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Einunddreißigster Brief.
Rhedi an Usbek in Paris.

Ich bin jetzt in Venedig, mein lieber Usbek. Sollte man auch alle Städte der Welt gesehen haben, man wird doch überrascht sein, wenn man nach Venedig kommt.

Man muß Erstaunen empfinden, sieht man eine Stadt, die sich mit Türmen und Moscheen aus dem Wasser erhebt, und eine zahllose Volksmenge da, wo es eigentlich nur Fische geben sollte.

Aber dieser unheiligen Stadt fehlt der köstlichste Schatz der Welt, frisches Wasser; es ist unmöglich, hier eine einzige der vorgeschriebenen Waschungen zu verrichten. Darum ist sie auch der Abscheu unsres heiligen Propheten, und niemals kann er von seinen Himmelshöhen ohne Zorn auf sie herniederblicken.

Ohne dies Hindernis, mein lieber Usbek, würde ich entzückt sein, in einer Stadt zu leben, wo mein Geist sich täglich bereichert. Ich studiere die Geheimnisse des Handels, die Wirksamkeit der Fürsten und die Form ihrer Regierung; ich vernachlässige nicht einmal, mich mit dem europäischen Aberglauben bekannt zu machen; ich unterrichte mich in der Heilkunde, in den Naturwissenschaften und in der Sternkunde; ich betreibe das Studium der Künste: kurz, ich befreie mich von dem Wolkenschleier, der mir im Lande meiner Geburt die Augen verhüllte.

Venedig, am 16. des Mondes Chalval, 1712.



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