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In Paris sah man heut – es war im Herbste des Jahres 1829 – überall auffallend bedenkliche Gesichter und bestürzte Mienen, woraus man in dieser wunderbar bewegten Stadt, in der ungeachtet des vielen Neuen und Ungewöhnlichen, das täglich und stündlich darin geschieht, der gewohnte Gang des Lebens kaum je zu stocken scheint, und das Neue noch in demselben Augenblicke, in dem es neu war, wieder zu etwas Gewöhnlichem wird, woraus man in Paris immer auf ein außerordentliches politisches Ereigniß zu schließen hat. Der Fremde, der sich heut zum ersten Mal in Paris befand, sah alles Leben der französischen Hauptstadt in seinem ganzen unversieglichen Gestaltenwechsel vor sich, wie es schon immer gesehen und schon oft geschildert worden, aber er hatte zugleich den Vortheil, es in einem Zeitpunkte zu sehen, wo der Volkscharakter durch einen besondern Anlaß angeregt und in Bewegung gesetzt war. –

Etwas Aehnliches mochte der alte preußische Major bemerken, der mit seiner Tochter, einem schönen deutschen Mädchen, vor Kurzem angekommen war, und in seinem Hôtel garni nachdenklich am Fenster stehend, auf die von der zahllosen Menschenmenge bedeckte Straße herunterblickte. Sein Töchterlein, der bei der überraschenden Aussicht auf das nie gesehene Gewühl von tausend fremden Gegenständen fast bange zu werden schien, zog sich von dem schwindelnden Anblick schnell wieder mit ihrem Köpfchen ins Fenster zurück, und aus dem wehmüthigen und nur halb unterdrückten Seufzer, mit dem sie die Hand vor die Stirn legte und in das Zimmer zurücksah, konnte man schließen, daß die junge Deutsche dem Vater nicht gern nach der geräuschvollen Seinestadt gefolgt war, oder vielleicht noch mit verborgenen Heimwehschmerzen zu kämpfen hatte. Das fremdartig ausmöblirte Zimmer, in das man die Angekommenen geführt hatte, konnte auch keinen ansprechenden Eindruck auf das Mädchen machen, und die beiden Gipsbüsten zu betrachten, die als eine Hauptzierde des Zimmers auf dem Ofen standen – es war Voltaire's häßlich-frivole Physiognomie und neben ihm, noch aus den Zeiten des ancien regime her, der Kopf der Madame Pompadour – diente ebenfalls nicht zur tröstlichen Erheiterung für ein deutsches Fräulein. Indeß schien ihr Vater, eine edle Kriegergestalt vom alten preußischen Heldenstamme, von dem Schauspiel, den das unten aufundniederwogende Leben und Treiben des pariser Volkes darbot, unwiderstehlich angezogen zu sein, und auf seinem ernsten Gesicht, in dessen dunkeln Zügen nicht nur der Kriegsdienst im Felde, sondern auch ein hartes Lebensschicksal manche Spuren zurückgelassen, las man jetzt die in ihm mächtig werdende Erinnerung an jene unvergeßliche Zeit, als er vor funfzehn Jahren mit seinen Waffenbrüdern siegreich in die Thore dieser Stadt einzog, die recht eigentlich die Hauptstadt der neuern Weltgeschichte genannt werden kann, und wohin ihn ein besonderes Geschäft, das mehr den verborgenen Angelegenheiten seines Herzens und der Vergangenheit seines mannigfach bewegten Lebens angehört, noch einmal geführt hatte.

Ein Fremder ist sonst in keiner Stadt weniger der gaffenden Neugierde und Aufmerksamkeit ausgesetzt, als gerade in dem großen Paris, wo ein Jeder unbekümmert um den Andern in der buntgemischten Masse sich fortdrängt. Um so auffallender war es, daß unsere deutschen Landsleute oben im Hôtel garni so sehr ein Gegenstand der Aufmerksamkeit für einen jungen Franzosen geworden zu sein schienen, der schon mehrere Male unten in der Straße auf und ab gegangen war und zu dem Fenster, an dem er den Major mit seiner Tochter erblickt hatte, unverwandt und wie von einem eigenen Interesse zu demselben angezogen, hinaufsah. War es vielleicht ein Enthusiast für Preußens Heldensöhne, die seit den Befreiungskriegen auch einmal ein Modeartikel der Bewunderung in Paris gewesen? Aber der junge Mann, der so eifrig die Fensterpromenade machte, schien in der That mehr die schöne sanfte Tochter, als den kriegerischen Vater im Auge zu haben, und seine heitere Stirn, die sich über einem freien, ansprechenden Gesicht erhob und einen ganz nationalen liebenswürdigen Leichtsinn ausdrückte, verrieth, daß er die Politik des Tages noch nicht für bedeutend genug halte, um sich durch sie im frohen Lebensgenuß stören zu lassen.

Die geniale Nachlässigkeit der Kleidung und der etwas phantastische Schnitt seines lockigen Haares, das ihm in jugendlicher Fülle über die Schultern hing, so wie seine ganze Physiognomie ließen in dem jungen Manne einen Künstler vermuthen, der sich vielleicht aus Sehnsucht nach schönen Formen von der anziehenden Erscheinung der jungen Deutschen dort oben nicht wegwenden konnte, welche in der That ein liebliches und betrachtenswerthes Bild für einen Künstler schien und leider seinen Augen nur zu bald wieder entzogen wurde.

In träumerischen Gedanken in sich selbst verloren, wollte der junge Franzos, welchen wir Narciß nennen und der in dieser Geschichte noch öfter auftreten wird, eben in eine andere Straße einbiegen, da er sich durch das leer gewordene Fenster um den interessanten Gegenstand gebracht sah, der hier sein Herz gefesselt und sogar bezaubert hatte, als ihn von hinten Jemand sanft erweckend auf die Schulter schlug. Er blickte sich um und erkannte in demselben einen redseligen Freund, der sich, wie er ihm ansah, gewiß von den politischen Ereignissen, die heut, wo das unheilvolle Ministerium von Polignac Jules de Polignac (1780-1847) wurde am 8. August 1829 die Bildung eines Ministeriums ganz im Sinne der Ultraroyalisten übertragen, dessen Präsident er seit dem November 1829 war. Aber durch seine Maßregeln stürzte er Frankreich in eine neue Revolution und brachte das Haus der Bourbonen um den Thron. Sein Kabinett regierte konsequent an der Abgeordnetenkammer vorbei. Im Verfolg der reaktionären Politik König Karls X. beabsichtigte er die Vorherrschaft des Adels wiederherzustellen. Unmittelbarer Auslöser der Julirevolution waren die »Juliordonnanzen« vom 26. Juli, in denen die Abgeordnetenkammer aufgelöst, der Wahlzensus nach oben gesetzt und die Pressefreiheit weiter eingeschränkt wurden. – Anm.d.Hrsg. am Horizonte von Paris wie eine schwarze drohende Wetterwolke aufgestiegen war, die ganze Stadt beschäftigten, mit ihm unterhalten wollte.

»Guten Tag, Dubois! Was macht die romantische Muse?« sagte Narciß schnell zu dem ihm begegnenden jungen Mann, der ungefähr von gleichen Jahren mit ihm war, in der Absicht, das Gespräch lieber auf die Poesie zu lenken, welcher der Angekommene, ein beliebter und talentvoller Theaterdichter der Porte St. Martin Théâtre de la Porte Saint-Martin, 1781 errichtet, seit 1802 großes Boulevard-Theater mit ca. 1800 Plätzen. – Anm.d.Hrsg., als ausübender Jünger angehörte, als auf die Politik, mit welcher der junge Bildhauer – denn dieser Kunst hatte sich Narciß gewidmet – nun einmal heut aus Laune seines zu süßeren Empfindungen aufgeregten Herzens nichts zu thun haben wollte. Aber Dubois verstand seines Freundes Erkundigung nach der romantischen Muse gerade in einem andern Sinne, als dieser gemeint, und wurde dadurch eben recht mitten in die politischen Beziehungen des Tages versetzt, weil die ästhetischen Parteien der neuesten Poesie in Frankreich, die sich als Klassiker und Romantiker in einem feindlichen Gegensatze gegenüberstanden, bekanntlich auch in der Politik eine entsprechende Stellung gegen einander eingenommen hatten, so daß im Durchschnitt die Royalisten eben so sehr für Anhänger des Romanticismus galten, als die Liberalen es gewöhnlich mit der Partei der Klassiker hielten und in den Gegnern dieser Dichtergilde auch die Gegner ihrer Ansichten über Staat und Regierung verfolgten und haßten.

