Artur Fürst / Alexander Moszkowski
Meister Robinson
Artur Fürst / Alexander Moszkowski

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Neunter Nachmittag

Vater: Nachdem Robinson nun schon mehrere Wochen auf der Insel weilte, sich häuslich eingerichtet hatte und sehen konnte, daß für alle Lebensnotwendigkeiten gesorgt war, durfte er auch an Fernerliegendes denken. Er war sicher, daß er sein Leben auf der Insel würde fristen können, solange es notwendig wäre. Unbekannt war es ihm jedoch noch geblieben, ob es auf dem Eiland nicht noch sehr viele andere Dinge gäbe, die ihm nützlich sein könnten. Er beschloß daher, auf eine Entdeckungsreise auszugehen, die Insel ein tüchtiges Stück zu durchstreifen. Aber nachdem er dies beschlossen hatte, lief er nicht gedankenlos sogleich fort, sondern überlegte ganz genau, welche Vorbereitungen er für seinen Ausflug treffen mußte. Da wurde es ihm klar, daß noch eine ganze Weile bis zu seinem Abmarsch vergehen würde, da zuvor seine Ausrüstung vollständig sein mußte. Drei Gegenstände mußte er unbedingt haben, um erfolgreich und sicher marschieren zu können: einen Sonnenschirm, eine Waffe und einen Behälter zum Mitführen von Lebensmitteln.

Ursula: Ei, da bin ich aber neugierig, wie Robinson den Sonnenschirm machte! Sollte er auch einer zum Auf- und Zuklappen sein?

Vater: Das war wohl notwendig. Denn der Schirm mußte einen recht großen Umfang haben und auch recht fest sein, da er Robinson gründlich vor den Strahlen der furchtbar heißen Sonne schützen sollte; ohne ein Dach über seinem Kopf wäre er sonst in Gefahr gewesen, einen Hitzschlag zu bekommen. Um aber zwischen Bäumen durchgehen zu können, und damit er den Schirm auch in seine Wohnung hineinbringen könnte, 111 mußte er ihn wohl zusammenklappbar einrichten. Da gab es ein langes Nachsinnen und viele, viele Versuche.

Schließlich nahm Robinson einen möglichst geraden, starken Ast, der an dem einen Ende verschiedene Auswüchse hatte, und befestigte daran durch Umflechten mit Schlingpflanzenstengeln ein weit abstehendes, biegsames Weidengestell. Dies ließ sich zwar nicht gänzlich an den Stock heranklappen, aber man konnte es doch ganz bequem ziemlich eng zusammenbiegen. Als Bespannung hatte er die breiten Blätter verschiedener der großen Bäume zur Verfügung. Es galt nur noch, diese miteinander zu verbinden und auf den Weidenruten zu befestigen. Stecknadeln wären ihm hierzu sehr willkommen gewesen, doch die besaß er nicht. Er grübelte nach, wodurch er sie wohl ersetzen könnte. Da fiel ihm ein, daß er gestern, als er nach dem Baden am Strand lag und mit der Hand spielend im Sand wühlte, plötzlich einen stechenden Schmerz verspürt hatte. Er hatte sich an den spitzen Gräten eines kleinen Fischskeletts gestochen, wie sie in großer Zahl am Ufer lagen. Es waren die Reste angeschwemmter, toter Fische, von denen nichts als die Knochen, eben die Gräten, übrig geblieben war. Sie schienen ihm sehr geeignet zu stellvertretenden Stecknadeln. Und wirklich gelang es ihm ausgezeichnet den Schirm damit zustandezubringen.

Johannes: Ein tüchtiger Kerl, der Robinson!

