte, sah sie die dunkle Treppe. Sie sagte sich, sie allein sei noch auf, und bekam Angst. Sie war den langen Korridor hindurchgeschritten, der zu ihrem Zimmer führte, blieb jetzt stehen und wagte nicht mehr vor- noch rückwärts. In solchem Augenblick kann ein Kleinstes den Lauf unserer Gedanken wandeln; die Dunkelheit vor allem vermag viel. Die Treppe war, wie in vielen alten Häusern, in einen kleinen Turm gebaut, den sie ganz ausfüllte. Sie ging in einer Spirale rund um eine Steinsäule herum. Die zögernde Margot lehnte sich an sie und fühlte ihre Kälte und die eigene leidvolle Furcht im Blut. Sie blieb unbeweglich stehen. Jäh kam ihr ein finsterer Gedanke. Ihre Schwäche ahnte den Tod, und merkwürdig, dieser Gedanke, der nur einen Augenblick dauerte und gleich wieder verblaßte, gab ihr neue Kräfte. Sie ging ins Zimmer zurück und schloß sich bis zum neuen Tag ein.

Als die Sonne aufging, stieg sie in den Park hinunter. Der Herbst war wunderbar. Die gelben Blätter schienen wie von Gold. Noch fielen sie nicht von den Zweigen. Ein zärtlicher Wind tat ihnen nichts. Es war die Zeit, da sich die Vögel ein letztesmal lieben. Die arme Margot war noch nicht so weit. Doch die warme Güte der Sonne milderte ihren Schmerz. Sie dachte an den Vater, an die Familie, die Religion. Sie erinnerte sich ihres ersten Planes, wollte wieder fort und resignieren. Doch allmählich schien es ihr nicht so dringend wie am Abend zuvor. Sie fragte sich, was sie Böses getan habe, um eine Verbannung von dem Ort zu verdienen, an dem sie ihre glücklichsten Tage verlebt hatte. Warum sollte sie nicht bleiben? Sie würde nicht zu leiden aufhören, aber vielleicht weniger leiden, als wenn sie ginge. Sie tauchte in die dunklen Alleen, ging mit raschen, ging mit langsamen Schritten, blieb dann stehen und sprach: »Lieben ist etwas Großes. Man muß dazu Mut haben.« Das Wort »Lieben« und die Gewißheit, daß kein Mensch auf Erden ihre Leidenschaft ahnte, ließen sie wieder hoffen. Was? Sie wußte es selbst nicht. Und hoffte darum noch mehr. Ihr teures Geheimnis dünkte sie ein Schatz, im Herzen verborgen. Sie wollte ihn nicht herausreißen und schwor sich, ihn stets zu bewahren, ihn gegen alles zu schützen, auf daß er darin begraben bleibe. Ihrer Vernunft zum Trotz fabulierte sie wieder. Sie hatte geliebt wie ein Kind, sie war unglücklich wie ein Kind und tröstete sich wie ein Kind. Dachte an seine blonden Haare und an die Fenster in der Rue du Perche. Wollte sich einreden, daß die Ehe noch nicht geschlossen sei und daß sie sich vielleicht getäuscht habe. Sie setzte sich unter einen Baum und schlief, gewiegt von Rührung und Müdigkeit, rasch ein.

Sie erwachte um die Mittagszeit, schaute mit großen Augen um sich und erinnerte sich nur mit Mühe an ihr Leid. Ein Geräusch in der Nähe ließ sie den Kopf wenden. Sie sah unter dem Hagebuchengang Gaston und Fräulein von Vercelles. Sie waren allein. Margot, durch dichtes Gebüsch verborgen, wurde von ihnen nicht bemerkt. Auf der Allee setzte sich Fräulein von Vercelles auf eine Bank. Gaston blieb eine Zeitlang vor ihr stehen und sah sie zärtlich an. Dann beugte er das Knie, umarmte und küßte sie. Margot fuhr auf. Unendlicher Schmerz zerriß sie. Sie lief in die Felder und wußte nicht wohin.

