Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

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Achtes Kapitel.

Die Verlobten.

Wie die Marquise, so hatte auch Wegerich in seinem Aeußeren sich gänzlich verändert. Um Jahre schien er innerhalb der letzten Stunden gealtert zu sein. Länger, faltenreicher war sein Gesicht geworden; seine Augen blickten so trübe, so verzagt, als hätte er sich am liebsten im Schatten einer der nahen verwilderten Haine in die Erde scharren lassen mögen. Nachdem die Marquise sich auffälliger Weise in einem durch den Rothkopf herbeigeschafften Miethswagen vom Hofe entfernt hatte, war er in sein Zimmer hinaufgegangen. Bei ihm befand sich Lucretia. Die sonst so heitere, lebenslustige Gefährtin rief heute den Eindruck hervor, als ob sie bereits von dem Fluche angeweht worden sei, welcher nach den düsteren Schilderungen Ginsters das zerfallende Gehöft umlagerte. Vergeblich bemühte sie sich, den greisen Freund durch das Entrollen lachender Zukunftsbilder heiterer zu stimmen, bis endlich die Wirkung seines sichtbaren Kummers den Sieg über ihr glückliches Selbstvertrauen davontrug und sie ebenso verzagt dareinschaute, wie er selber.

Sehnsüchtig erwarteten Beide Perennis, von welchem sie noch immer eine Widerlegung der Trauerkunde erhofften; allein der Nachmittag verging, ohne daß Jener sich bei ihnen blicken ließ.

In trüber Stimmung verbrachten sie die Dämmerungsstunde; und als dann die Nacht sich auf die stille Landschaft senkte, bat Lucretia ihren alten Beschützer, sie auf die an dem Gehöft vorbeiführende Straße hinauszubegleiten.

»Ich werde heute noch Jemand sprechen, der uns vielleicht sichere Kunde über das Gerücht verschafft,« erklärte sie, indem sie langsam vom Hofe hinunterschritten, »einen Brief erhielt ich, in welchem er mich um eine Zusammenkunft bittet. Die erste Stunde nach dem Dunkelwerden bestimmte er.«

»Vielleicht ein Anverwandter?« fragte Wegerich.

»Kein Verwandter,« antwortete Lucretia, und trotz der Dunkelheit sah sie zur Seite, wie um den Blicken des alten Mannes auszuweichen, »aber ich kenne ihn schon sehr lange, schon seit meiner frühsten Kindheit. Ich verdanke ihm sehr viel, und jede Gelegenheit sucht er, mir gefällig zu sein.«

»Hier auf der Landstraße?« »Es ist der geeignetste Ort. Sie aber bitte ich, in der Nähe zu bleiben. Es wäre möglich, daß er auch Sie zu sprechen wünschte.«

Schweigend und in schmerzliche Betrachtungen versunken bewegten sie sich einher, als sie die Gestalt eines Mannes unterschieden, der sich von der Stadt her ihnen näherte.

»Er ist es,« sprach Lucretia gedämpft, sobald sie Splitter zu erkennen meinte. Stehen bleibend erwartete sie denselben, wogegen Wegerich sich eiligst nach dem Hofe zurückbegab und auf derselben Stelle der Gartenmauer Platz nahm, auf welcher Abends zuvor Splitter mit dem rothköpfigen Wodei gesessen hatte.

»Sie haben mich in ein Meer von Besorgnissen gestürzt,« redete Lucretia Sebaldus Splitter an, als er vor ihr eintraf, und befangen reichte sie ihm die Hand, »denn ohne einen schwerwiegenden Grund würden Sie den Wunsch, in meinem Asyl von keinem Besuch gestört zu werden, kaum unberücksichtigt gelassen haben.«

»Ich grüße Dich von ganzem Herzen, Du meine einzige Lebensfreude,« hob Splitter an, und er wollte seinen Arm um sie schlingen, als Lucretia einen Schritt zurückwich und scheu nach dem zwischen Hof und Gartenmauer liegenden schwarzen Schatten hinüberspähte.

