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Fünftes Kapitel.
Die Kunst zu jagen

Der feierliche Akt meiner Einführung hatte eine seltsame Wirkung auf mich. Er brannte mir in die Seele, daß man, gleich welchen Beruf man wählt, diesen als eine verantwortungsvolle Sache und nicht als einen Zeitvertreib ansehen soll. Ich befragte andere Knaben, die in andere Handwerke eingeführt worden waren, und sie bestätigten meine Auffassung. Ein Weberbursche, der einen Monat vor mir eingeführt wurde, sagte: »Ich weiß, daß Weben nicht nur eine Beschäftigung, sondern auch ein Gottesdienst ist. Ich bemühe mich, schöne Gewebe zu machen, um darzutun, daß ich keine Pfuscherarbeit geleistet habe, noch versucht, den Unsichtbaren zu täuschen.«

Ein Zimmermann beantwortete sechs Monate nach seiner Einführung meine Frage folgendermaßen: »Ich bin glücklich, daß ich der Einführungszeremonie unterzogen wurde. Ich wurde durch ihre Feierlichkeit dazu getrieben, nicht nur den übrigen Anwesenden, sondern mir selbst zu schwören, daß ich Schönes und Nützliches für die Menschen machen wolle. Ich fürchte mich nicht davor, arm zu sein: Wenn meine Hände stark sind und mein Haus vom Hunger verschont bleibt, weshalb sollte ich nach größerem Reichtum gieren.«

Unsere Hindu-Einführung verleiht dem jungen Menschen Mut, ohne Angst vor der Armut zu leben. Ach! ich hatte keine Schwester, so kann ich euch nicht von der Einführung der jungen Frau erzählen. Ich war bei keinem solchen Ereignis zugegen. Jetzt, wo Indien modernisiert wird und die durch die Zeit erprobten alten Einführungszeremonien langsam außer Gebrauch kommen, wäre es weise, alle ihre Formen und Namen zur Freude der Nachwelt aufzuzeichnen.

 

Später, als ich Jäger von Beruf wurde, enthüllten mir meine Beobachtungen des Tierlebens, daß Tiere ihre eigene Verehrung des Heiligen vollziehen und auch ihre Jungen unterrichten und einführen.

Anbetung des Sonnenunterganges und Sonnenaufganges ist bei Tieren etwas allgemein Übliches. In ihren Augen ist das Licht der Sonne der einzige Gott. Deshalb kreisen, wenn der Herr des Tages sich erhebt, die Adler an den Toren des Ostens wie die Tempeltänzer im Tempel von Nataradscha; die Affen sitzen schweigend in den Baumkronen, selbst die Eichhörnchen unterbrechen ihre ständige Suche nach Nüssen und hocken still auf ihren Ästen, bis die Stunde des Lichts vergangen ist. Auch den Sonnenuntergang feiern sie in ähnlicher Weise. Beide bedürfen sie der Religion, die Menschen und ihre jüngeren Brüder, die stummen Seelen, deren Sprachlosigkeit beredter ist als die Rede des Menschen.

Laßt mich euch nun die Geschichte der Einführung eines Tieres erzählen. Ich war schon dreißig Jahre alt, als ich eines Tages eine Tigerfamilie traf. Die Eltern waren etwa sechs Jahre und die Jungen kaum vier Monate alt. Sie lebten in den Sunderbans, den herrlichen Wäldern des Deltas an der Gangesmündung. Welch eine Gegend, die Sunderbans! Dort sind die Flüsse voll von Krokodilen und das Land voll von Tigern, Leoparden, Panthern und Nashörnern, nicht zu reden von den wilden Büffeln, Schlangen und Tarantelspinnen. Die Krokodile waren darunter die gefährlichsten, glaube ich, dennoch ging das Ärgernis von den großen Katzen aus, und ich wurde vom Staat dazu bestellt, herauszufinden, weshalb die Tiger der Sunderbans Menschen fraßen.