 

VIII

Seitdem Pierrots Plan, bei Gaston Diener zu werden, fehlgeschlagen war, wurde er von Tag zu Tag trauriger. Margots Trostworte genügten nur für den Augenblick; sie dauerten nicht länger als der Mundvorrat in seiner Tasche. Er dachte immer schmerzlicher an seine teure Margot und wußte immer deutlicher, daß er fern von ihr nicht leben könne. Das Leben, das er auf dem Pachthof führte, trug wahrscheinlich nicht dazu bei, ihn zu zerstreuen, und noch weniger die Gesellschaft, mit der er seine Zeit zu verbringen hatte. An jenem Unglückstag unserer Heldin ging er in Gedanken versunken den Fluß entlang und trieb seine Truthähne vor sich her. Da sah er hundert Schritt entfernt eine atemlose Frau, die am Ufer herumirrte und plötzlich zwischen den Weiden verschwunden war. Erstaunt und beunruhigt lief er hinzu. Doch als er an die Stelle kam, wo sie gestanden hatte, sah er nichts und suchte vergeblich ringsum in den Feldern. »Vielleicht«, meinte er, »ist sie in eine der benachbarten Mühlen gegangen.« Allein er folgte dem Lauf des Flusses, böser Ahnung voll. Die Eure hatte gerade durch vielen Regen Hochwasser. Der traurige Pierrot fand ihre Fluten noch finsterer als sonst. Da sah er irgend etwas Weißes sich im Schilf bewegen. Er ging hinzu, warf sich am Ufer auf den Boden und zog einen Körper heraus. Es war niemand anders als Margot. Die Unglückliche gab kein Lebenszeichen mehr. Sie war bewegungslos, kalt wie Marmor; mit starren offenen Augen.

Pierrot schrie auf, schrie immer wieder. Leute kamen aus der Mühle herbeigelaufen. So grausamer Schmerz zerriß ihn, daß er mit ihr zusammen sterben wollte und zum Wasser ging. Doch er besann sich. Man hatte ihm gesagt, daß Ertrunkene bei rascher Hilfe wieder ins Leben zurückgerufen werden können. Die Bauern versicherten zwar, Margot sei mausetot; aber er wollte es nicht glauben, wollte sie auch nicht den Körper in die Mühle tragen lassen. Er hob ihn auf die Schultern und schleppte ihn in seine Hütte. Der Himmel wollte es, daß er unterwegs den Dorfarzt traf, der gerade ausritt, um seine Besuche zu machen. Pierrot hielt ihn an, zwang ihn in seine Hütte und ließ ihn nachsehen, ob noch irgendeine Hoffnung sei.

Der Arzt war derselben Ansicht wie die Bauern. Kaum sah er den Körper, da rief er: »Die ist tot. Man braucht sie nur noch zu begraben. Nach dem Zustand ihres Körpers muß sie mehr als eine Viertelstunde im Wasser gelegen sein.« Worauf er den Raum verließ und wieder aufs Pferd wollte, hinzufügend, man solle vom Bürgermeister den Totenschein ausstellen lassen.

Pierrot liebte Margot nicht nur von ganzem Herzen, er hatte auch einen harten Schädel und wußte sehr wohl, daß sie keine Viertelstunde im Wasser gelegen war. Hatte er doch gesehen, wann sie hineinging. Er lief hinter dem Arzt her und bat ihn um alles in der Welt, nicht wegzugehen, bevor er sicher wisse, daß alle Hilfe vergebens sei. »Und wie soll ich ihr denn helfen?« schrie der Arzt schlecht gelaunt. »Ich habe kein einziges der nötigen Instrumente bei mir.«

»Ich laufe schnell hin und hole sie«, entgegnete Pierrot. »Sagen Sie mir nur, wo sie sind, und erwarten Sie mich hier. Ich bin gleich wieder da.«

Der Arzt, den es zu gehen eilte, biß sich auf die Lippen wegen der Dummheit, von seinen Instrumenten zu sprechen. Er war von ihrem Tod überzeugt, fühlte aber doch, daß eine Weigerung bedenklich sei, ihn im Land unbeliebt machen und seinen Ruf gefährden könne. »So lauf und eile dich«, sagte er zu Pierrot. »Du nimmst die Blechschachtel, die dir meine Haushälterin geben wird, und kommst wieder hierher zurück. Ich werde solange den Körper in Tücher einwickeln und ihn frottieren. Sieh zu, Asche aufzutreiben, die wir dann heiß machen können. Aber alles das wird nichts nützen. Ich verliere nur meine Zeit«, setzte er mit hochgezogenen Achseln hinzu und stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Also los! Hast du alles verstanden?«