»Lassen Sie es dabei bewenden,« sprach sie zwar nicht unfreundlich, jedoch mit einem Ausdruck, welcher eine Mißdeutung nicht gestattete, denn die Dunkelheit schützte sie gegen den sie gleichsam lähmenden Blick aus den Amphibienaugen, »kann ich mich doch unmöglich in einer Stimmung befinden, welche eine andere Unterhaltung, als die mit Rücksicht auf Ihren Brief und meine eigene Lage zuläßt. Aber ich danke Ihnen, Onkel Sebaldus, daß Sie die Zusammenkunft in eine Stunde verlegten, in welcher wir den böswilligen Bemerkungen einzelner, auf dem Hofe wohnender Menschen nicht ausgesetzt sind.«

Als Splitter die Zurückweisung erfuhr, legte es sich wie Eiseskälte um seine Brust. Sein Athem stockte, und hätte Lucretia mit den Blicken die Dunkelheit zu durchdringen vermocht, sie würde gebebt haben vor der Schärfe, mit welcher die bis auf einen scheinbar zitternden Punkt zusammengezogenen Pupillen sich in ihr Antlitz förmlich einbohrten. Ihre lange Erklärung gab Splitter Gelegenheit, die Fassung zurückzugewinnen, welche er bei dem ersten kalten Empfange verloren hatte. Wohl fühlte er, daß es kein Wiedersehen war, wie es eine Verlobte dem Auserkorenen gern bereitet, und in seinem Gehirn flammten die barocksten Pläne auf, den so lange als sein Eigenthum betrachteten Schatz unauflöslich an sich zu ketten, bevor er durch äußere Umstände und ihm feindliche Einflüsse in unerreichbare Ferne gerückt wurde.

»In der Wahl der Stunde glaubte ich in der That nur Deinen Wünschen zu begegnen,« nahm er das Wort, sobald Lucretia schwieg, »doch solche Rücksichten müssen jetzt fallen. Und warum überhaupt diese Scheu? Weshalb der Oeffentlichkeit störrisch entziehen, was man am liebsten allen Menschen jubelnd zurufen möchte? Deine Stellung hier kann nur an Festigkeit, Du selbst nur an Achtung gewinnen, wenn man Dich von einem Dir seit Jahren Verlobten beschützt und überwacht weiß. Selbst Deinen Verkehr mit dem jungen Rothweil, von welchem ich hörte, wird man weniger ungünstig beurtheilen, wenn wir das zwischen uns bestehende Verhältnis nicht länger ängstlich verheimlichen.«

»Perennis Rothweil ist mein Verwandter,« entgegnete Lucretia ruhig, »er steht mir nahe genug, um seinetwegen kein Urtheil fürchten zu brauchen. Wer könnte überhaupt meinen Verkehr mit ihm auffällig finden? Dergleichen ist mir geradezu unerklärlich. Habe ich doch die Empfindung, als stände Perennis als der einzige Verwandte, von welchem ich jetzt nur noch weiß, mir weit näher, als irgend ein anderer Mensch der Welt.«

»Nein, Lucretia, sprich das nicht aus; es kann Dir Keiner näher stehen, als ich, in dessen Hand Du gelobtest, ihm für's ganze Leben angehören zu wollen.«

»Ja, das geschah,« antwortete Lucretia, und im Tone der Stimme offenbarte sich, daß diese Mahnung ihr mißfiel, »es geschah im vollsten Vertrauen auf die Vorstellungen, unter welchen Sie mir betheuerten, ich würde dem Schall Ihrer Schritte – doch lassen wir das ruhen; martern Sie mich nicht mit Dingen, die mich fremd, sogar beunruhigend anwehen. Was ich, wenn auch als halbes Kind versprach, das halte ich getreulich; allein ich möchte nicht gern daran erinnert sein, bevor die Zeiten eingetroffen, welche Sie damals mit glühenden Farben schilderten – nein, lieber Onkel Sebaldus, ich bitte Sie darum, und so herzlich, wie nur je in meinen Kinderjahren: berühren Sie jene – ich sage es ja offen – mir peinlichen, sogar unbegreiflichen Bilder nicht wieder, wenigstens nicht eher, als bis – nein – sagen Sie lieber, weshalb Sie die heutige Zusammenkunft suchten; dann aber will ich Ihnen anvertrauen, was mich so tief beunruhigt, daß selbst die Erinnerung an unsere alte Freundschaft – und wieder bekenne ich es ohne Scheu – mir die frühere tröstliche und ermuthigende Wirkung versagt.«

