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Die Lehrersbraut.


1.

In einem Dorfe mitten im Ries, in einem hübschen Hause, wohnten glückliche Leute – Mutter, Tochter und Vetter. Sie waren gesund und verhältnismäßig, d. h. nach ihrem Stande, wohlhabend. Die Mutter von ruhigem Temperament, mehr geneigt, sich am Angenehmen zu freuen, als aus verdrießlichen Dingen, wie sie im Leben vorkommen, sich viel zu machen; die Tochter, Christine, hübsch und wohlgemut; der Vetter, Hans, wacker und tätig, ein guter »Bauer« – wie man das im Ries nennt – und »ein rechter Schaffer«.

Ein eigentlicher Bauer im Sinne der dörflichen Rangordnung war Hans freilich nicht; das war aber auch der verstorbene Glauning, der Vater der Christine, nicht. Erst Söldner und Weber, hatte sich dieser durch echt rieserische Arbeitsamkeit und Sparsamkeit zu einer Mittelstellung zwischen Söldner und Bauer emporgearbeitet. Das Weberhandwerk wurde aufgegeben und nur im Winter noch zum Wirken des eigenen Garnes betrieben, um so fleißiger den Geschäften des Ackerbaues und der Viehzucht nachgegangen. Es gelang dem stillen, ruhig fortarbeitenden Manne, das Unglück eines Brandes, der nebst sechs andern auch sein strohgedecktes Haus in Asche legte, zu überstehen, ein neues, bequemeres, plattengedecktes an seine Stelle zu setzen und bei seinem Tode der Witwe ein respektables Anwesen zu hinterlassen: das Haus mit Wohnung, Stall und Stadel in einem Bau, vier Kühe mit Nachzucht, fünf Schweine, einen schönen Baumgarten, zwei »Dawert« (Tagwerke) Wiesen und fünf Morgen »in ein Feld« – also, wer das nicht verstehen sollte, fünfzehn Morgen Ackerland. Allerdings war dieses »schöne Sach« nicht schuldenfrei; der alte Glauning hatte eine runde Summe aufnehmen müssen, um die runde Zahl von Morgen Landes zu erhalten, die im Ries mehr bedeuten wollen als anderswo. Aber der Hauptgläubiger war gegenwärtig – Vetter Hans.

Hans Burger – denn der Mann verdient, daß wir seinen ganzen Namen nennen – war vom nächsten Dorfe, Sohn des dortigen Schmieds. Er wurde von dem Vater in seinem Handwerk unterwiesen: aber trotzdem daß ihm ein paar Arme verliehen waren, die im Notfall den Amboß in Stücke schlagen konnten, hatte er für seine Person doch mehr Freude am »Bauernhandwerk«. Nach dem Tode seiner Eltern führte er die kleine Ökonomie und nahm Hammer und Zange nur als Gehilfe seines Bruders in die Hand. Dieser konnte zu eben der Zeit, wo der alte Glauning starb, »einen guten Heirich« (gute Heirat) machen. Hans überließ ihm Schmiede und Ökonomie, nahm seinen Vermögensteil heraus und ging zur Base Glauning, um ihr die Wirtschaft zu führen. Christine war damals noch nicht ganz fünfzehn Jahre alt; demungeachtet wollte man bemerken, daß der Vetter sie verstohlenerweise schon mit ganz besonderen Augen ansehe.

Drei Jahre gingen ins Land. Christine wuchs heran und wurde nach den Begriffen des Dorfes immer schöner. Mittelgroß, rund, aber von angenehmer Rundung, das gutmütige, ruhig vergnügte Gesicht, dessen Linien nicht ohne eine gewisse Anmut waren, frischrot mit bräunlichem Hauch, die Zähne regelmäßig und weiß – konnte man sie einem Apfel vergleichen, der, untadelig gereift, eben vom Baum genommen wurde. Damals war unter den Rieser Bauernmädchen noch nicht die Mode aufgekommen, die Haare doppelt zu scheiteln und auf beiden Seiten herunterzukämmen, wodurch sie sich jetzt ein städtisches, vornehmeres Ansehen zu geben suchen. Das Haar wurde von der Stirn an zurückgestrichen und gegen die Mitte des Kopfes zu von dem landesüblichen Käppchen bedeckt. Das ließ einfacher, munterer, und stand besonders Gesichtern, wie Christine eins hatte. Am hübschesten erschien diese, wenn sie am heiteren Sommertag, in weißen Hemdärmeln und den Rechen in der Hand, auf die Wiese ging, ohne eine Ahnung von Sorge, in Fülle körperlichen Wohlseins schwimmend und gänzlich der frohen Gegenwart hingegeben. Aus dem runden Gesicht blickte zugleich ein eigentümliches Selbstgefühl heraus, und das hatte seinen guten Grund.

»Die schöne Christine« hieß sie im Dorf. Nur eine Bauerntochter konnte mit ihr noch verglichen werden; aber da diese »so eine rahnenge« war, nämlich allzu schlank, so erhielt Christine von den bäuerlichen Schönheitsrichtern den Vorzug. Die jungen Burschen tanzten gern mit ihr, und wenn einer sie an der Hand im Reihen führte, sang er wohl auch den Musikanten Schelmenliedchen vor, ihr zu Ehren. Aus dem Stegreif zu dichten, ist die Sache des Rieser Burschen nicht, solche Talente sind dort Ausnahmen; dagegen weiß er bekannte Lieder passend anzubringen und damit, ähnlich dem gelehrten Schriftsteller, der eine öfters zitierte klassische Stelle wieder zitiert, auf bescheidene Weise elegant zu werden. Wenn ein tüchtiger Kerl, mit Christine herumgehend, sang:

Macht mer 'n Walzer auf,
Der a weng luste geht,
I hab' a Tänzere,
's ist der Müh' wert –

dann im Takt strampfend schmunzelte, so gewann das oft gehörte Liedchen wieder Bedeutung. Einige Zuschauer konnten lächeln und irgend ein alter Bekannter der Christine gemütlich zurufen: »Ja, ja, so isch – sott (solche) git's net viel!« Als unter den zuschauenden Weibern einmal die noch immer stattliche Witwe Glauning voranstand, machte es der zufällige Tänzer der Christine noch besser; er sang, indem er dem Liede durch Gesichtsausdruck und Blick Sinn verlieh:

A schneaweißa Däube (Täubin),
A schwarzer Dauber;
Und wann d' Mueter schön ist,
No No, nocht, nochta – nachher, dann. wurd d' Tochter sauber.

Bei dieser Gelegenheit war die Heiterkeit der Mutter noch um vieles lebhafter als die der Tochter, die an solche schöne Dinge schon gewöhnt war. – All die Huldigungen aber, die sie erfuhr, gaben dem Wesen des Mädchens nach und nach eine vergnügte Sicherheit, Wohlgefälligkeit und, wenn man dieses Wort in den Grenzen ländlicher Möglichkeit verstehen will, einen Ausdruck von Huld, der ihr ganz gut stand, aber auch mehr hinter ihr vermuten ließ, als vorläufig noch hinter ihr war.

Das Gefühl der Huld wurde in Christine vorzugsweise durch Hans genährt. Beichten wir in seinem Namen ohne Umstände. Hans hatte sich allerdings schon in die noch nicht Fünfzehnjährige versehen und nach einem Besuch, kurz vor dem Tode des alten Glauning, ernsthaft zu sich gesagt: »Des wurd (wird) a Mädle für mi!« Die Hoffnung seines Herzens hatte großen Anteil an seinem Entschluß, der Base die Wirtschaft zu führen; sie belebte sein ganzes Wesen und machte ihm die Bauernarbeit noch viel lieber, als sie ihm ohnehin war. Bald freilich trat neben dieser Hoffnung auch eine gewisse Furcht hervor; sie steigerte sich, als Christine zu dem Glanz ihrer ländlichen Reize heranwuchs, und erzeugte das Gefühl und den Humor der Entsagung, dem sich der gute Bursche mit der halben Lust einer treuen, opferfähigen Seele hingeben konnte. »Ja, ja,« sagte er dann wohl mit einem Seufzer, »i sig (sehe) scho, die krieg i net; die ist z'schöa' für mi!« Aber dieses Gefühl konnte natürlich nicht dauern; nach einiger Zeit kam auch die Hoffnung wieder, und er ermutigte sich mit der Bemerkung: »Was doh (da)! A Bursch wie ih kann oh a schöns Weib kriega'; des is scho oft vorkomma'!« Dann wich der Ernst aus seinem Gesicht, er wurde herzensvergnügt und tat der Mutter und der Tochter noch eifriger alles zuliebe. Aber er fand nicht den Mut, mit Christine von seiner Liebe zu reden.

Die Leserinnen dieser Erzählung haben schon erraten, wo es bei unserem Freund haperte. War Stand und Vermögen gleich und das Herz des Liebhabers doch ohne Zuversicht, so mußte es mit der Figur nicht zum besten bestellt sein. Und das können wir allerdings nicht leugnen. Hans gehörte unter den ledigen Burschen nicht zu den Schönen und auch nicht zu den Lustigen, die sich bei festlichen Gelegenheiten »recht aufführen« können, auf diese Art den Mangel besonderer Schönheit decken und den Mädchen ebenfalls in die Augen stechen. Er war untersetzt und etwas krummbeinig. Seine Arme haben wir charakterisiert; auf seinen Schultern konnte er ohne Anstrengung ein »Schahf« (Scheffel) Korn tragen. Sein Gesicht war breiter als man's liebt, und die Nase nicht ganz regelmäßig, die Farbe für einen noch in den Zwanzigen befindlichen Menschen zu braun. Eins war schön an ihm: seine treu blickenden braunen Augen. Sie waren sogar sehr schön, und ihr Glanz hatte einen rührenden Reiz, wenn er heimlich in gutmütigster Liebe einen Blick auf sie warf. Nur schade, daß er dies immer bloß heimlich tat, und wenn er ihr offen ins Gesicht sah, in den Grenzen einer freundschaftlichen Herzlichkeit blieb, die wohl einen angenehmen Eindruck macht, aber keinen Zauber ausübt, wie es der Blick der Leidenschaft vermag. Hätte er sie im rechten Moment einmal so angesehen, wie er es heimlich zu tun pflegte, dann wäre ihr Herz vielleicht geschmolzen und ihr Gesicht hätte einen Ausdruck erhalten, der ihm den Mut gegeben hätte, mit seinem Anliegen hervorzugehen und die Schöne zu erobern. Dann hätten wir freilich auch unsere Geschichte nicht schreiben können.

Noch eins war, ich will nicht sagen schön an Hans, aber proportioniert und nicht zu tadeln: der Mund und seine mannhaften Zähne. Wenn er bei seinen Kameraden im Wirtshause saß und in der Laune, die das braune Bier erweckte, gutmütig über andere und sich selber Spaß machte, dann umspielte seine Lippen ein humoristisches Lächeln, das ihm sehr gut stand und dem ganzen Menschen etwas Angenehmes gab. Das Gesicht glänzte, und sogar die Zähne, die zur Hälfte zwischen den geöffneten Lippen hervorsahen, schimmerten Heiterkeit. Aber auch in diesem Vorzug konnte er sich nie vor der Geliebten zeigen. Einmal wollte er eine lustige Geschichte, die im Wirtshause großen Beifall gefunden hatte, zu Hause wiedererzählen. Als aber Christine aufmerksam horchte und nicht gleich vergnügt aussah, wo nach seiner Ansicht das »G'spässige« der Geschichte schon begonnen hatte, brachte ihn die Furcht, sein Ziel zu verfehlen, in Verwirrung; er verpfuschte das Ende und wies ein Gesicht, das eher geeignet war, Mitleid als Heiterkeit einzuflößen, »'s ischt doch grad,« sagte er darauf im Kuhstall, den er nach seiner Niederlage aufgesucht hatte, »als wann's der Teufel g'macht hätt'! Im Wirtshaus ka'n es, und derhoëmt (daheim) ka'n es net und stell me a' wie a'n Esel!« Als ihm hier eine Kuh, die nach Futter verlangte, diesen ihren Wunsch durch eine Kopfbewegung und einen Blick zu erkennen gab, die er sogleich verstand, sagte er: »Ja, ja, du sikscht (siehst) gescheiter drei' und host meaner Segel im Hihra (mehr Grütz im Kopf) als ih!« Gleichsam um das Vieh für seinen Verstand zu belohnen, gab er ihm etwas extra. Bei sich selber aber beschloß er fest, seine Geschichten künftig nur im Wirtshause zu erzählen.

Sein Gefühl, das so sträubig war, sich in der Gestalt von Worten zu offenbaren, bewies der gute Hans um so mehr durch Taten. Die Wirtschaft besser zu führen, als wenn's seine eigene gewesen wäre, die Äcker herzurichten wie Gartenland, Korn und Vieh auf dem Markt zum höchsten Preise zu verkaufen und im Hause der Geliebten Freude zu machen durch Erfüllung ihrer Wünsche, die sie entweder aussprach oder die er ihr an den Augen ansah, das war seine Sache. Im übrigen wollte er – warten, »'s macht se vielleicht amohl von o'gfohr (von ungefähr),« dachte er und tröstete mit dieser Möglichkeit sein ungewisses Herz. Sein Zögern hatte auch noch einen Grund, den die Leser ganz vernünftig finden werden. Eins ins andere gerechnet, war sein Verhältnis zu Christine für ihn auch jetzt schon eine Quelle von Vergnügen. Mit ihr die ländlichen Arbeiten zu verrichten, wie die Jahreszeit sie brachte, das Heu »zusammenzuschlohen« oder das Korn zu sammeln, auf dem Wagen die Garben von der Gabel zu nehmen, die ihre rüstigen Arme ihm entgegenstreckten, und ihn so schön und gleichmäßig zu laden, daß sie ihn bewundern mußte; im Winter mit ihr zu dreschen und seinen Flegelschlag nach dem ihrigen kräftiger »auf dem Tennen« erschallen zu lassen; abends mit ihr und der Base zu schwatzen, Rat zu halten über die Arbeiten des folgenden Tages, über Kauf und Verkauf; namentlich aber, vom Markt heimgekehrt, ihnen aus dem ledernen Gurt das Geld vorzuzählen und Lob dafür zu empfangen, daß er wieder soviel gelöst habe – dies und anderes, wie es der Verkehr in einem Hause und Geschäft mit sich bringt, war für ihn eine Kette von Freuden, Labsal und Trost für alle Unbilden, die er erfuhr oder im zweifelnden Herzen sich selber antat. Sollte er nun das alles aufs Spiel setzen, indem er Christine zum Weibe verlangte und eine abschlägige oder auch nur eine ausweichende Antwort erhielt? In diesem Fall mußte er das Haus verlassen, oder wenn er blieb, war ihm die Freude verdorben und jede fernere Werbung untersagt. Hans – das haben wir nun hoffentlich schon klar gemacht – war kein gewöhnlicher Mensch; er hatte seinen Kopf und sein Ehrgefühl.

Und sie, die schöne Christine? Unstreitig werde ich nicht nötig haben, den Leserinnen erst noch ernsthaft zu versichern, daß sie gar wohl wußte, wie es mit dem Herzen des guten Burschen stand. Wo gäbe es ein hübsches Mädchen, die hier nicht sogleich Bescheid wüßte? Ich kann sogar verraten, daß Christine schon als Fünfzehnjährige, nachdem sie ihn einmal auf einem gewissen Seitenblick ertappt, von dem Stand der Dinge gleich eine sehr entschiedene Ahnung hatte. Aber ein unausgesprochenes Gefühl hat auch für die einfache Schöne das Gute, daß es zugleich vorhanden und nicht vorhanden ist. Sie kann ihm gegenüber ihre Gedanken ebenfalls unausgesprochen lassen und tun, als ob es nicht existierte, während es schon diplomatische Geistesbildung erfordert, auch das ausgesprochene Gefühl zu ignorieren. Christine sah, wie sie den Vetter am Schnürchen hatte, und freute sich darüber. Es gefiel ihr besonders, daß er so bescheiden war, daß er sie nicht nötigte, ja oder nein zu sagen, sondern ihr die Freiheit ließ, in der sie sich immer noch so wohl fühlte. Sie hatte eine Empfindung, wie sie bekanntlich auch schöne junge Damen haben, die es ebenfalls höchst reizend finden, eine Zeitlang als erstrebenswertes Gut zu glänzen, bevor sie ihre Macht und Freiheit an einen einzelnen hingeben. »Den kannst du haben und am Ende glücklich mit ihm leben,« dachte die gute Christine, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, wenn sie sich vorstellte, wie glücklich sie den Vetter machen könnte, wenn sie ihm entgegenkäme. »Aber es hat noch Zeit,« rief es dann in ihr; – »wer weiß!«

Ähnlich dachte die Mutter. Daß sie für ihre Tochter einen Mann haben konnte, brav, in der Arbeit geschickt und in seiner Art vermöglich, war gut. Aber wer konnte sagen, ob ihrer Christine nicht noch was Besseres, vielleicht was viel Besseres anstand? »Es hat noch Zeit,« war darum auch ihr Refrain, wenn sich beide miteinander über diese Angelegenheit besprachen. Einmal setzte sie hinzu: »Du därfst aber oh nex thoa', daß 'r verschächt wurd (verscheucht wird)!« Und Christine antwortete: »Des fällt mer net ei'! Er hätt's oh net om mi verdea't!« Und sie folgte ihrer Natur und traf in ihrem Sinne das Rechte: sie bewies gegen Hans eine Freundlichkeit, die seinem Wunsche die Aussicht auf das Ziel frei ließ, ohne sich selber zu verpflichten.

Aus diesen Gründen nannten wir im Eingang unserer Erzählung die drei Leute glücklich. Hans war es durch seine Liebe, durch seine Herzensgüte und seine Hoffnung. Mutter und Tochter waren es durch ihre behagliche Existenz, durch die Ehre, die ihnen widerfuhr, durch die Sicherheit, die ihnen Hans gewährte, und durch die Macht, die ihnen gegeben schien. Das Glück des Hans war nun freilich um vieles löblicher als das seiner beiden Verwandten; allein ich wünschte doch nicht, daß Christine zu streng beurteilt würde. Sie schätzte den Vetter nur, sie liebte ihn nicht; sollte sie ihm nun entgegenkommen und sich binden ohne Not? Und daß die Mutter aus bewußter, die Tochter aus instinktmäßiger Vorsicht den wackeren Burschen für den Notfall bewahrt zu sehen wünschten, das wollen wir zwar nicht bewundernswürdig finden, aber – aus Galanterie – auch für keine Todsünde halten.

Ein solcher Zustand kann nicht dauern, und soll es auch nicht. Die unentschiedene Seele sieht sich auf einmal in eine Lage versetzt, wo sie ein bestimmtes Ziel vor sich hat, welches alle ihre Wünsche an sich reißt. Und nicht nur das Erreichen, auch das Erstreben dieses Ziels kann das bisherige Glück trüben und alterieren.

Als Christine das achtzehnte Jahr hinter sich hatte, kam, was Hans in den Stunden der Sorge befürchtete. Es trat ein Nebenbuhler auf.

Im selbigen Winter gab es zwei Hochzeiten, die im Wirtshause gefeiert wurden, also zwei Tanzgelegenheiten. Bei der ersten ging Christine mit Hans und einer Kamerädin auf den »Ansing«. Wie man ohne Zweifel schon aus seinem ganzen Charakter vermutet, war das Tanzen die Stärke des Hans nicht. Er hatte keine Freude daran, er leistete auch nichts Rechtes darin und bequemte sich darum auch nur höchst selten dazu. An diesem Ansing tanzte er nur ein paar Reihen, weil ihn Christine infolge der Koketterie, mit der hübsche Mädchen bescheidene Liebhaber zuweilen auch unversehens beglücken wollen, selber dringend dazu aufgefordert hatte. Nachdem er das Nötige getan zu haben glaubte, bedankte er sich und sagte zu ihr mit gutmütigem Lächeln: sie möge sich den Abend nur recht lustig machen, vor ihm habe sie nun Ruhe. Sie versetzte: »Was schwätscht ietz doh Widder! 's wär' koë Wonder, i tanzet net geara' mit d'r!« Dann aber gab sie doch vergnügt einem flinken Burschen die Hand, der schon auf sie gelauert hatte. Hans belohnte sich für seine Anstrengung durch einen tüchtigen Trunk und stellte sich in eine Ecke, um der Lustbarkeit zuzusehen. Das war ihm lieber, als selber mitzumachen, d.h. wenn Christine tanzte. Er freute sich auch jetzt wieder, wie schön sie's konnte und wie sie ordentlich »das G'rihß hatte« (wie man sich um sie riß).

Als später der stattliche Sohn eines reichen Bauern auf den geringern Burschen, der sie eben im Reihen führte, zuging und zu ihm sagte: »Komm, loß me oh a meng mit der Christine danza! Du host ietz gnuag (genug)!« – sie dann ohne viele Umstände nahm und nach einigen Worten, die er an sie richtete, strampfte und den Kopf schüttelte, daß das grünseidene Quästchen auf der Fischotterkappe baumelte, da war Hans im Namen der Geliebten stolz auf die Ehre, die ihr widerfuhr; denn jener Bursche war dermalen der »fürnemste« im ganzen Dorf, und der Gute fühlte sich selbst geschmeichelt, daß so einer sie aufzog und, wie es schien, das Tanzen mit ihr gar nicht hatte »verwarten« können. Bald sah er auch, daß der schöne »Hansirg« (Hansjürg) sie wirklich recht gern im Arm oder an der Hand haben mußte. Er tanzte lange mit ihr, so lange, bis ihr die Schweißtropfen an der Schläfe standen und über die roten Backen herunterperlten. Dann führte er sie zu einem Trunk in die Stube.

Alles das war in der Ordnung und wurde von Hans auch durchaus so gefunden. Als aber beide nicht lange nachher wieder miteinander herauskamen, um sich herumzudrehen, da freute er sich plötzlich nicht mehr. Er sah, wie der Bursche schon mit einer gewissen Vertrautheit sprach, dabei ganz eigentümliche Augen machte und die Stimme dämpfte, so daß er seine Worte nicht verstehen konnte – und das Blut stieg ihm ins Gesicht. Er mußte sich alle Mühe geben, sich nichts »anmerken« zu lassen; und um dies besser zu können, ging er in die Stube, setzte sich an seinen Tisch und fing ein Gespräch an. Früher, als er glaubte, kam Christine zurück und sagte zu ihm und zu der Kamerädin: »So, nun will ich ausschnaufen, nachher gehn wir heim; für heut' ist's gnug!« Ein Stein fiel dem guten Burschen vom Herzen. Er wußte nicht, daß der »Fürneme« in seiner plötzlichen Zärtlichkeit etwas zu weit gegangen, Christine böse geworden war und sich ihm entzogen hatte, d. h. daß die Sache für ihn, den Hans, immer noch sehr gefährlich stand.

Die zweite Hochzeit folgte wenige Wochen darauf. Christine war entfernt mit der Braut, der reiche Bauernsohn mit dem Bräutigam verwandt, und beide gingen als Gäste auf die Hochzeit. Durch die Miene des Trutzens, die Christine gegen ihn annahm und in der sie ihm noch viel schöner vorkam als letzthin, wurde der Bursche aufs neue gereizt. Er bat sich mit höflicher Miene ein Paar Reihen aus, und sie konnte es ihm nicht abschlagen. Während des Tanzes fand er Gelegenheit, sie zu besänftigen und Vergebung zu erhalten. Er war voll Freude, setzte sich in der Stube neben sie, ließ eine Flasche Wein kommen, trank und »juxte« (jauchzte), tanzte wieder, und so ging's mit wenigen Unterbrechungen fort bis zum »Obedmohl«. Bedenken wir, daß dieser Bursche, abgesehen von dem Reiz, den er als der Sohn des vielleicht wohlhabendsten Bauern im Dorfe hatte, hübsch, hochgewachsen, geschickt und ein vortrefflicher Tänzer war, daß seine Zärtlichkeit ihm von Herzen ging und die Schmeicheleien aus seinem Munde für Christine etwas außerordentlich Wohlklingendes hatten, so werden wir es natürlich finden, daß das Herz des Mädchens nach und nach erweicht wurde und eine Hoffnung in ihr aufflammte, die sie berauschte. In dieser Hoffnung, in der süßen Aufregung ihres Innern wurde sie so schön, daß das Herz auch des Burschen völlig schmolz und er sich förmlich in sie verliebte.

Nach dem Mahl begab sich Christine nach Hause. Sie fühlte, daß es für heute genug sei, ging nicht mehr auf den Ansing und vertraute ihre Tageserlebnisse mit Auswahl der Mutter. Der junge Bauer blieb, teilte im Rausch der Liebe und des Weins sein Glück einem Kameraden, dem Bruder der Hochzeiterin, mit, schwur, daß er keine andere möge als Christine, und daß er sie heiraten werde. Als der Kamerad ihn an den Stolz seines Vaters erinnerte, entgegnete der Verliebte, sein Vater habe ihm nichts zu sagen, was er wolle, müsse geschehen. Christine bekomme soviel wie manche Bauerntochter, und ihre Schönheit sei nochmal soviel wert. Wenn er auch Reichere haben könnte, aufs Geld sehe er nicht, das kriege er selber genug. Sein Vater solle ihm nur kommen – Himmelkreuztausend – er werde es ihm schon sagen usw.

Auch der andere Morgen, das Geföppel der Seinigen, die sein gestriges Benehmen für ein Pläsier ansahen, das er sich gemacht, auch das ruhige Bedenken der Verhältnisse kühlte seine Glut nicht. Er hatte sich den Gedanken in den Kopf gesetzt, und ein Mann wie er mußte seine Sache durchführen. Am folgenden Sonntage nach dem Essen kehrte er unerwartet mit dem Kameraden bei Christines Mutter ein. Hans hatte schon munkeln hören und war in trüber Stimmung. Als die beiden stattlichen Bursche in die Stube traten, sah er sie mit einem Gesicht an, auf dem kein Willkommen zu lesen war. Und wie er nun die Freude sah, mit der die Base und Christine die Gäste empfingen, die Geschäftigkeit, womit sogleich ins Wirtshaus nach braunem Bier geschickt wurde, und die Base sogar Kaffee machen wollte – in einem Hause, wo immer nur Milchsuppe gefrühstückt und der Kaffee nur bei den seltensten Feierlichkeiten aufgetischt wurde – da gab es ihm einen Stich ins Herz. Er fühlte, wie wenig er zu der Gesellschaft paßte, und schützte einen notwendigen Gang vor, um aus dem Hause zu kommen. – Als er nachts zurückkehrte, war der Besuch natürlich fort, aber der Schein des Glücks, das er gebracht hatte, glänzte noch auf den Gesichtern der beiden Weiber. Christine sah wohl, daß ihre Freude dem guten Hans wehe tat; sie bedauerte es, aber sie konnte sich nicht helfen und den Strom ihres Triumphgefühls nicht zurückhalten. Sie erblickte sich schon als eine der ersten Bäuerinnen im Ries, und ihr sonst so gesunder Schlaf wurde mehrmals durch den süßen Tumult ihres Herzens unterbrochen.

Damit war's aber auch zu Ende. Der Vater des Burschen erhielt von dem Besuch und dem wesentlichen Inhalt des gepflogenen Rats Kunde, und es folgte nun zwischen beiden ein Auftritt, in welchem der prahlerische Liebhaber gar sehr den kürzern zog. Der Alte entwickelte einen Zorn und eine Machtvollkommenheit, wovor der Bursche sich verkriechen mußte. Was der Wütende forderte, wurde mit »ja, ja, i will's ja!« zugesagt – und in kurzem hieß es: »Des Moërs (Maierbauers) Hansirg hat mit der einzigen Tochter des reichen Bachbauers von ** Heiratstag gehalten.«

Christine war tief beschämt. Es ging die ersten Tage nicht ohne Vergießung vieler Tränen ab. Allein ihr Temperament und ihr ganzes Wesen war nicht von der Art, daß sich darum ein Gram in ihr befestigen und an ihr zehren konnte. Da der Ungetreue noch dazu aus dem Dorfe wegheiratete, so hatte sie, auf gut ländlich, den Traum der Liebe und des Ehrgeizes in wenigen Wochen vergessen.

Hans hatte seit jenem Sonntage ein Betragen angenommen, das er eine Zeitlang unverändert festhielt. Er ging äußerlich ruhig seinem Geschäft nach, beschränkte seinen Verkehr mit Christine und der Base auf das Notwendigste, machte ein gleichmäßig ernsthaftes Gesicht und suchte zu tun, als ob nichts vorgefallen wäre. Nachdem die Verlobung des Nebenbuhlers bekannt geworden, zeigte er (wer ihn begriffen, sagte sich das von selber) keine Schadenfreude. Er hatte diese nicht etwa zurückzudrängen, sondern die eigentlich so zu nennende empfand er gar nicht. Er bedauerte die Beschämte vielmehr, ging ihr aus dem Wege, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, und überließ sie ihrer Traurigkeit. Als sie nach einigen Tagen schon um vieles getrösteter aussah, gab er seiner Stimme im Gespräch mit ihr unwillkürlich einen freundschaftlicheren Klang, um sie gewiß zu machen, daß er nicht böse sei, und ihre Beruhigung, soweit es von ihm abhing, zu fördern. Aber weiter ging er nicht. Es hatte ihn doch recht »verdschmohcht« (verdrossen), daß sich die schöne Christine dem Bauernsohn mir nichts dir nichts an den Hals geworfen und sich angestellt, als ob er, der Hans, gar nicht mehr auf der Welt wäre. Er wollte sein Herz von nun an nicht mehr an ein Mädchen hängen, die von ihm nichts wollte – Christine sollte durch nichts mehr daran erinnert werden, daß er sie jemals gern gehabt habe.

Diese guten Vorsätze wurden im Ausgange des Winters gefaßt. Im Sommer stand das Verhältnis unseres wackeren Freundes wieder so ziemlich auf dem alten Fleck, ja es war im Begriff weiter zu gedeihen. – Christine hatte zwischen Hans und dem Ungetreuen Vergleichungen angestellt, und es war ihr zum erstenmal klar geworden, daß Treue und Zuverlässigkeit doch etwas seien, wovor man Respekt haben müsse. Das frühere Benehmen des Vetters erschien ihr jetzt nicht mehr als ein Gegenstand herablassenden Spiels, im Gegenteil, sie hatte dabei ganz ernsthafte Gedanken. Und wenn sich nun er zurückhielt und gar nicht mehr dergleichen tun wollte, so – kam sie ihm selber entgegen; allerdings nur mit einer gewissen Vorsicht. Sie offenbarte in ihrem ganzen Wesen nur mehr Achtung und Freundschaft, und der Ton ihrer Stimme erhielt nur eine herzlichere Färbung. Zuweilen aber, wenn er etwas recht gut gemacht hatte, warf sie mit ihren graublauen Augen ihm einen Blick zu, dessen Dankbarkeit auch ein Unparteiischer durch eine bedeutende Zugabe von Zärtlichkeit verstärkt gesehen hätte. Dem widerstehe ein liebendes Herz, und obendrein ein großmütiges! Hans ließ sich Schritt für Schritt wieder zurückführen in die angenehme Gefangenschaft. Er kostete nun seinerseits einen gewissen Triumph, wiegte sich in frohen Momenten stolz im Gefühl der Macht und gab sich einer Sicherheit hin, die nur zuweilen durch die Einwürfe der Bescheidenheit unterbrochen wurde. Dann prüfte er wieder, hielt wieder an sich – und Christine kam ihm einen Schritt weiter entgegen. Die treue Seele war über die Maßen vergnügt; aber dieses Vergnügen tat ihm gar zu wohl, und ihm war, als müßte er es vorläufig dabei lassen.

Der Verkehr der drei Leute nahm einen Charakter an, dessen reine Fröhlichkeit jeden teilnehmenden Beobachter erquickt hätte. Man scherzte und neckte sich; dem Vetter gelang es jetzt, der Schönen lustige Geschichten, namentlich wenn sie kurz waren, ohne Anstoß zu erzählen und sein Gesicht dabei durch jenes humoristische Lächeln zu erhellen, das ihm so gut ließ. Das Dorf war über ihr Verhältnis im reinen, und wenn es geheißen hätte: Christine wird ihren Vetter heiraten, so hätte sich kein Mensch darüber gewundert. Hans wurde nun von seinen Kameraden mit ihr aufgezogen und gelegentlich ermahnt, einmal ein Ende zu machen, damit man bald wieder eine lustige Hochzeit bekäme. Und jetzt, in den Tagen des Herbstes, faßte er ernstlich den Entschluß, ihr seine Herzensmeinung zu sagen. Er verschob indessen die Ausführung von einem Tage zum andern. War es das Gefühl, daß Eile nicht nötig sei und Christine ihm doch nicht entgehen könne? Oder war der Geist des Zweifels wieder über ihn gekommen – oder vermochte er nur nicht über die Anrede mit sich einig zu werden und wartete auf eine Gelegenheit, wo sie sich von selber machte? Sei dem, wie ihm wolle – er zauderte.

Da trat auf einmal ein Nebenbuhler auf, der noch gefährlicher war als der erste, und in kurzer Zeit die Hoffnungen des Guten zertrümmerte.


2.

Der Nebenbuhler des Hans war der neue Lehrer, der den bisherigen in der Dorfschule ersetzte. Der alte war im Ausgang des Sommers an eine andere Stelle befördert worden, die jährlich um zwanzig volle Gulden mehr trug. Der neue, ein geborener Rieser, im Seminar erzogen und als mehrjähriger Gehilfe praktisch gebildet, übernahm sein Amt im Oktober.

Friedrich Forstner – so hieß der junge Mann – war kaum vierzehn Tage im Dorfe, als er schon die meisten Herzen gewonnen hatte. Ein Teil erinnerte an das »Neue Besen kehren gut« und wollte erst sehen, wie er sich halte. Nur wenige alte Murrköpfe oder junge Eifersüchtige erklärten ihn für einen »Windbeutel«. – Der Kontrast zwischen ihm und dem bisherigen Lehrer war freilich sehr stark.

Der alte war seines Zeichens ursprünglich ein Weber und, wie man annehmen muß, an seine Stelle gekommen in Ermangelung eines besseren. Eine lange hagere Gestalt mit kleinem Kopf und dünner Nase, von der man sogleich auf einen charakteristisch näselnden Ton der Stimme schließen konnte. Gutmütig bis zu einem gewissen Grade, wurde er an Einfalt nur von einem seiner damaligen Kollegen übertroffen. Indem er zur Notdurft lesen, schreiben und rechnen lehrte, genügte er dennoch. Seine Haupttätigkeit bestand im Abhören dessen, was die Kinder, entweder von ihm aufgegeben oder freiwillig, auswendig gelernt hatten. Diese Kunst war für einen Mann, der Gedrucktes lesen konnte, nicht schwer, und da die »Schulfrau« (die Gattin des Lehrers) dies auch verstand, so vermochte sie ganz gut für ihn Schule zu halten, wenn er über Land gegangen war oder irgend ein dringendes Geschäft abzumachen hatte. In einem Zweige der Pädagogik war der würdige Repräsentant der guten alten Zeit Virtuos – in Führung des Haselstocks. Wenn die Buben oder keckeren Mädchen schwatzten und »bätschten«, d.h. Tauschgeschäfte machten, was namentlich mit »Helgen« Ursprünglich Heiligenbilder, dann Bilder überhaupt bis zum farbigen Papier herab. zu geschehen pflegte; wenn sie, zum Sprechen aufgefordert, dem Befehl nicht nachkommen konnten, weil sie zu heimlichem Genuß eben Brot oder Obst in den Mund gesteckt hatten; wenn sie, statt das Auswendiggelernte ohne Anstoß »herzubeten«, »gatzten« (stotterten) und nicht mehr weiter konnten, dann schwang er, besonders wenn er schon vorher in gereizter Stimmung war, den gefürchteten Stock mit einer Fertigkeit auf Achseln und Rücken des Schuldigen, daß es eine Freude war, zuzusehen. Und mit jener Befriedigung, die man nach Ausübung einer Kunst empfindet, in der man sich Meister weiß, legte er, während der getroffene Schlingel heulte, das Instrument wieder beiseite.

