Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Allein die zu oft wiederholte Lektüre des Werthers brachte seinen Ausdruck sowohl als seine Denkkraft um vieles zurück, indem ihm die Wendungen und selbst die Gedanken in diesem Schriftsteller durch die öftere Wiederholung so geläufig wurden, daß er sie oft für seine eigenen hielt und noch verschiedene Jahre nachher bei den Aufsätzen, die er entwarf, mit Reminiszenzien aus dem Werther zu kämpfen hatte, welches der Fall bei mehrern jungen Schriftstellern gewesen ist, die sich seit der Zeit gebildet haben. – Indes fühlte er sich durch die Lektüre des Werthers ebenso wie durch den Shakespeare, sooft er ihn las, über alle seine Verhältnisse erhaben; das verstärkte Gefühl seines isolierten Daseins, indem er sich als ein Wesen dachte, worin Himmel und Erde sich wie in einem Spiegel darstellt, ließ ihn, stolz auf seine Menschheit, nicht mehr ein unbedeutendes weggeworfenes Wesen sein, das er sich in den Augen andrer Menschen schien. – Was Wunder also, daß seine ganze Seele nach einer Lektüre hing, die ihn, sooft er sie kostete, sich selber wiedergab! –

Nun fiel auch in diesen Zeitpunkt gerade die neue Dichterepoche, wo Bürger, Hölty, Voß, die Stollberge usw. auftraten und ihre Gedichte zuerst in den Musenalmanachen drucken ließen, die damals ihren Anfang genommen hatten. – Der diesjährige Musenalmanach enthielt vorzüglich vortreffliche Gedichte von Bürger, Hölty, Voß usw. –

Die beiden Balladen Leonore von Bürger und Adelstan von Hölty lernte Reiser sogleich auswendig, wie er sie las – und diese beiden auswendig gelernten Balladen sind ihm nachher auf seinen Wanderungen oft sehr zustatten gekommen. Schon damals versammlete er öfters in der Dämmerung des Abends entweder bei seinem Wirt zu Hause oder bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, einen Zirkel um sich her und deklamierte Leonore oder Adelstan und Röschen – und teilte auf die Weise mit den Verfassern das Vergnügen des Genusses von dem Beifall, den ihre Werke erhielten – denn so gut war er gesinnt, daß er diesen Beifall immer in ihrer Seele fühlte und sie sich in denselben Zirkel wünschte. – Aber seine Verehrung gegen die Verfasser solcher Werke, wie die Leiden des jungen Werthers und verschiedene Gedichte im Musenalmanach waren, fing auch nun an, ausschweifend zu werden – er vergötterte diese Menschen in seinen Gedanken und würde es schon für eine große Glückseligkeit gehalten haben, nur einmal ihres Anblicks zu genießen. – Nun lebte Hölty damals in Hannover, und ein Bruder desselben war Reisers Mitschüler – und hätte ihn leicht mit dem Dichter bekannt machen können. – Aber so weit ging damals noch Reisers Selbstverkennung, daß er es nicht einmal wagte, Höltys Bruder diesen Wunsch zu entdecken, und sich selbst mit einer Art von bitterm Trotz dies ihm so naheliegende und so sehr gewünschte Glück versagte – indes suchte er jede Gelegenheit auf, mit Höltys Bruder zu sprechen, und jede Kleinigkeit, welche dieser ihm von dem Dichter erzählte, war ihm wichtig – und wie oft beneidete er diesen jungen Menschen, daß er der Bruder desjenigen war, welchen Reiser fast unter die Wesen höherer Art zählte; daß er mit ihm vertraulich umgehn, ihn, sooft er wollte, sprechen und ihn ›du‹ nennen konnte.

Diese ausschweifende Ehrfurcht gegen Dichter und Schriftsteller nahm nachher mehr zu als ab; er konnte sich kein größeres Glück denken, als dereinst einmal in diesem Zirkel Zutritt zu haben – denn er wagte es nicht, sich ein solches Glück anders als im Traume vorzuspiegeln. –

Seine Spaziergänge wurden ihm nun immer interessanter; er ging mit Ideen, die er aus der Lektüre gesammlet hatte, hinaus und kehrte mit neuen Ideen, die er aus der Betrachtung der Natur geschöpft hatte, wieder herein. – Auch machte er wieder einige Versuche in der Dichtkunst, die sich aber immer um allgemeine Begriffe herumdrehten und sich wieder zu seiner Spekulation hinneigten, die doch immer seine Lieblingsbeschäftigung war. –