In einem am Gangesufer gelegenen Dorf von etwa sechzig Familien nahm ich Wohnung. Der Fluß war braungelb und in dieser Gegend so breit, daß man kaum das andere Ufer sehen konnte. Das Dorf lag, wie alle Hinduansiedelungen, dem Wasser zugekehrt, und hinter uns, jenseits eines bebauten Landstrichs von etwa dreieinhalb Kilometer Länge und achthundert Meter Breite, lag der Dschungel. Der Dschungel war ungefähr achtzehn Kilometer tief und trennte uns von dem Dorf auf der anderen Seite des Deltas. Dieser freundliche Ort war sehr groß und unterhielt einen wöchentlichen Bootsdienst nach Kalkutta, das beiläufig vierzig Kilometer aufwärts am heiligen Strom liegt. Das Dorf hieß Sundari, Schöne.

Unser Dorf trug den prächtigen Namen Tadschdschabpur, Sitz des Wunders. Ich hatte die Pflicht, einmal in der Woche den Postboten von Tadschdschabpur durch den Dschungel zu begleiten, wir gingen Dienstags weg und kamen Donnerstags wieder. Bei einem dieser Gänge geschah es, daß wir – es war um die Mitte des Juni – Bagh, seinem Weib Baghini und ihrem Sohn und ihrer Tochter begegneten. Es war ein sehr heißer Sommer und der Regen war noch nicht in großen Mengen niedergegangen.

Während der trockenen Jahreszeit kommen die Tiere, besonders das Rotwild, die Elefanten und wilden Büffel, in die Nähe der menschlichen Wohnstätten und stillen ihren Hunger, indem sie die sprießenden Kornfelder abfressen. Und da jedes Tier seinem Futter nachgeht, gingen die großen Katzen den Pflanzenfressern nach.

So stießen wir an einem Dienstagmorgen, als wir die Kornfelder durchschritten hatten und in den Wald eintraten, auf vierfache Tigerspuren. Da es beinahe acht Uhr morgens war, nahmen der Postbote und ich an, daß alle Tiger jetzt fest schliefen und uns nichts Schlimmes begegnen könnte, wenn wir auf ihrer Spur weitergingen. Zwanzig Minuten später kamen wir über eine sehr lichte Stelle, und der Postbote sagte, er sähe etwas sich bewegen. Wir gingen darauf zu, um es zu erkunden, und wurden plötzlich von einem höchst erstaunlichen Anblick überrascht. Nicht weit von uns entfernt lagen Vater und Mutter Tiger am Rande eines kleinen Teiches. Da die Flüsse voller Krokodile sind, trinken die wilden Tiere, um Gefahren aus dem Weg zu gehen, gewöhnlich aus binnenländischen Teichen, die niemals austrocknen. Das Sonnenlicht fiel verschwenderisch auf das Wasser, und Sonnenflecken spielten auf den Pflanzen und Dornbüschen, die es einfaßten.

Um herauszufinden, was mit den beiden Jungen los war, kletterten wir auf einen Baum und blickten hinab. Deutlich sahen wir das nackte Skelett eines Tieres zwischen den Eltern liegen, und vor ihnen, etwa zehn Fuß entfernt, näherten sich die Jungen langsam dem Rand des Wassers, um einen Trunk zu tun. Es sah aus, als sei dies das erstemal, daß sie unbegleitet von Bagh und Baghini zum Wasser gingen, denn sie schritten bedächtig: Brüderchen, als größerer von den beiden, führte Schwesterchen. Sie schnupperten am Ufer umher, bis sie auf die Spuren der Vergangenheit stießen, und zogen zweifelsohne den Schluß, daß, nachdem früher Tiger auf diesem Weg zur Trinkstelle gegangen waren, an dem Herkommen festgehalten werden müsse.

Zuerst stand Brüderchen über dem Wasser, hielt Umschau, um sich zu vergewissern, daß aus keiner Richtung Gefahr drohe, senkte dann – die Bewegung eines alten Tigers nachahmend – den Kopf und trank. Sodann wandte er sich um, um Schwesterchen Platz zu machen. Sie beroch sein Ohr, was heißen sollte: »Bewache meine Hinterseite, während ich trinke.«

Der Bursche tat das mit der Artigkeit eines jungen Mannes von Stand, dann gingen sie auf ihrer vorherigen Fährte langsam zu den Eltern zurück. Diese Entfaltung von Vorsicht – das Gefühl dafür, daß man sich an die alten und vertrauten Pfade halten müsse – zeigte mir, wie scharfsinnig junge Tiere gewöhnlich sind.