»Jeder achte Romantiker trauert heut, und wie ich hoffe, auch jeder gutgesinnte Klassiker!« sagte der Dichter aus der Porte St. Martin mit Ernst und Bedeutung; »denn Du weißt ja, lieber Freund, daß ich, obwohl man mich einen romantischen Poeten nennt, doch eigentlich nie habe begreifen können, wie die romantische Muse, die an dem glänzenden Bilderreichthum ihrer Gefühle einen hinlänglich schimmernden Hofstaat besitzt, zu der Ehre kommt, gerade von den Parteigängern des absoluten Königthums gehuldigt zu werden, und daher ist das neue Ministerium, das jeder geistigen und bürgerlichen Freiheit im Leben wie in der Kunst den Garaus zu machen droht, meiner Gesinnung eben so unerträglich, als jedem Andern, der sich in der Politik zu den Liberalen und in der Poesie zu den Klassikern zu bekennen beliebt. Aber apropos! hast Du den Figaro von heut schon gesehen? Er soll mit einem schwarzen Rande um seine Blätter erschienen sein, um auf diese Weise seine Trauer über das eben publicirte Gesetz, welches die Freiheit der periodischen Presse so despotisch beschränken will, tragikomisch auszudrücken.«

»Das ist ja ächt romantisch!« sagte Narciß lachend; »aber um auf etwas Anderes zu kommen – was seid ihr doch eigentlich für sonderbare Leute mit euerm Klassicismus und Romanticismus, über den ihr doch nun einmal schlechterdings nicht mit einander aufs Reine kommen werdet. Ihr Poeten, mit eurer vielseitigen Muse, die eben so vielseitig ist, als der Mensch und sein Herz selbst, müßt das freilich besser verstehen, was es sagen will, zu den Klassischen oder zu den Romantischen zu gehören; aber in meiner Bildhauerei, die ich doch auch ein wenig als eine schöne Kunst rühmen möchte, giebt es eigentlich nur einen, und zwar einen klassischen Geschmack, den wir noch aus der Antike her haben, und sonach, da einmal Alles bei uns Partei sein soll, gehöre ich gewissermaßen auch zu den Klassikern, und stehe Dir, mein Bruder Romantiker, der Du Deine Tragödien im neuesten hochschwebenden Pegasustritt gedichtet hast, in bester Feindschaft gegenüber. Aber wir wollen uns darum keine grauen Haare wachsen lassen, mein Freund Dubois, und damit Du siehst, daß ich auch ein wenig über den heut zu Tage so wichtig gewordenen und in allen Salons und Kaffeehäusern besprochenen Gegensatz des Klassischen und Romantischen nachgedacht habe, so will ich Dir darüber in einer Beziehung, die mich gerade jetzt aufgeregt hat, ein Wörtchen im Vertrauen mittheilen. Nicht von der Poesie will ich reden, über die ich kein Urtheil habe, aber von der Liebe, welche ja für alle die Menschen, die so unglücklich sind, keine Verse machen zu können, die Stelle der Poesie vertreten muß, und ich behaupte demnach, daß, wenn es eine romantische und klassische Poesie geben kann, es auch eine romantische und klassische Liebe giebt, und gestehe, nur durch dies zwiefache Wesen der Liebe, das ich eben neuerdings in mir selbst erfahren habe, jenen Gegensatz in der Poesie ahnen und fassen zu können. Du gehörst ja auch zu den Verehrern der jungen schönen Wittwe in der Straße Cherche midi, welche wir immer die romantische Madelon nennen, diesen liebenswürdigsten Sonderling und Grillenfang aller Weiber, die mit ihrer verführerischen Kunst Jeden lockt, aber Keinen beglückt, und uns bald sehnsuchtsvoll glühen läßt in dem Sonnenschein ihrer Huld und ebenso bald durch einen unvorhergesehenen Sturm ihrer Aprilwetterlaune die Liebesgluth, welche sie entzündet hat, wieder abzukühlen versteht. Da ich eine Zeitlang und noch ganz kürzlich in dem Zaubernetz dieser Armida geseufzt habe, so weiß ich, mein Freund, was es sagen will, romantisch zu lieben, und die romantische Liebe, wie der Romanticismus überhaupt, ist mir durch dies Verhältniß zu der schönen Madelon, wie ich glaube, hinlänglich klar geworden. Diese wilde und doch so süße Unruhe des Herzens, in der die Liebe zu ihr bestand, dies Entzücken und Schwärmen der erregten Phantasie, die, vom Reiz der Geliebten hingerissen, in allen sinnlichen Träumen eines wonnevollen Erdenglücks sich berauschte, und gleich der Blumenknospe, in der ein brennender Sonnenstrahl den Trieb zum Blühen auf einmal erweckt hat, in Lust und Sehnsucht des sinnlichen Dranges aufging; alle diese Thränen und Seufzer der verliebten Schmerzen und Freuden, dies Liebesglück und Liebeselend zu gleicher Zeit, diese sternenflammenden Nachtstücke der Leidenschaft, auf die nach umherirrender, trunkener Schwärmerei ein thaukalter, nüchterner Morgen folgte, alles dies, mein Freund, war eine romantische Liebe, aus deren narkotischem Himmelsstrich ich mich jetzt auf immer entfernt zu haben hoffe. Und soll ich Dir nun auch die klassische Liebe beschreiben? Da wünschte ich aber, Du hättest selbst das Antlitz des lieblichsten Mädchens gesehen, das je von Deutschland nach Paris gekommen und aus deren Anblick wir erst heut das Bewußtsein einer schöneren Liebe, die ich eben die klassische nennen möchte, geworden ist. Lache mich aus, guter Dubois, wenn ich Dir erzähle, daß ich das Mädchen eigentlich noch gar nicht kenne und sie erst zwei Mal gesehen habe, heut Mittag, wo sie sich zuerst an jenem Fenster in dem Hotel drüben zeigte, und jetzt vor einer Weile, wo ich sie an demselben Fenster neben einem preußischen Officier, vielleicht ihrem Herrn Papa, erblickte, aber glaube mir, daß es Gesichter giebt, die uns schon beim ersten Anblick so vertraut und verwandtschaftlich anziehen, als wenn wir Jahre lang Liebe bittend und Liebe empfangend mit ihnen in Sympathie gestanden hätten. Aus diesem Mädchengesichte wehte mich so plötzlich ein Friede an, den ich noch nie in meinem Leben empfunden habe, und diese sanften Gefühle, die mich zu ihr ziehen, möchte ich die wahre Liebe nennen und das wahre Glück. In ihren lieben Augen glüht kein verführerisches Feuer, kein abstoßender Stolz unsrer romantischen Madelon, bei der einfach schönen Deutschen ist Alles klar und wahr, aus ihren milden Zügen spricht ihre milde Seele, und Alles, wonach ich mich in leidenschaftlich verirrten Stunden meines Lebens so oft gesehnt habe, ein stillbegränztes, gediegenes Glück des Daseins, schien mir aus ihren blauen treuen Augen, als ich nur das erste Mal hineinblickte, entgegen zu winken. Mein Freund, ist das nicht die Klassicität der Liebe? Und da hast Du nun mein ganzes ästhetisches Glaubensbekenntniß über die klassischen und romantischen Angelegenheiten und Streitigkeiten des Dichtens wie des Liebens, und wenn Dir meine Ansichten nicht behagen, so kann ich Dir, mein Seel'! mit keinen besseren aufwarten!«

In diesem Augenblicke bemerkte Narciß in der Thür des gegenüberliegenden Hotels den ihm wohlbekannten Kellner desselben, von dem er nähere Nachrichten über die heut angekommenen Fremden aus Deutschland, die ihn so sehr zu interessiren angefangen, einzuziehen hoffte. Er machte sich daher so schnell als möglich von seinem Freunde los, welcher seinerseits ebenfalls eilte, noch zur rechten Zeit in das ehemalige Theater Favard zu kommen, wo jetzt die italienische Operngesellschaft ihren Sitz hatte, die heut eine ihrer ausgezeichnetsten Vorstellungen, den Don Juan von Mozart, zum ersten Mal wiederholte.

Narciß sah es dem romantischen Dichter an seinem etwas verzogenen Lächeln an, daß derselbe gegen die Ansichten, die er ihm über die Romantiker und Klassiker zum Besten gegeben, noch Manches einzuwenden hätte, besonders da er wußte, daß Dubois sonst mit Eifer zu behaupten pflegte, das, was man in der neuesten französischen Tagespoesie den Romanticismus nenne, sei keinesweges eine einzelne Verirrung oder Abart der Dichtkunst, sondern vielmehr die Durchgangsstufe zu einer freieren und geistreicheren Wiedergeburt der vaterländischen Poesie; aber der junge Bildhauer, der sich überhaupt nicht gern um Ideen stritt, war noch außerdem heut viel zu sehr mit der neuen Entdeckung, die er in jenem Hotel wie in seinem Herzen gemacht hatte, beschäftigt, als daß er den ihm durch ein ironisches Lächeln hingeworfenen Fehdehandschuh hätte aufnehmen sollen, und so schieden sie von einander, indem Dubois dem Freunde in seinen klassischen Herzenangelegenheiten einen guten Erfolg wünschte. Vielleicht bezog sich auch das Lächeln des Theaterdichters auf den Umstand, daß er den schnell erregbaren Narciß, der von der Schönheit der Tugend wie der Sinnlichkeit gleich leicht und unwiderstehlich gereizt zu werden pflegte, diesmal so entschieden für Venus Urania Aphrodite bzw. (römisch) Venus Urania ist eine der Erscheinungsformen der Göttin Aphrodite und verkörpert die himmlische, nicht die erotische Liebe. – Anm.d.Hrsg. eingenommen sah, die ihn durch die blauen Augen einer kleinen Deutschen gefesselt hatte, und er kannte seinen Freund Narciß zu gut, um nicht vorauszusehen, daß sich ihm auch hier die überirdische Göttin bald wieder in eine Sterbliche von Fleisch und Blut verwandeln werde. – –

Der Kellner des Hotels konnte dem wißbegierigen Narciß leider nur wenig mittheilen, was zur Befriedigung seiner Sehnsucht gedient hätte. Die beiden Fremden aus Deutschland waren Vater und Tochter, aber über den Zweck ihres Aufenthalts in Paris ergab sich noch nicht mehr, als daß dem alten Major besonders daran gelegen schien, die Wohnung einer gewissen Madame Larosette zu erfahren, über welche ihm der Kellner noch keine Auskunft hatte geben können. Narciß stutzte, als er diesen Namen hörte, womit keine andere Dame gemeint sein konnte, als seine ihm noch vor kurzem so gefährlich gewesene Freundin aus der Straße Cherche midi, die er auch wohl die romantische Madelon zu nennen pflegte; aber ohne sich lange über den Zusammenhang der Sache und ob hier Zufall, Irrthum oder Schickung walte, den Kopf zu zerbrechen, sah er ein, daß er die glücklich dargebotene Gelegenheit ergreifen müsse, da sie die einzige war, um ihn dem Gegenstand seiner Wünsche nahe zu bringen.