Vater: Gegen die scharfen Strahlen, welche die Sonne während seiner Wanderung auf ihn abschießen würde, hatte er nunmehr eine Waffe. Es galt aber, sich auch eine solche gegen Feinde zu verschaffen, die aus dem Waldesdickicht hervorbrechen konnten. Hätte er nur ein Taschenmesser gehabt, er würde sich nicht so widerstandslos vorgekommen sein. Aber an irgendein eisernes Gerät war nicht zu denken. Er mußte von der europäischen Kulturhöhe der Menschheit weit hinuntersteigen bis zu den Gewohnheiten unserer Urahnen, die gleichfalls das Eisen noch nicht gekannt hatten. Ganz von selbst fiel Robinson ein, daß ein harter Stein, wenn er nur ungefähr die Form eines Beils hätte, eine sehr gute Waffe abgeben müßte. Er begab sich deshalb wieder nach jener Steinhalde am Fuß des Bergs, um nachzusehen, ob unter den dort aufgehäuften Trümmern etwas 112 Geeignetes zu finden wäre. Und wer beschreibt seine Freude, als er einen überaus festgefügten Stein erblickte, der vielleicht durch jahrtausendelangen Aufenthalt in bewegtem Wasser so zugeschliffen war, daß er geradezu eine Schneide hatte. Nach hinten zu lief er ziemlich dick aus, und – welch ein ganz besonderes Glück! – hier war ein Loch in dem Stein, durch das man einen hölzernen Stiel stecken konnte.

Nun besaß Robinson eine Axt. Denn leicht war es, mit der steinernen Schneide zuerst ein festes Holzstück so zu beschneiden, daß es in das Loch paßte, und es alsdann in das Steinbeil fest einzuschlagen. Nachdem ihm dieser Fund gelungen war, suchte er noch weiter und fand einen Stein, etwa zwei Fäuste lang, ziemlich dünn und spitz, der gut als Meißel, sowie noch einen anderen dicken und in eine Art Griff auslaufenden Stein, der als Hammer gebraucht werden konnte.

Das waren nun unerhörte Schätze. Wer Robinson jetzt bei der Rückkehr zu seiner Wohnung beobachtet hätte, würde ihn für närrisch gehalten haben. Denn singend und trällernd tanzte er mehr über den Weg, als er ging. »Was bin ich doch für ein Glückspilz!« rief er aus. »Welche Schätze habe ich gefunden! Es ist doch ein glückliches Eiland, auf dem ich gelandet bin!« Und er sprach mit seinen Geräten, als könnten sie ihn verstehen. Er drückte sie ans Herz als seine besten Freunde.

Johannes: Jetzt fehlte nur noch der Behälter.

Vater: Nachdem ihm alles bisher so gut gelungen war, zweifelte er nicht daran, daß es ihm auch glücken würde, einen solchen herzustellen. Gern hätte er einen Rucksack gehabt, um die Last der Vorräte bequem auf dem Rücken tragen zu können, aber an so etwas war natürlich gar nicht zu denken. Ein Korb, dachte er, würde es auch tun. Aber selbst um an die Herstellung eines solchen zu gehen, mußte er allen Mut zusammennehmen. Das war doch noch etwas schwerer als das leichte Geflecht für den Sonnenschirm. Sehr kam es ihm zustatten, daß er in Hamburg öfter den Handwerkern zugesehen und so auch manchmal eifrig Korbmacher bei der Arbeit beobachtet hatte. Viele Zweige zerknickte und zerbrach er, bis es endlich doch gelang, sie so innig zu vereinen, daß sie fest zusammenhielten. Sehr 113 schön sah der Korb zwar nicht aus, aber er war doch brauchbar. Es gelang sogar, einen richtigen Henkel anzubringen.

Nun war Robinson fertig gerüstet, aber der Tag, an dem der Korb entstanden, war schon zu weit vorgeschritten, als daß er gleich hätte aufbrechen können. Er gönnte sich ein paar freie Stunden, die er am Strand an einer schattigen Stelle zubrachte. Dann ging er frohbewegt zur Ruhe, mit ähnlichen Gedanken, wie ein Kind sie hat, wenn ihm ein schöner Ausflug am nächsten Tag bevorsteht.

Noch vor Anbruch des folgenden Morgens legte unser Freund von jeder Fruchtart, die er besaß, ein paar Stücke in den Korb, ferner eine ziemliche Anzahl Eier, von denen er jedes in ein Blatt gewickelt hatte, damit sie sich nicht gegenseitig zerstießen, steckte die Waffe, das Steinbeil, in seinen Gürtel, der nichts weiter war als ein um die Hüften geschlungener Zweig, nahm den Sonnenschirm über die Schulter und zog nun aus auf seine Entdeckungsreise.

Peter: O fein, was wird er da alles erleben!

Ursula: Kommt er auch wieder gesund zurück?

Dietrich: Vielleicht trifft er überhaupt nichts Überraschendes oder Gefährliches. Wir wollen einmal hören.