Nun, da ich die Tigerfamilie entdeckt hatte, nahm ich mir vor, so gründlich wie möglich die Weise zu studieren, in der Tiger ihre Jungen erziehen. Deshalb verbrachte ich die beiden folgenden Monate damit, ihnen nachzuspüren und sie zu beobachten. Das erwies sich als eine leichte Aufgabe, denn die Kleinen konnten nicht sehr weit umherstreifen. Die Kürze ihrer Beine erlaubte ihnen keine langen Jagdausflüge. Selbst als der Monsun eingesetzt hatte und mehr Regen gefallen war, hielten sie sich dennoch zwischen den beiden Dörfern auf, die am diesseitigen und jenseitigen Rande des Dschungels lagen.

Die Art, wie die Eltern den Jungen das Jagen beibrachten, war ein hervorragender Unterricht in Erziehung. An dem Tage, an dem sie ihr erstes großes Kalb töteten, war ich dabei. Folgendes begab sich: Gegen Ende des Juni hatte es eine ganze Woche lang beständig geregnet. Als die Sonne wieder schien, ging das Vieh des Dorfes zum Weiden in den Wald; denn dort war, wie dichte grüne Funken von einem Amboß, plötzlich das Gras aus dem Boden geschossen. Aber Monsunwetter ist launisch. Gegen Mittag erschreckte ein jähes Gewitter die Kühe und ihre Hirten, und sie eilten nach Hause, ohne sich die Zeit zu nehmen, die Köpfe der Herden zu zählen. So kam es, daß sie ein großes Kalb nicht mit eintrieben, das im Dschungel zurückblieb, um sich, nachdem das Unwetter vorüber war, allein seinen Heimweg zu suchen.

Ich, der ich während des Regens auf einem Baum saß, beobachtete, wie es dahintrottete und nach Herzenslust von dem zarten Gras fraß. Plötzlich sah ich zwei purpurne Streifen in den Sonnenschein stürzen und vor dem armen Kalb haltmachen. Das waren Mutter Tiger und ihr Sohn. Sogleich wehte der Wind dem unseligen Geschöpf den Geruch ihrer Anwesenheit zu. Es wieherte fast wie ein Pferd, als es Tiger roch, machte kehrt und stob in den Dschungel. Im Schatten dort erblickte es Vater Tiger samt Tochter. Ich schrie vom Baumwipfel herunter – aber zu spät. Ein Blitz aus Purpur, Gelb und Schwarz – der Schwanz des Kalbes stieg steil in die Luft – dann …

Als ich an jenem Abend nach Tadschdschabpur zurückkehrte und den Dorfleuten erzählte, was sich zugetragen hatte, schalten sie mich, weil ich das arme Kalb nicht gerettet hatte. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, daß, wäre ich zwischen die vier Katzen und ihren Fraß geraten, ich nicht dasein und die Geschichte erzählen könnte! In der Regel schieße ich nie ein Tier, es sei denn in äußerster Not, und an diesem besonderen Nachmittag hatte ich mein Gewehr nicht mitgenommen, obgleich ich als staatlicher Waldhüter eine Schußwaffe tragen durfte Die englische Regierung erlaubt in Indien dem Volk nicht, Schußwaffen zu tragen. Vgl. D. G. Mukerdschi, »Kari der Elefant« S. 96.. Ich erklärte den Dörflern, daß Tiger, selbst die geborenen Menschenfresser unter ihnen, ihr erstes menschliches Opfer nicht eher töten, als bis es in einem entscheidenden Augenblick zwischen sie und ihre Beute tritt. Hat der Tiger aber einmal Menschenblut geschmeckt und die Hilflosigkeit seiner Beute kennengelernt, so zögert er nicht den Menschen zu töten, wann immer er ihn in die Enge treiben kann. Außerdem ist der Mensch ein Zweifüßler, er kann nicht so schnell davonlaufen wie ein Hirsch oder irgendein anderer Vierfüßler, und das macht jedes menschliche Geschöpf, das kein Gewehr hat, hilflos vor dem gestreiften und gefleckten Feind.