»Melde Deinen Fremden,« – sagte er zu dem Aufwärter – »daß Du jetzt Jemand gefunden hättest, welcher sie nach der Wohnung der Madame Larosette geleiten könne, und der dies Geschäft um so mehr mit Vergnügen übernehmen würde, weil er ein aller Hausfreund dieser Dame sei.« –

Der Kellner, den ein gutes Trinkgeld bereitwillig machte, sprang fort und kam bald mit der Nachricht wieder, daß der Major Eichen und seine Tochter so eben im Begriff ständen, herunterzukommen, um in Begleitung eines Lohnlakay einen Spaziergang durch die Stadt zu machen, doch habe er sie von dem Diensteifer des Herrn Narciß unterrichtet. – »Ich wollte, sie nähmen mich zu ihrem Lohnlakay an!« seufzte Narciß tragikomisch. »Amor als Lohnlakay! es wäre ein neues Vaudeville in meinem Leben!«

Es währte nicht lange, so zeigte sich der deutsche Krieger oben auf der Treppe, eine hohe, kraftvolle Gestalt, die von der Last der Jahre, welche man sonst seinem von einem eigenen düstern Zug umwölkten Gesicht wohl ansah, noch nicht niedergedrückt zu sein schien, und an seinem Arme hing Rosalie, seine Tochter, deren zartgeröthete Wange sich in den tiefsten Purpur verfärbte, als sie unter der Thür neben dem Kellner den jungen Narciß erblickte, dessen Fensterpromenade ihr zuvor nicht unbemerkt geblieben sein mochte.

Mit der ungezwungenen, verbindlichen Leichtigkeit, mit welcher der Franzose Bekanntschaften anzuknüpfen und auch wieder von sich abzuweisen versteht, hatte sich unser Narciß bald den Fremden genähert und sich ihnen als einen anhänglichen Hausfreund der Madame Larosette zu erkennen gegeben, nach der, wie er gehört, der Major Erkundigungen angestellt habe. »Es ist meine Nichte!« versetzte der Major Eichen mit einigem Befremden, indem er die höfliche Anrede des jungen Franzosen nur karg erwiederte, und ihn mit einem ernst prüfenden Blick betrachtete. »Sie kennen sie also? Wie geht es ihr jetzt in Paris? Ich hatte nicht geglaubt, daß meine arme Nichte so viele Freunde indem großen Paris habe, umso unvermuthet gleich zu ihr gewiesen zu werden. Und Sie wollen die Güte haben?« –

Narciß bejahete nicht ohne einige Verwirrung, da er jetzt mancherlei Zweifel bei der ganzen Sache nicht unterdrücken konnte, denn daß der Fremde die schönste und übermüthigste Frau, die sich im täglichen Wohlleben wie eine Göttin berauschte, seine arme Nichte nannte, war ihm eben so unbegreiflich, als es ihm seltsam vorkam, daß eine Französin die Nichte eines deutschen Majors sein könne. Er schickte sich indeß mit einer galanten Wendung an, die ihm Vertrauenden zu führen, und wußte sich aus Vergnügen über sein Glück, noch heut so unerwartet in die ersehnte Nähe des liebenswürdigen deutschen Mädchens gekommen zu sein, bald so sehr über alle Bedenklichkeiten hinwegzusetzen, daß er mit gutem Humor ein Gespräch über die Localität seiner Vaterstadt begann, zu dem auch selbst die schüchterne Rosalie einige Male zur Erhöhung seiner Zufriedenheit ein Wörtchen hinzufügte, was der junge Bildhauer vielleicht zu schnell seiner Eitelkeit anrechnete, da es nur eine ihr abgedrungene Höflichkeit war, auf seine beredte Unterhaltung wenigstens etwas zu erwiedern, indem es dem guten Kinde leid that, daß der Vater dabei in einem so strengen und in sich selbst versunkenen Schweigen etwas rücksichtslos verharrte.

So geleitete Narciß den Vater und seine Tochter durch die engen, hochgebauten und wunderlich sich krümmenden Straßen fort nach dem ziemlich entfernten Stadtviertel, in welchem das Haus der Madame Larosette lag, und der nicht ganz zurückzudrängende Gedanke, der ihn zuweilen überschlich, daß er jetzt der älteren und noch vor kurzem so leidenschaftlich angebeteten Freundin die neue, ihm liebenswerthere Erschienene selbst zuführen müsse, war geeignet genug, dem jungen Mann auch in dieser Beziehung Herzklopfen zu verursachen, das er schon ohnehin in einer andern, so oft er nur Rosaliens sanften Blicken begegnete, nur zu laut empfand. – –

Vor einem der ansehnlichsten Häuser in der Straße Cherche midi stand Narciß still, indem er die Fremden ersuchte, ihm eine Treppe hinauf in die Wohnung der Madame Larosette zu folgen, und obwohl er es gern vermieden hätte, selbst mit hinaufzugehen, so wurde es ihm doch zu schwer, sich schon jetzt aus der freundlichen Nähe, in die ihn sein Glücksstern geführt hatte, wieder zu entfernen. Die Dame, der man einen so überraschenden Besuch zugedacht hatte, war nicht zu Hause und es konnte wohl noch einige Zeit hingehen, ehe sie aus der italienischen Oper, nach der sie gefahren sein sollte, wieder zurückerwartet werden durfte. Eine reich gekleidete Dienerschaft führte die Angekommenen in das Besuchzimmer, und der Prunk und Glanz, der ihnen überall entgegenschimmerte und einen eben so vermögenden als geschmackvollen Besitzer verrieth, schien den alten Major so sehr zu befremden, daß er fast Anstand nahm, in das ihnen eröffnete Zimmer hineinzutreten. »Hier mag ein Irrthum walten, lieber Herr!« sagte der Major leise zu Narciß, welcher bereits Rosalien genöthigt hatte, auf dem seidenen Kanapee Platz zu nehmen. »Sie haben uns zu Madame Larosette geführt, aber ich fürchte, es ist eine andere, die mit keinem Besuch aus Deutschland wird zu thun haben wollen. Meine Nichte, die ich suche, lebt nach dem Tode ihres Gatten, eines französischen Officiers, arm und verlassen, ja wohl in Dürftigkeit in Paris.« –

Narciß, dem selbst bei der ganzen Sache immer bedenklicher zu Muthe wurde, wollte eben antworten, als die bejahrte Wirthschafterin der Dame vom Hause hereintrat, die etwas im Zimmer zu thun zu haben schien, und die Fremden freundlich begrüßte, indem sie einige Worte mit ihrem alten Bekannten Narciß wechselte und die baldige Rückkehr ihrer Herrin verhieß, weil dieselbe den Schluß der Oper nie abwarte. Als sie jedoch den preußischen Officier näher ins Auge faßte, brach eine eigene plötzliche Ueberraschung in ihren Gesichtszügen hervor, welche auch bereits auf den Major selbst übergegangen war, und sie machte fast eine unwillkührliche Bewegung zu ihm hin, wie beim unverhofften Wiederfinden eines Freundes, als sich dieser schnell von ihr abwandte und ans Fenster trat, um sein Gesicht zu verbergen, indem er bei sich selbst mit verhaltenem innerlichen Schmerz ausrief: »Da ist doch eine bekannte Gestalt aus der Vergangenheit, aber das Schicksal mag wissen, wie sie hierher kommt!« –

Indeß hatte die Alte das Zimmer wieder verlassen und Narciß lud zu einem einstweiligen Spaziergang in den schönen Garten hinter dem Hause ein, ein Vorschlag, der allen Dreien um so willkommener sein mußte, da sie sich in einer etwas seltsamen Lage und Stimmung einander gegenüber befanden, was man im Freien immer noch am erträglichsten durchzuführen pflegt. –

Der Garten bot einige sehr angenehme und allen Reiz des Südens an sich tragende Parthien dar, und während die aus dem Norden Gekommenen an dem erquicklichen und gewürzigen Blüthenhauch der südlichen Natur sich letzten, konnte Narciß den mancherlei Erinnerungen nicht entgehen, welche ihn in diesem Garten augenblicklich überschlichen, in dessen schattigen Laubgängen er sonst oft Liebe seufzend und Kühlung suchend umhergeirrt war, wenn die wunderbar gelaunte Dame seines Herzens den Verlangenden von sich gestoßen hatte.