In den größten Zorn konnte der Mann geraten, wenn er fand, daß ein Schüler seine »Lektion« übersprungen hatte. Damit verhielt es sich so. Vielleicht um sich auch die Mühe des Aufgebens zu ersparen, oder berücksichtigend, daß nicht einer ein so gutes »G'merk« (Gedächtnis) habe wie der andere, stellte er es den Kindern anheim, aus Luthers Kleinem und Großem Katechismus, nach Öttingscher Einrichtung von vorn beginnend, auswendig zu lernen, soviel ihnen gutdünkte, indem er dann abhörte, was sie ihm als gelernt bezeichnet hatten. Wie nun der Ehrgeiz aus keinem Winkel der Erde zu verbannen ist, so lernten auch die Schüler tüchtig; denn es galt die Erlangung des Ruhms, von allen zuerst mit den sämtlichen zweiundfünfzig »Lezgen« oder Lektionen des Großen Lutherschen Katechismus fertig geworden zu sein. Hier und da besaß einer der geistreicheren Jungen viel Ehrgeiz, aber sehr wenig Lernbegierde; was war natürlicher, als daß er nun gelegentlich einige Lektionen überhüpfte? Manchmal gelang der Betrug, wenn auch die Mitschüler nichts gewahr wurden, oder so gute Kameraden waren, daß sie schwiegen. Wenn aber der Lehrer selber stutzte oder irgend ein Schelm ihn durch Lachen aufmerksam machte, oder ein Verräter geradezu rief: »Herr Schullehrer, der überhupft!« – dann geriet der Getäuschte in eine schwer zu beschreibende Wut, und die Streiche des Haselstocks regneten auf den entlarvten Betrüger. Diesem blieb nichts übrig, als die Schläge trotzend oder schreiend hinzunehmen und nach Umständen außer der Schule den Verräter durchzuprügeln, was meistenteils geschah, da der unternehmende Bursche in der Regel kräftig und gewandt, der »Batscher« (Plauderer) schwach und feig zu sein pflegt.

So hielt der alte Lehrer Schule. In ähnlicher Weise kam er auch den Pflichten eines Küsters, Organisten und Vorsängers nach, nämlich immer in einer gewissen Entfernung. Für die Bauern war er doch kein »unebener Mann«. Da er, mit einer Anzahl von Kindern gesegnet, »notig« und geschenkbedürftig war, so befleißigte er sich den Wohlhabenden gegenüber stets der gebührenden Höflichkeit. Er war dienstwillig, und wenn ein Vater anfragen ließ, ob sein Bube heute nicht »aus der Schule bleiben« könnte, so nahm er es mit dem vorgeschützten Grunde niemals genau. Sogar das Verlangen, den Haselstock zu führen, so mächtig es in ihm war, konnte er aus Rücksichten bemeistern. Die »gestandenen« Bauern fühlten sich in keiner Weise unter ihm. Er trug sich städtisch, aber der städtische Anzug war das Produkt des Dorfschneiders und nicht geeignet, neben der Rieser Tracht den Anblick von etwas Feinerem zu gewähren. Er sprach ein wenig hochdeutsch; aber jeder andere glaubte in der echten Rieser Sprache etwas Gescheiteres sagen zu können. So flößte er in keiner Art Respekt ein. Darum war es aber gerade kommod, mit ihm umzugehen, und das ist eine Eigenschaft, die auch im Dorfe Beifall und Gunst findet.

Friedrich Forstner war seiner ganzen Erscheinung nach das, was der Rieser Bauer einen »Herrn« nennt. Mittelgroß, zierlich gebaut, sah er in seiner einfachen, aber wohlgefertigten Kleidung nett, beinahe elegant aus. Als ein aufgeweckter Kopf und von Natur anstellig zu allem, hatte er im Seminar eine nicht gewöhnliche Summe von Kenntnissen erlangt; als Gehilfe in Dorf und Stadt hatte er die Klugheit ausgebildet, die niemand lästig wird und sich spielend nach den Umständen zu richten weiß. Er sang hübsch, verstand mehrere Instrumente und war ein vortrefflicher Gesellschafter.

Gleich bei seinem Einzuge hatten die Glieder der Gemeindeverwaltung und andere Männer, die mit ihm zusammenkamen, eine eigene Empfindung. Forstner ließ es durchaus nicht an Höflichkeit fehlen, aber sie, anstatt die Artigkeiten, wie bei seinem Vorgänger, wohlgefällig hinzunehmen und nur kurz zu danken, fühlten sich unwillkürlich getrieben, sie zu überbieten. Der junge Mann erwiderte bescheiden, schlug mit Gewandtheit einen vertraulichen Ton an und wußte es zu machen, daß die Bauern ihren Respekt behielten, ohne dadurch geniert zu sein, ein Gefühl, das ihnen ganz neu war. Als der zeitige Ortsvorsteher nach Hause kam, sagte er zu seinem Weibe: »Höer du! der nui (neue) Schulmoëster ist a fei's Mändle!«

Eine ähnliche Erfahrung machten die Schulkinder. Forstner hielt bei seinem Auftritt eine Anrede an sie, und es war den meisten, als ob sie das, was er sagte, verständen! Als die Eltern zu Hause fragten, wie's gegangen sei, wußten sie sogar von dem Gehörten etwas wiederzuerzählen und es einigermaßen zu explizieren! Am andern Tage fand eine Aufmerksamkeit statt, wie sie die Wände der Schulstube nie gesehen hatten. Bei einem entstandenen Lärm genügte ein Zuruf und ein Blick des Lehrers, um zwei in Streit geratene Buben augenblicklich verstummen zu machen; und wie später einer mit seinem Nachbar schwatzen wollte, stieß ihn dieser, anstatt auf das Vergnügen des »Blieselns« einzugehen, mit dem Ellbogen in die Seite und rief mit gedämpfter Stimme ärgerlich: »Halt's Maul!« – Nach dem vierten Tage erlebten die Eltern etwas Unerhörtes: die Kinder wollten nicht mehr aus der Schule bleiben! Ein Söldner brauchte seinen zehnjährigen Sohn bei einer Arbeit und wollte ihn zu Hause behalten; das Bürschchen widersprach, und als das nichts half, begann es zu »flannen« (flennen). Solange das Dorf stand, der erste Fall dieser Art.

Um diese Zeit begegneten sich drei Bauern auf der Gasse. »Was isch denn mit deana' Kinder (diesen Kindern) iatz?« begann der erste; »die deant (tun) ja wie narret!« – »'s ischt wärle wohr (wahrlich wahr),« versetzte der andere; »der nui Schulmoëster hot's ganz verhext.« – »No, no,« sagte der dritte, »'s ist ja rehcht, wann's geara' en d'Schuel gont (gehen).« – »Des scho',« erwiderte der erste; »aber überstudiert soll er's net macha', des paßt se net für Baura.« – »Überstudiert«, entgegnete der dritte, »weara's no lahng net, wann's meaner (mehr) learna', als beim alda'. Semmer (seien wir) froa', datz mer dean loas send ond 'n bessera' hont (haben).« – So behielt die Gunst auch hier das letzte Wort.

Dem Talent des neuen Lehrers gelang es sogar, die Sonntagsschüler zu gewinnen, mit Ausnahme nur weniger Burschen, die schon im achtzehnten Jahre standen und durch nichts mit dem Gedanken versöhnt werden konnten, sich von einem Menschen, der nur etliche Jahre älter war als sie, noch etwas sagen lassen zu müssen. Am zweiten Feiertage fing eine und die andere Jungfrau schon an, sich etwas besser zu putzen und dabei anmutig zu lächeln und ein wenig zu erröten. Es trat ein Eifer des Schulbesuchs ein, den bisher niemand wahrgenommen hatte, und der zu vielen guten und schlechten Späßen Anlaß gab.

Zuletzt eroberte Forstner auch die Bauern in der Wirtsstube. Er setzte sich kameradschaftlich zu ihnen, ließ sich von ihnen über ökonomische Verhältnisse und Einrichtungen des Dorfes belehren, beantwortete die Fragen der Neu- und Wißbegierde, gab jedem seine Ehre und lieferte das feinste und beste Salz zu den lustigen und satirischen Gesprächen. – So hallte in kurzem das ganze Dorf von seinem Lobe wider. Mit wenigen Ausnahmen sangen es Männer und Weiber, Mädchen und Bursche, Kinder und Greise. Es kam so weit, daß hier und da ein wohlgesinnter, aber maßhaltender Mann ärgerlich ausrief: »Jetz hab' i aber gnuag von uirem (eurem) Schulmoëster und bitt mer'n andern Diskursch aus.«

Das meiste Glück machte der hübsche junge Pädagog freilich bei den Mädchen des Dorfes, obwohl gerade diejenigen, denen er am meisten gefiel, es am wenigsten Wort haben wollten. Alle, sogar die Tochter des Wirts und die Töchter der reichsten Bauern, suchten dem »netten Mann« zu gefallen. Forstner war Verehrer und Kenner des schönen Geschlechts und mit Vergnügen galant; er konnte gar so freundlich »Guten Tag« sagen! – und manche, die sich für schön hielt, schwenkte sich nun bloß zu dem Ende an ihm vorbei, um von ihm bemerkt und gegrüßt zu werden.

Drei aus der Klasse derjenigen, die es für ein Glück halten konnten, »Schulfrau« zu werden, hatten ernsthafte Absichten auf ihn. Man würde sich irren, wenn man glauben wollte, Forstner, der so sehr gefiel, hätte nun auch unter allen Dorfmädchen die Wahl gehabt, in der Meinung etwa, daß ein im Seminar erzogener, mit den Gebildeten der Umgegend verkehrender, im Dorf als »Herr« geehrter junger Mann für die Phantasie auch des wohlhabenden Bauers etwas Unwiderstehliches besitzen müßte. Dem wohlhabenden Bauer flößen derartige Vorzüge den hier allein entscheidenden Respekt nicht ein; er gibt dem »Herrn Lehrer« die Ehre, behält aber seine Tochter. Der Bauer verlangt vor allem, daß sein künftiger Schwiegersohn ein eigenes Haus besitze; eine Existenz ohne dieses scheint ihm sehr luftig, und wenn man ihm einen hauslosen Schullehrer anträgt, dann kann er befremdet, ja entrüstet fragen: »Soll i mei' Tochter auf d'Gaß naus heiricha' (heiraten) lossa'?« – Und nicht nur die Eltern, auch die Tochter würde sich in der Regel nicht mit dem Gedanken befreunden, die Frau eines Mannes zu werden, der jährlich nur zwei- bis dreihundert Gulden Einnahme hat, »alles kohfa'« (kaufen) und von den Bauern Geschenke annehmen muß. Der Bauer ist stolz darauf, in seiner Art Herr zu sein, d.h. auf tüchtigem Gute tätig und behaglich zu leben und seine Töchter wieder an Bauern oder an Wirte, Müller und ausnahmsweise an wohlgesessene Handwerker der umliegenden Städte zu verheiraten, die selbst einige Ökonomie haben. So rät es ihm die Sitte und die Lebenserfahrung, und diesen folgt er. Etwas anderes ist es mit dem besser gestellten Söldner, dem dörflichen Handwerker, und allenfalls auch dem verschuldeten Bauer. Diese können es für eine Ehre halten, wenn der Lehrer des Dorfs ihr Schwiegersohn zu werden wünscht. Sein Einkommen entspricht hier dem Heiratsgut der Tochter, und auch in den Augen des verschuldeten Bauers würde die Schattenseite des Lehrerstandes durch die Lichtseite wieder aufgewogen.

Aus dieser Schichte der dörflichen Gesellschaft waren denn auch die drei Mädchen, die es lüstete, die Hand des hübschen Mannes davonzureißen. Sie gaben sich gewaltig Mühe, und eine davon hoffte schon zu triumphieren. Sie hatte die betagte Mutter Forstners, die ihm haushielt, wiederholt im Sonntagsstaat besucht und ihr – was man sagt – »mit dem Holzschlägel gewinkt«; und da sie überdies von den dreien die Reichste war, so glaubte sie nicht, daß es ihr fehlen könne. Indes, ein paar Tage später, und sie mußte hören, der Herr Forstner habe ein Auge auf die schöne Christine geworfen. Eine Woche später, und auch sie mußte sich von der Wahrheit dieses Gerüchts überzeugen, das nun in die Reihe offenkundiger Tatsachen eintrat.

Die Mutter Forstners war mit der Witwe Glauning verwandt; allerdings sehr entfernt, doch das verhinderte die Glauning nicht, die Mutter des Herrn Lehrers als Frau Base zu begrüßen und denselben Titel von ihr zu empfangen. So war zwischen den Familien gleich in der ersten Zeit ein Verhältnis hergestellt. Der junge Mann fand Christine hübsch, aber in der geschäftigen Zeit der ersten Einrichtung, der Amtspflichten und des Besuchmachens konnte er die Bekanntschaft nicht weiter pflegen. Als er in seinem Neste warm saß, die Arbeiten ihren Gang gingen und ihm freie Zeit übrigließen, empfand er ein Verlangen, sie wiederzusehen; er folgte dem unbestimmten Drange und kehrte an einem festtäglichen Abend in ihrem Hause ein. Wie er sie sah im Sonntagsputz, vom Schein der Ampel beleuchtet, mit ruhiger, aber herzlicher Heiterkeit zu seinen Artigkeiten lächelnd, fühlte er sich getroffen. Die unverdorbene schöne Sinnlichkeit machte einen reizenden Eindruck auf ihn, und er mußte sich sagen, daß in ihrem Wesen noch etwas liege, das sie höher stellte als ihre Gespielen. Er kam, sehr eingenommen, in merklicher Aufregung nach Hause und rühmte sie der Mutter in starken Ausdrücken. Diese erwiderte sofort: »Weißt du, was ich mir schon gedacht hab'? Das wär' eine Frau für dich.« – »Frau?« erwiderte er in einem Tone, der den Skrupel des »Gebildeten« ausdrückte. »Ja, Frau!« versetzte die Mutter. »Die Glauningin wird ihre fünftausend Gulden Vermögen haben; Christine ist hübsch, wacker, versteht alle Arbeit und paßt sich besser für dich als so eine Städterin, die nichts als Kleider mitbrächte.« – »Aber man sagt ja, der Bursch da, der Hans, wolle sie heiraten.« – »Ausgemacht ist noch nichts,« bemerkte die Mutter, »das weiß ich. Und so einen,« setzte sie mit einem etwas eiteln Blick auf den Sohn hinzu, »so einen wirst du wohl nicht fürchten?« – »Wir wollen sehen,« erwiderte Forstner nachdenklich.

Der Keim, den die Mutter ihm in die Seele gesenkt hatte, gedieh und entwickelte sich. Am nächsten freien Abend fühlte er eine lebhafte Begierde, den Besuch bei der Glauning zu wiederholen. Er legte den Weg vom Schulhause zu ihr mit raschen Tritten zurück, und das freundliche Gesicht des Mädchens glänzte ihm entgegen wie der Vollmond. Wir haben es schon angedeutet: Forstner war das, was man einen »Liebhaber des schönen Geschlechts« nennt. Seine Freude an hübschen Gestalten dürfen wir vielleicht poetisch nennen, insofern dieses Wort ein feinsinnliches und phantastisches Wohlgefallen ausdrückt. Die Empfindung war so schön und so reizend: – und er gab sich ihr nun, wo es die Klugheit nicht widerriet, ohne weitere Skrupel hin. Bei Christine rieten ihm Neigung und Klugheit, fürs erste nur den Galanten, den heiteren Liebhaber zu spielen. Er wollte das hübsche Mädchen umschwärmen wie ein Schmetterling und hier vor allem die sinnlich-romantische Lust finden, die er suchte; er wollte sie bezaubern, den bäuerischen »Tölpel«, für den ein solches Mädchen wahrlich nicht geschaffen war, verdrängen und sich zum Gebieter ihres Herzens machen, dann – überlegen, ob und wann er sie zu seiner Frau machen könne.

Als er, von der Witwe mit besonderem Eifer und schon mit einem eigenen Blick empfangen, Platz genommen hatte, setzten sich auch Mutter und Tochter wieder zum Spinnen. Forstner entwickelte sogleich seine Unterhaltungskunst, und sein angeborenes Talent und die Begierde, zu gefallen, ließen ihn Scherzreden führen und Geschichten erzählen, wie sie dem Bildungsstand der Zuhörerinnen entsprachen und notwendig belustigen mußten. Er wußte einer Geschichte ungezwungen eine für Christine schmeichelhafte Wendung zu geben, und nicht nur ein herzliches Lachen, sondern auch ein beglücktes Erröten und ein im Abwehren dankbarer Blick war sein Lohn. Forstner besaß eine Gewandtheit, mit hübschen Mädchen umzugehen, von der sich ein ehrlicher Bauernbursche nichts träumen läßt. Der Bauer unterhält und schmeichelt im Lapidarstil, die niedliche Kurrentschrift mit zierlichen Schnörkeln ist nicht seine Sache. Unser junger Mann war aber gerade hierin stark, und er gab diesen Abend gleich eine Probe davon. Er bewunderte die Kunst des Spinnens, worin Christine in der Tat sich auszeichnete, und behauptete dann, er hätte es auch einmal zu lernen versucht und möchte wohl sehen, ob's nicht ginge. Natürlich lud ihn das fröhliche Mädchen ein, es zu versuchen. Er setzte sich zum Rocken, und es ging hinlänglich schlecht; Christine lachte, zeigte es ihm, er versuchte es wieder, und das alles bewirkte unter großem Vergnügen rasche Vertraulichkeit. Nachdem dieses Mittel erschöpft war, erklärte Forstner, er wolle neben einer solchen Meisterin nicht länger den Pfuscher spielen und lieber ein anderes Geschäft treiben, das sich besser für ihn schicke. Er setzte sich neben sie und machte sich's zur Aufgabe, ihr die »Aga'« (Flachsabfälle beim Spinnen) von der Schürze zu schütteln. Und während er die mündliche Unterhaltung fortsetzte, tat er dies gelegentlich so nett und lustig, daß man's ihm nicht übelnehmen und nur lachend Abwehrungsversuche machen konnte. Es stand ihm eben alles an, und er konnte mehr wagen als ein Bauernbursche, weil er es zierlich machte und in den Grenzen des Scherzes blieb. Als er endlich Abschied nahm, erklärten Mutter und Tochter, so vergnügt wären sie lange nicht gewesen, und er solle doch ja bald wieder die Ehr' geben.

Und Forstner kam wieder und wieder. Ihm war so wohl in der warmen Stube bei dem hübschen Mädchen und der gefälligen, heiter blickenden Mutter. Draußen wirbelte der Schnee und sauste der Wind, drinnen schnurrten die Räder und tickte die Wanduhr, und unter dieser Begleitung ging das Spiel der Unterhaltung fort und gipfelte hier und da in ein Terzett hellen Gelächters. Alle drei hatten im eigentlichen Verstände eine poetische Empfindung. Mutter und Tochter sagten sich dies nicht, denn sie kannten das Wort nicht; aber Forstner sagte sich's und schwelgte in seinen Gefühlen. Welchen Reiz übte Christine auf ihn! Die in ihrer Art vollkommene Gestalt, durch Fröhlichkeit erhellt und verklärt, die sinnliche Fülle in ihrer schönsten Blüte und im reichsten Glanze des Glücks! – Und dieses Mädchen war ihm gewogen und wurde es immer mehr. Zu ihm neigte sie sich – ein Wort von ihm, und sie lag in seinen Armen. Welch süßes und stolzes Gefühl – das Gefühl der Macht über ein so liebenswürdiges Geschöpf! Nun hielt er beim Abschiednehmen die Hand in der seinen und drückte sie, und dies wurde mit Erröten geduldet und erwidert. Lieb war ihm da der Wind und der herabwirbelnde Schnee, die seine glühende Wange auf dem Heimwege kühlten.

Wir dürfen Christine nicht schwächer erscheinen lassen, als sie in der Tat war. Sie ließ sich nicht ohne weiteres gewinnen und dem Vetter abwendig machen. Zuerst ahnte sie nichts und hatte gegen Forstner nur das Gefühl der Dankbarkeit, weil er so freundlich und so »unterhaltlich« war. Sie verliebte sich nicht in seine nette Gestalt, wie jene drei andern, eben darum war sie auch nicht auf ihrer Hut und ließ sich gehen – und so verstrickte sie sich. Es gab in der ersten Zeit einen Moment, wo die Wage für Hans und Forstner noch gleichstand. Hätte jener seinen Antrag gemacht, vielleicht hätte der ehrliche Freiersmann den bloßen Liebhaber (als mehr erschien Forstner bis dahin noch nicht) aus dem Felde geschlagen. Aber während dieser dafür sorgte, sein Gewicht zu vermehren, handelte der Ehrliche so, daß seine Schale immer leichter werden mußte.

Hans hatte nie zu denen gehört, die den neuen Lehrer ohne Klausel bewunderten. Gleich nach dem ersten Zusammentreffen mit ihm hielt er ihn für einen Menschen, der ihm zu schlau dreinsehe, und dem nicht zu trauen sei. Bei dem ersten Besuch Forstners im Hause der Base hatte indes auch er noch kein Arg. Er stimmte von der Ofenbank, auf der er saß, ein paarmal herzlich in das Gelächter der Weiber mit ein. Aber als der Gewandte seine Künste begann, hatte der wackere Hans ein unbehagliches Gefühl. Er erklärte ihn zuerst nur bei sich für einen »öaden« (faden) Menschen, der ihm recht »auf d'Weibsbilder aus« zu sein scheine, und mit dem sich ein ordentliches Mädchen eigentlich nicht viel abgeben sollte. Als er aber sah, wie Christine sich mehr und mehr auf seine Späße einließ, wurde er ärgerlich und – empfindlich. Er konnte und wollte die Unterhaltung nicht weiter mit anhören, und wenn das »Schulmoësterle« kam, ging Hans in den Stall oder aus dem Hause. – Es wogte sonderbar in der treuen Seele hin und her. Einmal war er erzürnt, und wenn Christine ihn über irgend etwas fragte, brummte er sie an. Dann glaubte er wieder, seine Befürchtung sei Unsinn und sein Trutzen einfältig. Er gab sich Mühe, freundlich auszusehen; er wollte ihr nun auch etwas Schönes sagen und etwas Lustiges erzählen, und nun geriet's ihm wieder nicht. Zu dem einzigen, was ihm den Sieg noch hätte gewinnen können, zu einer herzhaften Erklärung, konnte er sich jetzt am allerwenigsten entschließen. Er wollte jetzt gerade sehen, wie die Sache ginge. Wenn Christine »so 'n Kohbatza'« (winziger Fisch) lieber zum Mann wolle als ihn, dann sollte sie ihn haben und Schulmeisterin werden. Sie kenne seine Meinung wohl und sie wisse recht gut, daß sie auf ihn zählen könne. Wenn sie imstande sei, ihn wieder so ohne weiteres aufzugeben, dann sei es ihm auch recht – und am Ende besser, daß er so eine gar nicht kriege. Aus diesen Gründen zog er sich mehr und mehr zurück, und Christine neigte sich ganz zu Forstner.

Als der Treue sich davon überzeugen mußte, daß er nicht mehr zweifeln konnte, fühlte er eine Pein wie nie zuvor. Aber bald war sein Entschluß gefaßt. Was in der ersten stillen Nacht auf dem einsamen Lager in ihm vorging, wollen wir nicht schildern, und nur das sagen, daß Zorn und Schmerz über sie, über sich und sein Unglück so in ihm brannten und sich wechselseitig steigernd ihn so bedrängten, daß sich das gepreßte Herz in Tränen Luft machen mußte. Für eine tiefe und leidenschaftliche Liebe – und das war seine Liebe geworden – ist es eine unsägliche Qual, sich verschmäht zu sehen um eines Mannes willen, den man nicht schätzen kann. Zur Vernichtung aller Hoffnungen auf das einzige Glück des Lebens kommt noch die Pein der Verachtung, die man erfahren, die Pein des Schmerzes über den Triumph des Nebenbuhlers, die Wut über sich selbst, daß man den Schatz seiner Liebe an die Geringschätzung des Unbestandes verraten konnte. Hans, in dem alle diese Empfindungen nacheinander aufloderten, empfand die Marter der Verzweiflung in seinem Herzen. Welch ein Elend, sich Christine als das Weib dieses »Leckers« denken zu müssen! Welche Schande, noch einmal auf die Seite gesetzt zu sein, nachdem schon von ihrer Hochzeit die Rede gewesen war! »Du mußt fort!« rief es in ihm, »aus dem Haus, aus dem Dorf!« – Aber da rührte sich die gründlich gute Natur in ihm. »Nein,« rief er dagegen, indem er sich ermannte, »nein, das tu' ich nicht, das wär' mir zu miserabel! Ich bleib' und halt' aus – jetzt grad! – Hinter meinem Rücken mögen die Leut' sagen, was sie wollen – ins Gesicht (und er blickte mit funkelnden Augen in die Morgendämmerung), ins Gesicht verspottet mich keiner, das weiß ich!« – Nachdem so das Bleiben vor seiner Ehre gerechtfertigt war, konnte auch die Großmut ihre Gründe dafür aussprechen. »Sie brauchen dich, und jetzt mehr als sonst. Wer weiß, wie's geht? Der sieht mir grad so aus, als ob er mit nochmal soviel fertig werden könnt' als er hat. Ich will die Sach' vorderhand noch zusammenhalten. – Kein' Dank verlang' ich nicht!« Nach dieser Entschließung beruhigte sich die Leidenschaft endlich, die ihn so mächtig hin und her geschüttelt hatte. Der Wille, auszuharren und denen, die ihn gekränkt, Gutes zu tun – das war der Balsam auf die Wunde seines Herzens. Er kleidete sich an und ging in die Stube.

Christine saß mit ihrer Mutter am Tisch. Hans wünschte mit ruhiger Stimme Guten Morgen, aber mit einem Gesicht, daß Christine sich augenblicklich sagte: er weiß es! Sie las in diesen Mienen ihr Gericht und schrak zusammen. Das Gewissen, das sich plötzlich in ihr aufrichtete, erhellte ihren Geist und schärfte ihr Urteil, und während sie sich vorher, ihrer Neigung folgend, gesagt hatte: »Er ist selber dran schuld, warum red't er nicht?« so erkannte sie jetzt ihr Unrecht und fühlte es tief. Das Schuldbewußtsein drückte sie danieder und ließ sie so verzagt erscheinen, daß Hans wieder Erbarmen mit ihr empfand. Gemüter wie das seine können in der Strenge des Richters nicht lange verharren; der Trieb, Gnade für Recht ergehen zu lassen, ist zu mächtig in ihnen und geht unwiderstehlich in Wirksamkeit über.

Hans blieb von diesem Moment an genau in der Zurückhaltung, die er sich zum Gesetz gemacht hatte; aber er wurde freier darin, und Blick und Ton seiner Stimme erhielten wieder mehr von dem Wohlwollen, das unvertilglich in seinem Gemüt lebte. In der Güte, in der Großmut eines wackeren Mannes liegt ein Quell von Kraft, von der die seichte egoistische Natur keine Ahnung hat. Im Besitz dieser Natur kann man vergeben, und man vergibt. Und man wird nicht schwächer, indem man es tut, sondern stärker; man fühlt sich nach Erteilung der Gnade nicht ärmer, als nach Forderung und Erlangung seines Rechts, sondern reicher, und man schwingt sich in dem Bewußtsein der Tugend über das Leid hinweg, das die Seele überfluten zu wollen schien. Dies vermag der Bauer wie der König, wenn ihm Gott den Geist dazu gegeben hat, und jeder tut's nach seiner Art. Unser Bauernbursche gewann nach seiner innerlichen Überwindung einen Gesichtsausdruck, den man nur als edel bezeichnen konnte. Dem Dorfmädchen war auch dieses Wort in seiner moralischen Bedeutung unbekannt, aber von der Sache hatte sie eine Ahnung. Sie fühlte kein Bedauern, sondern eine unwiderstehliche Achtung vor dem Vetter; mit dem weiblichen Stolz, der so bereit ist, Mitleid zu empfinden und namentlich zu offenbaren, war es aus. – Aber ihre Natur machte sich den Stand der Dinge nun auf andere Weise zu nutzen. »Er ist getröstet,« sagte sie sich, »und wenn er sonst auch viel aus mir gemacht hat, tut er es jetzt nicht mehr.« – Einige Tage später, und ihr Gewissen hatte sich wieder beruhigt und schwieg; die Neigung, die Leidenschaft gewannen die Herrschaft wieder völlig. Das Weib fühlte sich frei und gab sich nun ganz dem Drange ihres Herzens zum Glück hin.

Die Leser haben erraten können, daß Forstner und Christine Liebesgeständnisse ausgetauscht und Hans gewisse Kunde davon erhalten hatte. Zu einem Verlöbnis war es noch nicht gekommen; aber zu diesem Ziele drängte es beide nun unabweichlich hin. Der junge Mann hatte seiner Neigung, und wenn man will, seinem Gelüste folgen wollen, in der Meinung, immer noch die Wahl freibehalten zu können; er hatte seiner Mutter verboten, mit der Glauning von ernsthaften Absichten seinerseits zu reden. Aber es ging, wie häufig in solchen Fällen: die Leidenschaft wuchs und führte ihn weiter als er gedacht. Sein ganzes Wesen war von Christine bezaubert; er war gebunden durch seine Liebe, gebunden durch die Rücksichten, die er auf Mutter und Tochter, auf den Geistlichen, auf das Dorf und seine Stellung darin nehmen mußte. Das Dorf hatte schon ausgemacht, daß er Christine heiraten werde, und er konnte, er durfte es nicht Lügen strafen. So gedieh das Verhältnis endlich zum Abschluß. Die Witwe Glauning hatte die Verheiratung ihrer Tochter mit dem gefeierten Lehrer von dem Gesichtspunkt der Ehre ansehen gelernt, und die Aussicht, den Flecken ihrer Verrechnung wegen jenes reichen Bauernsohnes gänzlich zu tilgen und als »Schwieger« Forstners auf eigene Art hervorstechen zu können, erfüllte sie mit Lust und mit jener Begierde, der es unmöglich ist, länger müßig zuzusehen. Als Mutter war sie jetzt ohnehin verpflichtet zu reden; und so ging sie denn eines Tages zur Base Forstner und sprach ihre Meinung in dürren Worten aus. Entweder – oder! – das war der Sinn ihrer Rede. Die Mutter des Lehrers hatte für diesen Fall schon Vollmacht erhalten; sie sagte, daß ihr Fritz nie eine andere Absicht gehabt habe, als das schöne und liebe Bäschen zu heiraten. – Auf einmal hieß es im Dorf: der Herr Lehrer hat sich mit der Christine versprochen.

Die vollendete Tatsache machte doch ihr Recht geltend, obwohl man sie allgemein hatte kommen sehen. Der Geist der Kritik fand sich herausgefordert; jede Meinung, die der Sachlage nach möglich war, fand einen Vertreter, und der Lärm war groß. Die einen, vorzüglich Weiber und Mädchen, verdammten Christine. So einen braven Menschen wie Hans zweimal nacheinander anzuführen, ihm »das Maul zu machen« und ihn, wenn ein Vornehmerer komme, wieder fahren zu lassen, das wäre keine Art nicht; das hätten sie niemals getan – und wenn ein Graf gekommen wäre! Aber diese Christine sei eben ein hoffärtiges Ding, man wisse das ja, und trachte immer über ihren Stand hinaus. Der Hans hätte für sie gepaßt, der Herr Forstner sei zu fein für sie, und man werde sehen, daß das nicht gut ausgehe. Die andern, hauptsächlich ledigen Bursche, machten den Hans für den Ausgang verantwortlich. Er sei allein schuld und ihm geschehe ganz recht. Der Mutter jahrelang das Hauswesen führen und sich dann die Tochter wegkapern lassen, da müßte einer ungeschickter sein als der Teufel! Wenn sie den »Rang« gehabt hätten, wenn sie bei der Christine im Hause gewesen wären, da hätte so ein Schulmeister kommen sollen! Der hätte gleich gesehen, daß er wieder gehen könnte. Auf so einen zu warten, ja, das wär' ihnen das Wahre gewesen! Aber der Hans sei eben ein »Lamech«, ein »Drockser«, ein Kerl, der nicht von der Stell' komme; und wenn Christine den flinkeren Schulmeister lieber habe, so könne ihr das kein Mensch übelnehmen.

Das Dorf, wie man sieht, beschäftigte sich ebensoviel mit Hans als mit Christine und Forstner. Der brave Bursche, der geschickte Bauer hatte sich eben Respekt erworben und dadurch eine persönliche Bedeutung erlangt. Was wird er nun tun? fragte man sich. Wird er gehen, sein Geld aufkünden und die beiden Weiber sitzen lassen? »Freilich wird er gehen,« rief eine Gegnerin der Christine auf so eine Frage ordentlich hitzig. »Er wird wohl bleiben und all den Spektakel mit ansehen – Hochzeit und am End' Kindtauf' auch noch. Er wird sich die Tochter wegfischen lassen und der Alten noch länger den Knecht und den Narren machen! Das wär' nicht mehr gut, sondern dumm – und dumm ist der Hans doch nicht.«

Die Frage war bald entschieden. Hans blieb, und ein großer Teil seiner Verteidigerinnen fiel nun auch von ihm ab und sagte, Christine habe doch recht gehabt, es ihm so zu machen. So ein einfältiger Mensch sei ihnen ihr Lebtag nicht vorgekommen.

Durch alles, was bisher in ihm vorgegangen, hatte Hans die Fähigkeit erlangt, der Christine zu ihrer Verlobung ehrlich und ruhig Glück zu wünschen. Er tat es und ging so weit, ihr dabei die Hand zu geben. Aber er vergab sich nichts damit: der Ausdruck seines Gesichts sorgte dafür. Christine wurde rot über und über, sie sah ihn beschämt, ja bittend an, und ihre Hand zitterte in der seinen. Es war eine Genugtuung für den treuen Burschen, und er kostete ihre traurige Süßigkeit. Aber dann fing er selbst ein anderes Gespräch an und half dem Mädchen, aus Schonung, von der Tiefe der Empfindung wieder zur Oberfläche empor. Beiden wurde leichter ums Herz, und Christine überließ sich bald wieder der Freude und der Ehre ihres Brautstandes.

Am ersten Sonntag nach dem »Verspruch« ging Hans abends ins Wirtshaus. Einige junge Leute hatten vorgehabt, ihn aufzuziehen; aber er hatte so was Eigenes im Gesicht und in seinem Auge; sie trauten dem Landfrieden nicht und dankten ganz ehrbar auf seinen Gruß. Man diskurrierte über allerlei andere Dinge; unser Freund sprach resolut, verständig und machte zuletzt sogar hier und da eine humoristische Bemerkung in seiner alten Manier. Wie nun bei natürlichen, ebenso wie bei gebildeten Menschen keine wirkliche Kraft ohne Anerkennung bleibt, so bekam der Wackere, als er die Wirtsstube verlassen hatte, von seinen Kameraden ernstlich empfundenes Lob. »Der ist gescheiter,« hieß es, »als die Leute glauben. Er macht sich aus der ganzen Geschichte nichts, und er hat recht. Die Christine ist eine falsche Person, die einen so braven Kerl gar nicht verdient. Er darf sich Glück wünschen, daß er sie nicht bekommt – und wie's ihr geht, das wollen wir sehen.«


3.

Der Bauer gibt sich nicht viel mit Erinnerungen ab, wenn sie nicht von sehr gewichtiger Art sind. Durch seine Denkweise, durch Natur und Gewohnheit, namentlich aber durch die ihm auferlegten Arbeiten ist er vorzugsweise auf die Gegenwart gewiesen. Alle feineren Differenzen kommen auf dem Dorfe gar bald wieder ins Gleiche, und nur tiefe Leidenschaften in tiefen Gemütern können auch hier still fortglühen.

In dem Hause, in welchem unsere Erzählung hauptsächlich spielt, war äußerlich bald alles wieder im alten Gang und auch innerlich vieles wiederhergestellt und gemildert. – Am raschesten war es der Witwe Glauning gelungen, ihre frühere Gemütsruhe wiederzuerlangen. Sie hatte sich wegen ihres Benehmens gegen Hans im stillen doch auch einige Vorwürfe gemacht; aber nach wenigen Tagen schon war ihr das neue Verhältnis etwas Gewohntes und übte auf ihren Geist die Macht einer Sache, die nun einmal nicht anders ist. Wenn sie den Vetter sah, wie er mit ernstem Fleiß weiter arbeitete, dachte sie wohl: »Das ist doch wahrlich ein braver Mensch! Man sollte gar nicht glauben, daß es noch solche Leute gäbe!« Aber eben durch diese Anerkennung fand sie sich mit ihm ab. Hans war ihr von nun an der gute Vetter, der sehr freundschaftlich gegen sie handelte, auf dessen Dienste sie aber beinahe schon ein gewisses Recht zu haben glaubte.