Nachdem das große Kalb getötet worden war, wurde das Dorf ängstlich und stellte besondere Wachen für das Vieh aus. Was die Menschen betraf, so wagte sich nach Eintritt der Dunkelheit niemand mehr aus dem Hause. Ich sagte: »Wenn ein Mann eine brennende Fackel oder eine helleuchtende Sturmlaterne mit sich führt, wird kein Raubtier einen Umweg machen, um ihn zu treffen. Je mehr ihr euch bei Nacht sehen laßt, um so weiter werden sie unserem Dorf aus dem Wege gehen, aber wenn ihr nicht die Offensive ergreift, werden die Tiere angriffslustig werden. Sie riechen Angst schneller, als ihr wißt, und eure Angst wird sie so erschrecken, daß sie euch angreifen.« Aber nur der Postbote stimmte mir zu. Wir beiden waren die einzigen aus dem ganzen Dorf, die immer zu jeder Tages- oder Nachtzeit hinausgingen. Obgleich ich stets eine Fackel bei mir hatte, steckte ich sie selten an. Ich hatte außergewöhnlich scharfe Augen: in der Tat die schärfsten von allen Jägern meiner Zeit. Ich konnte im Dunkeln besser sehen als Antilopen. Manchmal war ich mit der Sehkraft des Tigers begabt, deshalb trug ich, kam es mir nicht darauf an, die Tiere in großer Entfernung zu halten, des Nachts niemals eine brennende Fackel. So mußten mir jetzt meine Augen bis zum äußersten dienen, denn ich studierte zu jeglicher Stunde die beiden Jungen und ihre Ausbildung, und sie führten mich an Plätze aller Art. Zuerst besorgten, wie ich feststellte, die Eltern die ganze Jagd; wenn auch die Kinder die Beute beschlichen und aufschreckten, wurden die Jungen doch nicht zum Springen und Töten angetrieben. Diesen Schlußakt teilten die Eltern unter sich. Die Eltern zu beobachten, trug viel zur Erziehung der Kinder bei, aber trotzdem führten die Alten die Jungen an Orte, wo diese die Möglichkeit zum Anspringen und Töten hatten, falls sie Lust dazu verspürten.

Eines Tages sah ich sie etwas Bemerkenswertes tun. Es war um die Mittagszeit, in der Nähe der Trinkstelle. Die Eltern und die Kinder lagen hell wach am Teich. Der Wind stand auf sie zu. Bald erschien am anderen Ende des Teiches eine Familie wilder Büffel. Vater und Mutter standen rechts und links von dem jungen, etwa zwei Monate alten Stier, während dieser sich satt trank. Dann nahm der Vater einen Trunk, dieweil die beiden anderen Wache hielten. Zuletzt trank die Kuh, deren Hinterteil der Bulle und das Stierkalb beschützten. Darauf legten sich die Eltern, mit dem Rücken zum Wasser, nieder, und vor ihnen im Dschungel graste ihr Kind und sprang umher. Von meinem Baumwipfel aus konnte ich sehen, wie Mutter Tiger ihre Kleinen wegstubste, als seien sie zu groß, um geliebkost zu werden. So trotteten sie davon und witterten bald den Geruch der Büffel. Für kurze Zeit verlor ich sie aus den Augen, und dann sah ich sie auf das arglose Büffelkalb zukommen, das im Grase spielte. Jetzt duckten sich die Jungen rasch und kamen wieder außer Sicht, aber an dem Hervorlugen ihrer Schnauzen, die alle paar Sekunden bald hier bald da unter Blättern und Schößlingen heraussahen, konnte ich erkennen, daß sie näher und näher schlichen. Schließlich griffen sie den jungen Stier an, der um Hilfe schrie. Mu-uh! … Augenblicklich stürmten, zwei schwarzen Felsen gleich, die Kuh und der Bulle herbei. Ihr Brüllen erfüllte den Dschungel mit Grausen. Die Tigerjungen entflohen Hals über Kopf. Weshalb die Büffel so lange warteten, ehe sie zum Schutze ihres Kalbes herbeiliefen, konnte ich mir nicht erklären, aber wahrscheinlich erzogen sie es gerade so, wie die Tiger ihre Jungen erzogen. Als die Kleinen bei ihren Eltern ankamen, sahen sie niedergeschlagen aus. Die Tochter ging zum Vater, und der Bursche steckte den Kopf unter seiner Mutter Kinn.