Jetzt waren sie, die von Früchten schimmernden Baumalleen durchwandelnd, zu einem von Blumen und Pflanzen terrassenförmig umhegten Platz gekommen, in dessen Mitte man eine Statue erblickte, welche eine weibliche Figur halb als Göttin, halb als Sterbliche in idealischem Gewande und Haltung dargestellt zeigte. Die Fremden standen überrascht still und Narciß belehrte sie, daß es die schöne Dame des Hauses sei, welche sie vor sich sähen, und die ein sie vergötternder Künstler in kaltem Stein nachgebildet habe. »Ich selbst war dieser Künstler!« fügte er nach einer Weile etwas schüchtern hinzu, indem er Rosalien und den Major in den rechten Standpunkt versetzte, um das schöngeformte Marmorbild betrachten zu können. »Es ist eine meiner ersten Statuen und urtheilen Sie, ob mir die Halbgöttin gelungen ist. –

Der alte Major, so sehr er auch von dem Anblick ergriffen und ganz in Betrachtung der Bildsäule versunken war, schien jedoch weniger dazu aufgelegt, die Arbeit des Künstlers daran zu beurtheilen, wie vortrefflich und zartsinnig dieselbe auch ausgeführt sein mochte, als es ihn, vielmehr mit einer sichtbaren Bewegung seines Innern beschäftigte, aus dem Kunstwerk die Lebende, welche er aufsuchte, herauszuerkennen. »Sie ist es und sie ist es nicht!« rief er unwillkührlich aus. »Es sind die ewig unvergeßlichen Gesichtszüge, die sie von ihrer Mutter ererbt hat, und was mir in diesem unaussprechlich rührenden und mich mahnenden Antlitz fremd geworden ist, haben die zehn Jahre der Entfernung und Trennung verschuldet!« –

Jetzt schien der ehrwürdige Krieger den auffallenden Ausbruch seiner Gefühle, die er nicht zurückhalten können, zu bereuen, und als hätte er gegen Narciß etwas wieder gut zu machen, in dessen Kunstwerk er, wie es oft zu gehen pflegt, den Künstler über der Kunst und die Kunst über dem Leben, welches sie darstellt, vergessen und hintangesetzt hatte, begann er gesprächiger zu demselben zu werden und sagte: »Sie sind also ein Bildhauer, mein Herr! Sehr schwer ist es wohl, in dem harten und eisigen Stein die Gluth des Lebens, die Wärme eines schönen Körpers nachzumeißeln, und besonders bei einem so seelenvollen und bezaubernden Gegenstande des Lebens, wo das leidenschaftliche Entzücken, das den nachbildenden Künstler im Anschauen seines Originals überwältigt, ihm leicht die Hand unsicher macht, und doch muß der Künstler alles Feuer seiner Empfindung in den kalten Marmor versenken und ihn damit befruchten, um aus dem spröden Stein die schwellende, warme Gestalt hervorzulocken!« –

Narciß erröthete, denn diese Worte enthielten wider ihren Willen für ihn eine Anspielung, die ihn in diesem Augenblicke nur zu sehr berührte, denn bei dieser Statue hatten sich, während er daran gearbeitet, Liebesglut und Künstlerglut für das schöne Marmorbild wirklich auf die seltenste Art in seiner Seele vereinigt, und er blickte jetzt schnell und verlegen Rosalien an, als fürchte er fast, daß sie von seinem früheren Verhältniß zu der damals so sehr Geliebten etwas ahnen könne; aber das heitere, unbefangene Auge des deutschen Mädchens hing sinnig und freundlich an dem Gebilde des Künstlers, das sie mit Aufmerksamkeit betrachtete. –

»Es giebt auch ein Grauen in der Kunst« – fuhr der Major zu sprechen fort – »und besonders in Ihrer Kunst, mein Herr, welche die menschliche Gestalt vorzugsweise zur Aufgabe hat! Es ist das Grauen, das uns überschleichen, will, wenn Kunstwerke, Portraits und Statuen mit der Gewalt des Lebens schöpferisch ausgestattet vor uns treten, daß wir sie nicht mehr als Bilder ansehen, sondern mit ihnen fühlen, leben und verkehren, sie umarmen und an uns drücken möchten, und doch durch eine gewisse innere Geisterfurcht gehindert werden, ihnen das Leben wirklich zuzugestehen, auf das sie durch die Kunst Anspruch machen, weil wir in unserer Kunstanschauung nie so glücklich sind, als Pygmalion in der Mythe war, in dessen Armen sich die Bildsäule in ein liebewarmes Mädchen verwandelte!« –

Narciß erinnerte sich, viel von der Schwermuth und metaphysischen Trübheit der Deutschen gehört zu haben, und je mehr er das seltsame Wesen des deutschen Fremden betrachtete, in dem die innerliche Gefühlsbewegung, die man ihm ansah, um so auffallender mit einer markigen Kriegergestalt contrastirte, je deutlicher glaubte sich der junge Franzose überzeugt halten zu dürfen, daß eigentlich nur seine Landsleute fähig wären, das Leben wie einen leichten und doch geistreichen Champagnerschaum zierlich wegzuschlürfen, und genial handeln zu können, ohne peinvoll zu denken und zu empfinden; ein Nationalstolz, der sich hier an Ort und Stelle nicht so leicht widerlegen ließe.

Indeß war das Abenddunkel hereingebrochen, im letzten Schimmer der goldgerötheten Wolken wiegte in der Ferne die Seine ihre plätschernden Wogen, deren Ufer den Garten im Hintergrunde umgränzten, und es schien Zeit geworden, sich wieder in das Haus zurückzubegeben, und die, welche man suchte und bisher nur als Statue gesehen hatte, nun endlich auch als Lebende kennen zu lernen. Die bereits hellerleuchteten Fenster des Wohnzimmers bestätigten die Hoffnung, daß die Vielerwartete jetzt aus der Oper zurückgekehrt sei. – –

Die junge Dame, welche wir schon früher die romantische Madelon nennen hörten, hatte sich eben, wie erschöpft von dem gewaltsamen Eindruck, den das Finale des Don Juan, dessen Aufführung sie heut Abend beigewohnt, in ihr hervorgebracht zu haben schien, auf das Kanapee geworfen, und bedeckte unruhig oder Ruhe suchend die schönen Augen mit der Hand, als der ihr zuvor gemeldete Besuch sich draußen vernehmen ließ. Die Thür öffnete sich und der Major mit seiner Tochter trat in Begleitung des hier wohlbekannten und nur seit einiger Zeit selten gewordenen Narciß ins Zimmer. Der Major blieb nach seinem Eintreten einen Augenblick lang in dem halberhellten Hintergrunde wie unbeweglich stehen, und seine große, starre Figur, verbunden mit dem Auffallenden seiner plötzlichen Erscheinung, war überraschend genug, um die den Fremden aufmerksam entgegensehende Madelon in Schreck und Verwirrung zu versetzen.

»Hilf Himmel! Der steinerne Gast!« rief sie wie in Verzweiflung, und sprang entsetzt auf, als wenn sie vor einem Gespenst sich zu flüchten habe. »Marquis! Susanne! Christine! Wo seid ihr? Ich bitte, ich beschwöre euch! Kommt herbei!« –

Auf ihren gellenden Angstruf, wie man ihn noch nie von ihr vernommen, kamen auch alsbald die Kammerzofe und die Haushälterin aus dem Nebenzimmer eilig herbei, und mit noch größerer Hast stürzte aus einer andern Thür ein kleiner, ältlicher Mann heraus, der, mit einer altfränkischen Uniform bekleidet, einem französischen Marquis aus dem vorigen Jahrhundert ähnlich sah. Indeß hatte sich Madelon von dem ersten Schreck ihrer verwirrten Phantasie wieder erholt und so weit besonnen, daß sie einsah, der steinerne Gast aus dem Don Juan, der zuvor eine so entsetzliche Ueberraschung auf den Brettern zuwege gebracht hatte, werde unmöglich in preußischer Uniform und in solcher Gesellschaft erscheinen, und kaum war dieser komische Gedanke in ihr aufgestiegen, als sich auch eben so schnell ihre Laune veränderte, und sie über ihre eigene Thorheit lachend und mit tausend anmuthig hervorgebrachten Entschuldigungen den eingetretenen Gästen entgegenging.

»Magdalene!« rief der Major mit erhobener Stimme und blickte sie fragend an. »Magdalene Larosette, geborene von Ramberg!« –

»Sie kennen ja mein ganzes Geschlechtsregister!« erwiederte die junge Dame mit einer schelmischen Verbeugung – »und Sie, mein Herr, mit wem hab' ich die Ehre?« –

»Major Eichen aus Coblenz!« versetzte er und trat ihr einige Schritte näher. –

»Mein Onkel aus Deutschland!« rief Magdalena oder Madelon, wie sie hier in Paris wohl genannt wurde, und stürzte in die Arme des alten Kriegers, der die schöne, glänzende Gestalt seiner Nichte, die er auf diese Weise nicht wiederzufinden gehofft hatte, mit Inbrunst umfing.