Christine folgte der Mutter nach. Das beschämende Gefühl und die Vorwürfe, die sich beim Anblick des Vetters zuweilen noch in ihr erneuert hatten, kamen seltener und blieben endlich ganz aus. Sie lebte im Wonnemond des Brautstandes, und die ganze Welt erschien ihr in heiterem Lichte. Wenn man sie hinter ihrem Rücken scharf beurteilte, ins Gesicht gratulierte man ihr, lobte den Herrn Lehrer und pries sie glücklich. Die Kunst, sich höflich zu verstellen, ist auf dem Lande keineswegs unbekannt und gehört zur guten Lebensart wie anderswo. Es gibt auch hier Leute, die um so lebhafter zu schmeicheln verstehen, je nachdrücklicher sie dieselbe Person gegen andere durchgehechelt haben; Leute, von denen man als etwas Besonderes hervorhebt, daß sie sich »recht anstellen«, d. h. einen Eifer, ein Vergnügen, eine Bewunderung zeigen können, von denen ihr Herz nichts weiß. Der Glanz des Ruhms, den sich der Bräutigam durch seine persönlichen Vorzüge erworben hatte, warf seine Strahlen auch auf die Braut; um seinetwillen tat man der Christine mehr Ehre an und bewies ihr mehr Achtung als vorher. So sah die Glückliche sich umhuldigt von allen Seiten und hatte in der Freude ihres Herzens natürlich kein Arg, daß von den schönen Sachen, die man ihr sagte, auch nur eine Silbe abgehen könnte.

Forstner selbst zeigte sich jetzt gegen sie von seiner liebenswürdigsten Seite. Er war von Leuten, auf deren Urteil es ihm ankam, wegen seiner verständigen Wahl gelobt worden; ein paar muntere Kollegen, die er von dem Vermögensstand der alten Glauning unterrichtet und mit der Braut bekannt gemacht hatte, erklärten ihn für beneidenswert; er war in der besten Laune, sog den Blütenduft des schönen Verhältnisses mit vollen Zügen ein und tat alles, was der Erwählten angenehm und schmeichelhaft sein konnte. Wie hätte da Christine noch Aug' und Ohr haben können für etwas anderes! Sie liebte und sah den Geliebten glücklich, sie sah seinen Eifer, ihr Freude zu machen, und fühlte keinen lebhafteren Trieb und wußte keine höhere Pflicht, als ihm seine Liebe zu vergelten.

Das Glück hat die Eigenschaft, daß es sich aus sich selber vermehrt und seine Vermehrung von außen her magnetisch anzieht; darum gibt es auch eine Zeit, wo es in stetem Wachsen ist. Die Freude machte Christine nicht nur holder und feiner, als sie bisher erschien, sondern auch geistig aufgeweckter und heller. Sie war in der Freude sicher, und ihre Urteile, ihre Bemerkungen im Gespräch erschienen dem Verlobten gar oft mit Recht sinnig und treffend. Forstner sah sich nun auch von dieser Seite beruhigt – er glaubte aus ihr eine Frau ganz nach seinem Herzen bilden zu können. Dies verhehlte er ihr auch nicht; er erquickte ihr Herz mit Lob über Vorzüge, die sie bis jetzt noch nicht an sich gekannt hatte, und ein außerordentliches Behagen, ein liebevolles Dankgefühl gegen ihn war die Folge davon.

Die beiden jungen Leute und ebenso die beiden Mütter waren in einem Zustande, wo man die Engelein im Himmel singen und musizieren hört. Der Liebes- und Freundschaftsverkehr ließ bei der notwendigen Arbeit des Tages kaum so viel Muße übrig, um die Ausstattung der Braut und die künftige Einrichtung zu erwägen und die ersten Vorbereitungen zu den Unternehmungen der nächsten Monate zu treffen.

Hans ging seinem Geschäft nach und schien nur dafür Sinn und Auge zu haben. Was er mit seinen Verwandten zu reden hatte, wurde kurz und ruhig abgemacht; er war gern allein, man sah es und ließ ihn allein. Da Christine an ihrer Ausfertigung arbeiten mußte und die strengere Bauernarbeit für sie nicht wohl mehr schicklich war, so hatte man eine Tagelöhnerin für sie eingetan. Diese war schweigsam, eine von den still hinlebenden, in ihrer Gedankenlosigkeit glücklichen Personen, wie man sie auf dem Lande nicht selten findet, und der Bursche hatte zu seinem Troste nichts zu leiden durch Geschwätz und durch Fragen, die ihm jetzt doppelt zuwider gewesen wären.

Ihm war das zuletzt Erlebte freilich nicht verschwunden und von der Gegenwart überdeckt wie den andern; aber es hatte sein Peinliches verloren, die Zeit hatte es gemildert und ihren Duft daraufgeworfen. Es war nicht mehr das bloße Leid, das er empfand. Diesem war die niederdrückende Gewalt genommen, die man entweder überwinden, oder der man erliegen muß; es hatte selbst etwas Liebes und für die Seele Wohltuendes erhalten.

Was wir poetisches Gefühl nennen, ist von keinem Stande, von keiner Schichte der Gesellschaft ausgeschlossen. Früher hätte man diesen Satz verteidigen müssen; jetzt, wo man die Volksmelodien und Volkslieder kennt und ehrt, wird ihn niemand zu bestreiten wagen. Wo ist Liebeslust und Liebesleid inniger, tiefer und rührender ausgesprochen als in eben diesen Liedern, die aus dem Volke hervorgegangen oder von ihm angenommen und erhalten worden sind, und die immer noch, in Gesellschaft oder in Einsamkeit, von ihm gesungen werden? Wenn das tiefere Gemüt auf sich selbst und sein Leid beschränkt ist, fällt ihm ein Lied ein, das seinen Zustand ausdrückt; der Mund summt es unwillkürlich, das Herz schauert und die Augen werden feucht.

Unser guter Freund hatte mehr Anlage zu innerlichem Leben von der Natur erhalten und in sich ausgebildet, als es auf dem Lande gewöhnlich ist. Von der Lustbarkeit weniger angezogen, durch eine scheue Leidenschaft auf sich selber gewiesen, kannte er schon länger den Reiz gemütlicher Vorstellungen. Die Neigung dazu und die Kraft, solche Vorstellungen zu erzeugen, trat jetzt um so stärker in ihm hervor und gewährte ihm die volle Lust herzlich gehegter Trauer. Freuten die Verlobten sich in hellen Dur-Tönen – ihm war ein Glück, und ein reiches Glück, in Moll beschieden. Seine Arbeiten störten ihn darin nicht; er verstand sie so gut, daß sie wie von selber ihren Gang gingen und ihm Zeit genug übrigließen, seinen Gedanken nachzuhängen. Wenn er mit seinen Kühen wohlgehaltenes Land »äckerte« und, von dem Hauch der frisch aufgeworfenen Erde umdampft, zuweilen »sinnierte«, wurden die Furchen darum nicht schlechter, und er rief den Tieren zeitig genug sein »Härrerei'« zu, wenn er an der »G'wand« (Ackergrenze, wo umgewendet wird) angekommen war. Auf der Wiese rechte er mit der Taglöhnerin um die Wette Streu, obwohl es in seinem Innern summte, während in ihr die vollkommene Stille des Nichts Platz genommen hatte. Die ländlichen Arbeiten begünstigen zum Teil ein gewisses träumerisches Wesen; besonders einladend dazu ist aber die mittägliche und abendliche Heimkehr von einem entfernteren Ackerstück, sowie die Fütterungs- und Verdauungszeit der untergebenen Tiere. In den völlig einsamen Momenten, erfüllt von seiner Empfindung, kamen unserem Burschen allerlei Lieder in den Sinn. Er sang sie mit herzlicher, gedämpfter Stimme und fühlte ganz die Besänftigung und erneute schönere Aufregung anspruchsloser Kunst. So sang er das Lied:

Da droben auf jenem Berge,
Da steht ein hohes Haus,
Da schauen wohl alle Frühmorgen
Drei schöne Jungfrauen heraus usw.

mehr wegen der lieben rührenden Melodie, als weil die Reime seinem Zustand entsprachen. Wenn er aber das letzte »G'setz« für sich hinsummte, dann hatte er dabei doch auch seine ganz eigenen Gedanken.

Ach Scheiden, ach scheiden,
Wer hat doch das Scheiden erdacht!
Es hat mein jung frisch Leben
Das Scheiden so traurig gemacht.

Er lebte mit der, die er liebte, in einem Hause; aber er war viel schlimmer geschieden als ein Liebhaber, der in die Fremde muß. Für ihn gab es kein Wiederfinden, kein Wiedersehen, keine Wiedervereinigung! – Bedachte er, wie sehr und wie lang' er Christine geliebt und wie treu er an ihr gehangen, dann kam ihm wohl ein Lied auf die Lippen, das im Ries oft gesungen wird:

Treu hab' i geliebet,
Was hab' i davon?
Mein Herz ist betrübet,
Das hab' i zum Lohn.

Und in tiefem Ernst sah er dann vor sich hin. – Einmal wurde dieser Ernst durch ein halb weh-, halb gutmütiges Lächeln verdrängt. Es war ihm ein anderes Liedchen eingefallen, das seine Erfahrung erklärte:

Wanns Mädle sauber ist,
Und ist no jung, no jung,
Muß der Bue luste sei',
Sonst kommt er drum.

»Ja freile,« sagte er darauf zu sich, »doh hot's eba' g'fehlt, und i ka' me uet beklaga'. 's ist oëna' (eine) wie die ander. Wer koë (kein) so a ›Luftikus‹ (Variation von Windbeutel) ist, der ka' nex ausrichta' bei da' Mädla'!« Und er erleichterte nun sein Herz in folgenden Strafreimen:

Was hilft me a schöner Apfel,
Wann er innen ist faul!
Was hilft me a schöas Dea'del –
Sie macht mer nor d's Maul!

Der leichten Anklage der schönen Base folgte aber bei dem guten Burschen in der Regel die Rechtfertigung, die Einsicht in die Natur der Dinge und den Lauf der Welt, die Ergebung und die stille Trauer. Einmal, als er nach der letzten abendlichen Fütterung im Stalle saß und die Kühe wiederkäuend dalagen, summte er in der leise belebten Stille eine Melodie ohne Text, die ihn dergestalt rührte, daß ihm Tränen in die Augen traten. Er besann sich auf das Lied – es war das bekannte:

Wann mei' Schatz Hochzeit macht,
Hab' i a traurige Nacht,
Sperr mi in mei' Kämmerlein
Und wein' um mein' Schatz.

Es klopfte und zitterte in seinem Herzen und die Tränen rollten die Wangen herunter. Das war ihm aber doch zu arg. Er stand rasch auf, wischte sich die Augen und rief mit wahrem Zorn: »Ho? der Teufel die Narrheit! Ich werd' noch ganz zum alten Weib! – Aber jetzt ist's auch genug!« Er ging in dem Gange vor dem »Bahren« (Futtertrog) hin und her und fing ein kleines Gespräch mit einer Kuh an, die sich erhoben hatte und ihn anmuhte. Allein er konnte nicht verhindern, daß ihm seine Gedanken wie verwöhnte Kinder noch einmal zu dem verbotenen Gegenstande entliefen. Er dachte an seine alten Träume, mit der Christine das schöne Haus zu bekommen und drin mit Weib und Schwieger ein Leben zu führen herrlich und in Freuden. Mit einer Art von Heroismus sang er hierauf das launig desperate Lied:

Und aus isch mit mir,
Mei' Haus hat kei' Tür,
Und mei' Tür' hat kei' Schloß,
Und mein' Schatz bin i los.

»Ja, ja,« sagte er dann halb lächelnd zu sich, »alles ist hin miteinander! – D's Haus freilich, das traut' ich mir wohl noch zu kriegen; aber was hilft mich d's Haus ohne d's Weib! – Nun,« setzte er endlich, sich ermannend, hinzu, »am End' bleib' doch ich noch da!«

Zu der schönsten Zeit auf dem Lande gehört der Morgen eines Feiertags, wenn die Sonne scheint und die Luft mild und lieblich ist. Je mehr der Bauer die Woche hindurch gearbeitet hat, desto besser versteht er am Sonntag zu ruhen. Seine Bewegungen sind dann con amore langsam, die Mienen drücken ruhiges Vergnügen, sein ganzes Wesen tiefe Gelassenheit aus. Mit der Arbeit der Wochentage hat er auch die Sorge hinter sich gelassen und ist zu einer Art von Naturstand zurückgekehrt, wo ihn ein Hauch der goldenen Zeit und ihre Glückseligkeit anweht. Er kommt an solchem Tage in eine tiefere Stimmung und gibt sich entweder stiller Träumerei hin oder freut sich an der Schönheit einzelner Gegenstände der Natur, nicht wie ein schwärmender Poet freilich, aber schlicht und naiv wie ein Kind. Und dieses Naturbehagen wird durch die kirchliche Feier des Tages nicht gestört, es wird durch sie gestärkt, erhöht und sanktioniert.

Nach und nach war der Mai herbeigekommen. Die Bäume glänzten in frischem Laub, einzelne standen über und über in Blüte. Es wurde nun ein Lieblingsvergnügen des guten Hans, in der schönen Sonntagsfrühe sich in den Garten zu begeben, und was in der Woche gewachsen und ausgeschlagen, was von ihm selbst darin gearbeitet und hergerichtet war, mit Ruhe zu beschauen. Er freute sich an dem grünen Laub und an den schönen Blüten der Bäume, aber auch an dem Gesurre der »Emmen« (Immen, Bienen) darin; denn sie hatten an der Mauer des Hauses selber einen »Emmenstand«, worin sich drei Stöcke befanden, und er hoffte, daß einer davon bald schwärmen werde. Er freute sich bei den Stöcken der roten und gelben Hosen, welche die Bienen anhatten, und wie ordentlich ein Vergnügen aus ihnen glänzte, mit so reicher Beute heimzukehren. Zu der Südgrenze des Gartens hinabgewandelt, sah er mit Lust über die weißblühende Dornhecke auf die Wiese hinaus und freute sich der schönen Blumen darin, ebenso des reichlichen Grases, das eine gute Heuernte versprach. Die Lerchen schienen ihm noch lieblicher zu singen als an Wochentagen draußen auf dem Felde, und es war ihm, als müßte bei diesem Gesange, bei der Schönheit und dem Wohlgeruch der Blüten, bei der warmen Luft und dem hellen Sonnenschein, und bei den herrlichen Aussichten auf ein gesegnetes Jahr die ganze Welt sich glücklich fühlen.

Er selber fühlte sich glücklich, glücklicher als seit langer Zeit. Es war noch immer ein Zusatz von Trauer in seinem Glück, aber sie war aufgelöst und hatte sich innig mit seinem Wohlgefühl verbunden. Das genesende Herz war nicht nur gestärkt durch die Schönheit der Natur, durch die stille Betrachtung des Blühens und Gedeihens, sondern auch durch die religiöse Bedeutung des Tages. Hans gehörte nicht zu den »Betischten«, wie man im Ries, das Wort von »Beten« ableitend, die Pietisten nennt; er machte aus der Frömmigkeit nicht das Geschäft seines Lebens. Aber man hat wohl schon bemerkt, daß in seinem Wesen doch gar manches lag, was recht eigentlich christlich war, und bei aller Natur, die mit ihm verbunden blieb, hätten wir einem solchen Mann im Lebensverkehr doch mehr vertrauen mögen, als manchem von den Stillen im Lande, deren Mehrzahl wir übrigens gern nicht nur für ehrliche, sondern überhaupt für respektable Leute halten. Hans hatte einen guten »Unterricht« (mit diesem Wort bezeichnet der Rieser ausschließlich den Religionsunterricht) genossen, und er war der Mann, von den Lehren des Geistlichen mehr zu behalten als der erste beste. Er hatte ein dankbares Gemüt gegen Gott und war ihm anhänglich und diente ihm in den Formen, in denen er erzogen war. In seinem Hin- und Herdenken fiel ihm nun auch wohl ein Ausspruch der Bibel oder des Gesangbuchs ein, der ihn tröstete und von seiner Empfindung freimachte.

An einem besonders schönen Sonntagsmorgen steigerte sich unter solcher Einwirkung die Stimmung seines Herzens bis zur Heiterkeit. Vor dem religiösen Gefühl, wenn es die Seele auch nur als ein unbewußter Hauch durchdringt, können gewisse trübe Empfindungen nicht standhalten; wir legen einen andern Maßstab an das Leid, und was uns sonst über die Maßen begründet erschien, das kann sich uns als eine Einbildung, ein Erzeugnis menschlicher Schwäche darstellen, und sein Wichtigtun kann uns ein Lächeln abnötigen. Die wahrhaft gute Natur wird dann frei von der letzten Empfindlichkeit und fähig, nicht nur zu vergeben, sondern auch zu vergessen. Als Hans an diesem Morgen ins Haus zurückkehrte, weil die Glocken zur Kirche riefen und er die festlich geputzte Christine im »Wurzgarten« am Hause sah, wie sie noch ein Sträußchen pflückte, um ihren Schmuck zu vollenden, warf er im Vorübergehen einen Blick auf sie, wie ihn ein Mann auf ein glückliches Kind wirft. Und als sie ihn gewahr wurde und vergnügt und mit einer gewissen Gutmütigkeit rief: »Guten Tag, Hans!« da dankte er ihr von Herzen freundlich und wünschte ihr eine »gute Andacht«, obgleich er wußte, daß ihre Andacht hauptsächlich im Denken an ihren Bräutigam und in der Freude über sein schönes Singen und Orgeln bestehen werde. Er selbst ging würdig langsam in die Kirche und erbaute sich in ihr mehr als sonst, weil er, durch seine Herzenserfahrungen und sein Nachdenken darüber belehrt, mehr als sonst von der Predigt verstand. Er kam aufgerichtet und froh nach Hause, das Gefühl im Herzen, das wohl als ein Ersatz für die verlorene Freude des Lebens gelten kann, das Gefühl, durch Selbstüberwindung und Entsagung klarer und besser geworden zu sein.

Wer kann die Regungen eines Herzens schildern, das ebenso der Leidenschaft wie der Resignation, ebenso des Schmerzes wie der Erhebung fähig ist? Wer das Spiel verfolgen der Trauer und der Tröstung, des Hinabsinkens und des Emporstrebens, des Rückfalls und der langsamen, langsamen Heilung? Nur andeuten läßt sich, was durch eine Seele geht, die dem liebsten und teuersten Wunsch entsagen muß, und das haben wir zu tun versucht.

Die Zeit und die Kräfte, die dem strebenden Menschen zu Hilfe kommen, übten endlich auch auf unseren Freund ihre ganze Macht. Seine Empfindungen zergingen freilich nicht wie die der andern, aber sie traten zurück in das Innerste seines Herzens, das sich über ihnen zuschloß. Er bewahrte sie hier, wie man im verborgensten Fache eines Schreins ein ererbtes teueres Kleinod bewahrt, des Besitzes gewiß, ob man es zuletzt auch nur selten hervorzieht, um sich in seinen Anblick zu versenken.

Als der Frühling hingegangen war, standen Mutter, Tochter und Vetter wieder auf so freundschaftlichem Fuße, als ob ihr Verhältnis niemals getrübt worden wäre. Wenn die Glauning sah, wie Hans jetzt fast noch eifriger und gewissenhafter arbeitete als früher, ging es ihr doch zuweilen ans Herz, und sie dachte bei sich selbst: »So ein braver Mensch ist mir doch wahrhaftig noch nie vorgekommen! Der Bräutigam meiner Tochter ist schöner und feiner; aber wenn er nur auch so gut ist wie der Hans!« – Christine war von der Tugend des Vetters, die sich so völlig anspruchslos in Taten kundgab, auch gerührt; aber ihr innerliches Lob schloß nicht mit einem Wunsch, der über die Güte Forstners noch irgend einen Zweifel ließ. Ihr Bräutigam war nicht nur der schönste und feinste, sondern auch der beste aller Menschen; das bewies er ihr ja täglich durch seine Liebe, durch seinen Eifer, ihr Freude zu machen. – Der Verlobte selbst begegnete dem Guten jetzt mit viel mehr Rücksicht als früher. Wenn Hans ihm seine gebührende Ehre gab und bei seinem Eintritt ins Haus mit ruhiger Freundlichkeit »guten Abend, Herr Lehrer« sagte, sprach aus dem Ton seiner Erwiderung und aus seinem Blick ein unwillkürlicher Respekt, und selbst zu Hause im Gespräch mit seiner Mutter gebrauchte er über ihn nie mehr despektierliche Bezeichnungen wie sonst. Manchmal nahm er Gelegenheit, dem Braven wegen seiner Geschicklichkeit als Bauer ein Kompliment zu machen und es so warm auszudrücken, daß Hans selber zu glauben anfing, dieser Mann wäre am Ende doch besser, als er ihm zuerst vorgekommen sei, und Christine könnte mit ihm glücklich werden.

In Christine regte sich, nachdem sie ihre Furcht und Verlegenheit vor Hans gänzlich abgelegt hatte, die gute Natur. Die Achtung, die sein Benehmen ihr einflößte, wurde zur Freundschaft, zur freundschaftlichen Teilnahme. Sie fühlte den Trieb, ihn wohl zu halten und ihn zu erfreuen durch Lob und durch die Aufmerksamkeiten, wozu der Familienverkehr so viele Gelegenheit bietet. War sie auch nicht mehr gedrückt durch das, was ihr früher als ein Unrecht vorkam, so fühlte sie sich doch erleichtert, wenn sie etwas für ihn getan hatte. Einmal, als das Gespräch mit ihm eine scherzende Wendung genommen, sagte sie, indem sie plötzlich einen ernsteren Ton annahm: »Hans, du mußt auch heiraten! Einem Mann in deinem Alter gehört ein braves Weib, und du verdienst die Beste!« – Hans sah ihr betroffen und argwöhnisch ins Gesicht; da er aber nur wirkliche Teilnahme darin erblickte, so antwortete er mit einer gewissen Laune: »Für unsereinen ist's Heiraten so eine Sach', man kriegt nicht immer die, die man gern möchte.« – Christine, die ein wenig rot wurde, rief um so lebhafter: »Ein Bursch wie du kann sich jede aussuchen!« – Hans verzog seinen Mund und erwiderte: »Ich glaub's wohl! So einem kann's nicht fehlen. Wenn er die Hände ausstreckt, hängt an jedem Finger eine!« – Über diesen kitzeligen Punkt fand Christine für gut hinwegzugehen, und die Heirat schon als geschehen betrachtend, sagte sie: »Dann werden wir Gevatterleut' und ich heb' deine Kinder aus der Täf (Taufe), und wir wollen recht vergnügt miteinander sein.« – »Nun, damit,« versetzte Hans lächelnd, »hat's noch gute Weg'. Zuerst heiratest du, und dann wollen wir sehen, was mit mir anzufangen ist.«

Freilich, auf die Hochzeit der Christine war mehr Aussicht als auf die des guten Hans. Die Verlobten hatten beschlossen, sich im Herbst »zusammengeben« zu lassen, und es wurde nun immer emsiger an der Ausfertigung gearbeitet. Die Frage, wie Christine als Frau Lehrerin sich kleiden solle, war erledigt. Heutzutage hätte man eine »Näherin« eingetan, die sich als Kleidermacherin schon einen Namen erworben, und der Lehrersbraut die gehörige Zahl bürgerlich französischer Anzüge fertigen lassen. Damals warf man aber die Rieser Tracht noch nicht so schnell über Bord, und es war demnach im Hause der Glauning beschlossen worden, nur zu der feineren Kleidung im Rieser Stil fortzugehen, wie sie die Weiber der reichen Bauern, der Müller, Wirte und auch der Schullehrer noch trugen. Es war immerhin ein Fortschritt, und das Herz der Braut wurde außerordentlich erheitert beim Anblick zweier seidener Halstücher, die ganz neumodisch waren, eines herrlichen »geflammten« Rocks, der, in zierliche Falten »gebegelt« (gebügelt), die stattlich Hinschreitende umwogen sollte, und einer großen Radhaube, nicht mit schwarzen, sondern mit weißen Spitzen und mit farbigen seidenen Bändern, womit im Dorf bis jetzt einzig und allein die Wirtin geprangt hatte. Als Christine dieses Wunder von Haube zuerst probierte und die seidenen Bänder, zierlich verschlungen, von ihrem Kinn auf die Brust herunterwallten, fühlte sogar die Tagelöhnerin aus ihrer pflanzenähnlichen Ruhe sich herausgerissen: sie hing an der Beneidenswerten mit einer Art von Andacht, stieß einen komischen Seufzer aus und rief: »Bändel zieret halt da' Menscha'!« wobei sie in ihrem Herzen dachte, daß sie in einer Haube mit so schönen Bändern sich neben der Christine wohl auch noch sehen lassen' könnte. – Dem Vorrat an Leinwand und Bettfedern, den die Mutter gesammelt hatte, wurde nebst dem Geldbeutel stark zugesprochen, und der Wunsch der ehrgeizigen Frau, ihre Christine wie eine reiche Bauerntochter auszustatten, und das Verlangen, doch auch noch etwas übrig zu behalten, kamen öfters miteinander in Streit. Hier und da gab es sogar einen kleinen Handel zwischen Mutter und Tochter, der aber bald wieder ins Gleiche gebracht wurde: Christine hatte den Vorteil, das einzige Kind zu sein. Indem nun die beiden mit der Dorfnäherin und dem Dorfschneider in die Wette arbeiteten, ging die Sache stetig vorwärts. Man war sicher, zu rechter Zeit fertig zu werden und ins Schulhaus mit einem Wagen voll Hausrat einzuziehen, wie er von einer Söldnerfamilie noch nie geliefert worden war.

Daß zwischen dem Hause der Glauning und dem Schulhause immer der engste Verkehr stattgefunden hatte, versteht sich von selbst. Forstner war fast in allen Stunden, die er sich abmüßigen konnte, bei der schönen Braut gewesen, und seine Mutter hatte über alle wichtigen Fragen mit ihr und der Base Rat gepflogen. Bei einem so lebhaften Temperament, wie es der junge Lehrer besaß, konnte sich die Glut des Liebenden freilich nicht immer auf der ersten Höhe behaupten; gerade wenn sie dauern sollte, mußte sie sich mäßigen und sozusagen in regelmäßigem Flußbette hinströmen. So war denn mit der Zeit der Verlobte ruhig geworden, und ohne daß sein Wohlgefallen an der Braut sich minderte, öffnete sich sein Herz auch wieder andern Dingen. Den ganzen Frühling hindurch hatte er Einladungen seiner Freunde zu fröhlichen Gelegenheiten ausgeschlagen. Er führte Christine mit seiner und ihrer Mutter an schönen Feiertagen nach Nördlingen, Öttingen oder Wallerstein, unterhielt sie, zeigte ihnen belehrend die Schlösser und Hofgärten der fürstlichen Residenz und ging in gemütlichem Gespräche mit ihnen nach Hause. Wie nun aber der Eifer der Ausfertigung, je weiter diese vorschritt, nur um so lebhafter wurde und die Weiberherzen ganz zu erfüllen schien, glaubte Forstner den Kollegen und Kameraden sich nicht länger entziehen zu dürfen. Man hatte in Öttingen ein musikalisches Kränzchen gestiftet, und er mit seinem hübschen Tenor und seinem Geschick auf der Violine war ehrenvoll dringend zur Teilnahme aufgefordert worden. Er verpflichtete sich dazu, und da die Gesänge und die Musikstücke, die man aufführte, bald gut zusammengingen, so legte der rasche Fußgänger mit Vergnügen die ziemlich lange Strecke zurück, die zwischen dem Dorf und dem Ort der Zusammenkunft lag, und freute sich der künstlerischen Unterhaltung und der lustigen und geistreichen Gespräche, die auf die kleinen Konzerte zu folgen pflegten.

Forstners Temperament – das hat man schon gesehen – war überwiegend sanguinisch. Von Leuten dieser Art ist bekannt, daß sie gewisse Dinge schneller und lebhafter erfassen, aber schneller auch wieder lassen als andere. Ich sage, gewisse Dinge. Es wäre schlimm, wenn der Sanguiniker in seinem Geist und Herzen nicht die Kraft besitzen könnte, einem Gedanken, einer Pflicht und einer ernstlichen Neigung treu sein Leben zu widmen. Aber von gewissen Dingen, namentlich solchen, die auf dem Felde der Unterhaltung und des Lebensgenusses liegen, wird der Mann von leichtem Blut schneller hingerissen als andere, und weiter geführt, als er anfangs dachte, auch wenn er, wie unser Lehrer, eine Dosis Phlegma besitzt, welche der Klugheit zur Unterlage dient. – Das musikalische Kränzchen in der genannten fürstlichen Residenz gewann in raschem Aufschwung einen Stand der Blüte, wie er unter günstigen Verhältnissen bei solchen Verbindungen einzutreten und eine Zeitlang zu dauern pflegt. In solcher Zeit gelingt alles; die Teilnahme scheint ununterbrochen zu wachsen, die Freude kommt ungesucht, und der Ruhm des Instituts verbreitet sich in der ganzen Umgegend. An den Tagen, wo man sich in Öttingen versammelte, fanden sich nun bald auch Gäste von benachbarten fränkischen Orten ein, die nach ihrem bekannten Naturell dem Vergnügen keinen Eintrag taten. Musiker trinken gern, und ein leichter Rausch ist der Zustand, der allein würdig scheint, auf künstlerischen Enthusiasmus zu folgen, weil er diesen nicht verglühen läßt, sondern liebevoll erhöht und weiter trägt. Da nun das Bier, welches der Ganswirt lieferte, vortrefflich war, so fühlten sie sich, wenn es auch meistens Dorf- und Stadtlehrer mit zwei- bis fünfhundert Gulden Einkommen waren, doch alle wie Könige. Die musikalischen Aufführungen gewährten edeln und feinen Genuß, das darauffolgende Gelag machte sie fröhlich wie die fidelsten Musensöhne, und die Gesänge, in welche die innere Lust hier unwillkürlich ausströmte, klangen noch schöner und ergreifender als die kunstmäßig vorgetragenen, weil die Formen der Kunst von der lodernden Glut der Seelen überschwenglich erfüllt wurden. – Forstner, eine Zierde sowohl der Aufführungen als der Gelage, sah sich in diesem Zirkel geehrt und geliebt; seine Freundschaft wurde gesucht, ein Lehrer aus der benachbarten fränkischen Stadt erklärte ihn für ein Genie und schloß sich eng an ihn an; da war es ohne Zweifel natürlich, daß die Teilnahme an dem Kränzchen in ihm endlich zur Passion wurde, und daß er an den Versammlungstagen regelmäßig einer der ersten kam und einer der letzten ging. Ebenso natürlich war es aber auch, daß dabei Zeit und Geld vertan wurde »nach Noten« – und letzteres mehr, als es Forstners Einkommen vertrug.

An Zeit hat der Dorflehrer im Sommer keinen Mangel. Dessenungeachtet verminderten sich die Besuche des Bräutigams im Hause der Braut auf eine Weise, daß es auch der Vielbeschäftigten und Arbeitstrunkenen auffallen mußte. Sie machte ihm darüber Vorwürfe und setzte mit etwas empfindlichem Ausdruck hinzu: es sehe beinahe aus, als ob's mit seiner Lieb' zu ihr gar nicht mehr so arg sei! Allein da schloß er sie mit Zärtlichkeit in seine Arme und sprach von seiner ewigen Liebe und Treue in so schönen Ausdrücken, daß der halbe Zweifel in der Seele des Mädchens rasch wieder getilgt war. Er zeigte eine ernste Miene und belehrte sie, wie er sich im Singen und Musizieren üben und Bekanntschaften machen müsse, weil ihm dies zu seinem Fortkommen durchaus nötig sei. Er erzählte ihr, welchen Beifall er in dem Kränzchen erhalte und wie geehrt er sei – und Christine, selbst geschmeichelt, meinte, das sei dann freilich etwas anderes, und auch sie könne ihm jetzt nicht raten, wegzubleiben.

Mit seiner Mutter hatte Forstner eine andere Erörterung. Die alte Frau besaß noch etwas Vermögen. Es war nicht mehr soviel als vor einigen Jahren; denn der begabte und überall beliebte Sohn hatte als Schulgehilfe mit seinen Einnahmen unmöglich reichen können, und jedes Jahr mußten etwelche Schulden getilgt werden. In seiner jetzigen Stellung war er ausgekommen, solange er eingezogen lebte; jetzt hatte sich wieder ein Defizit gezeigt, und er mußte die Mutter neuerdings angehen. Diese sträubte sich und las ihm gehörig den Text. Allein es gelang ihm, auch ihr gegenüber zu beweisen, daß ihm die jetzigen Ausgaben infolge der gemachten Bekanntschaften zehnfach wieder hereinkommen würden, und die beschwichtigte Mutter zahlte.

Der Sommer näherte sich seinem Ende. Die Ausstattung der Christine war beinahe fertig – ein Gegenstand der offenen Bewunderung und des geheimen Neides besuchender Freundinnen. An den Kästen und »Bettscha'den« (Bettstatten), an Tischen und Stühlen hatte der Schreiner des Dorfs sein Meisterstück gemacht. Sie waren nicht von Mahagoniholz und nicht poliert, aber mit brauner Ölfarbe überzogen, so schön, wie man's noch nie gesehen. Hemden, weiße Schürzen, Schnupftücher, »Handwellen« (Handtücher), Tischtücher und Strümpfe gewöhnlicher und feingemodelter Gattung lagen gewaschen und gebügelt im »Weißenwarkasten«. Die Betten waren schon überzogen mit blau- und rotgestreiftem, selbstgewirktem Zeug. Spitzenhauben, Sonntagskappen (wo das »Bödele« aus Gold- oder Silbergeflecht bestand) und verschiedene Alltagskappen prangten im oberen Fach des reichbehängten Kleiderkastens. Ein neuer Spinnrocken mit Rad, von einem Nördlinger »Dreher« kunstreich gefertigt, stand bereit, um an dem Tage des Einzugs, mit dem feinsten und weißesten Flachs überzogen und mit rotseidenem Bande umwickelt, mitten auf dem Wagen zu prangen. Es fehlten hauptsächlich nur noch ein paar Sessel, welche die alte Glauning, des feinen Schwiegersohnes wegen, sich auch noch zu bestellen entschlossen hatte, und ein kleines Stück Hausrat, welches erst später nötig zu werden pflegt, das aber vorsorgliche und humoristische Eltern in der Regel auch gleich mit fertigen lassen.

Was Christine an Geld mitbekommen und wie es gezahlt werden sollte, war ausgemacht. Die Heirat des einzigen Kindes mit einem Lehrer versetzte die Witwe in eine Notwendigkeit, die auf dem Lande stets mit Leidwesen empfunden wird, das Gut, das ihr Mann von seinen Vorfahren überkommen, vergrößert und so schön hergerichtet hatte, in andere Hände übergehen zu lassen. Der angestellte Schwiegersohn konnte es nicht übernehmen, und sie konnte es nach der Ausstattung ihrer Tochter nicht mehr halten. Als sie das einmal vor Hans aussprach, bemerkte dieser: er habe daran auch schon gedacht und bei sich überlegt, was Haus und Feldung in heutiger Zeit wohl gelten möchten. Er sei über eine Summe mit sich einig geworden, und um diese wolle er selber das Gut an sich bringen. Die Witwe, angenehm überrascht, ließ ihn die Summe nennen; und da auch sie schon einen Überschlag gemacht hatte, dessen Ergebnis von dem Gebot des Vetters nicht viel abwich, so wurden sie bald »handelseins«. Sie machten aus und gaben sich die Hand darauf, daß nach der Heirat der Christine – denn vorher wollten sie keine Änderung treffen – die Sölde um die vereinbarte Summe von ihr an ihn übergehen solle. Der alten Glauning fiel ein Stein vom Herzen. Sie konnte mit dem Handel zufrieden sein; dann aber war es ihr lieb, daß ihr »Sach« an einen »Freund« überging, und nicht minder, daß der um sie verdiente Hans wenigstens ihr Haus und ihre Güter erhielt, wenn auch nicht ihre Tochter. In dem Vergnügen, das sie empfand, sah sie ihn mit gutmütiger Schlauheit an und sagte: »Du hast g'wiß schon eine mit zwei- oder dreitausend Gulden!« – »Das nicht,« erwiderte Hans, »ist aber auch nicht nötig. Vorderhand getrau' ich mir die Geschichte allein zu behaupten.« – »Wenn's einer kann, so kannst du's. Aber besser ist besser.« – »Das schon; ich will auch gar nicht sagen, daß ich ledig bleib'. Wenn ich in dem Hause da einmal festsitz', dann wird sich wohl eine finden, die's riskiert mit mir.« – »Hundert für eine!« rief die Base mit Wärme; »soviel du willst!« – Hans zuckte die Achsel und sagte: »Also dabei bleibt's! Wenn die Christine heiratet, bin ich der Käufer.«

Die Übernahme dieser Verpflichtung war kein Akt der Großmut von unserem Freund. Er hatte das Gut liebgewonnen, die von ihm jahrelang bebauten und verbesserten Felder waren ihm ans Herz gewachsen, und da sich eine so gute Gelegenheit bot, sie zu erhalten, wollte er sie nicht auslassen. Trotz des Gemüts, das wir an ihm kennen, war er keineswegs so romantisch gesinnt, daß er sich etwa vorgenommen, selber unbeweibt zu bleiben und nur der Erinnerung an seine Liebe zu leben. Im Gegenteil, es war ihm ganz ernst mit dem, was er der Base gesagt hatte; wenn Christine verheiratet war, so wollte er selbst eine brave Frau nehmen, die von ordentlichen Leuten herkam und etwas hatte, und mit deren Eingebrachtem er nach und nach ganz schuldenfrei werden konnte. Mit ihr, wenn sie auch der Christine an Schönheit nicht gleichkäme, wollte er leben wie sich's gehört, und einen rechten Mann machen.