Ein anderes Mal griff der kleine männliche Tiger ein Affenbaby an. Kaum hatte er das getan, als Vater und Mutter Affe wie zwei Teufel über ihn herfielen. Sie schlugen ihm so kräftig ins Gesicht, daß er das Affenbaby, dessen Schwanz seine Klauen wie in einem Schraubstock festgehalten hatten, fahren ließ. Er hatte das noch kaum begriffen, als alle drei einen Baum hinauf stürmten und in Entsetzen schnatterten. Das veranlaßte Scharen über Scharen von Affen zu plappern und von Baum zu Baum zu jagen, wobei sie ihrerseits die Vögel erschreckten, die ihre Nachmittagsruhe hielten. Was für ein Getöse von kreischenden Vögeln und brüllenden Affen!

Inzwischen kam das unterlegene Junge zu seiner Mutter zurück – Vater und Schwester waren an jenem Tage für sich davongegangen –, und da lagen sie nun zusammen an der Trinkstelle und Mutter leckte und tätschelte es. Aber bei dieser und verschiedenen anderen Gelegenheiten, die später folgten, mischten sich die Eltern niemals ein oder waren ihren Kindern behilflich. Es ist das erste Erfordernis im Leben eines Tigers, daß er mit seiner Sache, sei es Jagen oder Umherstreifen, allein fertig wird. Zu einem bestimmten Zeitpunkt geben die Eltern ihren Jungen, um ihr Selbstvertrauen zu stärken, die Möglichkeit zur Tat, aber nichts weiter.

Endlich regnete es so heftig, daß ich über zwei Wochen nichts mehr von ihnen sah. Es war zu Anfang August etwa, daß der Postbote und ich, als wir wegen der Post in das Dorf Sundari hinübergegangen waren, dort von vier Tigern hörten, die in einer Woche drei Stück Vieh getötet hatten. Das reizte meine Neugier, und sobald wir die Post in Empfang genommen hatten, machten der Briefträger und ich uns nach dem Dschungel auf. Wir brauchten nicht lange, um die Familie zu finden und wiederzuerkennen. Die Jungen waren nun gewachsen, Brüderchen war fast so hoch wie seine Mutter, wenn auch nicht so lang, seine Fußtapfen glichen den ihren so sehr, daß man sie nicht unterscheiden konnte. Nur eins verriet das junge Tier: sein Schritt war nicht so lang wie der der Mutter. Sie griff viel weiter aus. Aus ihren Spuren schlossen wir, daß Mutter und Sohn Seite an Seite gingen, während die Tochter sich nach wie vor neben dem Vater hielt.

Nachdem wir ihre Lagerplätze in Augenschein genommen hatten, kehrte ich mit dem Postboten nach Tadschdschabpur zurück. Dann eilte ich wieder zu meinen vier gestreiften Bestien. Sie bewegten sich immer näher auf unser Dorf zu. In ein paar Tagen waren sie ihm gefährlich nahe gekommen. Als sie aus dem dichten Dschungel heraustraten, bemerkte ich, daß mit der Familie nicht alles klappte. Den Vater erfüllte eine wachsende Eifersucht auf den Sohn. So oft die Mutter den Rücken wandte, griff der alte Bursche den Jungen an, mit der Absicht ihn umzubringen. Einmal war er so nahe daran, dem Jungen mit seiner Pranke die Kehle aufzureißen, daß dieser gellend um Hilfe schrie. Da sprang wie aus dem Nichts die Mutter zwischen sie und griff ihren Gemahl an. Sie kämpften und kämpften, aber schließlich siegte sie. Nach jenem ernsthaften Streit lief er davon – um nie wieder gesehen zu werden.