»Und das ist hier wohl mein kleines, deutsches Mühmchen?« sagte Madelon und wandte sich zu Rosalien, indem sie ihr Lippen und Wangen mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. »Das ist ja schön, herrlich, vortrefflich!« fuhr die seltsam Lebhafte zu sprechen fort, indem sie bald von Einem zum Andern sprang und die Angekommenen nicht genugsam betrachten konnte, bald vor Ueberraschung die Hände in einanderschlug und das lieblichste närrische Zeug trieb, zu dem nur die Freude eine bewegliche Natur verleiten kann. »Und nun fällt mir auch wieder ein,« sagte sie weiter, »daß ich eigentlich auch eine Deutsche bin, und den Leuten hier in Paris hab' ich sammt und sonders weiß gemacht, daß ich von Geburt eine Französin sei, und sie haben es mir geglaubt bis auf diese Stunde! Ist das nicht zum Todtlachen, Onkel?« setzte sie kichernd hinzu, indem sie den Major nebst Rosalien zu sich auf das Kanapee zog und noch eine Kerze auf den Tisch stellen ließ. »Aber brauchen hübsche Frauen denn ein Vaterland zu haben?« – –

So hatten die Verhältnisse, die anfänglich durch die seltsame Erinnerung an den steinernen Gast zu einer Geisterscene ausarten zu wollen schienen, sich schnell in eine Familienscene umgewandelt, der die Umstehenden, welche durch das Angstgeschrei Madelons herbeigerufen worden, so wie auch nicht weniger Narciß, als einem völlig neuen Ereigniß noch immer mit unbeweglichem Erstaunen zusahen. So aufmerksam und mit ganzer Seele beschäftigt auch Magdalene für ihre beiden so unerwarteten Gäste zu sein schien, so hatte sie doch nicht unterlassen, auch dem jungen Bildhauer von Zeit zu Zeit einen glühenden und bedeutungsvollen Seitenblick zuzuwerfen, welchen dieser wohl verstand und darauf zu beziehen wußte, daß er so lange dem Dienst der herrschsüchtigen Schönen untreu geworden und aufgehört habe, vor ihrem Triumphwagen zu ziehen, den sie gern mit tausend Anbetern bespannt sah, ohne auch nur Einen durch dauernde Gunst beglücken zu wollen. Noch in eine andere Verlegenheit gerieth jetzt der junge Narciß durch die Anwesenheit des artigen Kammerzöfchens, mit der er sonst wohl, nach Art seiner Landsleute überall leichtfertig umhertändelnd, nebenbei eine kleine Liebesepisode durchzuspielen nicht verschmäht, sie aber ebenfalls, wie das ganze verführerische Haus, in einer tugendhaften Anwandlung, die unserm Freunde zuweilen kam, seit mehreren Tagen gemieden hatte, und welche jetzt, die Verwirrung des Augenblicks benutzend, sich ihm verstohlen näherte, um ihn durch einen heimlichen Händedruck an seine Untreue zu erinnern. Zur Beruhigung für Narciß wurde es jedoch von Niemandem bemerkt, und Madelon entfernte bald das Mädchen wie die alte Haushälterin aus dem Zimmer, indem sie ihnen zurief, daß es ihr ehrwürdiger Oheim sei, der angekommen, und nun nicht mehr zu befürchten wäre.

Nur der kleine, vor Alter zusammengeschrumpfte Marquis stand noch immer von fern wie festgebannt vor Verwunderung über das, was sich ereignet hatte, und der Major Eichen, der mit seiner wiedergefundenen Nichte gern allein gewesen wäre und ihr Manches zu sagen haben mochte, fragte sie leise, wer denn der alte Herr dort in der seltsamen Uniform sei? – »Das ist der Marquis Cidevant Als » ci-devant« (Ehemaliger) wurde ein Adliger bezeichnet, der es nach der französischen Revolution ablehnte, sich in die neue soziale Ordnung einzufügen, und keine von jener eingeführte politische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderung akzeptierte. Der Ausdruck hat abwertenden Charakter. – Anm.d.Hrsg.!« rief Madelon laut, und machte eine Bewegung, ihn vorzustellen – »mein väterlicher Freund, mein Wohlthäter! Entschuldigung, Marquis, daß ich Sie nicht gleich mit meinen lieben Anverwandten aus Deutschland bekannt gemacht habe!« –

Jetzt näherte sich der Marquis mit dem gravitätischen Anstande eines altfranzösischen Hofmanns den Fremden, und gab mit einer übertriebenen Freundlichkeit sein Vergnügen über die Ankunft derselben zu erkennen. Der Major antwortete kurz und unfreundlich, weil sich ihm hier wieder etwas Neues in den Weg stellte, das ihm die ganz anders erwarteten Verhältnisse seiner Nichte immer rätselhafter machte und seine Ungeduld nach einem Aufschluß fast peinlich spannte. Das Gespräch gerieth für einen Augenblick in ein etwas verlegenes Stocken. –

»Unser guter Marquis Cidevant gehört zu den Wenigen, die ihren Namen ganz in der That führen!« begann Madelon wieder, und der alte Herr aus der alten Zeit, der solche spöttische Anspielungen von der muthwilligen Schönen gewohnt sein mochte, begnügte sich, ihr gutmüthig lächelnd mit dem Finger zu drohen, worauf er nach einigen allgemeinen Wendungen des Gesprächs das Zimmer verließ, um, wie er sagte, zur festlichern Bewirthung der verehrten Fremden Anstalt treffen zu lassen.

Auch Narciß hatte sich bereits empfohlen und beim Abschied um die Erlaubniß gebeten, bald wiederkommen zu dürfen, was ihm von Madelon nicht abgeschlagen wurde. Das Haus der jungen Wittwe hatte jetzt für ihn wieder einen neuen Reiz gewonnen, und die junge Wittwe selbst erschien ihm durch die heut so unvermuthet ans Licht getretene Entdeckung, daß sie eine Deutsche sei, da bisher Niemandem in Paris, und ihm selbst am allerwenigsten, an ihrem ächt französischen Frauencharakter zu zweifeln eingefallen war, – sie erschien ihm immer mehr wie ein wunderbares Irrlicht der Liebe, das, in seiner wandelnden und wechselnden Gestalt umherhüpfend, zwar schön und seltsam aus der Ferne glänzt, aber zuletzt wohl ohne wahre und warme Strahlen unbeglückt und unbeglückend in der Wildniß zerflattert. – –

»Es sind jetzt zehn Jahre, daß wir getrennt waren, Magdalene!« –begann nun der Major, als sie sich endlich mit einander allein befanden – »und wie es schien, hast Du auch nie eine Sehnsucht gehabt, in Dein Vaterland zurückzukehren, da Du uns während der ganzen Zeit auch nicht ein einziges Mal Nachricht von Dir gabst! Als ein sechszehnjähriges Mädchen folgtest Du damals einem französischen Officier, der in unserer Vaterstadt für seine Wunden hülfreiche Theilnahme und Genesung gefunden und bald Deine Neigung und Deine Hand gewonnen hatte; Deine Mutter war seit einigen Jahren gestorben. Deine Verwandten konnten nichts dagegen haben, und der brave Larosette führte Dich als seine beste Siegesbeute in zartester Jugend noch aus der Pensionsanstalt nach seinem Frankreich mit fort. Seitdem wurdest Du uns so fern und fremd, daß Dich jetzt meine Ankunft wohl als eine Gespenstererscheinung überraschen konnte, und doch haben mich so mancherlei wichtige Umstände und Pflichten hieher geführt, die ich nicht länger mehr aufschieben durfte und die Deine Familienverhältnisse betreffen. Durch einen Freund, der vor einigen Monaten hier in Paris gewesen, erfuhr ich, daß Dein Gatte plötzlich gestorben.« –

»Ums Himmels Willen, lieber Oheim« – fiel ihm Magdalene fast ängstlich ins Wort und schmiegte sich erschrocken an Rosalien, die neben ihr saß – »laß die Todten ruhen! Ich spreche nicht gern von der Vergangenheit, und Erinnerungen aller Art sind mir beklommene Gäste, die mich bange und zittern machen. Darum habe ich mich auch ganz und gar in eine Französin umgewandelt und bin meinen deutschen Landsleuten fremd geworden, die immer so viel aus der Vergangenheit zu erinnern haben; aber das mag sein, wie es will, ich weiß das Alles, lieber Onkel, worauf Du zu reden kommst! Ich bin nun einmal, wie ich bin, und daß ich nie nach Deutschland geschrieben habe? Mein Gott, alle Tage hatt' ich es mir vorgenommen, aber da kam Eines zum Andern, bald Besuche, bald Bälle, bald Kopfschmerzen, dann wieder Theater, Concerte und die unerträglichen musikalischen Soirée's, die man alle mitmachen muß, dann wieder Hochzeiten, Todesfälle, Beileidsbezeugungen, etwas Zeit für die Toilette, daß man nicht wie ein Wilder aussieht, Morgenvisiten, Abendvisiten, auch das Neueste aus der Literatur muß man lesen, und so sind in einem Nu zehn Jahre daraus geworden, und ich weiß noch heute nicht, wie es möglich ist, daß der liebe Gott die Zeit so schnell vergehen läßt, und daß zehn Jahre wie eine kleine Mittagspromenade durch die Tuillerien in einem Augenblickchen Sonnenschein, wegrutschen! Und soll es denn einmal über die Vergangenheit geplaudert sein, so will ich mich lieber hier über mein kleines hübsches Röschen wundern, das in zehn Jahren eine so volle Rose geworden ist, und ich erinnerte mich nur ihrer noch als eines ganz kleinen Dämchens, das außer seiner Puppe immer Niemanden lieber hatte als mich, und sich damals von keinem Andern die langen blonden Zöpfchen flechten lassen wollte, als von mir. Und wie alt bist Du denn jetzt, mein allerschönstes Mühmchen?«

Bei diesen Worten umarmte und küßte sie das liebe Mädchen von Neuem und ließ ihr durch ihre lebhaften Liebkosungen kaum so viel Zeit und Athem, daß Rosalie auf die an sie gerichtete Frage antworten konnte, sie zähle erst sechszehn Jahre.