Vater: Es war noch sehr früh, als Robinson seinen Marsch begann. Er wählte diese Tageszeit absichtlich, weil er ein tüchtiges Stück Wegs zurücklegen wollte, bevor die Hitze allzu unerträglich würde. Gerade hob sich die Sonne glänzend und frisch gebadet aus dem Meer . . .

Ursula: So, dort badet die Sonne im Meer?

Johannes: Ach Unsinn, Ursula, das sagt man nur, weil es so aussieht. Die Sonne kommt scheinbar aus dem Meer, weil, weil . . . ach, Dietrich, erkläre du es lieber weiter.

Dietrich: Weil das Meer überall dort, wo man frei darüber hinschauen kann, die Horizontlinie bildet, das heißt den scheinbaren Rand der Erde gegen den Himmel. Wenn die Erde sich so weit gedreht hat, daß die Sonne über diese Randlinie emportaucht, von der sie in Wirklichkeit natürlich viele Millionen Meilen entfernt ist, dann sieht es, weil das Auge diese Entfernung nicht wahrnimmt, aus, als käme sie aus dem Meer. Aber nun laßt Vater weitererzählen!

114 Vater: Frisch gebadet nannte ich die Sonne, weil in so frühen Morgenstunden die Luft besonders klar ist, und das Gestirn deshalb besonders schimmernd und glänzend aussieht. An jedem Grashalm hingen die Tautropfen wie köstliche Brillanten. Robinson fürchtete sich fast, die Füße niederzusetzen, weil er nichts von dieser Herrlichkeit vernichten wollte. Den Sonnenschirm hatte er jetzt noch auf den Korb gelegt. Hoch erhob er das Haupt, atmete die herrliche Luft ein, und unwillkürlich entrang sich seiner Kehle das herrliche, deutsche Lied:

»Der Tag erwacht,
Mit seiner Pracht
Erfüllt er die Berge, das Tal.«

Wer ihn so hätte dahingehen sehen, würde ihn für einen Wandervogel gehalten haben. Nur das Steinbeil und der Sonnenschirm hätten sich etwas fremdartig ausgenommen.

Robinson wanderte quer durch den ihm bekannten Teil des Waldes um den Fuß des kleinen Bergs herum, von dem er einst Ausschau gehalten hatte, bis er die Insel in ihrer ganzen Breite durchschritten und den jenseitigen Strand erreicht hatte. Dieser lag nach Norden, war also den Sonnenstrahlen besonders ausgesetzt.

Peter: Aber, Vater, du hattest uns doch vor einigen Tagen gerade erklärt, daß die Sonne, wenn sie im Osten aufgegangen ist, am Himmel über Süden nach Westen läuft, da müßte sie also doch auch von Süden her am wärmsten scheinen.

Dietrich: Darf ich's erklären, Vater? – Was Vater damals sagte, galt für die nördliche Halbkugel. Robinson ist ja aber über den Äquator gefahren und befindet sich jetzt auf der südlichen Halbkugel. Da ist es gerade umgekehrt wie bei uns. Wenn man dort nach Süden fährt, also nach dem Pol zu, wird es kälter, bei Bewegung nach Norden wärmer, weil man sich dann dem Äquator nähert. Die Sonne zieht dort über den nördlichen Himmelsbogen.

Vater: Es war ein Glück für Robinson, daß er am Südstrand der Insel gelandet war und dort seine Wohnung aufgeschlagen hatte. So bekam er viel Schatten. Hier im Norden, am heißen Strand, war die Temperatur fast unerträglich. Die Pflanzenwelt aber wucherte auf dieser Seite außerordentlich viel üppiger. Die mächtigen Bäume des Waldes gingen bis dicht 115 an den Küstensaum heran. Wahre Ungeheuer von fremdartigster Form und fast erschreckender Größe standen da. Vor allem fielen Robinson ungeheure Bäume auf, deren Wurzeln fast so hoch hinaufgingen, wie bei uns die Kronen der Bäume emporragen. In dieser Höhe begann erst ihr Stamm. Es waren Mangrovebäume, deren hohes Wurzelgeäst durcheinandergewirrt ist wie das ungekämmte Haar eines Riesen. Zahlreiche Luftwurzeln reichen ferner von den Zweigen hinunter, so daß ein Mangrovewald, der noch dazu meist auf sumpfigem Gelände steht, fast ganz undurchdringlich ist. Robinson mußte um diese Baumungestalten einen Umweg machen, bis er wieder den Strand erreichen konnte. Hier sah er nichts Besonderes; das Meer war glatt und ruhig wie bisher immer. Als ein feiner, dunkler Strich erschien die Küste der nächsten Insel in weiter Ferne.