Splitter seufzte tief auf. Es klang, wie wenn Jemand einen hohen Preis auf eine Karte setzt und zitternd den möglichen Verlust berechnet.

»Deine Worte könnten verletzen,« sprach er anscheinend ruhig, »allein es giebt ja Stunden und Stimmungen, in welchen man selbst das Theuerste aus seinem Gesichtskreise drängt. Es ist ein dumpfes, instinctartiges Gefühl, welchem Folge gebend wir vermeiden möchten, unsere liebsten Bilder mit den weniger freundlichen zusammenzuwerfen.–«

»Das mag sein,« unterbrach Lucretia ihn wieder, »ja, ich will es gern glauben, obwohl ich Ihren Erklärungen nicht recht zu folgen vermag. Sie sprechen so ganz anders jetzt, als in früheren Tagen, und dann ist mir, als wären Sie selber ein Anderer geworden, als würde mein Vertrauen zu Ihnen erschüttert, und das wäre mir sehr traurig. Warum fragen Sie nicht, wie es mir in der neuen Umgebung gefällt? Warum nicht nach der Ursache meiner tiefen Unruhe?«

»Fragen, die allein mich zu dem späten Besuch veranlaßten,« versetzte Splitter etwas lebhafter, »durch Augenschein wollte ich mich von Deinem Ergehen überzeugen, und leider errathe ich aus Deiner Stimmung, daß Deine augenblickliche Lage nicht Deinen Wünschen entspricht –«

»Sie entspricht meinen Wünschen, in so weit es sich um meine Person handelt. Man begegnet mir freundlich und achtungsvoll; mehr konnte ich nicht erwarten. Und daß ich nicht im Vollen lebe, – mein Gott, Onkel Sebaldus, nennen Sie mir die Zeit, in welcher Ueberfluß mich umgab.«

»Auch die Tage des Ueberflusses werden uns lächeln,« entgegnete Splitter, das Wort uns besonders betonend, »denn das Mißgeschick muß es doch endlich müde werden, uns feindlich zu verfolgen. Und die zweite Ursache meines Schreibens,« fügte er hinzu, als er fühlte, daß Lucretia ihre Hand aus der seinigen zurückzuziehen versuchte, es aber aufgab, als sie ernstem Widerstand begegnete, »hättest Du weniger Gefallen an Deiner Umgebung gefunden, so war es vielleicht besser; es hätte Dir den Abschied von hier erleichtert, der sich innerhalb unabsehbarer Frist nothwendig machen wird. Denn höre nur: Derjenige, dessen Eigenthum diese zerfallende Heimstätte, Dein alter Verwandter, der in fernen Landen weilt und für Dich zu sorgen versprach, ist gestorben – laß mir Deine Hand, gewöhne Dich daran, sie als eine Stütze zu betrachten, nach welcher Du noch oft genug in Deinem Leben vertrauensvoll greifen wirst.«

»Ich hörte es bereits,« versetzte Lucretia, der es endlich glückte, ihre Hand zu befreien, und die nunmehr, wie fröstelnd in der kühlen Nachtluft, das um ihre Schultern hängende Tuch fester um sich zusammenzog, ,ja, ich hörte es, und damit haben Sie den Grund meiner Niedergeschlagenheit. Die Leute auf dem Hofe unterhielten sich laut darüber. Etwas unendlich Trauriges lag in dem Gleichmuth, mit welchem Einer es dem Anderen erzählte.«