»O mein Gott! sechszehn Jahre!« fuhr Madelon fort, »das ist ja gerade so alt, als ich vor zehn Jahren war! Und wenn ich vor zehn Jahren sechszehn war, folgt nicht daraus, daß ich auch noch eine ganz artige junge Frau bin? Ja, meine liebste Rosa, Du bist gerade zur rechten Zeit nach Paris gekommen und kannst nun mit mir in den Assecuranz-Verein eintreten, den ich hier mit mehreren Freundinnen gegen das Altwerden abzuschließen gesonnen bin.«

Rosalie lächelte verschämt, aber der ernst gebliebene Major schien sich von der leichtfertigen Wendung, die das Gespräch unversehens genommen hatte, nur verletzt zu fühlen. Er war überhaupt in der Absicht hierher gekommen, ein tief in sein Leben eingreifendes und vielfach verschlungenes Familienverhältniß zu lösen und aufzuklären, das Magdalenen näher anging als sie vermuthete, und wodurch er zugleich eine dunkle Schuld, die bisher auf seinem Leben geruht hatte, abzutragen hoffte.

»Magdalene,« – begann er daher wieder – »ich kann Dir die Erinnerung an die Vergangenheit nicht ganz erlassen! Hast Du es aber lieber, zuerst die Gegenwart abzuhandeln, so kläre mich zuerst auf über den unerwartet glänzenden und prunkenden Zustand, in dem ich Dich hier angetroffen habe, da ich einer demüthigen, verlassenen und leidtragenden Wittwe entgegensah. Ein Freund, der aus Paris kam und mich in Coblenz besuchte, brachte uns die erschreckende Nachricht, daß er Dich nach dem plötzlichen Tode Deines Gatten, der kein Vermögen hinterlassen konnte, in Dürftigkeit und selbst entblößt von allen Mitteln, dem baldigen Untergange preisgegeben, gesehen habe. Magdalene, ich habe noch Pflichten gegen Dich zu erfüllen, die Du selber nicht kennst und ahnest und die zugleich längst verfallene Pflichten gegen Deine selige Mutter sind, mit der ich in einem Verhältniß gestanden, das Dir ebenfalls bisher dunkel und räthselhaft geblieben sein muß. Du warst zwar von Kindheit auf gewohnt, mich Deinen Oheim zu nennen, ohne Dir etwas mehr dabei zu denken, als Kinder zu thun pflegen, welche jeden Hausfreund mit diesem Namen anreden; aber in einem andern Sinne war ich auch nie Dein Oheim, und unser Verwandtschaftsverhältniß, an welches Deine Mutter aus mancherlei Gründen Deinen Glauben nährte und das daher bis jetzt unerörtert zwischen uns geblieben ist, hat keinen andern Ursprung als die Kindervertraulichkeit, mit der Du mir zuerst diesen Namen gabst! Dennoch habe ich von Deiner unvergeßlichen Mutter eine Pflicht gegen Dich überkommen, an die ich durch die Nachricht von Deiner Verlassenheit und Armuth um so unabweislicher wieder erinnert wurde. Es trieb mich, Dich aufzusuchen, mein Glück hing davon ab, Dich zu finden und zu trösten, und meine Reise hierher war gewissermaßen eine Buß- und Gewissensreise, durch die ich düstere Verschuldungen der Vergangenheit zu sühnen hatte! Nachdem ich Dich jetzt gefunden, und Dich zuerst über unser gegenseitiges Verwandtschaftsverhältniß berichtigt habe, hoffe ich, Du wirst es dem alten Mann verzeihen, wenn er das längst gewohnte Recht der Liebe an Dich nicht aufgeben kann und Dich noch immer Du nennt und als seine liebe Nichte wie sonst ansieht. Ich habe Dir aber eine Erbschaft zu überbringen, die Dir unerwartet sein wird und von der Niemand etwas weiß und ahnet – nicht sowohl zu überbringen, als Dich nach Deutschland zu dem Dir angehörenden Besitzthum zurückzuführen! Ja, Magdalene, folge dem alten Freunde Deiner Mutter und kehre mit mir nach Deiner Heimath zurück, von der Dich nun nichts mehr fern hält und wo Du an Ort und Stelle über Alles, was Dir noch unerklärlich bleibt, Aufschluß erhalten sollst! O komm, komm! werde wieder eine Deutsche, Magdalene, und ziehe mit uns an den Rhein zurück, wo in Deiner Vaterstadt ein mütterliches Erbe Deiner wartet!«

Er schwieg und suchte den Blicken der Angeredeten zu begegnen, die aber das große Auge nachdenklich zu Boden senkte, und ein Zug von Spannung und wehmüthiger Bewegung schien augenblicklich ihr feines Antlitz zu überfliegen. Sie wollte eben etwas antworten, als die Thür wieder aufging und die alte Haushälterin hereintrat, um den Theetisch zu serviren und von dem Marquis Cidevant die Meldung zu überbringen, daß er um die Erlaubniß bitte, den Thee heut Abend auf seinem Zimmer trinken zu dürfen, weil er etwas unpaß sei.

»Der zuvorkommende, gute Mann! Der beste aller Männer!« rief Madelon und schien sich durch eine erkünstelte Laune von der zu ernsten Stimmung, in die sie der Major versetzt hatte, erholen zu wollen. »Wie feinfühlend ist doch unser liebenswürdiger Marquis! Er merkt, daß wir heut über geheime Familienverhältnisse zu sprechen haben und will uns durch seine Gegenwart nicht stören, und darum läßt er sich unpaß melden! Das ist unbeschreiblich rührend und ich möchte dem Männchen dafür seine goldene Schuhschnalle küssen.«

Der Major aber konnte seinen Unwillen über die abermalige Unterbrechung ihrer Mittheilungen nicht unterdrücken, und die Alte, die wieder hereingetreten war und sich besonders in seiner Nähe absichtlich und eifrig zu thun machte, schien ihm noch aus andern Gründen widerwärtig zu sein, so daß er beständig das Gesicht von derselben abgewendet hielt, um nicht von ihr angeredet zu werden, wozu die Frau, die, eine alte Dienerin von Madelons verstorbener Mutter, auch der Tochter treu geblieben und nach Paris gefolgt war, mehrmals den Versuch machen wollte. –

»Und wer ist denn der alte Geck von Marquis?« fragte jetzt der Major fast erzürnt, als sie wieder allein und ungestört waren. »Wie es scheint, ist er Ihr Hausgenosse, Madame Larosette?«

»O mein Himmel und alle Heiligen! was ist das plötzlich für eine Wendung der Conversation?« rief Magdalene erschrocken aus, sprang auf und fiel dem Major um den Hals, indem sie ihn schmeichlerisch ansah, ihm die Wangen streichelte und durch Liebkosungen aller Art seinen Unwillen zu besänftigen suchte. »Sind Sie mir böse, mein liebes Onkelchen? O bleiben Sie doch mein gutes, gutes Onkelchen und lassen Sie mich Ihr Nichtchen bleiben, wie ich es als Kind war; und ist es denn nöthig, daß unser Verwandtschaftsverhältniß, das nur ein erborgtes war, wie Sie sagten, zwischen uns erörtert werde? Was gehn mich alle Familienverhältnisse an, wie sie sind oder sein sollen; und kann ich denn den nicht meinen Onkel nennen, den ich lieb habe? O lieber, lieber, guter Mann, werden Sie mir nicht fremd, denn es ist ja schon in meinem Leben so viel Fremdes um mich her, was mich kalt ansieht, und entziehn Sie mir nicht den alten Ton, die alte Anrede der Liebe! O thun Sie doch, als wäre ich noch das Kind, das immer zu Ihnen Onkel! sagte; und mein Gott, ich armes Geschöpf, was ist denn aus mir geworden und bin ich denn nicht noch immer ein närrisches, thörichtes Kind, das zu Zeiten weinen und lachen möchte in einem Athem und Beides nicht weiß, warum? Aber zürnen Sie mir nicht, verlassen Sie mich nicht, ich beschwöre Sie bei dem Andenken, bei Ihrer Freundschaft zu meiner seligen Mutter, die immer unglücklich war, wenn Sie einmal einen Tag lang nicht zu uns kamen!«