Unser Wanderer wendete sich nun dem Wald zu, in den er zwar nicht tiefer einzudringen wagte, weil er sich immer noch vor wilden Tieren fürchtete, aber es reizte ihn doch, dicht am Rand einherzuschreiten, weil solch ein richtiger tropischer Urwald fortwährend Überraschendes bietet. Da standen die Farnkräuter, die bei uns nur niedrige Büsche bilden, als fast mannshohe Bäumchen mit riesigen Blätterkronen da. Zu Tausenden leuchteten überall jene seltsamen Blumen hervor, die in Europa als kostbare Seltenheiten geschätzt werden und Orchideen heißen. Sie wuchsen nicht nur auf dem Boden, sondern auch auf Baumzweigen. Manche von ihnen ähnelten entfernt den hübschen Gesichtern unserer heimischen Rosen, andere sahen wie bösartig starrende Tierköpfe aus. Große, prächtig gefärbte, tütenförmige Blumen mit mächtigen, feuerrot herausragenden Kolben in der Mitte standen dazwischen. Gleich mächtigen Bärten hingen von vielen Zweigen Schmarotzerpflanzen herunter, die sich dort angesiedelt hatten, um auf Kosten der Bäume von deren Säften zu leben. Am lustigsten aber war es, die Rankenwelt der Lianen zu beobachten, jener Schlingpflanzen, die im Boden wurzeln, aber an den Stämmen emporklettern und von Ast zu Ast ziehen, indem sie jedes Zweiglein schlangengleich umringeln und so Brücken von Baum zu Baum bauen. Sie bewirken, daß der südliche Urwald zu einem undurchdringlichen Dickicht wird. Oft mußte Robinson mit seinem Beil 116 zahllose dieser zähen Schlinggewächse durchschlagen, da sie ihm den Weg versperrten.

Jetzt blieb unser Wanderer plötzlich stehen, und ein Freudenruf entrang sich seiner Kehle. Er hatte etwas am Waldrand entdeckt, was ihm bekannt und wertvoll zugleich erschien. Da hingen an prächtig dunkelgrünen Bäumen Früchte, die wie Gold schimmerten. Er lief darauf zu, und siehe da, es waren wirklich Apfelsinen. Er riß einige ab, öffnete sie und schmauste mit großem Behagen das saftige Fleisch, das gegenüber den süßlichen Bananen und Melonen eine sehr angenehme Abwechslung für seinen Gaumen bildete. Gar nicht fern davon fand er auch Zitronen, die er gleichfalls in den Korb legte, weil er dachte, daß sie sich wohl sehr gut würden verwenden lassen.

Seine Angst schwand mehr und mehr, und er entschloß sich, doch etwas tiefer in den Wald hineinzugehen. Die Bäume standen meist sehr dicht beieinander, aber an einer Stelle sah er schon von fernher eine Lichtung. In der Hoffnung, dort vielleicht wieder etwas Neues zu entdecken, lief er geschwinden Schritts darauf zu und war gerade im Begriff, seinen Schirm zu öffnen, weil er das Licht der nun schon recht hoch gestiegenen Sonne scharf in die Lichtung einfallen sah, da blieb er wie angewurzelt stehen. Ein Entsetzen, so tief und schrecklich, wie er es auch beim schlimmsten Sturmgebraus auf dem Meer nicht empfunden hatte, ließ sein Herz stillstehen, als er gerade seinen Fuß auf den Boden des Wiesenteppichs in der Dichtung selben wollte. Fast glaubte er, daß seine Augen ihn täuschten. Aber es war schreckliche Wahrheit.

Hier mußten Menschen wohnen.

Peter: Menschen? Donnerwetter! Das ist aber eine schöne Überraschung!

Johannes: Da bin ich aber mächtig neugierig, was jetzt weiter geschah.

Vater: Leider muß ich aber gerade jetzt mit meiner Erzählung aufhören, da ich noch in die Stadt fahren will.

Peter: Ach, Vater, das geht nicht! Erzähl' uns doch noch ein bißchen weiter!

Vater: Nein. Es schadet nichts, wenn ihr eure Neugierde etwas bezähmt. Also auf morgen! 117


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