»Den jungen Rothweil hast Du seitdem nicht gesprochen?«

»Seit gestern nicht. Er mag es selbst noch nicht wissen. Vielleicht wünschte er, die Trauerkunde, welche ihn doch näher berührt, als mich, auf einem Umwege zu mir gelangen zu lassen, um mich vorbereitet zu finden.«

»Sehr möglich, sogar wahrscheinlich. Ich an seiner Stelle hätte freilich anders gehandelt. Mein erster Gang wäre zu Dir gewesen. Doch ich tadle ihn deshalb nicht, deute nicht als Rücksichtslosigkeit, was vielleicht in bester Absicht geschah.

»Wenn Jemand sich rücksichtsvoll gegen mich benimmt, so ist er es,« versetzte Lucretia schnell und aus voller Ueberzeugung, »und ich bezweifle nicht, daß diese Trauerkunde ihn nicht minder tief ergriff, als mich.«

»Hast Du bedacht, daß der Verstorbene möglichen Falls ein Vermögen hinterließ?«

»Solche Frage in diesem Augenblick?« erwiderte Lucretia vorwurfsvoll.

»Es mag roh klingen,« entschuldigte Splitter scheinbar befangen, »aber nicht aus dem Munde Jemandes, der zu einer solchen Frage verpflichtet ist. Du mit Deiner Selbstlosigkeit würdest es natürlich über Dich ergehen lassen, wenn ein Dir bestimmtes Gut auf Grund Deiner Sorglosigkeit in andere Hände fiele. Ich wiederhole, einer solchen Sachlage gegenüber ist es meine heilige Pflicht, den Vormund an Stelle des Verlobten treten zu lassen, um mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln Deine Rechte zu wahren. Und wie bald kann der Tod uns scheiden, und wie schwer würde mir der Abschied vom Leben, wüßte ich Deine Zukunft nicht wenigstens einigermaßen gesichert. Was aber wären alle meine Betheuerungen werth, was meine treue Anhänglichkeit, stellte ich die Sicherung Deiner Zukunft nicht höher, als meine eigenen Wünsche und Hoffnungen?«

»Nie habe ich über Dergleichen nachgedacht und schwerlich werde ich jemals darüber nachdenken. Ist der Verstorbene des meiner Mutter gegebenen Versprechens eingedenk gewesen, so erfahre ich es zu seiner Zeit früh genug. Verpflichtet war er dazu keinenfalls. Sollte ich dennoch mittelbar oder unmittelbar zu irgend welchen Ansprüchen berechtigt sein, so ruht die Angelegenheit in seines nächsten Verwandten Händen, ich beziehe mich auf Herrn Perennis Rothweil, sicher genug. Ich für meine Person will nichts davon hören oder sehen.«

»Ich darf Deinen Gleichmuth nicht dulden, und ich werde es nicht, so hoch Deine Denkungsart Dich auch in meinen Augen erhebt,« erwiderte Splitter dringlich, und wiederum suchte er Lucretia's Hand, »wir gehören zu einander, müssen zu einander stehen. Das Band, welches sich im Laufe der Jahre zwischen uns webte, ist ein zu heiliges, als daß irgend eine Macht der Erde wagen dürfte, daran zu rütteln. Aber ich achte und ehre Deine Anschauungen, ich bin stolz auf dieselben, und nicht anders sollst Du fernerhin aus meinem Munde die Angelegenheit erwähnt hören, als wenn eine eiserne Nothwendigkeit es erfordert. Du hingegen wirst mich gewähren lassen, nicht fragen, sondern blindlings meiner Fürsorge vertrauen, die stets das Beste für Dich erwählt. Ja, von Allem, was diese Angelegenheit betrifft, bleibst Du verschont; höchstens eine Vollmacht sollst Du unterschreiben, und es mir dann anheimstellen, in Deinem Namen zu handeln.«