»Ja, Herr, und um so schnell zu machen, wie der Herr will, werde ich des Herrn Pferd nehmen.«

Er wartete nicht die Erlaubnis des Doktors ab, schwang sich auf das Pferd und war schon fort. Nach einer Viertelstunde kam er im Galopp zurück, mit zwei großen Säcken Asche vor sich und hinter sich. »Der Herr sieht, daß ich keine Zeit verloren habe«, sagte er, und sprang vom Pferd, das nicht mehr weiter konnte. »Ich habe nicht lange geplaudert, sprach zu niemandem ein Wort. Eure Haushälterin war fort. Ich habe alles alleine gefunden.«

Der Teufel soll dich holen! dachte der Doktor. Mein Pferd ist in einem schönen Zustand für den Tag. Er murrte weiter vor sich hin und blies dann vermittels eines Blasebalgs Luft in Margots Mund, während Pierrot ihre Arme rieb. Rasch brannte ein Feuer; die Asche wurde heiß. Sie schütteten sie auf das Bett und gruben den Körper ganz in sie hinein. Der Arzt goß dann einige Tropfen Branntwein auf ihre Lippen, schüttelte den Kopf, zog die Uhr und sprach mit scharfem Ton: »So leid es mir tut, ich kann um der Toten willen die Kranken nicht warten lassen. Man erwartet mich sehr weit von hier, und ich muß gehen.«

»Wenn der Herr nur noch eine halbe Stunde bleiben will«, bat Pierrot, »ich gebe ihm gern einen Taler.«

»Nein, mein Junge, das ist unmöglich, und ich will auch nicht dein Geld.«

»Hier ist der Taler«, erwiderte Pierrot und drückte ihn ihm in die Hand, als hätte er nichts gehört.

Das Geldstück war das ganze Vermögen des Burschen. Er zog ihn aus seinem Strohsack. Der Doktor nahm ihn auch.

»Also gut. Noch eine halbe Stunde. Aber dann gehe ich ohne Aufschub. Du siehst doch selbst, daß es keinen Zweck hat.«

Nach einer halben Stunde war Margot immer noch steif und kalt und hatte nicht das kleinste Lebenszeichen gegeben. Der Arzt fühlte den Puls, wollte dann ein Ende machen, nahm Hut und Stock und ging zu seinem Pferd. Pierrot hatte kein Geld mehr und sah, daß Bitten nichts mehr nützte. Er folgte dem Arzt und pflanzte sich vor dem Pferd mit derselben Seelenruhe auf wie damals bei Gaston. »Was soll das heißen?« fragte der Doktor. »Soll ich hier über Nacht bleiben?«

»Oh nein, Herr«, erwiderte Pierrot; »aber Sie müssen noch eine halbe Stunde bleiben. Dann wird auch das Pferd besser erholt sein.« Er schwenkte bei diesen Worten einen Knüppel und sah den Arzt so befremdlich an, daß jener zum drittenmal in die Hütte ging. Doch jetzt ließ er sich gehen. »Zum Teufel mit deinem Starrsinn! Du Taugenichts läßt mich mit sechs Franken einen Louis verlieren!«

»Aber Herr«, erwiderte Pierrot, »man sagt doch, daß man erst nach sechs Stunden zu sich kommt.«

»Niemals, wo hast du denn das gelernt? Es fehlte mir noch, sechs Stunden in deiner Bude zu bleiben.«

»Und Sie werden sie hier bleiben, die sechs Stunden! Oder ich werde mit Eurer Erlaubnis den Kasten, die Röhren und all das hier behalten, Euch noch zwei Stunden zusehen und dann mich selber bedienen können.«