So war denn, was die Hauptsachen betraf, alles in Ordnung. Es blieb nichts mehr übrig als die Erfüllung der gewöhnlichen Formalitäten, und das Brautpaar konnte verkündigt, die Hochzeit konnte gefeiert werden. Als die Glauning dies dem Verlobten mitteilte und den Tag der Verkündigung bestimmt wissen wollte, bemerkte dieser: es gehe jetzt noch nicht – man müsse noch warten. Mutter und Tochter sahen ihn bei diesen Worten befremdet an. Er war in der letzten Zeit einmal auf drei Tage verreist und hatte vorher auf Befragen nur erklärt, daß er notwendige Geschäfte besorgen müsse. Nach der Rückkehr war er unruhig und aufgeregt; Christine wußte nicht, was sie aus ihm machen sollte; sie sagte es ihm und mußte mit einer Antwort fürlieb nehmen, die sie nur für eine Ausrede halten konnte. Und jetzt, nachdem alles fertig und alles im reinen war, sollten sie noch warten? Sie fragte nach der Ursache; er erwiderte, die könne er noch nicht sagen. »Auch mir nicht?« entgegnete sie verletzt und errötend. – »Auch dir nicht, gute Christine,« antwortete Forstner. »Es ist um unseres gemeinschaftlichen Besten willen, und ich hoffe, in kurzem kann ich reden.« – Wie bedenklich das alles der Braut und der Mutter erscheinen mochte, sie mußten sich in seinen Willen ergeben und zusehen.

Eines Abends, nachdem vier Tage verflossen waren, kam Forstner mit raschen Schritten auf das Haus zu und trat mit ernster, feierlich aufgeregter Miene in die Stube. »Ich bring' eine große Neuigkeit!« rief er Christine entgegen, die mit ihrer Mutter am Tische saß. Das Mädchen fuhr unwillkürlich zusammen und erhob sich rasch: »Was für eine Neuigkeit? Du erschreckst mich!« – »Es ist nicht zum Erschrecken, sondern zum Freuen,« erwiderte er. – »So sag's!« rief Christine, noch keineswegs ermutigt. – »Nun, ohne Umschweife: ich bin als Lehrer nach ** berufen (er nannte eine fränkische Stadt, aus der sein Freund und Kollege vom Öttinger Kränzchen war) und werde die Stelle mit nächstem antreten.«

Das Mädchen war mehr bestürzt als erfreut über diese Nachricht. »Du kommst in eine Stadt?« fragte sie zagend. »Was soll dann aber aus uns werden?« – »Du wartest hier bei deiner Mutter, bis ich mich eingerichtet habe. Dann hol' ich dich ab und wir machen Hochzeit.« – »Ich in eine Stadt!« rief sie, indem sie, wenn auch dunkel, alles Bedenkliche dieser Ortsveränderung empfand. »Da pass' ich nicht hin!« Und die Mutter setzte bekümmert hinzu: »Dann hab' ich die halbe Ausfertigung und alle die teuren Bauernkleider umsonst machen lassen!« – Forstner lächelte. »Wir werden manches brauchen können, was Ihr angeschafft habt, Frau Schwiegermutter. Und für die Kleider, die nicht in die Stadt passen, schaffen wir andere an. Ich bekomme fürs erste hundert Gulden mehr als hier, kann mir durch Privatstunden noch andere hundert verdienen und habe die Hoffnung, bald vorzurücken.«

Trotz all der schön eröffneten Aussichten wollte sich bei Christine kein rechtes Vergnügen einstellen. »Ich weiß nicht,« sagte sie, indem sie vor sich hinsah, »mir ist so angst!« – »Wenn du an einen Ort sollst,« erwiderte der Verlobte mit einem Blick des Vorwurfs, »wo ich bin? Schäme dich, Christine! Freuen solltest du dich, daß ich vorwärts komme, und etwas einbilden solltest du dir, die Frau eines Mannes zu werden, der in zehn Jahren vielleicht Oberlehrer ist.« – »Ich freu' mich auch,« erwiderte Christine, deren Mienen sich nun doch aufklärten, »aber ich fürchte nur« – – »Du bist ein Kind,« versetzte er, indem er sie bei der Hand faßte. Und mit einem zärtlichen Blick setzte er hinzu: »Bei mir wirst du doch angewöhnen? Da wird's dir doch nicht ›and tun‹ nach deinem Dorf?« – »Nun,« erwiderte das Mädchen, der bei diesen Worten das liebende Herz aufging, »das mein' ich selbst. Und in die Stadtleut' werd' ich mich am End' auch schicken!« – »Freilich wirst du das! Ein schönes, liebes und gescheites Mädchen wie du!«

Bei der Mutter hatte die Aussicht, eine Frau Oberlehrerin zu bekommen, die fatale Empfindung, so feine Bauernkleider umsonst angeschafft zu haben, bereits zurückgedrängt, und sie sagte jetzt: »Es ist wahr! Und das Weib muß Vater und Mutter verlassen und dem Manne anhängen, wie's in der Bibel heißt. Herr Lehrer, nehmen Sie die Stelle nur an, meine Tochter wird sich drein finden.« – »Es freut mich,« erwiderte Forstner, »daß Ihr so verständig seid, obwohl ich bei Euch darauf gerechnet habe.« Und in einem Ton, der halb dem Liebhaber, halb aber auch dem Lehrer angehörte, sagte er zu der Verlobten: »Folg' mir nur, liebe Christine, und gib dir Mühe zu lernen, was dir fehlt. Ich will dir alles sagen und zeigen, und in sechs Wochen wird dich kein Mensch mehr von einem Stadtmädchen unterscheiden können. Du hast die Gaben, du wirst sie unter meiner Leitung ausbilden und eine Frau werden, die mir Ehre macht.«


4.

Ein schönes Ziel, auf dessen Erreichen man sich gefreut hat, und durch das man in heiterer Einbildungskraft schon vorher beglückt war, plötzlich versinken zu sehen, ist betrübend, auch wenn sich in der Ferne ein neues erhebt, das noch erstrebenswerter scheint. Christine hatte geglaubt, in wenigen Wochen die Frau des Geliebten zu sein und in ihrem Geburtsorte, wo es allein ihren Sinn reizte, etwas zu gelten, in guten Verhältnissen und geehrt zu leben. Nun sah sie die Hochzeit verschoben und sollte dann in eine Stadt ziehen unter fremde Leute, an deren guter Meinung ihr nichts liegen konnte, wenn sie auch das Vertrauen zu sich gehabt hätte, sie zu gewinnen. Statt der Gewißheit hatte sie nur eine neue Hoffnung, die noch dazu bedeutend mit Furcht gemischt war – ein Ziel, das nur ihrem Verstande, nicht ihrem Herzen ehrenvoll erschien, und das nur durch Anstrengungen erreicht werden konnte, die ihr keine geringe Last dünkten. – Doch, so war es einmal; sie mußte sich darein fügen und dem neuen Stande der Dinge die beste Seite abzugewinnen suchen.

Zu dem in den Verhältnissen liegenden Grunde, die Trauung zu verschieben, trat in kurzem und unerwartet ein neuer: die Mutter Forstners erkrankte und starb nach wenigen Tagen. Sie hatte sich außerordentlich gefreut, daß ihr Sohn den Fuß auf eine Leiter gesetzt, auf welcher er zum Gipfel der Ehre emporsteigen konnte, und sie rühmte ihn jetzt, daß er, wenn auch mit einigen Kosten, so nützliche Bekanntschaften gemacht habe; denn er hatte ihr nicht verschwiegen, daß er seine Berufung hauptsächlich den Bemühungen seines Freundes vom Öttinger Kränzchen verdankte. War es ihr nun auch nicht vergönnt, ihn auf dem neuen Wege zu begleiten, so starb sie doch mit dem erhebenden Gedanken, ihn an der Seite einer wackeren und schönen Frau, die eigentlich sie gewählt hatte, dem städtischen Oberlehrer zugehen zu sehen. – Der alte Geistliche benutzte diese Umstände zu einer erbaulichen Rede, und die Verlobten weinten der Verstorbenen von Herzen ins Grab. Nach Verlauf weniger Tage gehörten sie freilich wieder dem Leben an und gedachten der sorgsamen Mutter gelegentlich mit Lob, aber ohne Trauer.

Der Tag, auf welchen Forstner seinen Abzug angesetzt hatte, war gekommen. Die Bauern zeigten sich bei dieser Gelegenheit freundlich und diensteifrig. Der Lehrer hatte seine Pflichten nie vernachlässigt und die Liebe der Kinder sich erhalten. In der letzten Zeit hatte unter den Eltern allerdings die Meinung um sich gegriffen, daß er eigentlich ein »leichter Passagier« sei, dem die Christine recht auf die Finger sehen dürfe. Aber der Erfolg, die Anstellung in der Stadt, überzeugte auch sie eines Besseren; sie sahen in seinem »Gelaufe« ein kluges Manöver, und der gescheite Mann stieg in der Achtung der praktischen Dorfleute. Die Kinder, in denen die bessere Unterweisung neue, feinere Gefühle ausgebildet hatte, ehrten den Lehrer durch sinnige Kränze von Herbstblumen und durch ein gemeinsames Präsent. Gaben spendeten auch wohlmeinende und vermögende Eltern, und die Nachbarn halfen den Wagen beladen, den ein reicher Bauer unentgeltlich nach dem neuen Aufenthaltsorte zu fahren sich erboten hatte. Der Abschied von den Repräsentanten der Gemeinde war freundschaftlich und herzlich, aber heiter; Forstner sollte ja wiederkommen, um das schöne Dorfkind abzuholen. – Von den Segenswünschen seiner Braut und ihrer Mutter begleitet, nach vielfachen zärtlichen Händedrücken, fuhr er aus dem Dorf unter tüchtigem Knallen der Geißel, womit der Oberknecht, der auf dem Sattelgaul saß, ihn und sich selber zu ehren suchte.

Die folgenden Tage beschäftigte sich Christine mit den ersten Zurüstungen für die Stadt. Es war ihr lieb, daß ihr noch eine Frist im Vaterhause vergönnt war, und sie ging mit einem ordentlichen Wohlgefühl darin hin und her. Über den Aufenthalt in der Stadt, der sich für sie noch vor der Trauung als nötig herausgestellt hatte, war ein fester Beschluß gefaßt. Die Glauning hatte sich erinnert, daß an dem Ort eine Frau wohne, die mit ihr einen Urgroßvater gehabt und deren Vater vom Ries dahin gezogen war. Diese, die an einen Krämer verheiratet war und ein Haus besaß, sollte Forstner aufsuchen und fragen, ob Christine nicht die kurze Zeit bei ihr wohnen könne. Die Hoffnung, eine zusagende Antwort zu bekommen und zunächst im Hause einer Verwandten leben zu können, mochte dazu beitragen, das Herz der Braut in jene Ruhe zu wiegen, mit der sie das Dorf noch recht genießen konnte.

Forstner hatte sogleich in wenigen Zeilen seine glückliche Ankunft gemeldet. Nach einer Woche kam ein neues Schreiben von ihm, ziemlich lang und sorgsam abgefaßt. Er schilderte zuerst, wie er von seinen Kollegen, von den Herren Geistlichen und Magistratsräten, bei denen er Besuche gemacht, ausnehmend freundlich und schmeichelhaft aufgenommen worden sei. Er habe sich überzeugt, das sei der Platz, wohin er gehöre, wo er Gutes wirken könne mit seinen Gaben und Kenntnissen, und wo er glücklich sein werde. Die Gespräche, die er geführt mit gebildeten Männern und Frauen, hätten ihm außerordentlich wohlgetan, und er freue sich über alles, bei ihnen zu leben und auch seine Christine in ihre Gesellschaft bringen zu können. Er schätze jeden Stand und habe gezeigt, daß er mit Leuten von jeder Klasse umzugehen wisse, aber besser sei besser; man müsse höher hinaufstreben, wenn man könne, und immer weiter und weiter zu kommen, das sei das wahre Glück. Er fühle die Kraft in sich, zu steigen, und auch die Geliebte mit sich hinaufzuheben. Sie müsse nun aber auch ihrerseits die Hand bieten und sich alle Mühe geben, seine Arbeit ihm zu erleichtern. Das Glück, das sie dort miteinander finden würden, sei so groß, daß es wohl die Anstrengungen und Opfer verdiene, die nötig sein würden, es zu erreichen. Anstrengungen müsse er seiner Braut nun allerdings zumuten, und auch ein Opfer, wenn sie's dafür ansehen wolle. Die Hochzeit noch in diesem Jahre zu feiern, wie sie zuletzt noch gemeint hätten, verbiete eigentlich schon die Trauer wegen der seligen Mutter. Allein es kämen noch zwei Gründe hinzu, die es durchaus nötig machten, daß die Trauung erst im nächsten Frühjahr stattfinde. Erstens sei ihm gesagt worden, daß er nach einer halbjährigen Amtsführung, wenn er sich als Lehrer auszeichne, eine nicht unbedeutende Zulage erhalten solle. Sei es ihm nun geraten, in der nächsten Zeit alle Kraft und allen Fleiß auf Erfüllung seiner Lehrerpflichten zu wenden, so wäre es auch gut für sie beide, die Zulage abzuwarten; denn das Leben in der Stadt sei für ein Hauswesen doch kostspieliger, als er gedacht. Dann aber sei es ebenso eine Sache, vom Dorf her nach kurzem Aufenthalt in der Stadt, wo man sich kaum darin umsehen konnte, eine Stadtfrau machen zu wollen. Er selber habe sich das leichter vorgestellt, als er es jetzt bei kaltem Blute finde. Man müsse eben noch ein anderes Benehmen lernen, man müsse sich Kenntnisse aneignen, damit man in Gesellschaft wisse, wovon die Rede sei, und selber mitsprechen könne, kurz, man müsse das Bauernmädchen abtun und sich eine gewisse Bildung erwerben. Das gehe aber nicht in einigen Wochen, dazu sei wenigstens ein halbes Jahr nötig, und da müsse man noch recht fleißig und aufmerksam sein. Seine Meinung sei nun die: Christine solle zur Base Kahl ziehen, die sie mit Vergnügen aufnehmen werde, und im nächsten Winter unter seiner Leitung alles das lernen, was zu ihrem künftigen Stande erforderlich sei. Die Kahl sei eine gute Frau, wenn es auch freilich mit ihrer Bildung nur so so stehe. Er selber hätte seiner Braut wohl gewünscht, in ein feineres Haus zu kommen; aber das sei nun eben nicht anders zu machen. – Der Brief schloß mit Liebesbeteuerungen für die Braut, mit schmeichelhaften Worten für die Mutter. Andern hätte er einen solchen Vorschlag vielleicht nicht machen können, ohne mißverstanden und verkannt zu werden; aber sie hätten bei jeder Gelegenheit Beweise von ihrer Einsicht und ihrer Klugheit gegeben; sie würden ihn verstehen und ihm recht geben.

Die Wirkung dieses Briefes war auf Christine trotzdem keine erfreuliche. Der Bräutigam sprach darin so vornehm, so von oben herab zu ihr! Die Vorstellung der Arbeiten, die sie sich zugemutet sah, lastete auf ihrem Gemüte mit verdoppelter Schwere; ihre Bangigkeit erneuerte sich und ihre Miene drückte Zagen und zugleich etwas Empfindlichkeit aus. »Da haben wir's,« rief sie am Ende. »Ich bin ihm so nicht gut genug und soll erst weiß Gott was lernen, bis er mich heiraten mag!« – Die Mutter, der die Schreibweise des künftigen Schwiegersohns auch nicht ganz gefallen hatte, obwohl sie einem »Herrn« seine eigene vornehmere Sprache zugab, hielt es doch für geraten, davon zu schweigen und sich Forstners anzunehmen. »Mir scheint's aber, daß er gar nicht unrecht hat, Christine! Er will, daß du recht hineintaugst in die Stadt, und daß du verstehst, was du als Frau Lehrerin brauchst. Er will dich gescheit und geschickt machen, und das beweist ja grad, daß er recht viel auf dich hält und ein braver, ehrlicher Mann ist.« – »Das mag sein,« erwiderte Christine etwas beruhigter; »aber er hätte mir das doch anders sagen können.« – »Eigentlich,« versetzte die Mutter, »schreibt er freilich ein wenig anders, als er früher geredet hat; aber das wird schon so sein müssen, es wird eben die Mode sein unter den Herren. Er meines gut, und das ist die Hauptsach'.«

Christine wollte das nicht bestreiten und fand sich endlich in den Vorschlag und den Willen des Verlobten. Wenn wir es gestehen sollen, so war ihr die tröstlichste Stelle in dem Briefe die, wo Forstner die Base für nicht gebildet und fein genug erklärte. Sie fühlte zu ihr gleich ein lebhaftes Zutrauen und setzte sich mit erleichtertem Herzen an den Tisch, um die Antwort abzufassen. Im wesentlichen sagte sie: Was er geschrieben, wäre ihr und der Mutter recht; sie wolle ihm folgen und fleißig sein, und hoffe dann so weit zu kommen, daß sie ihm in der Stadt keine Unehre mache. Was sie unter den jetzigen Umständen für die Stadt brauche, werde sie bald hergerichtet haben; er könne sie darum abholen, wenn er's für gut finde. – Die Mutter nahm es auf sich, die Abänderung in dem Plane der Verlobten gehörig unter die Leute zu bringen. Ihre Christine werde erst im Frühjahre heiraten, was für Herrn Forstner und sie ein großer Vorteil sei; aber sie werde jetzt schon in die Stadt ziehen und was Ordentliches lernen, damit sie dort eine rechte Frau machen könne.

Eines Vormittags in der ersten Woche des November kam Forstner in einer Kutsche angefahren. Er war bei der ersten Begrüßung etwas ernst; es schien, als ob das Dorfmäßige der Wohnung und Kleidung schon etwas Befremdendes für ihn erhalten hätte. Bald aber taute er auf und war wieder der alte. Christine, die sich zu seinem Empfang geputzt hatte und ihm aufwartete, sah in ihrem wirklichen Eifer so frisch und anmutig aus! Sein Puls ging rascher, als er sie an seine Seite niederzog und betrachtete. Was konnte er sich Schöneres wünschen, als dieses Mädchen sein zu nennen? Er liebte sie, und wenn er sie noch so weit zu bringen vermochte, daß sie ihn und sich in seiner nunmehrigen Stellung nicht durch Unwissenheit und Dorfmanieren bloßstellte – war er nicht der glücklichste Ehemann? – Die Furcht vor dem Lächerlichen, wir können es nicht leugnen, war groß in dem jetzigen Stadtlehrer. Sein Trieb, in Gesellschaft zu glänzen, hatte sich nach Maßgabe seiner Erfolge in ihm ausgebildet, und in gleichem Verhältnis war auch die Besorgnis gewachsen, in Gesellschaft zu mißfallen oder ein Gegenstand des Bedauerns zu werden. Wie bedrückend war für ihn der Gedanke, daß das, was er gut machte, durch seine Frau vielleicht wieder verdorben würde! Doch jetzt wich jeder Zweifel zurück im Anschauen des liebenswerten Mädchens. Das Herz ging ihm auf, er glaubte an sie und traute ihr alles zu. Er ward fröhlich und guter Dinge, scherzte nach alter Sitte und machte Mutter und Tochter fröhlich.

Um die Mittagszeit war alles zur Abfahrt bereit. Als Christine von der Mutter, vom väterlichen Hause und vom Dorfe Abschied nehmen sollte, da ward es ihr doch wieder sehr ernst zumute. Sie fühlte, was sie tat und wagte, und ihr Herz klopfte in bängeren Schlägen. Die Mutter hatte sie und den Verlobten würdig ermahnt und feierliche Gegenversicherungen erhalten; das war tröstlich, als sie noch beisammensaßen. Draußen im Hof, unter dem grauen Himmel, in der frostigen Luft, wo ihr noch einige Freundinnen »b'hüt dich Gott« sagten, um dann auf die Gasse hinaus oder heimzugehen, erhielt die Furcht in dem Dorfkinde wieder die Oberhand: Der gute Hans, der schon beim Einpacken behilflich gewesen, hatte noch eben eine Kiste mit Stricken auf der Kutsche festgebunden. Sie trat zu ihm, gab ihm die Hand und dankte mit etwas unsicherer Stimme, aber um so herzlicher für all die Freundschaft, die er ihr und ihrer Mutter bewiesen habe. Hans erwiderte mit ernsthaftem Gesicht: was er getan habe, das hab' er gern getan, und er wünsche ihr jetzt alles Glück und Wohlergehen. – In solchen Momenten leben alte Gedanken und Gefühle wieder auf; die Seele wird heller, und was völlig abgetan schien, steht in klarem Lichte vor ihr. Christine hielt die Hand des Wackeren fest und drückte sie; denn nicht nur die Liebe, auch der gerührte Dank, auch die Hochschätzung muß sich in Äußerungen der Zärtlichkeit genugtun. Ihre Augen wurden feucht, und wie sie ihn damit ansah, hätte er wohl eine Abbitte darin lesen können. Ohne Zweifel verstand er sie. Eine leise Andeutung von gutmütig wehmütigem Lächeln ging über seine ernsten Züge; er schüttelte ihr kräftig und treuherzig die Hand, als wollte er sagen: »laß das gehen,« und wünschte ihr nochmal wohl zu leben. – Ein paar Minuten später, und Christine saß in ihrem Dorfgewand, aber in einen Mantel gehüllt und um den Kopf ein weißes Tuch gebunden, neben dem Verlobten im Wagen, der, von trabenden Rossen gezogen, aus dem Dorfe rollte.

Eine seltsame Reihe von Empfindungen zog durch das erweichte Herz des Mädchens. Trauernde und sorgende, hoffende und freudige tauchten abwechselnd auf, bis die Seele nach und nach ruhig wurde und in dem einen Gefühl der Ergebung die übrigen versanken. Sie machte eine eigene Erfahrung an diesem Tage: das Zusammensein mit dem Geliebten kam ihr nicht so schön vor, wie sie sich's früher gedacht. Mit der Ruhe kam aber die Empfänglichkeit für die aufmunternden und schmeichelnden Worte des Bräutigams wieder in ihr Gemüt, und endlich saß sie vergnügt an der Seite des Vergnügten.

Es war in der Abenddämmerung, als das Ziel ihrer Fahrt, die Stadt, vor ihnen lag. Diese gewährte in der guten Jahreszeit einen freundlichen und hübschen Anblick: jetzt sah sie aus wie eben eine Landstadt im Spätherbst, und der guten Christine kam sie recht fremd vor. – Die Kutsche rollte durch das Tor in die Hauptstraße, lenkte bald in eine Seitengasse ein, die zu den engen und düsteren gehörte, und hielt vor einem schmalen zweistöckigen Hause. Eine Frau in den Fünfzigen kam heraus, hob Christine grüßend aus dem Wagen und führte sie in die Stube zu ebener Erde. Sie war bei der Base Kahl.

Herr Kahl war ein Kleinhändler, dessen Geschäft seit dem Auftreten eines reicheren und praktischeren Konkurrenten in Abnahme gekommen war, und der nun, anstatt sich ebenfalls besser umzutun, lieber ergeben den alten Schlendrian fortführte und seinen Haushalt einschränkte. Er wohnte mit seiner Frau und einer Magd, die auch im Laden aushelfen mußte, allein in dem Hause, und weder die kleine Familie, noch die Stube, in der sie sich mittags und abends zusammenfand, konnte den Eindruck des Wohlhäbigen machen. Es waren – die gleichfalls in gewissen Jahren befindliche Magd mit eingeschlossen – längliche, hagere Gestalten, die in ihrem ganzen Wesen etwas Kümmerliches hatten. Dies war ihnen freilich schon zur Gewohnheit geworden und erschien durch mehrjährige Übung gemildert; allein ihr Anblick hatte damit noch nichts Vertraueneinflößendes gewonnen. Gutmütig in gewissem Sinn waren die alten Leute; sie konnten sich auch freuen über kleine Wendungen zum Besseren und einzelne glückliche Zufälle, und so spannen sie ihr Leben am Ende doch erträglich weiter.

Christine erhielt die Stube im ersten Stock, bisher eine Art von Prunkzimmer der Familie, nebst einem Schlafkämmerchen. Ein kleiner irdener Ofen, altes Möbelwerk und einige Bilder an der Wand zierten das zweifenstrige Gemach, jedenfalls das beste im Hause. Unter andern altmodischen Bildern sahen aber die Porträts der Hausleute, in ihrer Jugend von einem Anfänger gemalt, so trübselig von der Wand, als ob die Originale schon eine Ahnung gehabt hätten, daß sie zu besonderem Glück im Leben nicht bestimmt waren. Als der Ofen nach langem Feiern und Frieren geheizt wurde, begann er tüchtig zu rauchen; die Fenster mußten aufgerissen werden, und erst nach und nach brachte man in dem frostgewohnten Raum einige Wärme zuwege. Die ersten Eindrücke, die Christine in dem Hause erhielt, waren keineswegs angenehm.

In dem Vertrauen, das sie auf die Base gesetzt hatte, fand sie sich aber nicht getäuscht. Frau Kahl, abgesehen von ihrer verhältnismäßigen Gutmütigkeit, hatte auch alle Ursache, gegen das Bäschen gefällig zu sein: diese zahlte Kost und Logis, wenn auch zu mäßigem Preis, und vergrößerte so das geringe Einkommen. Dann aber war sie die Braut des Herrn Forstner, der auch hier schon ein Gegenstand des Anerkennens und Rühmens geworden war. Aus diesen Gründen war die Base freundlicher und rücksichtsvoller gegen sie als die seit Jahren im Hause mitregierende Magd, der es hart anzukommen schien, von einer in Bauernkleidern gekommenen und sich gar nicht auskennenden jungen Person etwas zu halten und gegen sie zu tun, als ob sie etwas wäre. – Der sechzigjährige Vetter bezeigte sich freundlich und höflich, aber ohne sonderlichen Eifer, dessen er überhaupt nicht fähig war. Mit ihm hatte Christine wenig zu tun. Den Tag über war er in seinem Laden, beim Mittagessen schwieg er und nach dem Abendessen duselte er in seinem Sorgenstuhl ein.

Als die neue Hausgenossin sich so gut, als es anging, eingerichtet hatte, war es ihre nächste Aufgabe, sich städtische Gewandung zu verschaffen. Ein Alltagskleid war bald besorgt und das Anprobieren desselben das erste wichtige Ereignis in dem neuen Leben der Lehrersbraut. Die Base half ihr dabei und hoffte, daß sie in dem schöneren Anzug bedeutend hübscher und vornehmer aussehen würde. Allein zu ihrer Überraschung mußte sie die Fertige viel weniger hübsch finden als vorher. Natürlich sagte sie das nicht und strich und zupfte um so emsiger das Gewand zurecht, in der Hoffnung, es möchte noch werden. Die Hoffnung erfüllte sich aber nicht und der Grund war klar. Abgesehen davon, daß Christine das ungewohnte Kleid nicht zu tragen verstand, war auch ihre Gestalt nicht dafür geschaffen. Ihr Wuchs, der sich im Bauerngewand stattlich ausnahm und von dem nichts hinwegzuwünschen war, hatte im städtischen Anzug denn doch etwas einigermaßen Unzierliches und Schwerfälliges, eine boshafte Städterin hätte sagen können Plumpes. Als Frau Kahl sie von oben bis unten betrachtet hatte und ein Lob unmöglich über ihre Lippen bringen konnte, machte sie in der Verlegenheit des Augenblicks das Kleid verantwortlich, das nicht gut geraten sei und geändert werden müsse. Aber die Magd, Susanne, die auch herzugekommen war und sich an dem Anblick weidete, bemerkte mit entsprechendem Ausdruck: »Am Kleid liegt der Fehler nicht.« – Auf dem Tisch lag noch ein Hut, den Frau Kahl erst gestern gekauft hatte, ganz neu und neumodisch. Vielleicht daß er, den schönen Kopf zierend, eine günstige Veränderung im ganzen bewirkte. Sie setzte ihn darauf – und sah sich aufs neue enttäuscht! Das Gesicht, im Rieser Käppchen so hübsch rund und so reizend, erschien im Hut zu voll. Christine, die zu merken anfing, welchen Eindruck sie hervorbrachte, wurde befangen, das Blut stieg ihr ins Gesicht, und dieses konnte dadurch weder an Rundung ab-, noch an Feinheit zunehmen. Zu allem Unglück war die Temperatur in der Stube seit dem frühen Morgen bedeutend gesunken, und indem die Röte der etwas frierenden Christine eine bläuliche Farbe gewann, vollendete sich die Tücke des schlimmen Tages.

Wie sie so dastand und nicht wußte, was sie sagen oder tun sollte, ging die Tür auf und Forstner trat herein. Er kam zufällig, das Unternehmen des Tages war ihm unbekannt. Als er die Verlobte in dem langen Kleide sah, war er betroffen und betrachtete sie einen Moment schweigend. Dann rief er mit einem Lächeln, das nicht ganz hinreichte, einen gewissen verlegenen Ernst zu decken: »Wie siehst du aus, Christine! Man kennt dich gar nicht mehr! So – so vornehm!« Christine versuchte zu lächeln und sagte mit etwas verzogenem Munde: »Nun – gefall' ich dir nicht?« – »O freilich,« erwiderte der Verlobte, der vor der Base und der Magd geraten fand, seine und ihre Würde zu wahren. »Aber man ist's nicht an dir gewohnt und darum fällt's einem auf. Nun, aller Anfang ist schwer; das wissen wir Lehrer. Mit der Zeit wirst du's tragen wie eine Städterin und uns wird's dann sein, als ob wir dich nie anders gesehen hätten.« – »Ja freilich,« bemerkte die Base, die froh war, daß der Bräutigam ihr zu Hilfe kam; »es ist ja kein Hexenwerk!« – Die Magd, die unbeachtet in einer Ecke stand, schüttelte den Kopf und verließ die Stube. Auf der Stiege sagte sie zu sich: »Das wird nie eine Frau für diesen Mann!«

Forstner hatte Christine nicht sogleich anstrengen wollen und sie bisher nur besucht, um sie zu grüßen und zu unterhalten. Allein die Zeit war kostbar, und endlich mußte mit der Erziehung, die er ihr zudachte, vorgeschritten werden. Nachdem auch die Base sich entfernt, setzte sich das Paar auf einem kleinen Kanapee zusammen, und der Verlobte entwickelte ihr den Plan, nach welchem sie die fehlende Bildung nachholen sollte. Da er unter Tags in der Schule und mit Privatstunden beschäftigt war, so wollte er womöglich jeden Abend zu ihr kommen und sie unterrichten. Sie sollte Lesen, Schreiben und Rechnen nachüben und sich der Orthographie und der hochdeutschen Aussprache befleißigen. Geographie und Geschichte konnte ihr nicht erlassen werden; denn der Frau eines Lehrers mußte wenigstens bis zu einem gewissen Grade bekannt sein, was es mit der Erde für eine Bewandtnis habe und wie es dem Menschengeschlecht bis jetzt darauf ergangen sei. Wie leicht konnte in Gesellschaft die Rede darauf kommen und sie ihn, wenn sie aus Unwissenheit fragte oder gar mitreden wollte, in peinliche Verlegenheit bringen! – Dann mußte sie gute Bücher lesen lernen, die Geist und Herz veredeln und Stoff bieten zu geselliger Unterhaltung. – War sie nicht jung und hatte sie ihm nicht schon Beweise gegeben von ihrem offenbaren Verstande? Wenn er sie nur erst eingeführt in den Garten des Wissens, dann sollte sie schon Geschmack daran finden und selber darin herumwandeln und an Blüten und Früchten sich ergötzen. – Als er ihr das alles auseinandersetzte, geriet er in einen Eifer des Lehrers und malte ihr die künftigen Herrlichkeiten so schön vor, als ob sie schon da wären. Christine aber dachte: »Gott, wie wird das alles in meinen Kopf gehen!«

Forstner stand auf, Abschied zu nehmen. Als er die Verlobte in dem langen Kleide noch einmal betrachtete (den Hut hatte sie glücklicherweise schon abgelegt), konnte er doch nicht umhin, aufs neue bedenklich zu werden. Der Anzug kleidete sie gar zu wenig! Die Gestalt war von städtischer Zierlichkeit gar zu weit entfernt, und es drängte sich ihm das Gefühl auf, daß Christine doch wohl nie eine feine Frau werden möchte. Die Zufriedenheit, ja alle Munterkeit war aus seinen Mienen gewichen; er sah ernst und befangen für sich hin. Christine erriet oder ahnte seine Gedanken und stand halb niedergedrückt, halb empfindlich vor ihm, den Blick zu Boden gesenkt. Es war einer von jenen schlimmen Augenblicken, wo man die Empfindung, die man schweigend verbergen wollte, in ihrer ganzen fatalen Realität sich gegenseitig aus der Seele liest. Endlich nahm sich Forstner zusammen; er gab ihr die Hand, sah sie freundlich, wo nicht zärtlich an und drückte einen Kuß auf ihre Lippen, die auch in der gegenwärtigen ungünstigen Situation ihren Reiz nicht verloren hatten. Das Mädchen wurde rot und die Freude glänzte wieder aus ihr; sie blickte ihn so schön und so lieb an, wie nur jemals früher in ländlicher Unbefangenheit. Ihres Anblicks froh, empfahl er ihr noch zwei Bücher, die er mitgebracht hatte, als unterhaltend zum ersten Leseversuch, und verabschiedete sich.

Das Leben des Mädchens hatte bald in jeder Beziehung seine Ordnung und Methode. Einen Teil des Tages verbrachte sie bei der Base und half ihr kochen und sonstige Hausarbeit verrichten. In der Kochkunst viel zu lernen, war bei Frau Kahl nicht die Gelegenheit; denn die Speisen, die sie bereitete, waren sehr einfach, und eine große Abwechselung fand nicht statt. Auch wollte Christine finden, daß die städtische Kost, obwohl öfter Fleisch auf den Tisch kam als bei ihr zu Hause, doch nicht so nahrhaft und wohlschmeckend sei, und namentlich zu viel an Butter und Schmalz gespart würde. – Eine oder zwei Stunden täglich wurden von weiblicher Arbeit in Anspruch genommen. Hier sollte sich das Dorfkind, die in ihrer Weise ganz gut nähen und stricken, sogar ein wenig schneidern konnte, die feineren Künste zu eigen machen, und zwar unter der Leitung einer Verwandten des Vetters Kahl, die sich erboten hatte, sich ihrer anzunehmen und sie so weit zu bringen, als es bei einer Person, die unter Bauersleuten aufgewachsen sei, eben ginge. Diese Verwandte führte den romantischen Namen Adelheid, hatte aber trotzdem keinen Mann bekommen und schuf sich dafür einen geistigen Ersatz in Geltendmachung ihrer Überlegenheit und in stolzem Verziehen der Oberlippe, die im Verlauf der Zeit einen Ausdruck männlicher Autorität gewonnen hatte und auch mit einem entsprechenden Fläumchen geziert war. Daß diese Stunden für Christine nicht die angenehmsten waren, errät man; allein sie mußte die Unterweisung, die Mamsell Adelheid ihr bot, doch mit Dank aufnehmen und durch Fleiß, durch Aufmerksamkeit und namentlich auch durch Bescheidenheit zu verdienen suchen. Was an Zeit noch übrig blieb, war auf Erledigung der Aufgaben zu verwenden, die Forstner ihr gegeben hatte.