Ihre Aufgabe war nun doppelt schwierig; sie mußte für beide Teile töten, für ihre zwei Kinder und für sich selbst. Aber man kennt die Tigerin! Sie ergriff keine halben Maßnahmen; sie zwang den Sohn, den Platz des Vaters auszufüllen, und er mußte gehen und die Beute beschleichen, indes die Mutter einen geeigneten Augenblick zum Anspringen und Töten abwartete.

Eines Abends, kurz vor Dunkelwerden, änderten sie die Einteilung. Mutter und Tochter besorgten das Pirschen. Sie trieben ihm einen großen Büffel zu, und siehe da! er sprang ihn an! Aber statt ihm ins Genick zu fallen, fiel er auf sein Hinterteil, und mit einem fürchterlichen Tritt seiner Beine befreite sich der Bulle und rannte davon. Nicht einer von den dreien konnte ihn einholen; so blieben sie in jener Nacht ohne Nahrung. Am nächsten Abend wiederholte sich dasselbe, als aber beim viertenmal Mutter und Tochter ihm ein halbes Dutzend mächtiger Büffel zutrieben, die er nicht angreifen konnte, wurde mir die Lage klar. Sie erteilte ihm die letzte Lehre. Danach würde die Familie auseinandergehen; deshalb mußte er lernen, ganz allein zu pirschen und zu töten. Am überraschendsten war, daß sie ihm das Schwierigste zuerst zu tun gab, aber indem er am Großen versagte, erlernte er die leichteren Aufgaben mit unfehlbarer Geschicklichkeit und Sicherheit. Wie verschieden ist das von unserer Menschenweise Leute zu erziehen, immer mit dem Leichtesten zuerst. In der Natur können die Tiere sich eine so lang hingezogene, schrittweise Ausbildung nicht erlauben. Tierkinder können nicht im Schulzimmer vor den harten Erfahrungen des Lebens bewahrt bleiben. Sie müssen mitten im Leben selbst erzogen werden. Das Leichte und das Schwere begegnet ihnen ohne jede Stufenfolge. Es ist ein Jammer, daß der Mensch in der Zivilisation die Sache der Erziehung zu etwas so Abseitigem und Schwerfälligem gemacht hat.

Kehren wir jedoch zu unserem Tiger zurück, der vor dem Abschluß seiner Erziehung steht. Alle drei waren, wie ich schon berichtet habe, vier Tage ohne Futter herumgelaufen. Der Hunger zerwühlte ihre Eingeweide. Sie waren so ausgehungert, daß sie ihren Tagesschlaf abkürzten. Am fünften Tag töteten die Geschwister beim Wasserloch ein Affenbaby. Aber das vermochte ihren Hunger nicht zu stillen. Spät an jenem Nachmittag, als die Sonne im Untergeben war, kamen sie in der Richtung unseres Dorfes auf das Flußufer heraus, und dort saßen sie und sahen auf die Lichtstreifen, die über das hochgehende Wasser der anbrechenden Vollmondnacht zitterten und erstarben. Im Dorf sangen die Männer und Frauen, die ihr Tagewerk beendeten, und Papias (indische Singdrosseln) sangen in den Lüften – pa …p … i … a …! Der grüne Dschungel funkelte wie ein smaragdener Guß in einem granatenen Tiegel.