Dem Arzt nützte seine Wut gar nichts. Er mußte bleiben, ob er wollte oder nicht, und blieb auch noch volle zwei Stunden. Dann ließ Pierrot, der schon selber zu verzweifeln begann, seinen Gefangenen laufen. Er saß unbeweglich, niedergeschlagen, verzweifelt am Bett. Den ganzen Tag rührte er sich nicht und sah keinen Augenblick von ihr fort. Als die Nacht kam, stand er auf und hielt es für an der Zeit, den alten Piédeleu auf den Tod der Tochter vorzubereiten. Er ging aus der Hütte. Als er die Tür schloß, schien es ihm, als riefe ihn eine schwache Stimme. Er fuhr zurück und rannte ans Bett; doch sie rührte sich nicht. Er mußte sich getäuscht haben. Aber dennoch, es genügte, daß er hoffte, um zu bleiben. »Ich kann morgen ebensogut gehen«, sagte er sich und setzte sich wieder ans Bett.

Er betrachtete sie aufmerksam und glaubte mit einemmal, in ihrem Gesicht eine Veränderung zu bemerken. Waren nicht, als er sie hatte verlassen wollen, die Zähne zusammengebissen gewesen? Jetzt standen die Lippen halb offen. Er griff zum Instrument des Arztes und versuchte, in ihren Mund zu blasen. Aber er wußte es nicht zu gebrauchen; das Rohr paßte nicht in den Ball. Er mühte sich krampfhaft, doch die Luft ging nicht durch. Die Tropfen Ammoniak, die er ihr auf die Lippen goß, drangen nicht in die Kehle. Von neuem griff er zum Rohr; doch es gelang ihm nicht besser. »Was für dumme Maschinen!« schrie er endlich und ganz außer Atem. »Das nützt ja alles nichts!« Er warf das Instrument weg, beugte sich über Margot, preßte seine Lippen auf die ihren und blies mit verzweifelter Anstrengung und der ganzen Kraft der robusten Lungen seinen lebenskräftigen Atem in ihre Brust. Da bewegte sich die Asche, zwei totmatte Arme hoben sich hoch und fielen ihm um den Hals. Margot seufzte tief und wimmerte: »Ich friere, ich friere.«

»Nein, du frierst gar nicht«, entgegnete er, »du bist in schöner warmer Asche.«

»Ja, du hast recht; aber warum denn bin ich in Asche?«

»Wegen gar nichts, Margot; damit du dich wohlfühlst. Wie geht es dir jetzt?«

»Nicht schlecht. Ich bin nur sehr schwach. Hilf mir ein wenig auf.«

Der gute Piédeleu und Frau Doradour, vom Arzt benachrichtigt, traten in dem Augenblick in die Hütte, als die Ertrunkene halb nackt und lässig ihren Arm um Pierrot tat und einen Löffel Kirschwasser schluckte.

»Ja, was ist denn das! Was kommt ihr und schwatzt ihr mir da vor?« schrie der Alte. »Das geht doch nicht, daß man zu jemandem läuft und sagt, die Tochter sei tot! Das darf mir nicht wieder vorkommen, Himmeldonnerwetter! Sonst könnte es anders ausgehen!«

Er fiel der Tochter um den Hals. »Gebt nur acht, lieber Vater«, lächelte sie, »drückt mich nicht zu stark; es ist noch gar nicht so lange her, daß ich nicht mehr tot bin.«

Was brauche ich die Überraschung und die Freude von Frau Doradour und den übrigen allen zu schildern, die einer nach dem andern eintrafen. Auch Gaston und Fräulein von Vercelles kamen. Frau Doradour nahm den Alten beiseite und klärte ihn über das Vorangegangene auf. Das, was sie nur zu spät vermutet hatte, ließ alles klar sehen. Als der Vater erfuhr, Liebe sei der Grund ihrer Verzweiflung gewesen, und sie habe den Aufenthalt bei der Patin fast mit dem Leben bezahlt, ging er lange Zeit erregt hin und her. Dann sagte er rauh zu Frau Doradour: »Wir sind jetzt quitt. Ich schuldete Euch viel und habe Euch viel bezahlt.« Dann nahm er die Tochter bei der Hand und führte sie in eine Ecke. »Hier, Unglücksmädel«, sprach er und zeigte ihr das Leichentuch, das er mitgebracht hatte; »nimm das, wenn du brav bist, bewahre es für mich auf und ertränke dich nicht mehr.« Dann ging er auf Pierrot zu, schlug ihm herzhaft auf die Schulter und sprach: »Der Herr, der so gut in den Mund von jungen Mädchen blasen kann, möge doch sprechen! Soll man ihm nicht den Taler wiedergeben, den er für den Doktor ausgelegt hat?«