Dieser begann seinen Unterricht mit der praktischen Klugheit, die uns an ihm nicht unbekannt ist. Die ersten Stunden wurden mehr mit Unterhaltung ausgefüllt; das Verfahren war darauf berechnet, das Mädchen zu erheitern und ihre Neu- und Wißbegierde zu reizen. Nach und nach mußten die Zügel freilich straffer angezogen werden. Die Wißbegierde wollte sich eben in Christine keineswegs in der Stärke einfinden, die der Verlobte wünschen mußte. Das gute Mädchen hatte mehr einen Hang, sich mit dem, was sie wußte, zu begnügen, als einen Drang, den Schatz ihrer Kenntnisse zu vermehren. Sie konnte nicht einsehen, was es z. B. nütze zu wissen, daß die Hauptstadt von Preußen Berlin heiße, und zu was es gut sei, mehr alte Römer kennen zu lernen als den Landpfleger Pontius Pilatus. Sie war daher manchmal zerstreut, dachte an andere, ihr näherliegende Gegenstände, und hatte, was der Lehrer ihr mit lebhaftem Eifer gesagt, öfters gar nicht gehört, viel weniger verstanden. Sie offenbarte ein eigentümliches Talent, das, was sie schon gelernt, mindestens nachgesprochen hatte, wieder zu vergessen, und bei Dingen, die er als bekannt voraussetzen zu können glaubte, dreinzusehen, als ob sie nie eine Silbe davon gehört hätte. Daß nun auch der Lehrer ärgerlich wurde, und daß es ihn zuweilen sehr hart ankam, in den Grenzen der Höflichkeit zu bleiben, begreift sich. Eine Zeitlang nahm er sich zusammen, und wenn er hitzig wurde und die Verlobte einigermaßen verletzt schien, legte er als Balsam gleich wieder sanfte Worte auf. Rief er einmal strafend: »Wie ungeschickt!« oder: »Das hast du ja schon gewußt! – wo sind denn deine Gedanken?« – und errötete sie dann und sah gedemütigt zu Boden, dann tröstete er sie: es komme nur darauf an, die ersten Schwierigkeiten zu besiegen und mehr Freude an der Sache zu finden; sie solle nur den Mut nicht verlieren, und dergleichen. Wie nun aber diese Freude sich nicht einstellte und die alten Fehler wiederkehrten, fand er's doch für geraten, bei den strafenden Worten zu bleiben und ihr aus einem Schamgefühl nicht herauszuhelfen, das so wohl verdient schien. Es entfuhren ihm zuweilen Ausrufungen wie: »Gott, was ist das für ein Kopf!« oder: »Das ist ja zum Verzweifeln!« – und er versetzte damit dem Selbstgefühl des Mädchens einen Schlag, der um so weher tat, als er früher ja ganz anders gesprochen hatte. – Nach solchen Äußerungen mußte er freilich wieder einlenken; aber er tat es nicht mehr in sanften Worten, sondern erklärte, es tue ihm leid, so zu reden, aber es sei seine Pflicht, die Sache mit mehr Ernst und Strenge anzugreifen, da sie mit ihrer Langsamkeit und Zerstreuung sonst zu gar nichts kommen würde. Was er tue, geschehe zu ihrem Besten und nur aus Liebe.

Das mochte alles ganz wahr sein, aber auf Christine konnte es keinen erfreulichen Eindruck machen. Wenn Forstner als Liebhaber in ihre Stube trat, sah sie diesen gar zu bald durch den Lehrer beeinträchtigt; nach und nach wurde er ganz zum Hofmeister, und sie konnte von Glück sagen, wenn der Liebhaber wenigstens beim Abschied wieder zum Vorschein kam.

Die Gute mußte endlich einsehen, daß sie wieder ganz zum Schulkinde geworden war und die Leiden eines solchen zu erdulden hatte, ohne den frohen und leichten Jugendmut zu besitzen, der alles Unangenehme schnell wieder abwirft. Sie war gehofmeistert von Mamsell Adelheid, gehofmeistert von ihrem Bräutigam, und oft schien es ihr, als wäre dieser schlimmer wie jene. Das Fatale dabei war: sie konnte die Bande, wie schwer sie auf ihr lasteten, nicht abwerfen, nicht einmal an ihnen rütteln; sie mußte das Joch tragen und damit weitergehen. – Erholung und Unterhaltung war ihr wenig geboten; denn außer den uns bekannten Persönlichkeiten hatte sie keinen Umgang, da sie ja durch diese zu weiterem erst befähigt werden sollte. Wenn sie sich nun an einem grauen, kalten Tage in ihrer Stube mit ihren Aufgaben beschäftigen wollte, aber durchaus keine Lust dazu verspürte und Buch und Papier weglegte, um für sich hinzustarren, dann begann es ihr endlich »and zu tun« nach der Heimat, und dieses Gefühl wurde stärker und stärker. Sie kam sich recht einsam, recht verlassen vor und hatte zuletzt eine Anwandlung von der Empfindung, die man im Ries mit dem Worte »verzwazeln« (verzweifeln, vergehen) bezeichnet. Aber sie durfte von diesem eigenen Leide niemand etwas sagen. Auch der Mutter mußte sie schreiben, daß es ihr wohl gehe, und daß sie recht gern hier sei.

Endlich kam der Tag, der wohl zu der Hoffnung berechtigen konnte, daß er ihr Freude bringen und wieder Mut und Zuversicht einflößen werde. Der städtische Sonntagsanzug, den man bald nach ihrer Ankunft für sie bestellt hatte, war fertig geworden. Man hatte nichts gespart, ihn so hübsch und glänzend herzustellen, als es bei ihr nur immer anging. Alles hatte seinen Rat dazu gegeben und das Kleid war von den geschicktesten Händen gefertigt, die man in der Stadt finden konnte. Frau Kahl, der es eine Ehrensache geworden war, das Dorfbäschen in eine Städterin umzuwandeln, hatte sich am eifrigsten dabei umgetan; sie hoffte besonders auch eine gute Wirkung auf das Gemüt der Verwandten, an der sie ein scheueres und gedrückteres Wesen zu ihrem großen Bedauern wahrgenommen hatte. Kleider machen Leute, das ist ein gutes altes Sprichwort, und mit einem feineren Anzug pflegt in gar viele Menschen auch ein höherer Geist zu fahren. Sollte sich das nicht auch an Christine bewähren? – Als diese an dem festlichen Morgen unter Beihilfe der Base und der Mamsell Adelheid fertig geworden war und dastand im dunkeln Merinokleide, seidenen Halstuch, samtenen Hut und glänzend gewichsten Schuhen, wurde sie von den Richterinnen ernst und aufmerksam geprüft. Beide gingen hin und her und betrachteten sie von allen Seiten. Seltsames Mißgeschick! Die Erscheinungen beim ersten Probieren des Alltagskleides wiederholten sich. Die Stoffe taten ihre Wirkung, die Gestalt war aber durch sie um nichts feiner und zierlicher geworden, sie schien allen Verwandlungsversuchen widerstehen zu wollen, »s' ist eben eine maskierte Bäuerin,« dachte Mamsell Adelheid, und die Base wußte gar nicht, was sie denken sollte.

Am ungefügigsten erwiesen sich zuletzt noch die Hände des Landmädchens. Daß die Bauernarbeit wie jede andere die gleiche Anstrengung mit sich führt, die Glieder mächtiger und stärker entwickelt, weiß jeder. Ein Dorfkind bringt in der Regel die Anlage zu tüchtigen Fingern schon von den Eltern mit, und die Ausbildung wird durch Rechen, Sichel und Dreschflegel entsprechend gefördert. Die Haut wird auf der einen Seite hart, auf der andern erhält sie eine rötlich-bräunliche Färbung, und die Dorfhand ist fertig. In ihrer Heimat wird sie so gerade geschätzt; sie deutet auf Arbeit und Arbeitsfähigkeit – die Ehre der Landleute – und paßt zum ländlichen Anzuge. Ein schönes Mädchen weiß damit zu schmeicheln, so gut wie eine Städterin mit ihren zierlichen Fingern, und der Druck der Liebe soll unter dieser Voraussetzung um nichts weniger süß und angenehm sein. Aber alles hat in der Welt seinen natürlichen Platz, und wenn es diesen verläßt, wird das Passende unpassend. Die Hände unserer Christine gehörten auf dem Dorfe noch nicht zu den stärksten; in der Stadt und für den städtischen Anzug erschienen sie nun doch viel zu entwickelt, und dies stellte sich aufs klarste heraus, als die neugekauften Handschuhe darübergezogen werden sollten. Sie erwiesen sich zu klein und drohten zu platzen; man mußte in den Laden schicken und Männerhandschuhe der größten Art bringen lassen. Diese reichten endlich zu; aber den Händen, die mit ihnen bedeckt waren, Beifall zu spenden, das war auch der wohlmeinenden Richterin eine Sache der Unmöglichkeit.

Nach erneuter Prüfung gewann es Frau Kahl zuletzt über sich, das Bäschen mit Anerkennung aufzumuntern und zu bemerken, das Kleid stehe ihr diesmal schon viel besser und sie könne sich sehr wohl damit sehen lassen. Mamsell Adelheid schwieg; sie konnte eine gewisse Schadenfreude in ihrem gelblichen und scharfen Antlitz nicht unterdrücken und sagte zuletzt, für den Anfang sei es gut genug; man dürfe von einem Mädchen, die im Dorf groß geworden sei, gar nicht verlangen, daß sie ein solches Gewand gleich zu tragen verstehe, wie sich's gehöre. – Christine, durch alles das betroffen und irre gemacht, besah sich im Spiegel, prüfte sich hin und her und gefiel sich selbst nicht. Sie gehörte nicht zu den Einfältigen, das Dorfkind, und ließ sich nicht von den prächtigen Stoffen blenden; sie hatte ein Augenmaß und überzeugte sich, daß ihr der ganze Kram nicht zu Gesicht stehe. Ihre Freude – denn sie hatte sich doch auf die schönen Sachen gefreut – war zu Wasser geworden.

Eben hatte die Base wieder eine ermutigende Bemerkung angefangen, als der Verlobte in die Stube trat – diesmal nicht zufällig. Es war verabredet, daß er die Braut besuchen und sie mit Frau Kahl in die Kirche führen solle. An der Tür stehend und nur den schönen neuen Anzug im Auge, stieß er ein fröhliches »Ah, wie schön!« aus. Als er näher trat und die Geputzte genauer betrachtete, wurde er ernst und ernster, und es war ihm unmöglich, in dem begonnenen Tone fortzufahren. Die Hände waren ihm nie so groß vorgekommen als in den feinen Handschuhen; aus dem Gesicht im Samthut schien aller Geist, alle Anmut geflohen zu fein. Die Eitelkeit des jungen Mannes, der sich eine Frau wünschte, mit der er prunken konnte, war erschreckt und sah den unerfreulichen Tatbestand noch dazu mit übertreibenden Augen. Christine sagte sich augenblicklich: »Ich gefalle ihm wieder nicht, gar nicht – und das ist kein Wunder!« Als der Verlobte sich endlich mit Anstrengung zusammennahm und seine Verlegenheit hinter Worte des Lobes und der Verwunderung verbergen wollte, die ihm aber durchaus nicht von Herzen gingen und auf dem Gesicht der Mamsell Adelheid nur ein boshaftes Lächeln hervorriefen, da hatte das arme Kind eine wahrhaft peinliche Empfindung. Sie versetzte mit dem Ernst der Ehrlichkeit: er möge sie doch mit solchen Reden verschonen, sie wisse recht gut, daß ihr dieses Kleid nicht anstehe und immer noch das Bauernmädchen aus ihm herausschaue. Aber das sei nun einmal so, und sie könnte sich nicht anders machen, als sie wäre.

Sehr verstimmt trat man den Weg zur Kirche an. Als in der Hauptstraße ein Herr und zwei Frauenzimmer daherkamen, die den Lehrer grüßten und, auf Christine blickend, heitere Mienen zeigten, war es ihm, als ob er auf Nadeln ginge. Er wurde schamrot wie ein Mädchen, dankte hastig, ging rascher und verabschiedete sich vor dem Kirchentore von Christine mit dem Gefühl wahrer Erleichterung. Für sie hatte die niederdrückende Erfahrung, die der eilige Abschied des Bräutigams noch vervollständigte, das Gute, daß sie im Gotteshause Trost suchte und der Predigt, die ihrer Lage entsprach und an sie gerichtet schien, von Anfang bis zu Ende folgte. Es war dies das erste Mal in ihrem Leben; aber Not lehrt beten und öffnet das Verständnis für Aussprüche, die früher nur als leere Klänge am Ohr vorüberzogen. Ihre Anstrengung belohnte sich auch, sie kam getrösteter und ruhiger nach Hause.

Indem ich das Verhalten und die Schicksale Christines der Wahrheit gemäß schildere, bin ich weit entfernt, eine Theorie aufstellen und etwa lehren zu wollen, ein Dorfmädchen passe in die Stadt und für einen Städter überhaupt nicht, die geborene Bäuerin könne nur mit einem Bauer glücklich sein und die Verpflanzung in eine höhere Schichte der Gesellschaft niemals gelingen. Das wäre falsch und würde namentlich auch im Ries durch gelungene Versuche widerlegt. Es kommt hier, wie sich von selber versteht, auf den Geist und das Naturell des Mädchens an. Ist diese begabt, strebsam und sehnt sie sich höher hinauf, so wird sie als Braut und als Frau eines gebildeten Mannes gar bald die Kultur annehmen, die von ihr gefordert werden kann; denn eine Pariserin braucht sie ja in einer deutschen Kleinstadt nicht zu werden.

Unsere Christine gehörte aber nicht zu den Strebenden. Sie war für das Dorf geboren, und nur hier konnte sie wahrhaft glücklich werden. Auf ihre Phantasie wirkte mehr der Reiz des Hergebrachten als des Neuen, mehr die Poesie des eigenen als des anderen. In dem Kreise des Dorfes selber fortzuschreiten, aus einer Söldnerstochter eine angesehene Bäuerin zu werden, das war ihr Ehrgeiz, ihr erster und schönster Traum gewesen. Bei Forstner war es mehr die hübsche und einschmeichelnde Persönlichkeit, die sie bestrickte, als der Lehrer und »Herr«; und wenn der Gedanke ihr angenehm war, Frau Lehrerin zu werden, so war es eben nur unter der Voraussetzung, daß sie es auf dem Dorfe, ja in ihrem Geburtsort würde und damit in ihrer Art zu der Höhe der ersten Frauen darin hinaufrückte. Der Titel einer städtischen Frau Oberlehrerin blendete sie nur mit flüchtigem Reiz, mit einem Schein, der bei näherer Betrachtung nicht standhalten konnte. Ihr angeborener Trieb führte die Seele wieder und wieder zum Dorfe, zur Stätte des Jugendglücks, zur Heimlichkeit der Heimat zurück.

Christine liebte die Rieser Tracht, fand sie schön und zierend, und sie hatte alle Ursache dazu, denn ihr stand sie vortrefflich. Sie hatte etwas von der Gesinnung in sich, die ehedem verbreiteter war als jetzt, aber sich gewiß noch nicht ganz verloren hat; ich meine die Gesinnung, in welcher der Bauer seinen Stand eigentlich für den ehrenvollsten, seine Kleidung für die schönste hält, und die Herren und Herrenfrauen, die in der Stadt leben und französische Kleider tragen müssen, nicht nur für weniger begünstigt ansehen, sondern geradezu bedauern kann. Schreiber dieses erinnert sich, in seiner Jugend von wohlhäbigen Landmädchen mehrfach spöttische Bemerkungen über Städterinnen gehört zu haben, die nur dem Stande und Gewande galten und mit behaglicher Sicherheit, ohne alle Bosheit, abgegeben wurden. »So eine Langrockete,« hieß es von dem Stiefkinde der Verhältnisse, das mit dem Flecken reizloser und unsolider Tracht behaftet war. Eine geborene Wallersteinerin, Tochter eines angesehenen Bürgers und von mütterlicher Seite mit einer jungen Bäuerin verwandt, besuchte diese einmal zur Kirchweih und gewann in fröhlichem Gespräch bald ihr Herz. Die Bäuerin freute sich ihrer und sagte endlich: »Du bist a braves und a lieb's Mädle – wann d'nor oh (auch) andere Kloëder a'hättst!« – »Warum das?« fragte die Wallersteinerin. Und sie erhielt zur Antwort: »'s ist halt nex mit dem Häs (Kleidung) doh, und wo ma' he'kommt, ist ma' halt veracht!« – Diese Äußerung kam dem heiteren Mädchen sehr ergötzlich vor, und noch als ältere Frau pflegte sie die Anekdote zur Charakteristik des Rieser Landvolks und zur Belustigung städtischer Hörer zu erzählen. Allein die Gesinnung, aus der solche Äußerungen hervorgehen, ist doch eine höchst respektable Quelle von Glück in der Welt. Es ist der frohe Glaube an den Wert dessen, was man hat und ist, das Erfülltsein von Liebe zu der hergebrachten Art und Sitte – der Grund der Zufriedenheit und Beständigkeit im Leben.

In Christine lebte etwas von diesem Glauben und dieser Liebe und trat in den gegenwärtigen Verhältnissen, die freilich nicht danach angetan waren, mit ihren Erinnerungen in die Schranken zu treten, zuweilen mit größter Stärke hervor. Doch sie durfte sich dem Zuge nach dieser Seite nicht hingeben, sie mußte ihn bekämpfen, mußte streben und lernen, mußte sich bemühen, eine andere zu werden und städtische Sitten lieb zu gewinnen.

Die Erziehung eines Mädchens wie Christine und ihre Angewöhnung in der Stadt, sollte man glauben, hätte unter den geschilderten Umständen dennoch, wenn auch langsam, fortschreiten müssen, da es ja doch immer der Bräutigam war, der die Braut erzog, und manchmal die Liebe, die beide zusammengeführt hatte, zwar getrübt, keineswegs ausgelöscht war. Allerdings; aber die Liebe des Bräutigams und der Entschluß, die gelobte Treue zu bewahren, hatten nun eben den Vorsatz gefaßt, gegen den Zögling sich in konsequentester Strenge zu beweisen. Die Zeit verstrich und Christine mußte bis zum Frühjahr wenigstens so weit gebracht werden, daß sie als Frau seiner nicht ganz unwürdig war. Er mußte sie zwingen, sich Mühe zu geben und ihren Geist auszubilden. War dieser entwickelt, dann sollte das übrige schon nachfolgen, und der nötige Anstand ergab sich von selber. – Durch diese herbe und unter Umständen züchtigende Liebe des Bräutigams wurde die Liebe der Braut auf die schwerste Probe gestellt. Es blieb eben auch nicht bei dem Ernst, hinter dem eine Liebe regiert, die gut und konsequent ist. Dieser wäre es endlich wohl gelungen, das Ziel zu erreichen und ihre Bemühungen gekrönt zu sehen; aber Forstner war in einer Gemütslage, wo ihm nichts rasch genug ging; er wollte, aufgeregt und ungeduldig, die Frucht haben, bevor sie reifen konnte, und wiederkehrende Fehler der Schülerin entrissen ihm nun bei schon angesammeltem Verdruß Äußerungen, die er zwar immer noch für wohlverdient hielt, Christine aber nur als wahre Beleidigungen aufnehmen konnte. Es gab Auftritte zwischen dem Liebespaar und Stunden, ja Tage des Trutzens. Versöhnte man sich wieder und tat man das Gelübde, sich nie, nie wieder zu kränken, so war dem Frieden die Dauer so wenig verbürgt wie andern, die auch auf ewige Zeiten abgeschlossen werden. – Gegen die ernsten Mahnungen Forstners konnte und wollte Christine nichts einwenden. Sie faßte den Entschluß, sich Mühe zu geben, und sie gab sich Mühe; aber Lust und Liebe zur Sache konnte sie sich nicht geben, und unter den geschilderten Umständen konnten diese auch nicht in ihr keimen und wachsen. Alles, was gegen die Natur verlangt wird, alles, was vor der Zeit fertig sein soll, gewinnt aber in der Seele den Charakter einer unerträglichen Last. Es wächst ein Widerwille dagegen, der zum Abscheu werden kann; und wenn man die verhaßte Pflicht nun doch zurückzuweisen sich getraut, vielmehr die Nötigung erkennt, sie zu erfüllen, koste es, was es wolle, dann können sich im Herzen Elemente der Verzweiflung ansammeln, die notwendig zum Ausbruch kommen müssen.

Am Abend eines Tages, an dem Forstner nach wiedereingetretener Spannung nicht erschienen war, saß Christine mit ihren Verwandten und Mamsell Adelheid bei der frugalen Abendmahlzeit. Sie wurde mit dem abwesenden Liebhaber geneckt, wie es ihr mißfallen mußte; nicht aus heiterem und gutem Herzen (ein solches hätte unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt geschwiegen), sondern von seiten der Base ohne Laune, aus Langweile, von Mamsell Adelheid ohne Wohlwollen, aus Schadenfreude. Sie antwortete zuerst etwas empfindlich, und endlich verbat sie sich diese Reden ganz. Wie meistens, wenn sie im Ernst und von Herzen sprach, hatte sie diese Erklärung im Rieser Dialekt abgegeben, und Adelheid, die sich auf dem einen Felde nicht mehr genügen durfte, benutzte nun die Aussprache des Dorfmädchens, um ihr etwas anzuhaben. »Pfui, Christine,« rief sie mit dem geheuchelt wohlmeinenden Ausdruck, der bekanntlich viel widerlicher ist als ehrliche Unhöflichkeit, »pfui, wie bäurisch ist das wieder! Du mußt dir dieses Rieserischreden abgewöhnen, gutes Mädchen; das geht hier nicht mehr, du machst dich lächerlich damit, und für die Frau eines Lehrers paßt es schon gar nicht!« Die Wahrnehmung, daß ihre Worte auf Christine ihre Wirkung getan hatten, ermunterte sie, fortzufahren, und sie bemerkte: »Du brauchst nicht ärgerlich zu werden. Wir meinen's gut mit dir, drum sagen wir dir's; andere lassen dich reden und lachen dich aus.«

Das hieß bei dem Rieser Kinde eine der empfindlichsten Stellen berühren. Sie hatte jene Rüge und Ermahnung von ihrem Bräutigam und von der Mamsell schon öfters hören müssen. Bei ihm hatte sie's in der Ordnung gefunden und sich bestrebt, hochdeutsch zu reden. Zunächst war freilich nur ein Mischmasch herausgekommen, der ihn zuweilen auch wieder lächeln machte, und wenn sie sich bemühte, rein hochdeutsch zu reden, dann sprach sie die Worte mit einer Betonung, die ihr nicht natürlich war und pedantisch klang, so daß Forstner sie zuweilen wieder bat, sie solle lieber reden, wie sie's gelernt habe. Es war auch eine fatale Empfindung, sich sagen zu müssen, daß sie ihm nichts zu Dank machen könne, und die ganze Sache hatte darum etwas Unangenehmes für sie. Bei der Adelheid war ihr aber der Tadel ihrer Sprache um so verdrießlicher, als sie ihr eigentlich kein Recht dazu einräumen konnte, auch darum nicht, weil die Mamsell nicht sowohl hochdeutsch als fränkisch-deutsch redete. Die Rieserin konnte durchaus nicht begreifen, wie das fränkische »Na'« (Nein) schöner klingen sollte als das rieserische »Noë«, oder worin »Ah« (Auch) hochdeutscher wäre als »Oh« usw. Sie hatte bemerkt, daß man im Ries gewisse Worte gerade nach der Schrift aussprach, während man sie im Fränkischen veränderte, also verschlechterte, daß man z. B. im Ries ganz richtig »mager« sagte, wo es hier »moger« hieß; und sie sah nun in keiner Art ein, wie sie die Sprache ihrer Heimat gegen so eine Sprache sollte schlecht machen lassen. Bei dieser Gelegenheit sagte sie denn mit der Resolution des Unwillens alles, was sie auf dem Herzen hatte, und schloß ihre Erwiderung mit den Worten: »Jedes hat seine Sprach' gern und glaubt, sie sei besser als die andere, und das ist natürlich. Ihr sagt, die Rieser sei so breit und hinausgezogen, mir kommt die eure dagegen öd vor und ›moger‹, und ich mein', ich könnt' in ihr nie von Herzen reden. Aber darüber will ich nicht streiten. Wenn ich mein Rieserisch einmal ablegen soll, so will ich doch lieber gleich ein rechtes Hochdeutsch lernen, sonst will ich beim Rieserischen bleiben. Denn wenn's auch eine langsamere Sprach' ist wie die eure, so reden's doch Leute, die ich lieb hab' und die ich hochschätz', und das kann ich nicht von allen sagen, die ich kenne. Für heut' wünsch' ich Gutnacht!« – Sie war aufgestanden und verließ die Stube mit einem Blick der Geringschätzung auf Mamsell Adelheid. – »Hoffärtiges Ding!« rief diese, die sich durch den Vorwurf der Schülerin wegen des Fränkischen getroffen und durch ihren Abschiedsblick beleidigt fühlte. Aber Vetter Kahl meinte, sie habe es ihr heute auch arg gemacht, und man könne es der Christine jetzt nicht übelnehmen, wenn sie nicht bei guter Laune sei. – »Ja freilich,« setzte die Frau hinzu und nickte bedenklich.

Christine ging in ihre Stube hinauf, zündete ein Talglicht an, setzte sich an den Tisch und versuchte in einem Buche zu lesen, das ihr Forstner als unterhaltend empfohlen hatte. Bald legte sie's weg. Wie sollte sie sich für die geschriebenen Sachen interessieren, während ihr Herz so voll und so aufgeregt war von Unmut und Sorge! Schweigend, die Arme auf die Lehne des alten Stuhls gelegt, sah sie auf den Boden und verharrte in formlosem Gedankenspiel eine Zeitlang in dieser Stellung. Es fröstelte sie; aber sie wollt' es nicht anders haben und rührte sich nicht. Wie traurig und öde war es in dieser Stadt! – wie unheimlich war es in der Stube, die eigentlich nie recht warm gemacht werden konnte! Ihre Phantasie ging in die Heimat zurück, sie stellte sich das Dorf und die Stube ihrer Mutter vor, und alles Liebe und Heimliche baute sich nach und nach vor ihr auf. – Wie schön war es dort – auch im Winter! Die Stube so warm den ganzen Tag, weil man im Rohr des eisernen Ofens kochte und das Holz nicht sparte. Welch ein angenehmer Geruch, wenn am Sonntag ein paar Tauben gebraten wurden oder ein frisches Stück Fleisch vom selbstgeschlachteten Schwein! Wie heimlich war es des Abends, wenn sie mit ihrer Mutter spann und mit ihr und dem braven Hans einen Rat hielt oder »ihren Gedanken Audienz gab« und die runde Hauskatze hinter dem Ofen dazu »durnte!« Wie traulich war es, wenn ein paar Freundinnen mit dem Rocken kamen, wenn man miteinander schwatzte und lachte, und nicht eins besser zu reden glaubte als das andere, und nicht eins das andere mit seiner Sprach' aufzog. Dort waren die Leute gut, und auch die schlimmsten hatten etwas an sich, was man gern haben mußte. Es war eben dort alles lustiger, und auch die Schlimmsten meinten's nicht so bös! Und so hochmütige gelbe Gesichter, wie die Adelheid eins hatte, gab es dort gar nicht.

Indem die Träumende von diesen Vorstellungen aufsah und sich in ihrem düster erhellten, totenstillen Zimmer erblickte, hatte sie das Gefühl eines verlorenen Paradieses. Dort war alles so gut und so schön, dort konnte sie glücklich werden. Hier hatte sie keine einzige Gespielin, keine einzige vertraute Seele! Hier war sie verachtet und verspottet, sie, die in ihrem Dorfe geehrt und gepriesen war. Hier wurde sie mißhandelt! Und er, der ihr Trost und ihre Stütze sein sollte, er, der ihr ewige Liebe geschworen hatte, wurde mit jedem Tage härter und liebloser gegen sie! Er hatte keine Geduld mit ihr, er »kappte sie herab«, er beschimpfte sie, er schämte sich ihrer! Das mußte sie erleben! – und das mußte sie von ihm erleben! Und wenn er nun schon als Bräutigam so gegen sie handelte, was hatte sie zu erwarten, wenn er ihr Mann war und ihr Herr? Welchen Ehestand sollte das geben?

Der Gedanke, daß sie das Unrechte gewählt habe, daß ein unglückliches, verfehltes Leben ihrer warte, und daß sie selber daran schuld sei, begann den Geist des Mädchens zu überwältigen. In ihrem Herzen fing ein Zittern und Beben an, das sich über den ganzen Körper verbreitete, das nicht mehr zurückgedrängt werden konnte und nicht mehr enden zu können schien. Der Sturm der Verzweiflung war über ihre Seele gekommen. Wenn dieser einmal im Innern zu sausen und zu brausen beginnt, dann helfen keine Einreden des Verstandes mehr. Alle Gründe, die dagegen sprechen sollen, fallen kraftlos zu Boden, das Toben der Angst geht weiter mit der Gewalt eines übermächtig gewordenen Feuerbrandes, man hat nur noch ein Gefühl und ein Wort: Verloren! verloren!

Christine konnte nicht mehr glauben und nicht mehr hoffen. Es war ihr, als ob sie auf und davon müßte; aber wohin wollte sie? Sie konnte nicht fort, sie mußte bleiben und alles erdulden, was ihr auferlegt war. Sie hatte ein Gefühl, als wenn sie in einen Brunnen gefallen wäre und nicht mehr heraus, ja nicht einmal um Hilfe rufen könnte. Welch eine Not! – welche Bangigkeit! Und hätte sie nur weinen und Erleichterung finden können in Tränen! Aber in solchem Zustande des Herzens kann auch das Weib nicht weinen; nur leiden kann es, leiden und beben, wie das Lamm in den Klauen des Raubtiers.

Endlich erhob sich die Unglückliche mit entschlossener Anstrengung. Sie legte sich nieder, ob ihr vielleicht der Schlaf ein Erlöser würde; aber die empörten Wogen der Seele ließen sie nicht schlafen. Sie verbrachte die schwerste, peinvollste Nacht ihres Lebens und sank endlich nur aus Mattigkeit in einen unruhvollen Schlummer.


5.

Die Verzweiflung, von der eine leidende, gedrückte Seele befallen wird, trägt oft eben zu ihrer Wiederauflebung und Stärkung bei, wenn die Verhältnisse, in denen sie lebt, nicht an sich desperat, sondern von ihr nur so empfunden worden sind. In dem Wirbel der Sinne übertreibt sie und sieht im schlimmsten Licht; und wenn der Hauptanfall ausgehalten ist, kann sie diesen Irrtum erkennen, zur Betrachtung der besseren Seite hingedrängt und dadurch wieder beruhigt werden.

Bei Christine war es aber nicht mit einem Tage abgemacht. An dem folgenden ging sie körperlich erschöpft, im Innern gebrochen einher, und die Quelle der Verzweiflung strömte ruhiger, aber stetig in ihr fort. Sie trug alle Merkmale einer qualvoll durchwachten Nacht an sich; doch war ihr Mund still und ihre Miene ergeben, so daß die Base wahres Bedauern mit ihr empfand und auch Susanne und Adelheid nicht ganz ungerührt blieben. Forstner kam auch an diesem Tage nicht. Christine mußte an das Schlimmste denken; sie tat es mit schauerndem Herzen; aber das Schlimmste war eine Entscheidung und hatte für ihr jetziges Gefühl auch wieder etwas Beruhigendes. Ermüdet legte sie sich zu Bette und fand bald das Heilbad des Schlafes.

Kräftiger stand sie auf und erfreute die Base beim Frühstück durch eine getröstete Miene. Sie hatten von häuslichen Dingen gesprochen und waren eben daran, die Arbeiten des Tages zu erwägen, da trat der Verlobte herein – mit allen Zeichen der Eile und einem entschiedenen Ausdruck der Reue, die wieder gut machen will.

Das ist leicht zu erklären. Die Base hatte gestern in der Nacht noch Vetter Kahl zu ihm geschickt, und dieser hatte ihn von dem Stande der Dinge unterrichtet und ihm ins Gewissen geredet. Eindrucksfähig wie er war, hatte sich Forstner die Worte zu Herzen genommen, sein Gewissen hatte sich gerührt und ihn zu dem Entschluß gebracht, Christine noch vor der Schule zu besuchen.

Er ging auf sie zu; drückte ihr die Hand und entschuldigte sein Ausbleiben mit unaufschieblichen Arbeiten, die ihn leider abgehalten hätten, zu ihr zu kommen usw. Christine, durch sein Erscheinen erfreut, ließ alles gelten, und es kam zu einer vollständigen Versöhnung. Als sie vom Unterricht zu reden begann, nahm er Gelegenheit, sich selbst anzuklagen. Er sei offenbar in der letzten Zeit zu ungeduldig gewesen und habe mehr verlangt, als sie leisten konnte; er müsse sie wirklich um Verzeihung bitten; aber sein Amt und die Plage mit seinen Kindern mache ihn eben auch zuweilen verdrießlich und ungerecht. Das Mädchen entgegnete: daß er mit ihr die Geduld verloren habe, sei ganz natürlich, sie komme auch gar nicht weiter. Aber nun solle er sehen, nun werde sie sich recht zusammennehmen, und es werde gewiß besser gehen. – Von seiner Seite Geduld, von ihrer Seite Fleiß und Mühe – was brauchte es mehr zur Eintracht und zum Glück?

Als Forstner in die Schule ging, dachte er: Wenn sie auch nicht alles hält, was ich mir von ihr versprochen habe, so gibt es doch eine gute Frau. Sie ist fügsam, das ist schon etwas wert. Nach und nach wird sie auch lernen, was nötig ist; ich darf nur nicht zu viel von ihr verlangen.

Die nun folgenden Unterrichtsstunden gingen bei solcher Stimmung des Lehrers und der Schülerin ganz wohl vorüber. Es waren zunächst nur wenige. Die Christfeiertage kamen heran und machten eine Unterbrechung nötig. Die Verlobte hatte mit Hilfe der Mamsell Adelheid einen zierlichen Tabaksbeutel zustande gebracht, sie kaufte noch ein schönes Buch, das der Bräutigam zufällig einmal gewünscht hatte, und machte somit eine ganz hübsche Bescherung. Forstner beschenkte sie mit einem Schal und einem kleinen galanten Gedicht. In dem Vergnügen dieser Tage hatte Christine auch Susanne und Adelheid mit Gaben bedacht, welche die mäßigen Erwartungen derselben übertrafen, und bessere Gesichter dafür erhalten. Alles ließ sich erfreulicher an, und Christine konnte ein verspätetes kleines Präsent an die Mutter mit einem Briefe absenden, worin die Versicherung, daß sie recht fröhliche Weihnachten gefeiert habe, durchaus von Herzen kam. Sie hatte jetzt auch den Mut gefunden, einer wiederholten Aufforderung der Base nachzukommen und die Mutter zum Besuch einzuladen; ja sie hatte auf ihre Faust hinzugefügt, daß sie sich durch Vetter Hans herführen lassen solle. Die Erwartung eines frohen Wiedersehens trug dazu bei, daß sie das neue Jahr unter heiterem Austausch von Gratulationen und vertrauensvoll antrat.

Die Hoffnung auf das Wiedersehen trog sie nicht. Frau Glauning war neugierig, ihre Christine in der Stadt zu sehen, und da nach Neujahr eine Masse Schnee fiel, dann kalte, trockene Witterung eintrat, so riskierte sie's, die Bahn zu benutzen und den Besuch mit Hans in einem entlehnten Schlitten zu machen. Am heiligen Dreikönigstage saßen alle unsere Personen bei Herrn Kahl um den Mittagstisch, der lange nicht so reichlich besetzt gewesen war. Man hatte sich ausgewundert, ausgegrüßt, ausgelobt und unterhielt ein behagliches Gespräch, das Forstner zu männiglichem Ergötzen mit seinen besten Einfällen zierte, so daß man sich endlich auch in dieser Hinsicht gesättigt und vergnügt vom Tisch erhob.