Wie schnell die tropische Dämmerung vorübergeht! In einer halben Stunde war der Mond aufgegangen und sandte Ströme kalten weißen Feuers durch das Wasser und durch alle Äste der Bäume. Die Raubtiere umstrichen das Dorf. Aber kein Stück Vieh hatte sich verlaufen, und fackeltragende Männer waren die einzigen Lebewesen, die auf den Wegen hin- und widergingen. Einer dieser Männer war ich selbst. Als die Tiger uns sahen, zogen sie sich vom Dorf zurück in die Wälder. Auch ich ging dorthin, nachdem ich meine Fackel gelöscht hatte, aber auf einem Umweg. Kaum hatte ich den Rand des Dschungels erreicht, als ich hörte, wie irgend etwas sich plötzlich bewegte. Mit Affengeschwindigkeit kletterte ich auf einen Baum, und als ich hinunterblickte, sah ich einen milchweißen Bock von der reifen Frucht der Felder äsen. Außer dem Geweih war der größte Teil von ihm in den hohen Reispflanzen untergegangen, deren Spitzen in silbernen Tanzrhythmen erzitterten, wie er sich zwischen ihnen hindurchdrängte. Der Mondschein war so hell, daß die meisten Tiere nicht schlafen konnten. Geschrei, Geheul, Gebrüll von Vögeln und Tieren schlug einem wie ein beharrliches Hämmern auf alle Nerven.

Langsam tauchten aus der Richtung, in die der Wind wehte, ein Paar Smaragden auf. Es waren die Augen eines Tigers. Er kam auf das Reisfeld zu, in das der Bock sich vergraben hatte. Aber die ganze Zeit über hielt er sich dicht unter dem Schatten des Dschungels. Seine Absicht war, nach und nach näher zu kommen, bis er die Stelle genau hinter dem Hirsch erreichte, was diesem den Rückzug abschneiden sollte. Die grünen Augen wurden immer größer, verschwanden dann. Nach einer kurzen Weile meldete mir ein von der schwachen Brise heraufgewehter Tigergeruch, daß er sich unter meinem Baum zusammengekauert hatte. Ich erkannte an den Dschungelgeräuschen, daß der gierige Bock, ins Reisfressen versunken, sein Nahen nicht gehört hatte. Weit weg kamen auf der anderen Seite, mit dem Wind, vier grüne Augen. Nach kurzer Zeit spürte der Hirsch den Tigergeruch. Er machte kehrt und stob in den Dschungel. Ach, armer Bruder, im selben Augenblick schoß aus einer Entfernung von etwa sechs Fuß ein silbriger Blitz auf ihn zu, der sich um ihn wand und ihm am Nacken hing. In zwei weiteren Minuten war seine Kehle aufgerissen und das Leben aus ihm herausgesickert. Gerade da sprangen Mutter und Schwester hinzu und beanspruchten ihren Teil an der Beute. Doch sie wurden von dem Burschen mit einem die Luft zerreißenden Gebrüll begrüßt, das besagte: »Den habe ich getötet. Ich habe es ganz allein getan. Ich bin der Herr! Ich bin der König!« Die Mutter besaß offensichtlich von früher her Erfahrungen in der Kindererziehung. Sie schlug mit der Tatze nach der Schwester, die noch immer hartnäckig ihren Teil forderte, und brachte ihr Gewinsel zum Schweigen; dann machten sich die beiden davon, ihm aus den Augen.

Nachdem der junge Tiger sich satt gefressen hatte, schlug er heulend und brüllend den Weg zur Wasserstelle ein. Sein Triumphgeschrei teilte der ganzen Welt mit, daß er seine Prüfung bestanden hatte. Die weit entfernten, schreckerfüllten Echos riefen: »Hier kommt der König der Tiere.«

Jetzt traten aus dem dichten Schatten Mutter und Tochter hervor und fielen über die Reste des toten Bockes her. Sie fraßen lange und gründlich. Schließlich hatten sie den Hunger von fast einer Woche zu stillen.

Seit jener Nacht sahen wir keine dreifachen Fußspuren mehr. Ein paar Tage lang bemerkten wir in den tiefen Dschungeln die Fährte eines einzelnen Tigers. Die beiden anderen, Mutter und Tochter, gingen in der entgegengesetzten Richtung; zweifelsohne sahen sie sich bei irgendeinem stromaufwärts gelegenen Dorf nach dem Vater um.

So endet die Geschichte von der Einführung eines Tigers. Nicht nur diese, auch alle anderen Tiere vollziehen eine Reihe von feierlichen Bräuchen, die sie Selbstbeherrschung und Selbstvertrauen lehren, womit sie dann getrost ihr Leben auf sich nehmen können.


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