Lucretia hatte ihre Hand wieder zurückgezogen. Was Splitter so eifrig erklärte und betheuerte, ging für sie verloren. Und als er endlich schloß, da antwortete sie bereitwillig; sogar erfreut, aller ferneren peinlichen Erörterungen überhoben zu sein:

»So handeln Sie, wie es Ihnen am besten erscheint; nur darum bitte ich, daß ich persönlich zu nichts hinzugezogen werde.«

»So soll es geschehen,« versetzte Splitter, offenbar erleichtert, »einer schriftlichen Vollmacht bedürfte es im Grunde nicht, denn ein von Dir abgelegtes Versprechen wird getragen von sittlicher und religiöser Ueberzeugung, und so soll auch nichts Anderes von Dir gefordert werden, als wenn das Gericht die Erfüllung dieser Form verlangt, es sei denn, daß durch unsere Verheirathung jede vormundschaftliche Beaufsichtigung überhaupt hinfällig würde. Zunächst werde ich mich also über die letztwilligen Verfügungen des Verstorbenen genau unterrichten und danach mein Verfahren regeln.«

Ahnungslos, daß Splitter ihren Willen gleichsam in Fesseln schlug, welche zu sprengen sie mit ihrem unerschütterlichen Rechtlichkeitsgefühl nicht einmal den Versuch wagen würde, achtete Lucretia kaum auf seine Auseinandersetzungen. Was er bezweckte, blieb ihr verborgen. Sie verstand nur, daß er ihre Gewissenhaftigkeit anerkannte, und das genügte sie zu überzeugen, daß sie von seiner Seite ebenfalls nur die strengste Gewissenhaftigkeit zu gewärtigen habe. Vor ihrem Geiste schwebte die vertrauenerweckende Gestalt des jungen Verwandten, mit welchem der Zufall sie zusammengeführt hatte. Sie wünschte ihn wiederzusehen, zu erfahren, wie die Kunde von dem Tode des Onkels auf ihn einwirkte. Indem Splitter aber fortgesetzt mit den Betheuerungen seiner Liebe sie förmlich überschüttete, schlug ihr Herz so ruhig, wie in den Stunden, in welchen sie die Eintheilung ihrer Zeit und gemeinsamen Arbeit mit Wegerich berieth. Denn ihre Vereinigung mit ihm, auf welche Splitter immer wieder zurückkam, erschien ihr ja so weit, so unendlich weit, daß sie meinte, durch eine Lebenszeit von derselben getrennt zu sein. Sie glich einem gefangenen Vögelein, welches die es umringenden Drahtstäbe schließlich als eine natürliche Lebensbedingung betrachtet und hinter denselben hervor, lustig seine schönsten Lieder in den Tag hineinschmettert.

»Ich wiederhole,« sprach sie träumerisch, sobald Splitter schwieg, »handeln Sie, wie es Ihnen am rathsamsten erscheint. Aber vor allen Dingen: Was ich als Vermächtnis des todten Onkels betrachte, soll auch Ihnen heilig bleiben, und sein ausgesprochener Wille lautete, daß ich nur ohne Anhang auf dem Karmeliterhofe einziehen dürfe. Kommen Sie also nicht mehr hierher; verlangen Sie auch nicht brieflich neue Zusammenkünfte. Wenn Sie überhaupt lieber gar nicht schreiben wollten. Erhielte ich einen Brief, so würde ich mich fürchten, ihn zu öffnen. Und was könnten Sie mir zu sagen haben, das ich nicht längst wüßte, in seiner Wiederholung aber mir peinlich?«

»Nichts könnte ich zu sagen haben?« fragte Splitter, und er fühlte wieder die sich um seine Brust legende Kälte und das Hämmern in seinen Schläfen.

»Nun, Onkel Sebaldus, sollte dennoch Dieses oder Jenes vorfallen, so sagen Sie es dem Herrn Perennis Rothweil.«

»Ihm, einem Manne, welchen Du kaum dreimal in Deinem Leben sahst, und der mir noch ganz fremd?« erwiderte Splitter leidenschaftlicher als er vielleicht beabsichtigte.