In der Laune, die das Mahl in ihr angeregt hatte, nahm die Glauning ihre Tochter in eine Ecke und sagte:. »Hör', Mädchen, du bist doch ein wenig ›schmalbackeder‹ geworden, seit du hier bist. Man ißt wohl bei der Base nicht alle Tag' so gut wie heut'?« – Christine lächelte und sagte: »Ach, liebe Mutter, je weniger ich esse, desto besser ist's! Denn ich bin für die Stadt noch lange nicht ›schmalbacked‹ genug.« – »So, so?« erwiderte die Alte. »Nun, du siehst wenigstens gesund und vergnügt aus. Aber das kann ich dir nicht verschweigen, recht närrisch kommst du mir vor in dem Kleid, da.« – »Ist andern auch passiert,« versetzte Christine. »Aber diese haben sich dran gewöhnt, wie's scheint, und dir wird's auch so gehen.« – Wie die Mutter hier den Bräutigam auf sich zukommen sah, fragte sie: »Wie macht sich denn aber meine Christine in der Lehr', Herr Forstner? Geht's recht vorwärts?« – »Jeden Tag,« erwiderte dieser heiter. – »Verspotte mich nicht,« rief ihm Christine zu: »ich weiß recht wohl, daß ich einen langsamen Bauernkopf hab'.« – »Nein,« fuhr er zur Mutter fort, »in der letzten Zeit bin ich sehr zufrieden gewesen, und wenn's so fortgeht, wird sie noch eine ganze Gelehrte werden.« – »O Jerum,« rief die Gelobte mit komischem Ausdruck. Die Alte sah mit Vergnügen auf das Paar, das Arm in Arm vor ihr stand.

Vor dem Abschied fand Christine noch Gelegenheit, eine vertrauliche Zwiesprach mit Hans zu halten. Sie dankte ihm und rühmte ihn wiederholt wegen seiner Freundschaft und Herzensgüte. Dann fragte sie mit einem Lächeln, in dem neben wirklicher Teilnahme ein Hauch von Scham nicht zu verkennen war: »Hast du noch immer keine, Hans? Ist noch keine Aussicht, daß ich dir auf die Hochzeit gehen kann?« Hans ging auf die Unterhaltung ein und versetzte nicht ohne Laune: »'s hat sich noch nicht machen lassen. Gut Ding will Weile haben!« – »Jawohl,« erwiderte sie schon heiterer. »Aber man muß doch auch anfangen. Du tust dich nicht um!« – »Kommt drauf an,« entgegnete Hans, »aber du weißt ja, ich wart' auf deine Hochzeit.« – »Da kannst du vielleicht noch lange warten.« – »Wieso?« – »Bis zum Frühjahr sicher, vielleicht aber auch bis in den Sommer hinein – ich muß noch gar viel lernen.« – »Lernen? Was fehlt dir denn noch?« – »Ach, Hannesle,« sagte das Mädchen mit einem humoristischen Seufzer, »noch gar viel! Das verstehst du nicht.« – Hans dachte: »Was so ein Schulmeister doch heutzutage nicht alles verlangt!« Aber er sagte das natürlich nicht, sondern wünschte dem Bäschen alles Glück und drückte ihr in freundschaftlicher Teilnahme die Hand. Christine sah, daß er noch immer etwas auf sie hielt, und daß er ihr nichts nachtrug; beides freute sie.

Nach diesem letzten festlichen Tage wurde der unterbrochene Unterricht wieder fortgesetzt. Forstner nahm es zuerst wieder leicht und führte das Spiel nur sachte zum Ernst hinüber. In der Zwischenzeit hatte aber Christine von ihrem Talent, Gelerntes zu vergessen, wieder ziemlich Gebrauch gemacht, so daß Fortschritte nirgends sichtbar werden wollten, und bald staken sie wieder in der Prosa des Lebens. Geschmack an geistiger Beschäftigung, ein Trieb, selber vorwärts zu gehen, etwas zu tun und zu suchen, wollte sich eben in der Schülerin nicht melden. Sie lernte nie einsehen, wozu das alles eigentlich gut sein sollte; die Kopfarbeit blieb ihr beschwerlich und sie konnte darin nicht einmal eine rechte Arbeit sehen. Neigung, angeborener und anerzogener Respekt drängte sie zur Arbeit mit der Hand, und nur wenn sie hier etwas fertig gebracht, glaubte sie wirklich etwas getan und ihre Pflicht erfüllt zu haben.

Forstner überzeugte sich jeden Tag mehr von der Unmöglichkeit, der Verlobten das beizubringen, was er an Geisteskultur von seiner Frau glaubte fordern zu können. Aber die Wirkung war nun eine andere auf ihn als früher: er wurde nicht mehr erzürnt – er entsagte seiner Hoffnung. Er tat es mit Seufzen und tröstete sich mit dem Gedanken, daß Christine jedenfalls eine gute Hausfrau sein werde. – Damit war ein bedeutender Schritt zum Glück des Paares hin getan; denn das Glück wird dann erst möglich, wenn man von sich und von andern nur das fordern lernt, was die einmal gegebene Natur zu leisten imstande ist, und sich dabei genügen läßt. – Aber nun zog ein Wetter, das schon lange am Horizont gestanden hatte, rasch am Himmel auf und hing bald drohend über dem Haupte des Dorfmädchens. – Um dies zu erklären, muß ich in der Geschichte um mehrere Monate zurückgehen.

Jener Kollege Forstners, der sich im Öttinger Kränzchen so eng an ihn angeschlossen, und dessen Betriebsamkeit er hauptsächlich seine jetzige Stelle verdankte, war bei seinen Bemühungen von wirklicher Freundschaft zu dem talentvollen, liebenswürdigen jungen Mann geleitet. Der Eifer, den er zu seinen Gunsten anwandte, beruhte aber doch nicht ausschließlich auf diesem persönlichen Wohlwollen; er war zugleich, und zwar nicht minder stark, durch sein eigenes Interesse getragen. Gustav Dobler (denn er muß jetzt mit seinem Namen in unsere Erzählung eintreten) hatte zwei Schwestern, die bei ihm, dem noch unverheirateten Manne, wohnten. Die jüngere war noch nicht aus der Schule, die ältere, Wilhelmine, führte seinen Haushalt. Diese befand sich in den Jahren, wo sich ein vorsichtiges Mädchen schon einige Jahre um eine Partie umgesehen hat – sie war in der Mitte der zwanziger Jahre, dabei schlank, hübsch, gebildet, mit einem Geiste begabt, der gern das Regiment führte und es liebte, sein Licht leuchten zu lassen. Was war natürlicher, als daß der schon in den Dreißigen stehende Dobler wünschte, ihr einen Mann zu verschaffen? Er konnte dann selbst heiraten, was bei der Anwesenheit der herrschaftgewohnten Schwester nicht zu raten war, und sie hatte für ihr Talent den rechten Boden und das Glück ihres Lebens gefunden. In Forstner hatte der sorgliche Bruder gleich den Mann erkannt, der für seine Schwester in jeder Hinsicht passend war, den liebenswürdigen, begabten, im Hause zu leitenden Mann, und in dieser Überzeugung hatte er gehandelt.

Das Verhältnis des neuen Freundes zu einem Bauernmädchen seines Dorfes konnte ihm begreiflicherweise nicht verborgen bleiben. Allein er faßte es nicht so ernst auf, als es war; er glaubte nicht, daß ein solches Mädchen dem feinen Mann genügen könne, und nahm an, es sei gut für beide, wenn die Bekanntschaft rechtzeitig abgebrochen würde. Da nun in seiner Geburtsstadt eine Stelle vakant wurde, so spannte er alle Segel auf, die Ernennung Forstners durchzusetzen. War er nur erst hier, dachte er, so löste sich das Verhältnis mit Christine von selbst, und das ihm wünschenswerte knüpfte sich.

Als Dobler nach der Übersiedelung des Kollegen das erste vertraute Gespräch mit ihm hatte, mußte er sich freilich überzeugen, daß er sich getäuscht. Er hatte mit einiger Deutlichkeit auf den Busch geklopft, hatte von einer Frau gesprochen, die sich der angestellte hübsche junge Mann unter den schönen Mädchen des Orts auswählen könne, und Forstner war genötigt gewesen, ihm zu sagen, daß er ernstlich verlobt sei, und daß er seine Braut hierher berufen habe, um sich im Frühjahr mit ihr trauen zu lassen.

Christine kam an, und die Hoffnung des Stadtlehrers, den Freund zu seinem Schwager zu machen, schien gänzlich gescheitert. Dobler hatte der Schwester den Phönix unter den Rieser Lehrern schon vor seiner Ankunft gerühmt, ihr seinen Plan mitgeteilt, und Wilhelmine war sehr neugierig gewesen, ihn kennen zu lernen. In der Tat gewann Forstner auch gleich bei der ersten Zusammenkunft ihren vollen Beifall und konnte aus ihrem Benehmen wohl schließen, daß unter andern Umständen eine Bewerbung von seiner Seite hier keine ungünstige Aufnahme gefunden hätte. Aber seine Treue gegen Christine wurde auch in Gedanken nicht erschüttert. Wilhelmine hatte offenbare Vorzüge der Gestalt und der Bildung; aber wie artig sie war und wie zuvorkommend sie ihn behandelte, so ahnte der junge Mann in ihr doch den herrschenden Geist und konnte nicht umhin, eine gewisse Scheu vor ihr zu fühlen. Sein Herz und seine Phantasie hingen an der Verlobten, ihr naturfrisches Bild erschien ihm unvergleichlich poetischer als die Eleganz der Städterin; er blieb bei seiner ersten ernstlichen Neigung und hielt sein Wort.

Dobler und Wilhelmine bewerkstelligten einen anständigen Rückzug. Sie, von ihren Vorzügen durchdrungen, konnte nicht alle Hoffnung aufgeben und freute sich, zu hören, daß Forstner seinen Dorfschatz erst noch bilden wolle, bevor er Hochzeit machte. Ehe so eine gebildet wurde, konnte gar manches geschehen. Der sonst so verständige Mann werde Vergleichungen anstellen und Augen bekommen für den Unterschied zwischen ihr und einer Bäuerin, und dann werde sich zeigen, wer den Platz behaupte. Natürlich fühlte sie durch die Zurückhaltung Forstners auch ihren weiblichen Stolz gekränkt und ihre Ehre herausgefordert. Das Versagte reizte sie und ihr Wohlgefallen an ihm steigerte sich zum leidenschaftlichen Wunsch, ihn zu erobern. Sie war indes klug genug, ihre Gefühle zu verbergen, zu warten und ihre Zeit zu ersehen.

Als sie durch Mamsell Adelheid gelegentlich hörte, wie plump Christine im französischen Kleide aussehe und wie ungeschickt sie sich zu aller feineren Arbeit anlasse, hatte sie die erste freudige Empfindung. Eine süße Hoffnung schwellte ihr Herz. »Er wird mir kommen!« rief sie, als sie allein war, mit der Zuversicht des Stolzes. Und auch sie rechtfertigte ihren Plan und ihr Verhalten durch die Annahme, es sei für das Bauernmädchen viel besser, wenn sie wieder in ihr Dorf zurückginge und das Weib eines Bauern würde.

Wenn Forstner in ihr Haus kam, zeigten Bruder und Schwester, die sich miteinander verständigt hatten, nur freundschaftliche Teilnahme an ihm und seinem Verhältnis. Man erkundigte sich, wie Christine sich in der Stadt gefalle; man begriff, daß er sie jetzt noch nicht unter die Leute bringen wolle, man fragte nach ihren Fortschritten usw. Als der Lehrer, zutraulicher gemacht, sich über die Langsamkeit beklagte, womit die Schülerin lernte, und über die sonderbaren Antworten, die er von ihr zuweilen erhalte, tröstete man ihn. Das sei begreiflich, würde bei jeder andern auch der Fall sein, und er solle darum den Mut nicht verlieren; zuletzt werde alles auf einmal kommen. War er über Christine betrübt, ja konnte er einen ernstlichen Unmut nicht verbergen, dann ließ man ihn wohl auch reden und hörte mit bedauerndem Anteil zu. Man bot alle Freundlichkeit und Herzlichkeit auf, ihn zu beruhigen, und man entfaltete alle geselligen Talente, ihn zu entschädigen. Er sollte nicht anders können, er sollte sich genötigt sehen, Vergleichungen anzustellen, die zu Gunsten der Prätendentin ausfallen mußten.

Die Folge war, daß Forstner, so oft er Verdruß empfand und Trost bedurfte, das Haus der Freundschaft aufsuchte. Die Scheu vor Wilhelmine hatte sich verloren; denn er mußte sich ja überzeugen, daß sie nur sein Bestes wollte und wahrer Anhänglichkeit fähig war. Der Umgang mit ihr und Dobler wurde ihm Bedürfnis.

Er war der Gefährlichen schon sehr nahe gekommen. Er hatte in der Tat und wiederholt Vergleichungen angestellt; er hatte sich gesagt, daß die gebildete Städterin doch in jeder Hinsicht besser für ihn passen würde – und das Verhältnis zu Christine war ihm eine Fessel geworden, die ihn beengte und drückte. Da kam, durch Vetter Kahl eingeleitet, nach dem letzten Streit mit der Verlobten die Versöhnung; es kamen die Feiertage und die wechselseitige Beschenkung; es kam der Besuch und das Mittagsmahl, wo man insgesamt wieder ein Herz und eine Seele wurde.

Als er nun aber infolge erneuerter vergeblicher Versuche mit Christine dazu gekommen war, auf ihre Ausbildung, wie er sie sich erst gedacht hatte, zu resignieren, machte er eine eigene Erfahrung, eine Erfahrung, die Kennern des menschlichen Herzens nichts Neues ist und die, wie er einmal war, in seine Beziehungen überhaupt eine Veränderung bringen mußte. Das stärkste Band, das uns an eine werte Person knüpft, ist die Hoffnung, sie werde die Herzenswünsche, die wir für sie und für uns hegen, erfüllen und dem Bilde entsprechen, das wir im Geiste ihr vorhalten. Zaudert sie, dies zu tun, und glauben wir uns getäuscht, dann wird an die Stelle der entflohenen Hoffnung zunächst die Beschämung, der Unmut und der erzürnte Vorwurf treten. Aber der Unmut ist immer noch ein Band, das uns an die Erkorene fesselt. Immer ist unser Blick auf sie gerichtet; sie wollen wir strafen, sie wollen wir bessern, sie wollen wir zwingen, unserem Willen sich zu fügen, und wir haben kein Auge für andere. Endet aber der Unmut in Entsagung, dann droht der Existenz des Verhältnisses selber Gefahr. Wir sind nicht mehr beschäftigt, weder durch Hoffnung und Freude, noch durch Verdruß und Schmerz, und es ist Raum geworden für die Gleichgültigkeit.

Eine ähnliche Erfahrung war es, die unser Lehrer machte. Eben in der Resignation wurde er frei gegen die Verlobte, seine Augen wurden aufgetan für die Vorzüge der Freundin, und die Wagschale neigte sich wieder und viel stärker zu ihren Gunsten.

Forstner hatte jedoch nur auf eins resigniert bei Christine: auf ihre Geistesbildung. Die Hoffnung, daß sie das Benehmen lernen werde, mit dem sie in der Stadt als seine Frau durchkommen könnte, hatte er noch nicht aufgegeben. Und wenn seine Neigung zu ihr gesunken war, so bestand doch noch das Wort, das er ihr gegeben und das er sich nicht zu brechen getraute. Er faßte sich kurz und entwarf einen andern Plan. Er wollte nicht zuerst ihren Geist bilden und das feinere Benehmen als natürliche Folge davon erwarten; er wollte nun praktischer verfahren und sie in bessere Gesellschaft bringen, damit sie zunächst das Leichtere lerne. Stellte sie sich am Anfang auch ungeschickt, mit der Zeit lernte sie doch die nötigen Formen, und es erfüllte sich ihm wenigstens eine Hoffnung.

Nachdem er dies beschlossen hatte, war auf die Frage: wohin zuerst? bald geantwortet. Welches Haus lag ihm zu jenem Zweck näher als das seines Kollegen? Von wem konnte die Verlobte mehr lernen als von Wilhelmine? Hatte die Mamsell (in jener Zeit mußte sich auch die Schwester des Stadtlehrers noch mit diesem Titel begnügen) doch zwei Jahre bei Verwandten in Nürnberg gelebt und war seit ihrer Zurückkunft eine Zierde der bürgerlichen »Erheiterung« ihrer Stadt! – Christine konnte nun zeigen, ob sie für ihn auch etwas zu tun imstande sei, und ob sie sich mindestens das Notdürftigste anzueignen vermöge. Sie mußte ihm gehorchen. Ihr alles zu erlassen, ihr alles nachzusehen, das war nicht von ihm zu verlangen.

Er fragte bei Dobler an, ob er die Verlobte bringen dürfe, ob er Mamsell Wilhelmine nicht damit belästige? »Im Gegenteil,« erwiderte diese, »Sie machen mir die größte Freude.« – Und das war ganz richtig. Sie empfand die größte Freude, sich neben dem Dorfmädchen sehen zu lassen, ihre Überlegenheit beweisen und sie vor dem Bräutigam tief in Schatten stellen zu können.

Als dieser die Braut aufforderte, mit ihm einen Besuch bei seinem Kollegen zu machen, fand er zuerst entschiedenen Widerstand. Fühlte sie überhaupt eine Scheu, zu »fremden Leuten« zu gehen, so war ihr der Gedanke, gerade mit diesen anzufangen, besonders fatal. Wilhelmine hatte schon von weitem einen unangenehmen Eindruck auf sie gemacht. Sie hatte von den häufigen Besuchen Forstners in ihrem Hause gehört, und wenn sie nach den letzten Erfahrungen nicht an seiner Treue zweifelte, so mußte sie doch in ihr eine Nebenbuhlerin argwöhnen. Der Ruf der Feinheit und Geschicklichkeit, den die Mamsell sich erworben, flößte ihr Furcht ein, und sie hatte eine sehr deutliche instinktmäßige Ahnung von ihrer Gesinnung in bezug auf sie. Der Verlobte redete ihr aber zu, er unterstützte seine Gründe mit einer ernsten Willenserklärung; sie wußte ihm zuletzt nichts mehr zu entgegnen und sagte mit Ergebung: »Nun meinetwegen!« – Zu ihrer Einwilligung hatte doch auch die Neugierde beigetragen, diese Wilhelmine näher kennen zu lernen und den Bräutigam bei ihr zu sehen.

An einem Sonntag Abend fand der Besuch statt und verlief ungefähr so, wie Christine gefürchtet. Wilhelmine war beim Empfang seelenvergnügt, das Gefühl der Überlegenheit strahlte ordentlich aus ihrem Gesicht; aber sie nahm sich zusammen und milderte es zu einer herablassenden Freundlichkeit, die freilich für den damit Begnadeten gerade auch nichts Schmeichelhaftes hat. Christine trat befangen und gezwungen auf, und der Ausdruck in dem Gesicht der Mamsell, den sie wohl verstand, machte sie konfus. Man setzte sich, und Wilhelmine begann die Unterhaltung mit allerlei Erkundigungen. Sie fragte das Dorfmädchen aus, wie man ein Kind ausfragt, und belächelte ähnlich ihre naiv klingenden Antworten. Christine sah gleich, wie sie mit ihr daran war; sie erkannte in ihr eine Art Adelheid, die zwar feiner, aber im Grunde ihres Herzens viel schlimmer sei als die Sticklehrerin. Gewissermaßen Hilfe suchend, richtete sie ihre Augen auf den Verlobten. Dieser stand ihr auch bei und antwortete für sie; aber er tat ihr's viel zu höflich und versäumte die Gelegenheit, der vornehmen Person bei ihren unnützen Fragen etwas hinauszugeben. Sie bemerkte überhaupt zwischen beiden einen vertrauten Ton, der ihr nicht gefallen wollte, und überdies in den Reden ihres Bräutigams gegen die Mamsell einen Respekt, der für sie etwas Kränkendes hatte, weil er im Gespräch mit ihr nicht zum Vorschein kam. Es wurde ihr sehr unbehaglich zumute und sie war froh, als Wilhelmine sich zum Klavier setzte und die Unterhaltung, soweit sich Gelegenheit dazu bot, dem Bruder überließ, der ihre Rolle in milderen Formen, und wir können sagen, auch mit mehr Gutmütigkeit fortsetzte. Die Wirtin spielte und sang; sie tat beides gut, und Christine freute sich endlich daran und lobte sie aufrichtig, obwohl die Lieder selbst ihr nicht so schön vorkamen wie die, welche man in ihrem Dorfe sang. Die Musik löste ihre Seele dennoch und sie fing an sich wohler zu fühlen. Als aber Forstner ein neues Lied der Sängerin beklatschte und ihren Vortrag mit großer Wärme für ganz vortrefflich erklärte, da fühlte sie sich wieder getrübt und gedrückt und war durch nichts mehr zu erheitern. Beim Abschied reichte Wilhelmine der Stadtnovize die Hand und erklärte mit lächelndem Wohlwollen, es würde ihr sehr angenehm sein, wenn sie ihr recht oft die Ehre geben wollte. Christine fühlte den Spott, der sich das Wohlwollen als Maske vorgenommen hatte, sagte aber doch den schicklichen Dank und atmete tief auf, als sie mit Forstner auf der Straße war.

Auf dem Heimwege fragte sie dieser, wie es ihr gefallen habe. Sie erwiderte: »Ich muß dir aufrichtig sagen, mir hat's nicht gefallen.« – »Und warum nicht?« – »Ich passe nicht für solche Leute und komme nur in Verlegenheit bei ihnen.« – »Das wird sich geben,« bemerkte der Bräutigam tröstend, »und dann wirst du den Umgang mit gebildeten Frauenzimmern angenehm finden.« – »Das mag sein; aber dann müssen die gebildeten Frauenzimmer besser sein als diese Wilhelmine.« – »Wieso? Ist sie unhöflich gegen dich gewesen?« – »Das nicht, aber sie hat gegen mich ein Wesen angenommen wie eine gnädige Frau, und das ist sie doch noch lange nicht. Ich hab' auch wohl gemerkt, daß sie mich ausgelacht hat.« – »Warum nicht gar!« rief Forstner dagegen. »Nun ja, ein paar von deinen Antworten sind freilich von der Art gewesen, daß so eine sie kurios finden mußte. Aber das muß man sich gefallen lassen, sonst lernt man nichts. Und wenn sie lacht, so lache du wieder!« – »Das kann ich nicht,« erwiderte Christine, »ich seh' schon, bei der da wird's mir nie wohl zumute werden.« – Forstner kam in Eifer. »Das ist wieder kindisch!« rief er mit strafendem Ton. »Ich sage dir, gerade die ist das Muster, das du vor Augen haben mußt, wenn du das rechte Benehmen lernen sollst! Du mußt zu ihr gehen, und wenn es dir zehnmal nicht wohl bei ihr zumute wird. Umsonst hat man nichts in dieser Welt, und ohne Mühe und Anstrengung kommt niemand vorwärts.«

Sonderbare Empfindung, auf der sich unser Lehrer an diesem Abend ertappt hatte! Die Verwirrung, das Ungeschick, die naiven Antworten, durch welche die Braut einigemal in der Tat komisch wurde, beschämten ihn nicht so, wie sie es früher getan hätten. Er gönnte ihr den Spott, der ihm begreiflicherweise nicht entgangen war, als gerechte Strafe für ihre Mängel. Mußte er doch auch die Folgen einer Verpflichtung tragen, die er einmal eingegangen hatte, und zum bösen Spiel gute Miene machen!

Nach Verfluß einer Woche forderte er Christine mit einer Art von Genugtuung auf, den Besuch bei Dobler zu wiederholen. Er hatte fest beschlossen, sie nicht zu schonen. Sie mußte entweder etwas profitieren oder den verdienten Spott hinnehmen. Zog sie sich ihn zu, so war er ihr auch gesund, und es war Schwäche, ihr ihn ersparen zu wollen. – Als Christine zagend erwiderte, sie tue es ungern, recht ungern, kam wieder eine Reihe von Gründen zum Vorschein, denen zu widerstehen sie keine Macht hatte. Sie ging mit wie das Opfer zur Schlachtbank.

Wilhelmine war diesen Abend in bester Laune. Sie hatte den Verlobten ausgeholt und glaubte annehmen zu dürfen, daß er im Innersten seines Herzens wünschte, das Verhältnis mit Christine aufgelöst zu sehen. Als diese nun mit ihm ankam und in ihrem ganzen Wesen ihre Stimmung offenbarte, zeigte sich auf dem Antlitz der Sicheren jene Heiterkeit, welche demütigen soll und mit dieser Absicht wahrhaft beleidigt. Die Reden waren dagegen um so freundlicher und schmeichelhafter, und die gute Christine war gezwungen, dankende Antworten darauf zu geben, die ihr nicht von Herzen gingen und ihr durchaus nicht zu Gesichte standen. Forstner konnte nicht umhin, bei diesen Erwiderungen zu lächeln; er sah Wilhelmine an und ihre Blicke tauschten ihre Gedanken aus. Christine sah diese Blicke, ahnte ihre Bedeutung und setzte sich, eine Pfeil im Herzen, zur Gesellschaft.

Außer der Familie Dobler waren noch zwei Freundinnen Wilhelmines da, gleich ihr belesen, und namentlich bewandert in der städtischen Leihbibliothek. Man fragte sich, wie eins und das andere der neueren Bücher gefallen habe, man lobte und tadelte, und es entwickelte sich ein Gespräch, das gerade nicht von Geist übersprudelte und keineswegs mit gerechten und feinen Urteilen geziert, aber vielleicht eben darum für unser Dorfkind zu hoch war. Die Gute blickte stumm vor sich hin und horchte, in der Hoffnung, daß man zuletzt doch auf etwas kommen müsse, wo sie auch mitreden könne. Endlich leuchtete ihr ein Ausspruch im allgemeinen ein: sie glaubte zeigen zu müssen, daß sie ihn verstanden habe, und nickte beistimmend. Wilhelmine, die gebotene Gelegenheit ergreifend, fragte: »Haben Sie die Erzählung auch gelesen, Jungfer Christine?« Diese mußte mit nein antworten, und um sich zu entschuldigen, fügte sie hinzu, daß sie zum Lesen immer noch nicht recht kommen könne. – »Was tun Sie denn aber den ganzen Tag?« fragte die Gebildete. Christine erwiderte: »Ich lerne – ich nähe, stricke, ich sticke und helfe kochen.« – »Das Nähen und Stricken,« warf die andere hin, »ist Ihnen wohl lieber als das Lesen?« – »Ich kann's nicht leugnen,« war die ehrliche Antwort. »Was man von Jugend auf getrieben hat, was man versteht und was einem leicht geht, das tut man gern.« – »Nun,« versetzte Wilhelmine lächelnd, »da würden Sie wohl auch lieber Korn schneiden und dreschen als lesen?« Ein spöttisches Vergnügen belebte bei dieser Frage die Gesichter der Freundinnen. Christine fühlte die Absicht derselben, die Galle stieg ihr auf und sie entgegnete: »Warum nicht? Das Dreschen ist zwar eine grobe Arbeit und verträgt sich nicht recht mit feiner Lebensart; aber das Lesen, scheint's, macht auch nicht immer fein und höflich.« – Damit hatte die Gebildete auch ihren Hieb. Sie schwieg und lächelte. Es war aber nicht mehr das überlegene, sondern das aushelfende Lächeln, das den Mangel einer treffenden Erwiderung decken soll, bis die Gelegenheit zur Rache kommt.

Zunächst lenkte sie das Gespräch auf einen andern Gegenstand, wobei sie zu ihrem Vorteil erscheinen mußte und Christine zum Schweigen verurteilt war. Sie sprach von Nürnberg und erzählte, was sie dort gesehen und welche Bekanntschaften sie gemacht. Der edle Gegenstand machte auch das Herz des gereizten Frauenzimmers wärmer und honetter; sie rühmte die Schönheit der Stadt, die Gastlichkeit und die Geselligkeit der Bewohner so gut, daß Christine im Verlauf der Erzählung ihren Groll vergaß und ihr mit Vergnügen zuhörte. Forstner und der Bruder, welche die Perle der vaterländischen Städte kannten und liebten, gaben ihre Bemerkungen dazu, und die Spannung löste sich in allgemeine Vertraulichkeit.

Christine gehörte zu den Naturen, die verzeihen können, wenn sie in denen, die sie verletzt haben, nur auch wieder etwas Gutes sehen. Sie setzte sich zu Wilhelmine, lobte sie und suchte dadurch ihren Stich von vorhin wieder auszugleichen – das arme Kind! Wilhelmine nahm die Anerkennung als etwas auf, das ihr gebühre, und schritt, nur ihre Erhöhung im Auge, zur Entfaltung eines neuen Vorzugs. Sie hatte mit Forstner in den letzten Tagen ein vierhändiges Stück eingeübt, eine besonders gefällige und reizende Musik. Von ihren Freundinnen gebeten, etwas zu spielen, forderte sie den Lehrer auf, und beide setzten sich ans Klavier. Das Spiel ging vortrefflich zusammen und die Zuhörer waren bald voll Bewunderung. Christine war aufgestanden und nähergetreten. Sie sah die beiden, wie sie ein Herz und eine Seele waren und zusammenpaßten, als ob sie füreinander geschaffen wären. In ihre Bewunderung mischte sich ein demütigendes, niederschlagendes Gefühl: sie erkannte, daß ihr gerade das fehlte, was an Wilhelmine zu Forstner so besonders paßte. Nachdem ein brillanter Schluß den musikalischen Vortrag gekrönt hatte, brach die Gesellschaft in den lautesten Beifall aus. Die beiden dankten, sahen sich ins Auge und lächelten sich an, zufrieden und glücklich. Eifersucht – zum erstenmal helle, klare Eifersucht loderte in dem Herzen der Verlobten auf. Eine peinliche Empfindung lastete auf ihr, zum geringsten Teil auf Neid, zum größten aus der klaren Anschauung eigenen Unvermögens und Unwertes beruhend. In ihrem Herzen fing es wieder an zu gären und zu beben; aber sie bezwang sich, wieviel es sie auch kostete, trat mit Fleiß zu der Gefeierten und sprach ihren Dank und ihre Bewunderung auf ihre Art aus. Es sei doch wahrhaftig zum Erstaunen, wie schön sie's könne und mit welcher Geschwindigkeit. Sie begreife nicht, wie man so schnelle Finger bekommen und ein so langes Stück spielen könne, ohne einen Fehler zu machen. Wilhelmine erwiderte: das lerne sich durch Übung; man müsse sich eben recht dranhalten, dann gebe sich alles.

In dem Übermut, den der Beifall in ihr angeregt, in der Erinnerung an die kleine Schlappe, die sie von dem Dorfmädchen erlitten hatte, fuhr der böse Geist in ihr Herz. Sie suchte ihren sanftesten Ton, gab ihrem Gesicht den mütterlichsten Ausdruck und sagte: »Sie müssen das auch lernen, liebe Christine. Wenn man einen so geschickten Musiker zum Bräutigam hat wie Sie, darf man die Gelegenheit nicht versäumen, sich in die Kunst einweihen zu lassen.« – »O,« rief Christine, »das würde nicht gehen!« Die Mamsell hatte unterdessen ihre Hand ergriffen, welche die ländliche Derbheit immer noch bedeutend zur Schau trug, und betrachtete sie und drehte sie hin und her. »Die Finger,« sagte sie mit anmutigem Kopfwiegen, »sind freilich noch etwas zu stark und zu schwer, sie verraten noch zu sehr die Arbeit mit der Sichel und der Heugabel und würden vorläufig zum Klavierspiel noch nicht ganz geschickt sein. Aber man muß an nichts verzweifeln, mit der Zeit ändert sich alles, und auch diese Glieder können noch leicht und gelenkig werden.« Die Gesichter der Freundinnen zeigten bei diesen Worten zugleich Schadenfreude und Spannung – die Hand der Verhöhnten zuckte. Wie gern hätte sie der boshaften Person gezeigt, daß ihre Finger, wenn auch nicht zum Klavierspiel, doch zur Erteilung einer wohlverdienten tüchtigen Ohrfeige ganz vortrefflich paßten! Aber sie mußte sie ruhig zurückziehen und sich alle Mühe geben, ihre Gekränktheit sich nicht anmerken zu lassen. Ihren Unmut hinunterschluckend, erwiderte sie aber: »Meine Finger sind eben wie sie sind, und wenn sie nicht zum Klavierspiel passen, so ist das mein geringster Kummer. Ich bekomme einen Mann und eine Haushaltung und werde nicht nötig haben, mir mit Singen und Spielen die Zeit zu vertreiben.« – Das war auch nicht ganz übel. Forstner, der bei der Verhöhnung der Hand, die noch immer seinen Verlobungsring trug, eine entschieden mißbilligende Miene gezeigt hatte, ergötzte sich an der Replik, und die Freundinnen der Getroffenen dachten im stillen: da seht mir die Bäuerin! Wilhelmine aber hielt aus und sagte lächelnd: »Das ist freilich wahr!« Bei sich aber dachte sie: wir wollen sehen, du Rieser Gänschen! – Kollege Dobler begann einen andern Diskurs, der das Vorgefallene in Vergessenheit zu bringen bestimmt war, und man trennte sich unter höflichen Redensarten.

Die Verlobten legten den Weg zu Kahl schweigend zurück, da beide keinen Beruf in sich spürten, die Erlebnisse des Abends zu besprechen. Christine hatte sich überzeugt, daß die Mamsell darauf ausgehe, sie vor ihrem Bräutigam zu beschämen und zu beschimpfen; sie nahm sich vor, nie wieder in ihr Haus zu gehen. Wie es mit ihr und mit ihm stehe, das wollte sie doch erfahren und dann sehen, was zu tun sei. – Forstner hatte das Haus mit einer sehr gemischten Empfindung verlassen. Die Absicht Wilhelmines war deutlich genug. Obwohl nun ihr heutiges Betragen gegen seine Braut ihn wirklich verletzt hatte, so lag in dem letzten Endzweck, ihm besser gefallen zu wollen als diese, für ihn doch immer noch etwas, das einen mildernden Schein auf ihr Benehmen warf und keine rechte Entrüstung in ihm aufkommen ließ. Er faßte den Entschluß, zu ihr zu gehen, ihr die unpassende Art, Christine zu necken, vorzuhalten und sich die gehörige Rücksicht für sie auszubitten.

Gleich am andern Tage führte er seinen Vorsatz aus. Als man an der Einleitung sah, wohin er wollte, ließ man ihn gar nicht ausreden. Die Mamsell hatte sehr wohl gefühlt, daß sie zu weit gegangen war, und der Bruder hatte ihr zu Gemüte geführt, daß das nicht die Art wäre, seinen Kollegen zu gewinnen. Der Verstand hatte über das gereizte Gefühl gesiegt, und die Gewandte fiel nun dem Freund mit zerknirschter Miene ins Wort: »Ich habe sehr gefehlt – es ist wahr, und ich weiß es! Sie selber können mich nicht schärfer anklagen, als ich es schon getan habe. Ich hab' einen Scherz machen wollen, aber ohne daß ich bedachte, was ich tat, hab' ich Dinge gesagt, die Ihrer lieben Braut wehe tun mußten. Verzeihen Sie mir! Ich hab' es gebüßt, und es soll nie wieder geschehen!«

Damit war Forstner entwaffnet. Er erwiderte: »Wenn Sie so denken, dann ist's um so besser; und ich will Ihnen nicht verbergen, daß Sie mir damit eine Freude machen. Wohin sollt' ich Christine bringen und wo sollte sie die rechte Art lernen und den gehörigen Mut in der Unterhaltung, wenn nicht in diesem Hause?« – »Nun,« sagte Wilhelmine mit halbem Lächeln, »an Mut und auch an Geistesgegenwart fehlt es ihr gerade nicht. Haben Sie gesehen, wie sie mir gestern geantwortet hat? Sie hat mich fühlen lassen, daß ich nicht so glücklich bin wie sie!« – Forstner verwirrte sich einigermaßen und sagte um so rascher: »Ich werde also nächstens wieder mit ihr kommen, und danke Ihnen für Ihre Gefälligkeit.«

Ein paar Tage darauf gewann es die Schwester des Stadtlehrers über sich, der Verlobten einen Besuch abzustatten. Christine war zufällig nicht zu Hause. Als sie später davon hörte, sagte sie ruhig: »So, die ist dagewesen? Sie wird nimmer kommen, schätz' ich.« Die Base sah das Mädchen verwundert an, machte dann aber ein Gesicht, als ob sie den Sinn ihrer Worte begriffe.