Bei diesen Worten, die sie mit leidenschaftlicher Hast ausgestoßen, schien ihr ganzes Wesen eine solche Umwandlung zu erleiden, daß sie dem Ausbruch der heftigsten Thränen nahe war und ihre Stimme sich in ein leises Schluchzen verlor. Der Major betrachtete sie mit Rührung, und sagte ihre Hand ergreifend und an sich drückend: »Seltsame, seltsame Magdalene! So bist Du geworden und so muß ich Dich wiederfinden! Wie ähnlich und doch wie unähnlich bist Du Deiner Mutter, wie zwei Rosen, von denen die eine wild gewachsen auf den Bergen, und die andere im sanften Blumenbeet blühte. Du bist die wilde Rose, mein Kind, und so siehst Du Deiner Mutter ähnlich, welche die sanfte Rose war! O schöne, unwiederbringliche Zeit, als sie noch lebte, Deine Mutter, und ich Euch in Eurer stillen, einsiedlerischen Klause täglich besuchte, und Du, damals noch ein so junges Mägdlein, mir entgegensprangst, so oft ich kam, mit freundlicher Kindesneigung!«

»Ach ja, ja!« seufzte Magdalene, in Erinnerungen verloren, das schöne Haupt senkend. – –

»Aber meinen guten, alten Marquis hättest Du doch nicht schelten sollen, lieber Oheim!« fuhr sie nach einer Weile fort, indem sie aus der niedergebeugten Stimmung allmählig wieder in ihre gewöhnliche überging. »Und ach, was wäre ich ohne den guten, guten Marquis Cidevant! Freilich ist er mein Hausgenosse, und er ist noch mehr, – nicht etwa mein Mann oder gar mein Liebhaber– und warum auch das nicht, wenn er mir nur gefiele, der süße Alte? – aber nein, lieber Oheim! der Marquis Cidevant ist mein Pflegevater und ich bin seine gehorsamste Pflegetochter!«

»Ist es möglich!« rief der Major erstaunt. »Und wie hängt das zusammen?«

»Ja wie es zusammenhängt!« versetzte Madelon mit einer tragikomischen Miene. »Mein Gott, ganz natürlich! Der gute Larosette, mein Mann, war plötzlich gestorben und hatte mich endlich doch verlassen, wie treu ich ihm auch immer gewesen und wie sehr ich ihn immer geliebt hatte; aber er konnte doch nicht dafür! Ich hatte um seinetwillen mein deutsches Vaterland aufgegeben und war ihm nach Paris gefolgt und ich wäre ihm gern auch in das neue Land, in das er fortging, nachgezogen, denn so groß und bitter war mein Herzeleid, als ich den geliebten Mann begraben und von mir lassen mußte in die dunkle, feuchte Erde hinunter! Ich hatte ihn begraben und sah mich weinend um in meinem öden Wittwenhause, und ich begann zu frieren, denn so kalt und eisig war die Einsamkeit und Verlassenheit, die mich von den stummen Wänden her anstarrte, aber wenn ich an die Zukunft dachte, da begann ich mich zu entsetzen! Eine Menge lustiger und verliebter Cicisbeos und Hausfreunde, die mein guter Mann bei seinen Lebzeiten um mich geduldet hatte, weil ich mich über sie lustig zu machen verstand und ihm so fortwährenden Stoff zur Unterhaltung daraus bereitete, stellten sich jetzt als Beileidsträger bei mir ein, und ich war so weit gekommen, daß ich über ihre verstellten Faunengesichter nicht einmal mehr lachen konnte. Bei ihren sehnsüchtigen Seufzern und Liebesblicken fiel mir immer ein, daß ich arme Wittwe mir mit all dem Liebesfeuer im Winter noch keine Stube würde warm heizen können, und daß jedes Strohfeuer mir bessere Dienste leisten möchte, und doch sah ich ein, daß für den nächsten Winter mein Ofen nur eben mit so leichtem Brennstoff würde vorlieb nehmen müssen, als solche Liebesseufzer wären, denn Alles, was mein guter Larosette mir hinterließ, war eine kleine Pension, auf die ich nach seinem Tode Hoffnung hatte. Da fing ich an mich einzurichten, so gut es sogleich gehen wollte, verkaufte und versetzte, und bezog mit meiner treu ausharrenden Christine ein kleines Stübchen in der Vorstadt, um die ganze übrige Welt zu vergessen und wie ein Dachs an meinen Schmerzen mich festzusaugen. Meine liebenden Freunde und Cicisbeos folgten mir nach, ich erhielt glänzende Anerbietungen, man machte ordentlich Pläne mit mir, ich sollte wer weiß was Alles werden, ich sollte die Geliebte eines Fürsten werden und dann durch meinen Einfluß die Partei der Romantiker heben; ein anderer wohlmeinender Freund wollte sich eine idyllische Häuslichkeit bereiten und hatte die reellsten Absichten, mich darin zu seiner Schäferin oder Göttin zu machen, wo ich denn auf seinem Landgut in der Provinz als seine ehrbare Frau Gemahlin mit ihm leben sollte; aber ich merkte, daß die idyllische Wirthschaft des reellen Landedelmanns nur zu bald durch den Geruch seiner Kuhställe und Schaafheerden sich in die übelste Wirklichkeit verwandeln würde. Kurz, ich wollte von Allem nichts hören, ich war eigensinnig in meinem Leid, ich wollte keine Liebe, keinen Fürsten, keinen Reichthum, keinen Einfluß auf die Romantiker, ich wollte mit mir selbst allein bleiben, ich wollte weinen, ich wollte hungern und arm und verlassen sein, ich wollte alle Freude vergessen, ich wollte auch nicht nach Deutschland schreiben an meine Verwandten und Angehörigen. In diesem Zustande, lieber Oheim, mag mich unser durchreisender Landsmann hier angetroffen haben, der die Nachricht von meiner hülflosen Lage nach Coblenz brachte. Aber ein anderes Glücksgestirn ging bald über mir auf. Unter den zudringlichen Bewerbern, die es sich durchaus nicht nehmen lassen wollten, entweder mein oder ihr Glück zu machen, befand sich auch ein alter Marquis, der mit meinem seligen Larosette immer Schach gespielt hatte, und mir seiner Bescheidenheit wegen, mit der er seine Wünsche nur im Hintergrunde spielen ließ, vor Allen wohlgefiel. Seine weit vorgerückten Jahre erlaubten ihm nur gerade so liebenswürdig zu sein, als er war, und ich nannte ihn immer meinen väterlichen Liebhaber, weil er am allerwenigsten unter meinen sogenannten Anbetern nach verbotenen Dingen trachtete und nur aus ganz platonischen Absichten, wie er sich auszudrücken pflegte, meine Gesellschaft suchte. Kurz, es war kein Anderer, als der Marquis Cidevant, und der gute Alte hatte nicht selten seine drolligen Stunden, so daß ich mich oft durch seine Unterhaltung wirklich aufgeheitert in meiner Betrübniß fühlte. In einer seiner drolligen Stunden bot er mir auch einmal wie von ungefähr seine Hand an und machte mir den Vorschlag, ihn zu heirathen, weil er nicht mehr anders als in meiner Nähe leben könne und für den Winter seiner Tage nur noch im Sonnenschein meines Anblicks Licht und Wärme zu finden hoffte. So schön und offen drückte er sich aus, denn der Marquis Cidevant war zu seiner Zeit wohl auch ein Dichter gewesen. Ich aber war eben so offen und machte ihm dagegen den andern Vorschlag, er solle mich adoptiren und Vaterstelle an mir vertreten, wofür ich seine ihn liebende Tochter sein wolle, und wir so, ohne der Welt ein Aergerniß zu bieten, unser Leben in guter Gesellschaft mit einander hinbringen könnten. Gesagt, gethan; der Vorschlag gefiel, der Marquis erklärte mich für seine Pflegetochter, setzte mich zur alleinigen und rechtmäßigen Erbin seines großen Vermögens ein, und ich bezog mit ihm sein prächtiges Haus in der Straße Cherche midi, wo ich jetzt vor Ihnen zu sitzen die Ehre habe. Ich öffnete mein trauriges Herz wieder den Freuden der Welt, ich berauschte mich in den glänzenden Zerstreuungen von Paris, welche der Reichthum und die unermüdliche Laune meines lieben Pflegevaters um mich her ausbreiteten, und mit Niemandem stand ich besser als mit meinem guten Alten, dem ich mein erneutes Glück verdanke. So leben wir denn Beide hier zusammen in bester Eintracht, ich und der Marquis Cidevant, und er verlangt keinen andern Lohn, als daß ich ihn alle Morgen einmal freundlich ansehe, so wie man einem trauten Kanarienvogel alle Morgen ein Stückchen Zucker in den Schnabel schiebt, und das thue ich denn auch recht herzlich, und dann ist er den ganzen Tag über seelenvergnügt! Er läßt mich seine Schätze genießen und thut, als wäre er todt, indem er sich von der heutigen Welt zurückzieht, in der er besonders Alles, was der vielbesprochenen Partei der Romantiker hier in Paris anhängt, haßt und verdammt!« – –

So erzählte die junge Wittwe und befriedigte die Wißbegierde ihrer Freunde, denen ihre veränderte Lage bisher ein Räthsel gewesen war. Sie schwieg, und der Major schien für den Augenblick um Worte verlegen, wie er sich über die offen mitgetheilten Geständnisse Magdalenens äußern solle. Es trat eine Stille ein, welche durch die wieder hereinkommende Haushälterin unterbrochen wurde, die diesmal ihrem Drange, sich dem Major zu erkennen zu geben, nicht widerstehen konnte. Sie ergriff seine Hand, die sie, ungeachtet er es abwehrte, mit vielen Küssen bedeckte, und fragte ihn mit schluchzender Stimme, ob er denn die alte Christine nicht mehr kenne, die der wohlseligen Frau von Ramberg – dies war Magdalenens Mutter – in Coblenz so treu bis zu ihrem Tode gedient habe? Die Frau gerieth bald aus einer Frage und Erinnerung in die andere, und konnte sich besonders an Rosalien nicht satt sehen und verwundern, welche sie als kleines Kind oft auf ihren Armen geschaukelt haben wollte. Rosalie erwiederte die Reden der guten Alten mit Freundlichkeit und Rührung, aber ihr Vater schien die geschwätzigen Erkundigungen nach Allem, was seitdem in der deutschen Vaterstadt vorgefallen und nicht vorgefallen wäre, nur mit Ungeduld anzuhören, und beantwortete sie kurz und abweisend.