So ging er einmal auf der Wiese, wo die hin und her zerstreuten hohen Bäume standen, und seine Ideen stiegen auf einer Art von Stufenleiter bis zu dem Begriff des Unendlichen empor. – Dadurch verwandelte sich seine Spekulation in eine Art von poetischer Begeisterung, wozu sich denn die Begierde, den Beifall seines Freundes zu erhalten, gesellte – er dachte sich ein Ideal eines Weisen, eines Menschen, der so viele Ideen hat, als einem Sterblichen nur möglich sind – und der dennoch immer eine Lücke in sich fühlt, die nur durch die Idee vom Unendlichen ausgefüllt werden kann, und so brachte er dann wieder mit einigem Zwang wegen des Ausdrucks folgendes Gedicht zuwege:

Die Seele des Weisen.

              Des Weisen Seel' in ihrem Fluge
Erhub sich über Wolken hoch;
Und folgte kühn dem innern Zuge,
Der mächtig himmelan sie zog. –

Sie strebt, das Leere auszufüllen,
Das sie in sich mit Ekel sieht,
Und forscht, um die Begier zu stillen,
Nach Wahrheit, die ihr stets entflieht.

Sie türmt Gedanken auf Gedanken,
Durchschauet kühn der Himmel Heer,
Erschwingt den Weltbau ohne Schranken,
Doch der Gedanke läßt sie leer. –

Sie wagt es nun, sich selbst zu denken,
Sich, die so oft sich selbst enflieht;
Wagt's, in ihr Sein sich zu versenken,
Und sieht, daß sie sich selbst nicht g'nügt. –

Da hub sich hoch mit Adlerschwingen
Des Weisen Seele über sich –
Zu dir, den alle Wesen singen,
Und dachte, Gott, Jehova, dich.

Und nun fühlt sie die weite Leere
In sich erfüllt mit Seligkeit,
Und schwimmt in einem Freudenmeere,
Weil sie sich ihres Gottes freut.

So wie er nun den Begriff von Gott in ein Gedicht gezwängt hatte, suchte er auch den Begriff von der Welt in Verse zu bringen. – So lief seine ganze Dichtkunst auf allgemeine Begriffe hinaus. – Das Detail der Natur in und außer dem Menschen zu schildern, dahin zog ihn seine Neigung nie. – Seine Einbildungskraft arbeitete beständig, die großen Begriffe von Welt, Gott, Leben, Dasein usw., die er mit seinem Verstande zu umfassen gesucht hatte, nun auch in poetische Bilder zu kleiden – und diese poetischen Bilder selbst waren immer das Große in der Natur, als Wolken, Meer, Sonne, Gestirne usw.

Das Gedicht über die Welt war weit mehr Spekulation als Gedicht und wurde daher das Gezwungenste, was man sich denken kann, es hub sich an:

      Der Mensch entschwinget sich dem Staube
Und mit ihm seine Welt –
Dem Grabe wird der Mensch zum Raube
Und mit ihm seine Welt –

Philipp Reiser tadelte dies Gedicht durchweg, ausgenommen folgenden Vers, den er erträglich fand:

Der häuft sich seine Welt mit Schätzen
Und der mit Lorbeern an;
Und jeder findet sein Ergötzen
Am Spiel, das er ersann. –

Reisers Phantasie lag jetzt mit seiner Denkkraft im Kampfe; sie wollte bei jeder Gelegenheit in das Gebiet derselben eingreifen und die allerabstraktesten Begriffe wieder in Bilder hüllen. – Dies war für Reisern oft ein ängstlicher qualvoller Zustand – und in einem solchen Zustande hatte er das Gedicht über die Welt hervorgebracht, das weder eigentliche Spekulation noch Poesie, sondern ein verunglücktes Mittelding von beiden war.

Da nun eine Zeitlang regnigtes Wetter einfiel, so wich Reiser dennoch nicht von seiner einsamen poetischen Lebensart ab.

Er schloß sich in seine Kammer ein, wo er ein altes baufälliges Klavier für sich selbst, so gut er konnte, wieder zurecht brachte und es mit vieler Mühe stimmte. – Bei diesem Klaviere saß er nun den ganzen Tag und lernte, da er die Noten kannte, fast alle Arien aus der Jagd, aus dem Tod Abels usw. für sich selber singen und spielen – dazwischen las er den Tom Jones von Fielding und Hallers Gedichte verschiedenemal durch und brachte einige Wochen in dieser Einsamkeit fast ebenso vergnügt zu als die, wo er in seinem vorigen Logis auf dem Boden Philosophie studierte. – Hallers Gedichte konnte er beinahe auswendig.


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