Wieder ein paar Tage, und Forstner kam zu Christine und sagte: »Heute ist Gesellschaft bei Dobler und wir sind eingeladen. Halte dich bereit. Nach sechs Uhr komm' ich und hole dich ab.« – Christine erwiderte: »Ich geh' nicht hin.« – »Wie soll ich das verstehen?« entgegnete der Verlobte. »Willst du gar nicht mehr« – – »Allerdings,« rief Christine, indem eine leichte Röte ihr Gesicht überzog – »ich will gar nicht mehr in dieses Haus gehen!« – »Und warum nicht?« – »Weil ich zu gut dazu bin, um mich von einer boshaften Person aufziehen und verspotten zu lassen.« – »Du nimmst den kleinen Spaß, den Wilhelmine sich gemacht hat, viel zu ernsthaft. Überdies bereut sie ihn und wird dir von jetzt an alle Ehre antun, die du erwarten kannst.« – »Ich glaub's nicht.« – »Sie hat mir's selber gesagt.« – »Das mag sein, aber ich glaub's doch nicht. Die mag sich vornehmen und versprechen was sie will, sie wird's doch nicht halten, und es bei nächster Gelegenheit ärger machen als vorher. Aber dafür tu' ich ihr!«

Dem Verlobten stieg nun gleichfalls das Blut ins Gesicht. »Wenn du so denkst,« rief er in seinem Hofmeisterton, »dann wirst du niemals die Manieren lernen, niemals die Bildung, die« – Aber das Mädchen rief mit gerechter Entrüstung: »Geh' mir doch mit deiner Bildung! Wenn das Bildung ist, Leute, die einen besuchen, so zu behandeln, wie diese Mamsell mich behandelt hat, dann will ich lieber ungebildet sein und bleiben mein Leben lang. Wenn die Bildung die Leute nicht besser macht und aufrichtiger, dann geb' ich keinen Pfifferling um sie!«

Forstner schwieg; er war von der ungewohnten Entschlossenheit und Heftigkeit betroffen. Endlich sagte er: »Du bist empfindlich und machst aus einer Mücke einen Elefanten!« – Christine sagte: »Ich mach' mir nichts aus den Dingen, die geschehen sind; aber ich mach' mir alles aus der Person, die mir's getan hat. Die ist falsch gegen mich und wird's bleiben, und mit ihr will ich nichts mehr zu tun haben.« – »Du irrst dich,« erwiderte Forstner nochmals im Ton der Überredung. »Sei klug, geh heute noch mit hin und überzeuge dich selbst, daß du unrecht hast.« – »Nie!« versetzte Christine mit dem Ausdruck eines unerschütterlichen Gefühls; »zu der geh' ich nicht mehr, um keinen Preis der Welt!« – »Aber ich bitte dich« – –

»Ich will nicht und ich mag nicht. Du kannst mich hinführen, wohin du willst, und ich will's nirgends genau nehmen; ich will mir etwas gefallen lassen und Geduld haben – ich bin gar kein solches Christkindle, wie du meinst, und kann auch etwas aushalten; aber von der lass' ich mir nichts gefallen, von der will ich auch nichts lernen, und damit gut!«

Forstner war verstummt. Der eigentliche Grund der Weigerung seiner Verlobten war ihm klar. Er fühlte, was dafür sprach, er begriff sie, und widersprechende Gefühle stritten in ihm. Aber der Verdruß, sie wider alles Erwarten gegen seinen ausgesprochenen Willen unbeugsam zu finden, überwog zuletzt doch. Er sagte: »Nun, wenn du so eigensinnig bist und alles Reden nicht hilft, so bleib zu Hause!« – »Das will ich tun,« erwiderte Christine ruhig. »Und du geh hin zu der gebildeten Mamsell und unterhalte dich gut.« – »Das will ich auch tun,« antwortete er und verließ die Stube.

Es gibt eine Schickung in der Welt, die in das Leben der Menschen eine gewisse Methode bringt. Über den Grund und die mitwirkenden Ursachen kann man streiten, über die Tatsache schwerlich. Das Geschick unseres Land- Mädchens war es, in einer Stadt und unter einem Menschenschlag, wie es so viele gutmütige, ehrenhafte, fröhliche und freundliche Leute gibt, solche näher kennen zu lernen, die sie verletzten und ihr das Leben daselbst verleideten. Sie war nun beinahe vier Monate in der Stadt, und nicht ihre Hoffnungen, nur ihre Befürchtungen waren in Erfüllung gegangen. Doch auch für sie sollte der Tag der Entscheidung kommen.

Forstner hatte sich an jenem Abend geradeswegs zu Dobler begeben, um dort, wo nicht Aufheiterung, doch Zerstreuung zu finden. Das Band, das ihn an Christine knüpfte, beruhte nur noch in dem Versprechen, das er ihr gegeben, und in einer Mischung von Gewissenhaftigkeit und Zaghaftigkeit, es zu brechen. Die Liebe und die auf sie gegründete Achtung waren aus seinem Herzen entflohen; die Hoffnung auf eine Änderung war aufgegeben. In der Klemme, in der er sich befand, konnte er einer teilnehmenden Erkundigung von seiten Wilhelmines nicht widerstehen; er erzählte den Auftritt mit der Verlobten und machte seinem Herzen in Klagen Luft. Das Herz der Bewerberin klopfte; aber sie hielt ihre Empfindung stark zurück und war so klug, mit bedauernder Miene Trost und freundschaftlichen Rat zu erteilen. »Zwingen Sie das gute Kind nicht, zu uns zu kommen,« sagte sie mit sanfter Stimme, »und haben Sie Geduld mit ihr. Wenn man von Kindheit an auf dem Lande gelebt und sich an seine Manieren gewöhnt hat, da fälllls einem schwer, sich in andere zu finden. Lassen Sie ihr Zeit dazu.« – Forstner seufzte. »Ich will Geduld haben, ich muß es, denn es ist das einzige, was mir übrigbleibt. Ich hab' mich mit ihr versprochen, sie ist meine Braut – ich muß sie nehmen, wie sie ist.« – Für Wilhelmine hatte diese Erklärung viel mehr Ermutigendes als Niederschlagendes. Sie erwartete neue, heftigere Auftritte zwischen den Verlobten, und infolge davon die Auflösung des Verhältnisses.

Zunächst kam es doch weder zu dem einen noch zu dem andern. Forstner hatte eben in der Resignation, die sich nun auf alle seine früheren Erwartungen ausdehnte, wieder die Ruhe gefunden, seinen Unterricht und seine Unterhaltung mit Christine äußerlich und obenhin fortzusetzen. Er tat es, weil er angefangen hatte, weil die Zeit ausgefüllt werden mußte; einen inneren Grund gab es nicht mehr. Es waren graue, leere Tage der Unentschiedenheit, des Hinwartens, des Gehenlassens. In der Verlobten der stille Trotz, in Forstner die Gleichgültigkeit. Nur selten und nur auf Momente tauten die Herzen ein wenig auf. Wenn er ihr aber dann auch die Hand reichte, so fühlte sie doch nicht mehr den Druck der Liebe, und wenn er ihr zum Abschied einen Kuß gab, so war es eben eine Zeremonie, ohne wahres Verlangen erteilt, ohne Glauben empfangen.

Dieser Stand der Dinge konnte den Hausgenossen und Bekannten des Mädchens natürlich kein Geheimnis bleiben. Man zeigte bedenkliche Mienen, man schüttelte den Kopf, und auch die Magd Susanne und Mamsell Adelheid konnten sich nicht enthalten, zuweilen mit Blicken wirklichen Bedauerns auf sie zu sehen. Man erfuhr, daß der Lehrer immer häufiger zu Dobler komme; man sah Wilhelmine vergnügt und stolz über die Straße gehen, wie eine, die ihrer Sache gewiß ist, und man erwartete nicht anders, als daß es in kurzem heißen werde: der Herr Forstner hat dem Bauernmädchen abgeschrieben.

Daß diese nach und nach zur Überzeugung gewordene Ansicht im Gespräch mit Christine durchschimmerte, und die Andeutungen, die man gab, nicht so fein waren, um nicht verstanden werden zu können, begreift sich. Die Base hielt es für ihre Pflicht, noch weiter zu gehen und ihrer Verwandten geradezu mitzuteilen, was man in der Stadt über Forstner und sein Verhältnis zu Wilhelmine sagte. Christine sah sie einen Moment an; dann erwiderte sie: »Ich kann es nicht glauben. So schlecht handelt er nicht an mir!« – Sobald sie aber von der Tagesarbeit frei war, suchte sie die Einsamkeit ihrer Stube auf. Sie dachte über die Möglichkeit nach, daß es wirklich aus sein könne zwischen ihr und ihrem Bräutigam – aus für alle Zeit. Wird er es tun? wird er sein Wort brechen? wird er mich – – Der Gedanke, verschmäht und verlassen zu werden, trat zum erstenmal in vollster Bestimmtheit vor ihre Seele. Und so sehr sie durch alles, was sie bisher erfahren, darauf hätte vorbereitet sein müssen, sie empfand nun doch alle Pein und alle Bitterkeit desselben.

In jenem schönen Winter, in welchem sie die Bekanntschaft des Lehrers gemacht hatte, war sie von seiner Liebenswürdigkeit in Wahrheit bezaubert und seiner Bewerbung zuletzt mit leidenschaftlichem Verlangen entgegengekommen. Sie war an die Vorstellung gewöhnt, ihm zu gehören und ihm treu sein zu müssen, und ihre Liebe hatte alle Anfechtungen bestanden, die sie in den letzten Monaten erfahren. Als sie nun in ihrer einsamen Erwägung zu dem Schlusse kam: ja, er bricht sein Wort, er verläßt dich, er nimmt sie – da flammte mit dem Schmerz auch alle ihre Liebe und Leidenschaft wieder auf. Sie fühlte ein glühendes Verlangen, ihn wiederzugewinnen, ihn zu halten, und sie fragte sich mit angstvoller Seele, wie sie's anfangen solle, das Unglück und die Schande abzuwenden, die ihr drohten. Sie wollte alles tun, was in ihren Kräften stand, sie wollte lernen, wollte in Gesellschaft gehen, wollte sich Tadel und Spott gefallen lassen. Sie wollte dem Bräutigam ihre Schuld bekennen, wollte ihn bitten, sie auf die Probe zu stellen und ihr das Schwerste aufzugeben. – Wie sehr sie sich aber zu allem bereit fühlte und welche Wirkung sie sich von ihren Anerbietungen auf ihn versprach – es wollte kein Vertrauen in ihr Herz kommen. Mitten in der Selbstermutigung rief es in ihr: er liebt dich nicht mehr – er schätzt dich nicht mehr – du bist ihm nicht mehr gut genug! – Sie sah vor sich hin und atmete bebend. Es war die Bewegung der Angst, verbunden mit dem Gefühl der Ohnmacht, welche die Brust der Verlassenen hob und senkte. Es waren Verzweiflung und Ergebung, die ihr Herz erfüllten – Verzweiflung an ihrem Glück, Ergebung in ihr unvermeidliches Elend.

Nach und nach war es dunkel geworden. Die Stille der Nacht wirkte linder auf das verwundete Gemüt als die Öde des grauen Tages. Die Ergebung wuchs in dem Herzen der Unglücklichen; sie wurde ruhiger, gefaßter. Sie fühlte sich in ihrer dunkeln, einsamen, lautlosen Stube der Welt, die ihr so viel Schmerzen gemacht hatte, entrückt und vor ihren Angriffen gesichert. Ihre Seele wurde frei zu Vorstellungen, die mit ihrem Leide zusammenhingen und traurig waren, aber doch auch etwas Wohltuendes hatten.

Unwillkürlich summte sie ein Lied, und ein schmerzliches Lächeln ging über ihr Gesicht. Es war eins der schönsten Volkslieder, das ihr in den Sinn kam, ein Lied der Liebe und des Leids, der schlichten Entsagung und der Erhebung zu einer ahnungsvollen Vision. Im Schwabenlande heimisch und verbreitet, hatte es Christine schon in ihrer frühen Jugend gelernt. Da war es freilich nur ein Lied mehr für sie, das unter anderen gesungen wurde; aber schon damals verfehlte es auf einem einsamen Gange oder in der Stille der nächtlich erhellten Stube seines Eindrucks nicht. Nun sang sie es mit tiefer Empfindung, und jedes Wort hatte Bedeutung für sie.

Jetzt gang i ans Brünnele, trink' aber net:
Da such' i mein herztausenda Schatz, find'n aber net.

Da laß i mein Äugelein rund ummi gehn,
Da seh' i mein herztausenda Schatz bei'm andre stehn.

Und bei'm andre stehn sehn, ach das tut weh!
Jezt b'hüt die Gott, herztausenda Schatz, seh' die nimmermehr!

Jezt kauf' i mir Federn und Tint' und Papier,
Und schreib mei'm herztausenda Schatz einen Abschiedsbrief.

Jezt leg' i mi nieder auf Heu und auf Stroh,
Da fallen drei Röselein mir in den Schoß.

Und diese drei Röselein sehn blutigrot;
Jezt weiß i net, lebt mei Schatz oder ist er tot!

Ihre Augen waren feucht geworden bei dem Lied: aber wer sie gesehen, würde doch einen Glanz darin bemerkt haben, der noch etwas anderes ausdrückte als Verlust und Schmerz. Das Gebilde der Poesie hatte seine Wirkung geübt; das Leid war der Bedrängten gegenständlich geworden und ihre Seele hatte eine Macht darüber erlangt, die immer einen gewissen Trost mit sich führt. – Die Trauer verschwindet freilich nicht in einem solchen Falle, sie erhält nur ein milderndes Licht, und das Gemüt wird fähig, ihren Gegenstand ruhiger und wie von einer höheren Sphäre herab anzusehen.

»Und bei'm andre stehn sehn, ach, das tut weh!« wiederholte sie und setzte hinzu: »Ja, das erfahr' ich nun auch, wie es schon so manches erfahren hat!«

Sie versank in Stillschweigen. Sie hatte an ihren guten Vetter gedacht und fühlte nun plötzlich aufs genaueste, wie es ihm gewesen und was er gelitten. – Ihre eigene Richterin, nickte sie zu wiederholten Malen traurig ernst mit dem Haupte und sagte: »Du guter Hans – du hast's auch erfahren – und ich bin daran schuld gewesen! Ich hab' deinem treuen Herzen weh getan, hab' deine Lieb' und Freundschaft mit Undank vergolten!« – Sie folgte einem inneren Drange, sich vorzustellen, wie es damals gewesen; und wie sie jetzt ihr Leid empfand, sah sie ihr damaliges Unrecht im hellsten Licht und auf eine Weise, daß das Bild davon in ihrem Geiste blieb und nicht wieder ausgelöscht werden konnte. Sie übertrieb ihre Schuld und empfand eine Lust, sich damit zu strafen und zu quälen. »Ja,« sagte sie, »ich hab' gewußt, wie du gesinnt warst gegen mich, ich hab' gewußt, daß du der beste Mensch bist von der Welt – eine so treue, grundgute Seele, wie mir keine sonst vorgekommen ist! Du hast an meiner Mutter gehandelt wie ein Sohn, und an mir wie ein Bruder, und wir haben deine Wohltat angenommen, als hätten wir ein Recht darauf – und zum Lohn dafür hab' ich dich betrogen und an der Nase herumgeführt. Du warst mir der Gutg'nug, wenn kein anderer da war; sobald ein anderer kam, ließ ich dich fahren! Ich hab' damals zu mir gesagt: ›Warum redet er nicht? Er ist selber daran schuld‹ Aber jetzt erkenn' ich, was das für eine elende Ausrede gewesen ist! Als ob ich nicht gesehen hätte, wie du's mit mir gemeint, als ob ich nicht in dein Herz gesehen hätte und in jedes Winkele davon! Ich hab' gewußt, daß du mich lieber hast als alles in der Welt, und ich hab' dir das Maul gemacht eine Zeitlang, und dann bin ich dir untreu geworden, weil der andere schöner und geschickter und vornehmer war, und weil er besser schwätzen und schmeicheln konnte. Und wenn ich mich dann auch ein wenig geschämt hab', so hab' ich's doch bald wieder vergessen und hab' getan, als ob nichts vorgefallen wäre. O, ich hab' schlecht gehandelt – schlechter als manche, die ins Zuchthaus gekommen ist! Aber ich hab' meine Straf' auch gekriegt! So hat's mir gehen müssen, das hat mir gehört – und ich darf mich nicht beklagen, nein, und ich will mich auch nicht beklagen. Ich würde nur eine neue Sünde begehen, wenn ich's täte, und ich hab' an denen genug, die ich begangen habe.«

Während dieser Anrede, die sie an den guten Vetter und sich selber hielt, waren ihr Tränen in die Augen getreten und heruntergelaufen über ihre Wangen, die Worte begleitend, die ihr vom Munde gingen. Endlich behaupteten sie allein das Recht und flossen reichlich und lange, und begossen die Saat einer neuen Erkenntnis.

Das Bauernmädchen hatte den Unterricht eines anderen Lehrers empfangen, als der gute Forstner ihr sein konnte. Die wahren Einsichten, die fruchtbar sind und Macht und Gewalt haben, in ein neues Leben zu führen, werden dem Menschen nur durch Schicksale, die er erdulden muß, durch Schmerzen, die über ihn verhängt werden und ihm die Augen öffnen. Das Unrecht, was wir getan, wird uns klar durch das Unrecht, das wir leiden. Haben wir damit aber die Kraft erlangt, uns selber zu richten, dann wird uns eben die Strafe und die Buße zur Staffel, auf der wir hinansteigen können zu einem höheren Leben. Wo nichts ist freilich, da kann auch nichts herauskommen; aber für diejenigen, die, wenn auch unter eiteln und selbstsüchtigen Trieben, den Stoff zur Erhebung in sich bergen, für diese ist die Züchtigung im eigentlichsten Sinn ein Werk der Liebe – das einzige Mittel ihrer Rettung.

In Christine lag ein Keim, der sich der rettenden Hand darbot – ein Keim der Gutmütigkeit, ein Keim der Fähigkeit, Reue zu fühlen und sich selber das Urteil zu sprechen. Sie hatte ihr Leid verdient, in Wahrheit verdient; aber jetzt, nachdem sie es getragen, verdiente sie auch seine Hilfe und sein Heil.

Als sie ausgeweint hatte, fühlte sie eine Stille in ihrem Gemüt, die sie vorher nie gekannt, eine Stille nicht bloß gedankenlos ruhigen Lebens, sondern vereint mit klarer Anschauung ihres Seelenzustandes. Sie atmete leicht, als ob sie eine Last abgeworfen hätte; ihre Züge waren verwandelt, sie waren lichter und geistiger geworden. Sie war gefaßt auf alles, was ihr begegnen mochte. Was über sie kam, es war gut, und vielleicht nur um so besser, je schlimmer und schmerzlicher es war.

Das ist die heilspendende Kraft, die in der wirklichen Erkenntnis, nicht in der bloß vorübergehenden Empfindung begangenen Unrechts liegt. Das Leid, das uns unerträglich schien und trostlos machte, nimmt, wenn wir eine gerechte Strafe darin erblicken, eine andere Gestalt, ein anderes Wesen an. Aus dem Gegner wird ein Helfer zur Freiheit, die wir durch Erduldung der Strafe gewinnen. Die Last, die uns zu Boden drückte, fällt in unsere Wagschale und hilft unseren wahren Feind aufwiegen. Und wir müssen segnen, wo wir geflucht, wir müssen lieben, wo wir gehaßt haben.

Obwohl die äußere Lage unseres Dorfkindes gegenwärtig um vieles schlimmer war als in jener trüben Zeit vor den Feiertagen, so wurde sie doch nicht mehr ein Raub der Angst und Verzweiflung. Sie sah genau, wie es stand und was sie zu fürchten hatte, aber sie blieb ruhig. Sie stellte sich vor, daß der Mann, dem zuliebe sie das beste Herz beleidigt und für immer verloren, dem zuliebe sie ihr Vaterhaus verlassen hatte, in die Stadt gezogen und ihrem Stand untreu geworden war, in den nächsten Tagen zu ihr kommen und sagen könnte: »Es ist aus mit uns zweien, wir taugen nicht zusammen, geh wieder heim in dein Dorf!« Aber wie groß die Schmach war, die ihrer dann wartete, und wie schmerzlich bei dem Gedanken, ihr ganzes Leben zerstört zu sehen, ihr Herz erzitterte, sie faßte sich doch wieder. Sie legte sich nieder und sank in dem Frieden der Ergebung in tiefen Schlaf.

Am anderen Morgen erschien sie in der unteren Stube mit einer Sanftmut, und wir können sagen mit einer Würde in dem etwas blässeren Gesicht, daß es allen Hausgenossen auffiel. Es war unmöglich, ihr nicht mit Rücksicht zu begegnen. Die Reden beim Mittagessen waren darauf berechnet, sie zu erheitern und ihren Geist von ihren Zuständen abzulenken, und sie lächelte ein paarmal gutmütig dazu. Selbst Vetter Kahl strengte sich an, eine Geschichte zu erzählen, die er für ergötzlich hielt, und freute sich an den Zeichen des Erfolgs. Das Verlangen der Schadenfreude, das die Magd früher empfunden hatte, war schon lange mehr als gesättigt. Was dem armen Bauernmädchen widerfuhr, war ihr zu arg, und da sie nun auch so freundlich, so bescheiden mit ihr sprach, so empfand sie wahres Mitleid mit ihr.

Als Christine nachmittags allein in der unteren Stube war, machte die Bekehrte sich an sie, und jene merkte gleich, daß sie etwas auf dem Herzen habe. Auf ihre Frage, was es Neues gebe, begann Susanne mit einer scharfen Kritik der Männer im allgemeinen und fuhr dann fort: »Liebe Jungfer Christine, ich hab' mich besonnen, ob ich Ihnen sagen soll, was ich heute früh gehört hab'; aber es ist mir doch vorgekommen, als ob's besser wäre, wenn Sie es wüßten; denn wenn's wahr wäre und Sie es plötzlich erfahren würden – vielleicht ist's aber nicht wahr, man schwätzt gar viel, wenn der Tag lang ist – aber ich glaub' doch, es ist besser, wenn Sie's erfahren« – – »Nun,« fiel Christine ein, »was ist es denn?« Die Magd sah sie mit großem Bedauern an und erwiderte: »Ich hab' heut' gehört, daß Herr Forstner mit der Mamsell Wilhelmine ganz im reinen sei, daß sie sich heimlich schon miteinander versprochen hätten, und daß Sie sich gefaßt machen müssen – Sie verstehen« – – »Jawohl,« entgegnete Christine. »Vorläufig ist das aber nur ein Gerede, das boshafte Leute ihm aufgebracht haben können. Ich werd' es nur dann glauben, wenn ich es von ihm selber höre!« – »Es kann ja sein, daß nichts dahinter ist,« versetzte die Magd; »aber es kann auch Grund haben, und gewiß werden Sie mir's nicht übelnehmen –« – »Durchaus nicht, gute Susanne,« erwiderte Christine, »ich dank' Ihr dafür. Mag kommen, was da will – ich hoff es mit Gottes Hilfe zu ertragen.«

Dem Herannahen der immerhin peinlichen Entscheidung vermochte das Mädchen doch nicht zu widerstehen. Ihr Geist konnte die Ruhe und Stärke nicht behaupten, die er erlangt hatte, und je weiter die Zeit vorrückte, je mehr klopfte ihr das Herz im Vorgefühl des Schlages, den sie für unvermeidlich hielt. Als sie in der Abendstunde, wo der Verlobte heute kommen sollte, in ihrer Stube saß, rang ihr Wille mit ihrer Aufregung, und als sie plötzlich seinen Tritt auf der Treppe hörte, war es ihr, als ob die Sinne ihr vergehen müßten.

Forstner trat ein und grüßte. Sie nickte nur mit dem Kopf und starrte ihn an, in der Meinung, daß die Worte, die sie sich selber schon gesagt hatte, ihm ohne Verzug vom Munde gehen müßten. Bald erkannte sie, daß sie sich getäuscht. Er nahm an ihrer Seite Platz, um den gewöhnlichen Unterricht fortzusetzen. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, als ob er Verdruß gehabt, aber den Vorsatz gefaßt hätte, sich nichts merken zu lassen. Doch sah sie wohl, daß er sich Mühe geben mußte, mit ruhigem und einigermaßen freundlichem Tone zu beginnen.

Forstner hatte sich nicht mit Wilhelmine verständigt. Was die Magd Susanne gehört, beruhte auf einer Annahme und einer darauf gebauten Versicherung. Er war freilich jeden Tag zu Dobler gekommen, und Bruder und Schwester hatten ihn mit großer Klugheit nach der Forderung ihrer Absichten behandelt. Wilhelmine nahm an, daß er ihr eigentlich schon gehörte; sie hatte darum alle direkten Bestrebungen unterlassen, sich durchaus in der Rolle einer teilnehmenden Freundin gehalten und nur dafür gesorgt, daß ihre Kenntnisse, ihre Zierlichkeit nebst den schönsten Geistes- und Herzensgaben dem Verehrer immer deutlicher würden. Forstner war auch in der Tat ganz von ihr eingenommen: die feste Überzeugung, daß sie die Frau sei, die ihm durch ihren Geist und ihre Gaben zu Hause Freude, im Umgang mit andern Ehre machen würde, hatte seine Bezauberung vollendet. Wenn er sich aber dachte, wie er mit Christine brechen sollte – wenn er sich vorstellte, welchen Lärm es geben würde, sowohl hier in der Stadt als im Ries unter seinen und ihren Bekannten, dann konnte er doch nicht zu einem Entschluß gelangen. Er war talentvoll, strebend, klug und gewandt; aber ein Mann war er nicht, und als Mann konnte er nicht handeln. Endlich nahm er sich in seiner Verlegenheit vor, mit Christine und ihrer Bildungsfähigkeit noch einmal einen Versuch zu machen, nochmals zu prüfen, was ihr möglich sei oder nicht, und danach einen Entschluß zu fassen. Mit diesem Gedanken war er heute gekommen.

Man sagt sich selbst, daß die letzte Zeit nicht danach angetan war, unserer Christine die Schulaufgaben des Verlobten besonders wichtig erscheinen zu lassen und einen erhöhten Lerneifer in ihr anzufachen. Die innere Aufregung, die erfahrene Kränkung, das Nachdenken über die beängstigende Lage hatten ihr Herz und ihren Geist beschäftigt, und wenn sie Zerstreuung bedurfte, konnte sie diese nur in der Haus- und Handarbeit finden. In der inneren Umwandlung, die an dem einsamen Abend mit ihr vorgegangen war, in der gewonnenen Einsicht in ihre Schuld, in der Erkenntnis, daß ihr nur mit demselben Maße gemessen würde, mit dem sie gemessen hatte, und in dem Troste, den sie daraus geschöpft, in der ganzen für sie tiefbedeutsamen Erfahrung dieser Tage war ihr der Bildungsflitter, mit dem sie gegen ihre Natur und ihre Bedürfnisse behängt werden sollte, in seiner ganzen Seelenlosigkeit und Armseligkeit erschienen, und es war ihr, trotz der wohlgemeinten Vorsätze, welche die Angst geboren hatte, nicht möglich geworden, auch nur ernsthaft daran zu denken.

Der Lehrer, der sie auszufragen begann, sah bald, wie es mit ihr stand. Bei der ersten daneben treffenden Antwort, die er bekam, zuckte er und konnte nicht verhindern, daß der Blick, mit dem er sie ansah, eine ziemliche Dosis Geringschätzung enthielt. Er nahm sich indes zusammen, um die Prüfung fortzusetzen. Er fragte nach einer geschichtlichen Tatsache, die er ihr schon wiederholt eingeprägt hatte. Christine wurde ängstlich; sie wußte, daß ihr das schon einmal bekannt gewesen, und da er nun doch wiedergekommen war und es am Ende nicht so bös meinte, als sie gefürchtet, so hätte sie ihn gar zu gern mit der richtigen Antwort erfreut. Je hastiger sie aber nach dem Abhandengekommenen suchte, desto weniger konnte sie es entdecken; sie mußte ihre Unwissenheit eingestehen. »Das wird gut!« sagte Forstner mit dem Ausdruck eines Mißmuts, der nur infolge innerer Anstrengung nicht als erzürnte Heftigkeit hervortrat. Endlich richtete er eine Frage an sie, die mehr durch den Verstand als das Gedächtnis zu beantworten war. Christine, durch das Bisherige verwirrt, hatte ihn kaum gehört und gab in ihrer Konfusion eine geradezu verkehrte Antwort. Nun war der letzte Rest von Kraft und Willen, den aufkochenden Unmut zurückzuhalten, in ihm verzehrt, und es kam zum Ausbruch. Der Pedant, der die Perlen seiner Lehre so schlecht gewürdigt sah, fühlte sich beleidigt; die Unwissenheit und Unfähigkeit, die er in dieser Antwort erblickte, hatte tiefen Widerwillen in ihm erweckt; allein er folgte doch keineswegs bloß dem Drange dieser Empfindungen! Die Charakterschwäche, die nicht den Mut hatte, offen zu erklären: »wir passen nicht füreinander und es ist gut, wenn wir uns trennen,« diese Schwäche sah die Möglichkeit, eine Auflösung des peinlich gewordenen Verhältnisses gelegentlich herbeizuführen, und zu dem empörten Gefühl gesellte sich nun instinktmäßig der Wille, die Gelegenheit zu benutzen.

Von seinem Sitze emporgefahren, stellte er sich vor sie hin und rief mit dem Ausdruck des Zorns und tiefer Verachtung: »Das ist Unsinn, der abgeschmackteste Unsinn, der je aus dem Munde einer hirnlosen Person gekommen ist! Geh mir! Aus dir wird nie etwas, du bist und bleibst eine Bauerntrutschel, ein einfältiges, dummes Weibsbild! Ich bin verrückt gewesen, ich hab' eine unverzeihliche Torheit begangen, daß ich –« – Er hielt inne und – schämte sich. Christine war aufgestanden und hatte ihn groß angesehen, mit einem Blick, wie die beleidigte Rechtlichkeit, ja der beleidigte wahre Verstand die sinnlose Wut und Gemeinheit ansieht. Sie hatte die Verachtung in seiner Miene gefühlt, sie hatte in sein innerstes Herz gesehen und den Vorsatz erkannt, mit ihr brechen zu wollen, und in ihrem Gemüt hatte sich auch eine Verachtung erhoben, aber eine, die auf besserem Grund fußte, und mit Blitzesschnelligkeit war ein Entschluß gefaßt. Eben in der Glut dieser Empfindungen zeigte sie ihm das Gesicht, das ihn erschreckte und verwirrte; und wie er nun innehielt, fiel sie ergänzend ein: »Daß du dich mit mir versprochen hast, willst du sagen? Ja, das ist wahr, da hast du recht! Und ich bin ein schwaches, einfältiges Mädchen gewesen, daß ich dir getraut hab'! Aber glaub' ja nicht, daß du mich jetzt haben mußt. Hab' ja keine Furcht! Du hast mich gesucht, du bist zu mir gekommen, nicht ich zu dir – das weißt du und das sagt dir dein Gewissen. Aber darum, und weil du mir dein heiliges Versprechen gegeben hast, und weil du mich genötigt hast, in diese Stadt zu kommen und meinen Stand zu verändern, und weil ich nun wieder nach Haus gehen soll und Schande und Spott erleben von aller Welt, darum will ich dich doch nicht zwingen, dein Versprechen zu halten! – Nein,« rief sie, indem sie den Verlobungsring schnell von dem schlanker gewordenen Finger zog, »nein, im Gegenteil! Hier ist dein Ring, nimm ihn, und wir sind geschiedene Leute!« – Forstner sah sie an und entgegnete: »Ich hätte gute Lust –« – »Freilich hast du gute Lust!« fiel das Mädchen verächtlich ein; »das seh' ich und eben deswegen geb' ich dir den Ring zurück. Her deine Hand und gib mir den meinigen, und es ist aus mit uns für alle Zeit!«

Als Forstner das Zeichen der Verlobung in ihren Fingern blinken und sich aufgedrängt sah, da zuckte bei dem Gedanken, daß er es nur annehmen dürfe, um einer für ihn unerträglich gewordenen Fessel entledigt zu sein, ein Freudenstrahl aus seinem Auge und er rief: »Ist es wirklich dein Ernst?« – Wenn Christine noch nicht völlig entschlossen gewesen wäre, mit ihm zu Ende zu kommen, so wäre sie es durch die unendliche Kränkung dieser Freude geworden. Mit funkelnden Augen der Entrüstung rief sie: »Ja, es ist mein Ernst, und ich verlang' jetzt meinen Ring für deinen! Ich sage dir ab, ich künde dir auf und will nichts mehr mit dir zu tun haben mein Leben lang!«

Forstners schwache Seele, beschämt, verwirrt, schwankte noch einen Moment; aber eine Stimme rief ihm zu: »Benutze das!« und entschied ihn. »Nun,« rief er, indem er selber den Kopf erhob, »wenn du so hochmütig bist, so soll dein Wille geschehen!« Er zog den Ring vom Finger, gab ihr ihn und nahm den seinen. »So,« sagte sie, indem sie ihn mit ebensoviel Stolz als Geringschätzung ansah, »und jetzt halt' ich dich nicht mehr in meiner Stub'!« – Forstner sagte: »Du willst es, gut! Ich geh' und komm' nie wieder!« – »Ich hoff's,« entgegnete sie mit Hohn, indem ihr Gesicht brannte, »ich hoff's, daß du nicht wiederkommst!« Und indem sie mit der Hand auf die Tür wies, rief sie mit der größten Heftigkeit: »Geh! geh! geh!«

Forstner hatte die Tür ergriffen, und wie von diesen Worten hinausgeschleudert, war er verschwunden.


6.

Christine sah noch eine Zeitlang auf die Tür, die Forstner hinter sich zugeschlagen hatte. Ein heroisches Gefühl glänzte auf ihrem Gesicht. Er war es nicht, der ihr den Abschied gegeben, sie war ihm zuvorgekommen, sie hatte ihn weggeschickt, sie hatte das Recht behauptet und ihre Ehre gerettet! Das Bewußtsein, dem Ungetreuen die Tür gewiesen und ihn nach Verdienst behandelt zu haben, erfüllte sie mit süßem Stolz, und sie kostete diesen in der Aufregung des Sieges von Grund ihres Herzens.

Endlich trat sie zurück. Die Flut ihrer Empfindung war gesunken und Gedanken tauchten auf, die andere Bilder vor ihre Seele riefen. Es war also aus mit ihm, wirklich aus und für immer! Und nun? – Sie mußte wieder in die Heimat, in ihr Dorf zurück. – Wie sie diese unausweichliche Notwendigkeit zum erstenmal klar erkannte und die Folgen überschaute, fühlte sie einen kalten Schauer im Herzen und sank erschöpft auf einen Stuhl.

Wir wissen, Christine besaß einen Ehrgeiz – eine Art desselben, die auf dem Lande häufig vorkommt: den Ehrgeiz, der sich anderen möglichst immer in Würde und Wohlergehen darstellen und dem ganzen Dorfe damit Respekt einflößen will. In volkreicher Stadt kann man leicht dahin kommen, nach der Meinung anderer gar nichts mehr zu fragen, weil diese anderen eben zum größten Teil Fremde sind und die Befreundeten keine Zeit haben, sich mit einem viel abzugeben. Auf dem Dorfe hingegen, wo man alle kennt und von allen gekannt ist, bildet sich natürlich das Verlangen aus, auch von allen geachtet zu sein. Man wahrt die Außenseite, man »prangt«, man fragt sich bei einem absonderlichen Vorhaben in der Regel, was die Leute dazu sagen werden, man fürchtet sich vor dem Schaden, aber häufig noch mehr vor dem Spott, der dem Schaden folgt. Diese Rücksicht auf andere kann zur Schwäche werden und macht gar oft auch kleinlich und lächerlich; aber auf der anderen Seite ist sie die Mitursache guter Sitte, rechtmäßigen Handelns und stattlicher, angenehmer Lebensformen. Der Kenner des Dorflebens wird sie auf ihre Stelle beschränkt, aber gewiß nicht vertilgt, ja nicht einmal gemindert wünschen.