»Und steht denn auch unser altes, verfallenes Haus noch in Coblenz?« konnte sich die Frau endlich hinzuzusetzen nicht enthalten. »Mein Gott, schon bei Lebzeiten der seligen gnädigen Frau drohte es uns immer über den Kopf zu stürzen, aber die gnädige Frau wollten partout nie etwas daran bauen lassen, und sagten immer, das alte Haus sollte ihr Grab werden; und wie wahr hatten die gnädige Frau gesagt – o mein Himmel!«

»Ach ja, das alte, schwarze Haus!« fiel Madelon ein, sich die heimathlichen Zustände in der Erinnerung vergegenwärtigend. »Es steht mir jetzt ganz deutlich vor Augen! Ein wahres Eulennest ist es gewesen, in dem wir wohnten, und die verwünschte Hütte mußte meiner guten Mutter das Leben kosten, denn an der eingefallenen Wand, die ihr theures Haupt begrub, starb sie ja! Man hätte es gleich niederreißen und verbrennen sollen! Und steht es denn noch auf derselben Stelle?« –

Für den Major mochten diese Erinnerungen einen besondern Stachel des Schmerzes in sich schließen, denn er gerieth bei den an ihn gerichteten Fragen in eine augenblickliche Verwirrung, während welcher mancherlei trübsinnige Gedanken und Empfindungen ihn innerlich zu bestürmen schienen. »Und doch haben wir damals in dem alten schwarzen Hause so manche glückliche Stunde verlebt!« sagte er endlich ausweichend. »Aber kommt nur mit mir zurück nach Coblenz, da werdet Ihr Alles sehn, was aus der Vergangenheit noch übrig geblieben ist und in die Gegenwart hineinragt und wie die Gegenwart sich verändert hat! Komm, komm, Magdalene, was willst Du noch hier in dem fremden Paris? Kehre mit uns nach Deiner Heimath zurück, wo ich ein Vermächtniß Deiner Mutter, nur mir bekannt, Dir zu übergeben habe, das Dich für den Glanz des Glückes, welches Du hier verlässest, wenigstens einigermaßen schadlos halten kann! –«

»Ich bitte Dich, lieber Oheim, greife Deine arme Nichte doch nicht gleich mit Sturm an!« entgegnete Madelon. »Du bist nun kaum hier angekommen und wir sitzen ein halbes Stündchen zusammen und plaudern, und nun möchtest Du mich auch gleich Huckepack auf die Schultern nehmen und nach Deutschland mit mir zurückkutschiren! So schnell geht es aber nicht mit mir, mein Herr Oheim! Und was kann ich denn auch in Deutschland für eine große Erbschaft zu erwarten haben, da meine wohlselige Frau Mama in notorischer Armuth von hinnen geschieden ist und nichts Zeitliches zurückgelassen hat, als das alte baufällige Unglückshaus, von dem ich keinen Span erben mag! Hier in Paris aber ist mir im Grunde ganz wohl zu Muthe, wenn ich auch den Vorwurf, daß ich nicht mehr eine Deutsche sei, von meinem unschuldigen Haupt abwälze. Muß man denn immer etwas sein, um etwas zu sein? Ich will nun einmal weder eine Französin, noch eine Deutsche, noch eine Engländerin, noch eine Italienerin, noch eine Hottentottin sein, sondern ich will weiter nichts sein, als die in Gott vergnügte Pflegetochter des alten Marquis Cidevant, die sich alle Tage erträglich anzieht, ins Theater geht, Gesellschaften besucht, Bücher liest, Nachts gut schläft und schöne Träume hat. Oder wißt Ihr was? – ich will Alles zusammen sein! Von der Italienerin gebt mir das heiße Blut, damit mich nicht gar zu sehr friere bei meinem alten Marquis Cidevant; und von der Französin gebt mir den Leichtsinn, denn zuweilen in der Einsamkeit gehn mir doch gar zu schwermüthige Gedanken in meinem Kopf herum; und von der Deutschen gebt mir die Sanftmuth, denn mein Herz ist mir oft ein so wildes Ding, das unaufhörlich schlägt und nie ruht und mir immer weh thut; und von der Engländerin gebt mir die schlanke Taille, damit ich mich nicht zu schnüren brauche; und von der Hottentottin – von der, ihr gütigen Götter, gebt mir Nichts! – Und nun geh, Christine, und mach' uns mit Deinem alten Heimweh keine Verdrießlichkeiten!«

Christine verließ seufzend das Zimmer und der Major äußerte, daß er immer einen ihm selbst unerklärlichen Widerwillen gegen die Alte gehegt habe, von dem er auch jetzt wieder bei ihrem Anblick unwillkührlich ergriffen worden, wie sehr er auch sonst ihrem redlichen und treuen Charakter Gerechtigkeit widerfahren lassen müsse.

»Sie hat so eine eigne fromme Gesangbuchsphysiognomie,« – erwiederte Madelon – »mit der sie Jedermann, den sie ansieht, an seine Sünden zu erinnern scheint. Auch weiß sie alle geistlichen Lieder auswendig, die nur je in der Welt gesungen worden, und es ist mitunter gar schauerlich, wenn man Abends vor ihrem Schlafkämmerlein vorübergeht, wo sie sich satt singt und satt betet, während sie den Tag über meist stumm umherschleicht und sich in beständiger Sehnsucht nach Deutschland verzehrt.« –

»Aber sieh da! mein allerliebstes Mühmchen!« setzte Madelon leiser hinzu, und zeigte lächelnd auf Rosalien, die von der Müdigkeit, welche die kaum erst überstandene Reise in ihr zurückgelassen, überwältigt zu werden schien und eben das Köpfchen träumerisch auf die Kissen des Kanapees senkte, um die schlaftrunkenen Augenlider wider Willen zu schließen. Durch die plötzlich eingetretene Stille des Gesprächs aufmerksam gemacht, ermunterte sich das anmuthige Kind wieder und blickte erröthend umher, ob man auf sie geachtet habe.

»Du hast auch nicht einmal Deinen Thee ausgetrunken, mein süßes Röschen!« sagte Madelon. »Aber Du hast Recht, die Theegesellschaften sind immer langweilig, besonders wenn dabei, wie bei uns, der trockene Zwieback der Familienangelegenheiten zum Zubiß ausgegeben wird, und man sollte allen Theegesellschaften den Tort anthun, daß man unerbittlich bei ihnen einschläft. Und, armes Mädchen, was war das auch heut für ein Empfang für Dich in Paris! Nun warte nur, morgen sollst Du erst sehen, daß Du in Paris bist! Da sollst Du das und das und das und tausend Herrlichkeiten sehen, von denen Du nie geträumt hast!« – –

Der Major machte Anstalt aufzubrechen und Abschied für heut zu nehmen, aber Magdalene wollte es durchaus nicht zulassen, daß er sich mit seinem Töchterchen wieder aus dem Hause entferne, da einerseits die Nachtluft für Röschen schädlich sein könne und andrerseits die Fremdenzimmer für die werthen Gaste schon in Bereitschaft ständen. Das gastfreundliche Anerbieten ward angenommen und so schied man für heut ziemlich unbefriedigt und zu verschiedenen Stimmungen aufgeregt von einander, um sich, da es schon spät geworden war, zur Ruhe zu begeben. –

»Ach, was hab' ich nun für entsetzliches Kopfweh!« sagte Magdalene beim Auseinandergehen. «Das kommt Alles bei mir von den vielen Erinnerungen an die Vergangenheit und aus der Vergangenheit! Aber sieh, Rosalie, was draußen für eine schöne, herrliche Nacht ist, und wie an dem tiefen, tiefen Himmelsdunkel die wunderbaren Sterne hervortauchen! Was meinst Du, lieber Oheim, sind die Sterne Erinnerungen aus der Vergangenheit oder Ahnungen der Zukunft? Ach, wenn Ihr nicht so müde wäret von der Reise, müßtet Ihr noch ein wenig mit mir hinuntergehn in den Garten an die Ufer des Flusses, und auf der Seine mit mir spazierenfahren, denn die Nacht über kann ich heute doch nicht schlafen!« – –



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