»Herr, wenn es Euch gefällt«, entgegnete Pierrot, »ich möchte wohl, daß man mir den Taler wiedergibt; aber nicht mehr, versteht Ihr? Es ist nicht Stolz. Aber wenn man doch zu gar nichts in der Welt taugt ...«

»So geh doch, Dummkopf!« erwiderte der Alte und schlug ihn wieder auf die Schulter. »Geh und sorge dich ein bißchen um deine Kranke. Hat dieser Kerl ihr in den Mund geblasen und noch nicht mal einen Kuß gegeben!«

 

IX

Zehn Jahre waren vergangen. Das siegreiche Unglück von 1814 bedeckte Frankreich mit Soldaten. Von ganz Europa umklammert, endete der Kaiser, wie er angefangen hatte, und fand am Schluß seiner Laufbahn die Begeisterung der italienischen Feldzüge vergeblich. Die russischen Divisionen, die den Ufern der Seine entlang auf Paris zumarschierten, wurden in der Schlacht von Nangis geschlagen und verloren zehntausend Mann. Ein schwerverwundeter Offizier hatte das Korps der Armee des General Gérard verlassen und gelangte nach Étampes auf die Beaucer Straße. Kaum konnte er sich auf dem Pferd halten. Müde klopfte er des Abends an das Tor eines hübschen Pachthofes und bat dort um ein Lager für die Nacht. Der Pächter, der kaum mehr als fünfundzwanzig Jahre zählte, gab ihm ein gutes Essen und führte dann seine Frau herbei, eine hübsche, junge, ungefähr gleichaltrige Bäuerin, schon Mutter von fünf Kindern. Als der Offizier sie eintreten sah, entfuhr ihm ein Schrei der Überraschung. Die hübsche Pächterin grüßte ihn lächelnd. »Täusche ich mich nicht?« fragte der Offizier. »Seid ihr nicht Gesellschaftsdame bei Frau Doradour gewesen? Und heißt Ihr nicht Marguerite?«

»Zu Euren Diensten«, entgegnete die Pächterin; »und ich habe die Ehre, mit Herrn Oberst Graf Gaston de la Honville zu sprechen, wenn ich ein gutes Gedächtnis habe. Das hier ist mein Mann Pierre Blanchard, dem ich es zu danken habe, daß ich noch auf der Welt bin. Küßt meine Kinder, Herr Graf; sie sind die letzten einer Familie, die der Ihren lange und treu diente.«

»Ist es möglich?« entgegnete der Offizier. »Was ist denn aus Euren Brüdern geworden?«

»Sie sind bei Champaubert und Montmirail geblieben«, sprach die Pächterin mit bewegter Stimme. »Seit sechs Jahren erwartete sie mein Vater.«

»Und ich habe meine Mutter verloren«, entgegnete der Offizier; »und mit ihr allein so viel wie Ihr.«

Er weinte fast bei diesen Worten.

»Also, Pierrot«, sagte er dann gutgelaunt, wandte sich an den Mann und reichte ihm sein Glas; »trinken wir auf das Gedächtnis der Toten, mein Freund, auf die Gesundheit deiner Kinder! Es gibt rauhe Augenblicke im Leben. Man muß wissen, wie man über sie hinwegkommt, das ist alles.«

Am nächsten Tag verließ er den Hof und dankte seinen Gastfreunden herzlich. Als er das Pferd bestieg, sagte er zur Pächterin:

»Und Eure Liebe von einst, Margot, denkt Ihr noch manchmal an sie?«

»Mein Gott, Herr Graf, sie ist im Fluß geblieben.«

»Und mit des gnädigen Herrn Erlaubnis«, fügte Pierrot hinzu, »ich werde sie auch nicht herausholen.«

 


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