»Ist er nicht mein Verwandter?« entgegnete Lucretia mit einer so kindlichen Einfachheit, daß Splitter sogleich wieder Herr seiner selbst wurde.

»Ich vergaß,« antwortete er schnell, »wohl steht er Dir nahe genug, um zwischen uns vermitteln zu dürfen. Aber auch unser Geheimniß soll auf Deinen Wunsch vorläufig noch bewahrt bleiben.«

»Ich danke Ihnen, Onkel Sebaldus,« versetzte Lucretia freier, denn für sie lag das Ende des Vorläufig in unabsehbarer Ferne. »Doch nun wollen wir uns trennen,« und sie reichte Splitter die Hand, worauf dieser an ihre Seite trat, um sie nach dem Hofe zurückzugeleiten, »Wegerich ist vielleicht schon ungeduldig geworden – nein, Onkel Sebaldus, nicht weiter; hier trennen wir uns, ich habe meinen eigenen Willen, und was ich einmal aussprach, gilt fürs ganze Leben.«

»Und ich bin der Letzte, welcher Deinen einmal gefaßten Entschluß erschüttern möchte,« erkannte Splitter vorsichtig Lucretia's freien Willen an, um ihn nach anderen Richtungen hin um so sicherer zu knechten. Er wollte sie in die Arme schließen, als Lucretia zurücktrat. Vergeblich suchte sie dagegen ihre Hand zu befreien.

»Was Sie sich früher nicht erlaubten,« flüsterte sie ängstlich, »darf heute noch weniger geschehen. Zwingen Sie mich nicht, Wegerich herbeizurufen, dort an der Gartenmauer wartet er auf mich.«

Splitter ließ ihre Hand sinken.

»Einen Zeugen hast Du zu unserer Zusammenkunft eingeladen?« entwand es sich heiser seinen trockenen Lippen.

»Es geschah meinetwegen und Ihretwegen,« hieß es zurück.

Die gebeugte Haltung Splitters und seine gepreßte Stimme mochten ihr Mitleid einflößen, denn sie trat nunmehr dicht vor ihn hin.

»Sie haben also keine Ursache, mir zu zürnen und verbittert von dannen zu gehen,« fuhr sie fort, »seien Sie wieder mein guter Onkel Sebaldus – da – küssen Sie mich, wenn Sie wollen,« und sie neigte ihm ihr Haupt zu. Kaum aber fühlte sie die heißen Lippen auf ihrer Stirn, kaum breitete Splitter seine Arme aus, als sie auch schon wieder einige Schritte zurückwich.

»Gute Nacht, Onkel Sebaldus,« rief sie ihm gedämpft zu, und dann zerrann ihre Gestalt gleichsam vor seinen Blicken. Undeutlich unterschied er noch, daß sie gleich darauf aus dem Schatten der Gartenmauer in Wegerichs Begleitung um den Giebel des Kelterhauses herumglitt, und zögernd kehrte er sich der Stadt zu. Langsam schlich er einher. Mehrfach schüttelte er sich, wie von Fieberfrost durchströmt. Was er in dem kurzen Verkehr mit Lucretia erfahren hatte, die Deutung, welche ihr Wesen und Benehmen gestatteten, ihr vertrauliches Hinneigen zu dem plötzlich aufgetauchten Verwandten, es war zu viel, um es ruhig zu tragen, nicht von Angst um seine langjährigen Hoffnungen ergriffen zu werden. Und gerade jetzt, da mit dem Tode des fernen Onkels die Verhältnisse sich vielleicht günstiger für sie gestalteten! Doch in demselben Maße, in welchem fremde Einflüsse das mit so viel Geduld angebahnte Werk zu vernichten drohten, gewann Argwohn, Haß und Rachsucht die Oberhand über seine letzten milden Regungen.


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