In Christine war eine starke Dosis dieses Triebes, und wie wir gesehen haben, war da, wo ihr Herz gewonnen wurde, immer auch ihr Ehrverlangen mit im Spiele; der Reiz des Glanzes wirkte mit dem der Schönheit und Liebenswürdigkeit zusammen auf sie. Dieses Ehrverlangen bezog sich aber gerade auf ihr Dorf, gerade auf ihre Freunde und Bekannten. In ihren Augen hervorzustrahlen war ja ihr Streben, ihr beglückendster Gedanke. Und nun sollte sie, die das Vaterhaus ehrenvoll und beneidet, an der Seite des Bräutigams verlassen hatte – sie, die Gesuchte, Gefeierte – sie sollte zurückkehren als eine, die den Laufpaß bekommen (denn das war und blieb sie in den Augen der Leute trotz ihres Redens), sie sollte zurückkehren beschimpft und erniedrigt für ihr ganzes Leben! Sie sollte vor ihren Vetter treten als eine Verschmähte, die Mitleid und Geringschätzung einflößen mußte! Sie sollte vor ihre Mutter treten in Schmach und Schande – vor die gute Mutter, deren Stolz und einzige Freude sie gewesen, die keine Ahnung hatte von ihrem Unglück und in kurzem ihren »Ehrentag« mitzufeiern hoffte! – Sie sollte den Spott und die übeln Nachreden der bösen Zungen über sich ergehen lassen! Sie sollte erleben, wie man mit Fingern auf sie zeigte, sollte es in ihre Ohren hören, wie man sagte: »Da seht sie, die so hoch hinaus wollte! Nun ist sie wieder da! Ihr Stadtlehrer hat sie fortgeschickt, und nun mag sie auch kein ehrlicher Bauernbursch mehr!«

Die Erlebnisse der letzten Tage hatten das Mädchen im tiefsten erregt, ihre Seele gerüttelt und geschüttelt, ihr Gefühl krankhaft gereizt. Wie sie nun bei der Vorstellung, so kläglich in ihre Heimat zurückkehren zu müssen, alle Marter empfand, welche die Schmach der Niederlage dem Ehrgeiz auferlegt, da folgte auf den heroischen Stolz, den die Verabschiedung des Bräutigams in ihr erweckt hatte, der Zweifel, das Zagen, die Reue. Hab' ich auch wirklich Ursache gehabt, ihm aufzukünden? Bin ich nicht zu hitzig gewesen? Hab' ich am Ende unrecht gesehen und gemeint, er wolle mit mir brechen, bloß weil ich in der Zeit davon habe schwatzen hören? Kann er nicht bloß übler Laune gewesen sein, und sind meine Antworten nicht am Ende so ungeschickt gewesen, daß er nicht anders konnte als zornig werden? – Solche Fragen traten in ihr hervor und konnten es wohl; denn das Dorfmädchen ist an eine derbere Sprache und Handlungsweise von Jugend auf gewöhnt und mußte die vernommenen Schmähworte nicht für so beweiskräftig halten als eine gebildete, zarte Städterin. In ihrer Gemütslage wurden ihr nun auch die anderen deutlichen Zeichen wieder zweifelhaft, und als sie bedachte, daß sie das Elend, welchem sie entgegenging, hätte vermeiden können, da wandelten sie wieder Schrecken und Verzweiflung an. Sie raffte all ihre Kraft zusammen und überlegte, wie Forstner sich die letzte Zeit her und heute gegen sie benommen. Endlich aber rief sie fest und entschlossen: »Nein, ich hab' mich nicht getäuscht! Nein, ich hab' recht gehandelt! Was ich getan hab', das hab' ich tun müssen – ich hab' ein gutes Gewissen – und nun mag mir's auch gehen, wie's will!«

Sie stand auf, in der Meinung, zur Base hinunterzugehen, denn es war noch nicht die gewöhnliche Schlafenszeit. Allein sie fühlte sich überaus müde, die Glieder zitterten ihr. Sie hielt es für besser, sich niederzulegen.

Ihr Schlaf war unruhig, sie fuhr mehrmals auf in schweren Träumen. Als sie morgens erwachte, waren ihre Glieder wie gelähmt, ihr Kopf brannte, die Zunge klebte ihr am Gaumen. Sie war krank – ein Fieber hatte sie ergriffen.

Die Base, die sie vergebens zum Frühstück erwartet hatte, ging hinauf, um nachzusehen. Sie wußte noch nicht, was geschehen war. Gestern hatte sie freilich ein paarmal die Stimmen heruntergehört und auf einen Wortwechsel geschlossen; aber das war ja schon öfter vorgekommen, und da Forstner ruhig aus dem Hause, Christine zu Bett gegangen war, so glaubte sie nicht an einen Ausgang, wie er stattgefunden hatte.

Ans Bett des Mädchens getreten, erkundigte sie sich teilnehmend nach ihrem Befinden. Christine erklärte sich für unwohl und erzählte ihr alles. Die gute Frau war tief betroffen. »Ich hab' mir's gedacht,« rief sie aus, »aber nun bin ich doch erschreckt! Was wird deine Mutter dazu sagen, die an so etwas gar nicht denkt? Ich muß ihr's zu wissen tun, alles und jedes, und das heute noch.« Christine verbot das. »Ich will's selber tun, wenn ich wieder auf bin – ich allein kann's recht tun.« – »Aber wenn du ernstlich krank würdest,« entgegnete die Base, »wenn du –« – »sterben würdest, meinen Sie? Das wäre vielleicht das beste für mich; aber eben darum glaub' ich nicht dran. Wenn Gefahr kommt, dann können Sie schreiben, aber jetzt nicht – Ihre Hand darauf!« – Die Base beruhigte die Kranke durch ein ausdrückliches Versprechen und ging hinunter, einen Arzt holen zu lassen.

Dieser kam und erklärte den Zustand des Mädchens für den Anfang einer Krankheit, vor deren ernstlichem Ausbruch sie vielleicht noch bewahrt werden könnte. – In Befolgung dessen, was er vorschrieb, und in strengster Diät verging eine Reihe von Tagen. Zuletzt siegte die gute Natur des Dorfkindes, das Fieber wich, ihr Blut wurde ruhiger, ihr Appetit regte sich wieder, sie erholte sich und hatte das Gefühl der Genesung, jenes leichte, süße Gefühl, um dessentwillen es wohl der Mühe wert erscheint, eine Krankheit ausgehalten zu haben. In der Genesung ist von dem Zustande des Leidens nicht mehr übrig als eine körperliche Schwäche, in der ein innerliches Leben um so reicher sich entfalten kann, eine Schwäche, die alle Gefühle mildert und uns die ganze Welt in sanftem Lichte erscheinen läßt. Und zu dieser Poesie der Krankheit gesellt sich eine stille Lust des Aufstrebens und Fortschreitens zu neuem Wohlsein und Glück, das ahnungsreich vor der Seele webt. Der Genesende kann nicht verzweifeln. Auch nach dem größten Verlust muß er wieder hoffen auf eine Entschädigung, sei es auch nur die Kraft, den Verlust ohne Schmerz ertragen zu können.

Während Christine sich leiblich erholte, genas sie auch geistig. In ihrem stillen, helleren Seelenzustande sah sie zurück auf ihre Erlebnisse und dachte jenes Moments wieder, wo sie in ihrem Unglück eine gerechte Strafe erkannt und es in diesem Sinne willkommen geheißen hatte. Und es fiel ihr ein, daß sie später doch wieder verzweifelt war, als sie sich vorstellte, wie sie verachtet und verlassen zur Mutter heimkehrte – das heißt doch eigentlich: die heilvolle Strafe zu Ende dulden sollte. – Sie lächelte ernst über sich selbst und sagte: »Ich hab's wieder vergessen gehabt! – Das geht nicht auf einmal, wie's scheint!« – Nun faßte sie aber in Wiederholung jener Anschauung den Entschluß, alles zu dulden, was an Schmach und Beschimpfung über sie verhängt sein sollte. Und nun konnte sie hoffen, zu triumphieren, denn zu ihrer Erhebung und Selbstüberwindung half ihr die Natur.

In ihrer Leidenszeit hatte sie die sorgsamste, wir können sagen, liebevollste Pflege erfahren, und diese setzte sich während ihrer Genesung fort. Die Base und der Vetter taten alles, was in ihren Kräften stand. Susanne war wie verwandelt, ganz Aufmerksamkeit und Güte für sie, und nichts schien sie mehr zu beglücken, als wenn ihr Christine freundlich die Hand gab und sie dabei mit erkenntlichem Blick ansah. Auch Mamsell Adelheid kam täglich, sich zu erkundigen und sie zu trösten. Die Vornehmheit der Lehrerin war verschwunden und hatte ganz einer würdigen, mütterlichen Teilnahme Platz gemacht. Auf Christine in ihrer jetzigen Weichheit machte das alles einen rührenden Eindruck. Mit Tränen im Auge sagte sie sich: »Die Menschen sind doch viel besser, als man denkt! Man sollte eigentlich niemand für schlecht ausgeben, sondern warten, bis er wieder gut wird.« Sie dachte daran, daß auch die Leute in ihrem Dorf nicht so schlimm sein würden, als sie sich zuerst vorgestellt, und der Gedanke der Heimkehr verlor auch aus diesem Grunde mehr von dem Peinlichen und Schreckhaften.

Wenn sich übrigens Mamsell Adelheid in der Tat über Erwarten teilnahmvoll gegen ihre Schülerin erzeigte, so war sie damit noch nicht ein Muster von Zartheit geworden, und dem Drange, Gericht zu halten über irgend jemand, konnte sie nicht unbedingt widerstehen. – Eines Vormittags kam sie mit hastigeren Schritten als gewöhnlich in die Stube, wo sich die Rekonvaleszentin befand, und man sah gleich, daß sie etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte. Sie zögerte nicht, es los zu werden, und rief nach ihrem Gruße der anwesenden Frau Kahl zu: »Nun, liebe Frau Base, haben Sie's auch schon gehört? – Ich habe manches erlebt in der Welt, aber das geht doch über alle Begriffe! So schnell – und in dieser Zeit! Nein, für so schlecht hätt' ich diesen Menschen doch nicht gehalten!« – »Was gibt's denn?« fragten Christine und die Base zu gleicher Zeit. Adelheid sah teilnehmend auf das Mädchen und sagte: »Sei froh, Christine, und wünsche dir Glück, daß du ihn nicht bekommen, daß du ihn noch zu rechter Zeit kennen gelernt hast! Besser vor der Hochzeit als nachher!« – »Ah so,« erwiderte das Mädchen, indem eine leichte Röte über ihr blasses Gesicht flog; »nun kann ich's erraten! Er hat sich mit ihr versprochen?« – »Das hat er getan, gute Christine, und zwar an demselben Abend, wo du im ärgsten Fieber lagst!« – Frau Kahl sah die Mamsell vorwurfsvoll an und rief: »Das hättest du nicht sagen sollen! Wenn sie nun wieder schlimmer wird?« – Aber Christine hatte sich von dem Kanapee, worauf sie gesessen, rasch erhoben und rief: »Nein, das macht mich gerade gesund!« – Sie sah in der Tat genesen aus und atmete leicht, als ob sie von einer großen Last befreit wäre.

Und das war sie. Die Meldung hatte sie befreit von der letzten Ungewißheit in bezug auf den Lehrer, von dem letzten Grunde, sich selbst mit der Vorstellung einer übereilten Handlung zu quälen. Was sie gedacht hatte, war nun bewiesen. Wenn er nur von ihr weggehen und mit jener sich versprechen konnte, dann hatte er schon lange keine Liebe mehr zu ihr, sondern zu jener; dann war er mit der Absicht zu ihr gekommen, Händel zu suchen, um sie loszuwerden; dann hatte sie ganz recht gehandelt und das beste Gewissen. Nun war sie frei von ihm ganz und gar; sie war frei von Achtung und Liebe zu ihm, sie war frei von Haß gegen ihn und von Eifersucht gegen sie. – »Mag er glücklich sein! mögen sie glücklich sein alle beide!« das waren ihre Gedanken. – Wen man nicht achtet, den kann man nicht hassen und nicht beneiden. Man fühlt ihn unter sich und machtlos und dürftig bei allem äußeren Glück.

Christine erklärte sich für gesund. Der Arzt, der bald darauf ins Zimmer trat, bestätigte dies und erlaubte ihr, an einem der nächsten Tage nach Hause zu reisen.

In einer Stimmung, die ihr selber auffiel, mit einer Ruhe, die nur selten durch lebhaftere Empfindungen unterbrochen wurde, machte sich Christine zur Heimkehr bereit. Sie schloß mit ihrem Stadtleben ab und hatte das Gefühl eines Wanderers, der sich nach langem Irrgehen wieder zurechtfindet. Er hat Zeit und Mühe verloren, er wird zu spät kommen, aber er ist doch wieder auf dem rechten Wege.

Nun war die Zeit gekommen, den Brief an ihre Mutter abzufassen. Sie meldete kurz, was in den letzten Wochen geschehen war, fügte aber dann alles hinzu, was sie für die Mutter Tröstliches zu sagen wußte. Sie hob hervor, daß sie für die Stadt nicht passe, daß sie mit Forstner nie glücklich geworden wäre und dem Himmel danken müsse, noch zu rechter Zeit seinen Charakter kennen gelernt zu haben. Sie unterstrich die Nachricht, daß sie ihm aufgesagt habe, und daß sie ihn nicht mehr gemocht hätte, wenn er auch wiedergekommen wäre. Jetzt sei er mit seiner Wilhelmine versprochen, und das sei gut, denn die beiden taugten füreinander und wären einander wert. Sie selber habe ihren Entschluß gefaßt, sie wolle nach Hause gehen und mit der Mutter überlegen, was zu tun sei. Glücklich wolle sie nicht mehr werden, aber verzagen wolle sie deswegen auch nicht. Sie wolle schaffen und arbeiten, wie sie's gelernt habe, sie wolle ihre Schuldigkeit tun und als ein rechtschaffenes Mädchen leben und sterben.

Vorsichtshalber trug sie den Brief selber auf die Post. Durch die Aufschrift hatte sie dafür gesorgt, daß er sicher einen halben Tag vor ihrer Ankunft in die Hände der Mutter gelangte.

Als sie am zweiten Morgen nach ihrer Wiederherstellung aufgestanden war, ging sie im Unterkleid zu der alten Kommode, zog das oberste Fach heraus und lächelte mit einer seltsamen Mischung von Freud' und Leid. Die Bauernkleider, in denen sie hergekommen war, lagen darin. Sie nahm ein Stück nach dem anderen heraus, betrachtete sie, als sie auf dem Tisch ausgebreitet waren, mit einer Art von Feierlichkeit, und kleidete sich damit an. Als sie fertig war und in den Spiegel sah, schüttelte sie erst den Kopf, dann hing sie mit zufriedenen Blicken an dem Bild. Die Kleider waren ihr zu weit geworden und kamen ihr so im ersten Moment doppelt ungewohnt vor. Aber es waren doch die Kleider, in denen sie schöne Tage gesehen hatte – jetzt das Wahrzeichen einer verständigen Umkehr und eines neuen Lebens.

Groß war die Verwunderung, als sie in diesem Anzug, allen unerwartet, in die untere Stube trat. Und sie minderte sich nicht, als die kaum Genesene der Base erklärte, da das Wetter so gut sei, wolle sie nicht nach Hause fahren, sondern gehen. An ihrer Krankheit sei schuld gewesen, daß sie sich zu wenig Bewegung gemacht habe; das Gehen würde ihr gesund sein und sie würde sich's jetzt um keinen Preis abkaufen lassen. Alle Einreden der Sorglichkeit waren umsonst, und man fügte sich endlich in ihren wiederholt erklärten Willen.

Nach dem Frühstück nahm sie die Base mit auf ihre Stube, wo ihre Stadtkleider in drei verschiedenen Partien auf dem Kanapee lagen. Sie bat ihre Verwandte, die erste mit den wertvollsten Stücken zum Andenken von ihr anzunehmen und die beiden anderen der Mamsell Adelheid und der Susanne zu übergeben. Das Sträuben der guten Frau wurde überwunden und die Einwilligung erzwungen. Die Geschenke, die sie von Forstner erhalten hatte, lagen auf einem Ecktisch. Sie nahm der Base das Versprechen ab, ihm alle zusammen heute noch ins Haus zu schicken. Wenn er dafür die ihrigen zurücksende, so bäte sie den Herrn Vetter, sie zu behalten. Sie würde kein Fäserchen von diesem Manne bei sich dulden können. – Die Kiste, in der sie ihre Habseligkeiten vom Dorfe mitgebracht hatte, stand gepackt in einer Ecke. Man sollte sie dem Fuhrmann übergeben, der am folgenden Tage die Stadt passierte. Es blieb nichts mehr übrig, als von der letzten Geldsendung der Mutter die kleine Schlußrechnung der Base zu bezahlen. Dies geschah, und das Landmädchen war fertig mit der Stadt.

Es war nach neun Uhr, als sie der kleinen Zahl ihrer städtischen Bekannten Lebewohl sagte. Die gute Frau Kahl und Susanne weinten, der Vetter hatte feuchte Augen und Mamsell Adelheid widerstand mit Mühe dem Drang ihres Gefühls. Christine war über diese Zeichen wahrer Teilnahme zu erfreut, um gleich den anderen weich werden zu können. Sie gab allen die Hand, sah mit glänzenden Blicken der Liebe und des Dankes auf sie, und jetzt endlich standen Tränen auch in ihren Augen. – »Leb wohl, leb wohl, du gutes, liebes Kind!« rief die Base, indem sie ihre Hand zärtlich gefaßt hielt. »Du hast hier keine guten Tage gehabt, du hast viel gelitten; aber dir wird's auch noch gut gehen!« – »Mir wird's gehen, wie ich's verdiene,« erwiderte Christine, »und anders verlang' ich's nicht!«

Wenige Minuten später, und sie ging allein, wie sie sich's erbeten hatte, durch die Hauptstraße der Stadt. Ein paar Vorübergehende kannten sie, starrten sie an und sahen ihr kopfschüttelnd nach. Christine tat, als ob sie nichts gemerkt hätte, und ging ruhigen Schrittes weiter; aber doch war sie froh, als sie die Stadt endlich hinter sich hatte.

Es war in der zweiten Hälfte des März und der Tag wie zu einer Fußwanderung geschaffen, Frühlingsanfang, nicht nur dem Kalender nach, sondern in der Tat. Der Winter hatte schon seit einigen Tagen weichen müssen, der Lenz hatte das Feld behauptet, und schmetternde Lerchen verkündeten seinen Sieg dem Himmel und der Erde. Die Luft war milde, die Sonne von leichten Wolken umzogen, so daß ihr Schein durchdringen konnte, wenn auch nicht ihr Bild, und der Weg trocken, hier und da noch gefeuchtet und weich, dort schon bedeckt von Märzenstaub. Und Gras und Laub, welche dieser bringen soll, waren reichlich verheißen in dem frischeren Grün der Wiesen, in den Knospen der Bäume und Gesträuche.

Christine wanderte still weiter, die Straße weiter, auf welcher sie hergefahren war, und die sie nun zum erstenmal wiedersah. Ihr Mund sog die laufrische Gottesluft ein, ihre Augen schweiften umher auf dem Feld und den Waldstücken, die in der Landschaft hervortraten, und ihr Gesicht ward heller und freundlicher bei diesem Anblick. Bald fühlte sie sich wieder hineingezogen in ihr Inneres, sie überließ sich den Gedanken ihrer Seele und ging dahin wie eine, die im Traume wandelt.

Ein Rieser Bauernmädchen ist im benachbarten Frankenlande nichts Seltenes und kann schon darum nicht bemerkenswert erscheinen, weil ihre Tracht von der dortigen ländlichen nur wenig unterschieden ist. Aber Christine hatte in ihrem Wesen etwas, das auffallen mußte und wirklich auffiel. Die Landleute, die ihr begegneten, der Steinklopfer am Wege sahen sie an und grüßten sie teilnehmend. Als einer sie nach erhaltenem Dank fragte: »Wohin denn noch heute?« und mit sanfter Stimme die Antwort erhielt: »Ins Ries,« da betrachtete er sie noch einmal genau, bevor er weiter ging, schien aber doch nicht mit sich einig werden zu können, was er aus ihr machen solle.

Infolge des Lebens in der Stadt und der Leiden, die sie darin ausgehalten hatte, war die Gestalt des Landmädchens um vieles schlanker geworden, die Fülle des Gesichts war geschwunden, die Farbe, die ihr auf dem Dorfe ein so frisches Aussehen gegeben hatte, war gewichen, und die jetzige Blässe nur von einem bräunlichen Hauch und infolge des Gehens von einer leichten, flüchtigen Röte bedeckt. Da sie den gestreiften »Kittel« (das Gewand des Oberkörpers) offenbar nicht mehr ausfüllte, so sagte sich jeder, daß sie krank gewesen sein und viel ausgestanden haben müsse. Aber das war es nicht allein, was auffiel. Ihr bleiches Gesicht hatte einen Glanz, aus ihren feuchten Augen, wenn sie damit aufsah, ging ein Blick, und der ganze Kopf hatte ein Gepräge und einen Ausdruck, daß jeder augenblicklich sah, nicht nur daß es ein schönes Mädchen sei, sondern auch daß es mit ihr eine ganz besondere Bewandtnis haben müsse.

Es war die Erfahrung ihres Geistes, welche dem Gesicht diesen Ausdruck lieh, es waren die Empfindungen und Bilder ihrer Seele, die es verklärten. Die Erdenschwere des Leides war ihr abgenommen, aber sein Schein und sein Duft waren geblieben. Die Freude des Lebens, ja die Hoffnung auf sie war geflohen, aber ein stiller Friede, gegründet auf das Bewußtsein, endlich recht und gut gehandelt zu haben, waren eingezogen in sie. Eine Wehmut erfüllte sie, die etwas Süßes hatte, weil sie durchdrungen war von holdem Licht und getragen von einem erstarkten Geiste. Alles das weckte und nährte das Spiel der Phantasie, eine Träumerei, welche das Mädchen weiter und weiter zog und neue, wunderbare Welten ihrem Blick öffnete. – Die Poesie der Lieder, die sie in schönen Tagen auf dem Dorfe gelernt und gesungen hatte, lebte wieder in ihr auf. Traurige und fröhliche summten durcheinander in ihr und feuchteten bald ihre Augen und regten zarte, süße Schauer in ihr an. Sie hörte die Melodien ordentlich in ihrer Seele, und Stimmen in der Luft, nahe und ferne, schienen in sie einzuklingen. – Die gute Christine! Jetzt war sie fein, und ihr Gesicht war geistig und ihr ganzes Wesen von einem Reiz übergossen, daß es auch der eitle Pedant in der Stadt hätte anerkennen müssen. – Zu spät! – Aber zu ihrem großen Glück! – Jener hätte sie nicht verdient, auch wenn es ihm möglich gewesen wäre, sein Versprechen zu halten und seine Treue zu bewahren.

Wir haben damit erklärt, was die Vorübergehenden Absonderliches an Christine wahrnahmen. Hübsche Mädchen in Rieser Tracht kann man viele sehen, wenn man durch die gesegnete Ebene wandert – und Glück hat. Aber Bilder, wie Christine in ihrer jetzigen Seelenstimmung eins darbot, wird man unter allen Umständen nur selten bemerken können.

In der Einsamkeit eines Waldtals nahmen die Gedanken der Fußgängerin eine bestimmte Richtung. Ein Verhältnis, wie sie es mit Forstner gehabt, läßt sich nicht abtun und vergessen; die Seele wird eine Zeitlang immer wieder zurückschauen und sich den Verlauf und den Ausgang zu erklären suchen. – Christine ließ das Handeln Forstners wieder an ihrem Geiste vorüberziehen. Wie billig sie war und wieviel sie sich selber zur Last legen mochte, nahm sie alles zusammen und hatte sie ihn in den hauptsächlichsten Momenten vor Augen, so konnte sie sein Benehmen zwar begreiflich finden, aber auch nicht der leiseste Hauch von Achtung dieses Mannes war ihr möglich. Im Besitz dessen, was Natur und Geschick ihr an Einsicht verliehen hatten, kam ihr die ängstliche Sorge und die Wichtigkeit, womit er ihr den Flitterkram seiner Bildung aufdrängen wollte, über alle Maßen kleinlich vor; und daß er diesen als die Hauptsache ansah, für die wirkliche Hauptsache dagegen, welche sie jetzt aufs allerklarste anschaute, keine Augen und kein Gemüt hatte, das erfüllte ihre Seele mit einer Geringschätzung, in welcher sie ihn zu einem Nichts hinschwinden sah.

Es war unvermeidlich, hier nicht an das Benehmen des Vetters Hans zu denken. Obwohl sie eine Scheu davor empfand, so konnte sie dem Reiz doch nicht widerstehen, sich zu vergegenwärtigen, wie sich dieser von der ersten Zeit an gegen sie betragen hatte. Seine treue Liebe, die sich erst so bescheiden verbergen wollte und sich doch verriet; seine Freude an ihr und das Vergnügen, das aus ihm leuchtete, wenn er sie bei der Arbeit loben konnte und sie dabei ansah; die stete Sorge für sie und ihre Mutter, der Eifer für ihr Wohlergehen und ihre Ehre; sein Großmut, als er erfahren hatte, was ihn aufs tiefste und bitterste kränken mußte; der Stolz, der sich vor den Leuten nichts anmerken ließ und alles vergessen zu haben schien; die unendliche Gutmütigkeit, womit er sie später als Verwandte und Jugendfreundin behandelte, als ob sie ihn nie beleidigt hätte – alles das stellte sich vor ihre Seele und verband sich zu einem einzigen Bilde. Die ganze Schönheit eines von Gott und Natur mit gleicher Liebe beschenkten Gemüts glänzte vor ihr, und sie war jetzt in der rechten Stimmung, sie zu erkennen und nach ihrem Wert zu schätzen. Tränen stürzten aus ihren Augen, die nur der edeln Seele galten. Sie fühlte die Liebe und Treue eines solchen Mannes als das Liebste und Holdeste, was es geben könne auf der Erde; in ihrem Herzen gärte und bebte es, und eine Glut entzündete sich und loderte empor und übergoß ihr bleiches Gesicht urplötzlich mit brennender Röte.

Es war geschehen. Sie hatte ein Gefühl, als ob nichts wahr gewesen wäre in ihrem ganzen Leben, als diese Liebe zu dem besten Menschen auf der Welt. Alles, was ihr an anderen schön vorgekommen war und reizend und vornehm, erschien ihr jetzt wie gar nichts, wie Rauch, den ein Windhauch verjagte. Sie begriff nicht, wie man sich davon blenden lassen, wie man daran sein Herz hängen, wie man darauf bauen und vertrauen könne.

Und sie hatte sich zweimal davon blenden lassen! Sie war von dem, der allein aller Liebe und Treue wert gewesen, zweimal abgefallen! – Das Gesicht, auf welchem sich die Blässe wieder gelagert hatte, wurde aufs neue überströmt – von der Röte der Scham; und diese blieb länger auf ihm als die Farbe der Liebe und des Entzückens. – »Du hast keine Augen gehabt,« rief sie sich strafend und leidvoll zu, »du hast nichts gesehen – du Blinde, Dumme, Sinnlose!« – Sie fühlte ihre ganze Unwürdigkeit dem braven, uneigennützigen, unendlich liebevollen Manne gegenüber. Das Licht der Erkenntnis, das ihr zuerst in schwachem, vorübergehendem Aufzucken, dann im klaren, hellen Scheine zuteil geworden war – jetzt flammte es vor ihr empor und leuchtete und brannte vor ihr und faßte und durchloderte sie, und drohte sie zu verzehren. – Das war das Maß, mit dem ihr gemessen werden sollte – das volle, gerüttelte und geschüttelte, überfließende Maß.

In der Qual dieser Flamme gab es nur eine Rettung für Christine, und sie griff danach. »Er soll's nie, nie erfahren, wie es mir zumut ist! Kein Sterbenswörtchen soll er von mir hören, aus keiner Miene, keinem Zuck soll er's erraten können! Im Herzen will ich ihn tragen Tag und Nacht – totschlagen will ich mich lassen für ihn, wenn's sein muß – aber sterben will ich, ohne daß er weiß, wie ich gesinnt gewesen bin!« – Nun brachen wieder Tränen aus ihren Augen und rollten die Wangen hinab; aber es waren lindernde Tränen. Sie und das Gelübde, das sie getan, halfen zusammen, der Tieferregten nach und nach die Ruhe wieder ins Herz zu flößen, in der sie still ergeben, aber zugleich mit einem gewissen Stolz der Entsagung fortwanderte.

Endlich fühlte sie sich müde und erschöpft, und im nächsten Dorfe ging sie in das Wirtshaus, das an der Straße lag. Sie nahm ein einfaches Mahl zu sich, ruhte aus und erholte sich. Als sie nach der Zeche fragte, sah die schon ziemlich bejahrte stattliche Wirtin sie prüfend an. »Du bist wohl im Dienst gewesen und krank geworden?« fragte sie teilnehmend. – Christine richtete merklich verletzt den Kopf auf und erwiderte: »Krank gewesen bin ich, aber im Dienst nicht.« – Der teilnehmende Blick der Wirtin verwandelte sich in einen spöttischen. »Ah,« sagte sie, »da bitt' ich um Verzeihung, daß ich der Jungfer unrecht getan hab'!« Sie überlegte ein wenig, nannte die Summe, erhielt das Geld, bedankte sich und ging hinaus. Die Zeche war ziemlich groß, und Christine fühlte, was sie getan hatte. – »Du bist wieder dumm und am unrechten Orte empfindlich gewesen,« dachte sie. »Die Frau ist gut und wollte dir eine kleine Zeche machen, und du bist ihr lächerlich vorgekommen mit deinem Stolz, und sie hat recht gehabt, dir eine Lehre zu geben. Im Dienst! 's wär' besser, du wärst im Dienst gewesen und könntest jetzt nach Hause gehen –« – Ihr Geist verlor sich in Gedanken, dann erhellten sich plötzlich ihre Züge; mit einem Aussehen, als ob sie einen Vorsatz gefaßt hätte, erhob sie sich und verließ die Stube. Im »Haustennen« stand die Wirtin. »Geht's schon weiter, Jungfer?« war die noch immer spöttische Frage. »Ja,« erwiderte Christine. »Lebt wohl, Frau Wirtin, und haltet mich nicht für einfältiger als ich bin!« Das behaglich breite Gesicht lächelte und der Spott darin erhielt einen Zusatz von Wohlwollen. »O bewahre!« rief sie, »ich seh' schon, wen ich vor mir hab'. Glück auf den Weg!«

Es war notwendig, daß Christine sich gestärkt und erholt hatte – sie kam dem Ries näher und näher. – Eine Stunde darauf, und sie war eingetreten in seinen Kreis, und ihr Herz klopfte, ihr Kopf schwindelte. Sie sah, was ihr bekannt war von Jugend auf, aber das Bekannte erschien ihr wie ein Märchen. Dort rechts der Felsen von Wallerstein im Kranze von Häusern und Bäumen, geradeaus der graue Turm von Nördlingen, und jetzt in dem Schein der Sonne, die vorübergehend aus den Wolken trat – ihr Geburtsort. – War es nicht ein Traumgesicht? – Waren die Bilder, die vor ihren Augen flimmerten, nicht aus Luft gewoben und hergezaubert, um auf einmal wieder zu verschwinden? – Nein, sie standen fest und blieben stehen und traten immer größer und deutlicher hervor. Sie hatten gezittert und gegaukelt vor ihr, weil ihren eigenen Kopf eine Art von Trunkenheit ergriffen hatte, und in der Schwärmerei des Staunens hatte das Altgewohnteste den Charakter des Wunders angenommen.

Sich endlich besinnend und fassend, ging sie weiter und weiter, ihrem Dorfe zu. Sie freute sich an der Heimat, an den Leuten, die ihr begegneten, an den Arbeitern auf dem Felde, die sie von weitem sah, und an der schönen und traulichen Rieser Tracht; aber sie fürchtete sich, daß irgend jemand sie erkennen und bei ihrem Namen rufen möchte. Unangefochten langte sie indes an der Feldung ihres Geburtsortes an. Sie schlug einen Fußweg ein.

Je näher sie dem Ziele kam, desto mehr entsank ihr der Mut. Sie konnte nicht anders – sie mußte sich wieder vorstellen, was die Leute von ihr denken, was sie sagen und ihr nachsagen würden. Alle Schmach, als eine Verstoßene, der Verleumdung Preisgegebene heimzukehren, stieg wieder vor ihrer Seele auf. Da fiel ihr aber auch wieder ein, daß sie Leid und Beschwer ja gewünscht und gut gefunden hatte. Sie lächelte mitleidig über sich selber und ging mit neuer Entschlossenheit vorwärts.

Die Sonne war hinter dichtere Wolken getreten; es war trübe und kühler geworden und die laublosen Gärten des Dorfes sahen nicht gerade erfreulich aus. Als sie eine Hecke entlang ging, um auf die Südseite zu kommen, wo ihr Haus stand, bemerkte sie in einem Garten eine Jugendfreundin, die ein Beet umhackte. Die Tritte der Vorübergehenden vernehmend, schaute diese auf, und Christine erwartete einen Zuruf; aber er blieb aus. »Sie kennt mich nicht mehr,« dachte das Mädchen. »Nun, das ist ja natürlich!«

An der kleinen Tür, die von ihrem Garten auf den Fußweg hinausführte, stand die Mutter. Sie hatte sich, von ihren eigenen Gefühlen einen Schluß ziehend, eben hier aufgestellt, um die Tochter zu erwarten. Christine ging rascher und gab ihr mit leis gesprochenem Gruße die Hand. Die Witwe sah kummervoll und blaß aus, aber ihr Gesicht war nicht ohne eine Art von Würde. »O Christine!« rief sie mit gedämpfter Stimme – weiter nichts. Man konnte sie sehen und hören vom Haus oder Garten des Nachbars, und niemand sollte wahrnehmen, wie's ihr ums Herz war. – Sie führte die Tochter an der Hand durch den Garten in den kleinen Hofraum. Hier stand Hans. Er sah Christine an mit einem Gesicht, in welchem das Mitleid hinter tiefem Ernst verborgen war, und sagte ruhig: »Guten Abend, Christine!« Sie dankte, ohne ihn anzusehen, und ging mit der Mutter ins Haus.

Als sie allein waren, öffnete die Mutter ihr Herz und ließ den Klagen, die sie bis jetzt zurückgepreßt hatte, freien Lauf. »Wer hätte das gedacht!« rief sie mit tiefer Betrübnis. »Wer hätte das diesem Menschen zugetraut! – Ich hab' gemeint, ich müss' umsinken vor Schrecken, wie ich deinen Brief gelesen hab'. Nicht glauben hab' ich wollen, was du geschrieben hast! Aber jetzt, wenn ich dich ansehe, muß ich freilich alles glauben! – Du armes Mädchen,« setzte sie hinzu, indem sie die Tochter in zärtlichem Mitleid bei den Händen faßte, »so elend, so verfallen! – Das ist nun das Glück, das du gemacht hast! Das ist die Freude, die ich an meinem einzigen Kind erlebt hab'!« – Ihre Tränen flossen, das Schluchzen ließ sie nicht weiterreden. Christine tröstete sie und sagte: »Sei ruhig, Mutter! Laß dir's nicht so zu Herzen gehen! – Ich bin gesund und werde bald wieder aussehen wie sonst.« – »Ja,« entgegnete die Witwe, »dein elendes Aussehen wird vergehen auf dem Land, aber die Schande wird dir bleiben. Was wird man von dir jetzt alles sagen im Dorf! Was werden wir uns gefallen lassen müssen! Das Unglück, das einem widerfährt, ist ja den Leuten nie groß genug, sie müssen's noch größer machen. Und wir, denen ohnehin so manches feind ist im Dorf – was werden erst wir hören müssen! Ich trau' mich gar nimmer unter die Leute – ich schäme mich zu Tod!«

Als die Tochter die von ihr überwundene Furcht an der Mutter sah, kam sie ihr in keiner Art würdig vor, und sie erwiderte mit Ernst: »Was die Leute sagen, liebe Mutter, ist mir einerlei, und dir kann's auch so sein. Eine Zeitlang wird man schmähen, dann kommt wieder etwas anderes auf, und wir sind vergessen. Und wenn man auch spottet über uns und uns ausrichtet – haben wir's nicht verdient? Ist uns mit unserem Hochhinauswollen nicht recht geschehen? – Von der Seite muß man die Sache auch betrachten. So oder so ist das Gerede der Leute gleichgültig. Wenn sie lügen über mich, so geht's mich nichts an, und wenn sie die Wahrheit sagen, muß ich's aushalten. Und am Ende – wenn's mir hier wirklich zu arg würde, gibt's nicht noch einen Dienst anderwärts? Man kann sich immer helfen, wenn man noch zu was gut ist in der Welt, und alles ist noch lang' nicht verloren.«

Diese gefaßte Sprache des Kindes tat der Mutter wohl und flößte auch ihr wieder Trost und neuen Mut ein. Sie sah schweigend auf das blasse, aber feinere und vornehmere Gesicht und fühlte, daß ihre Tochter in der Stadt nicht nur verloren, sondern auch etwas gewonnen hatte. Ihre Mienen klärten sich auf und es war, als ob sie etwas auf der Zunge hätte. Sie schwieg aber. Sie hatte, wie es schien, nicht den Mut, zu sagen, was sie dachte.

Als am anderen Tage die große Neuigkeit in dem Dorfe bekannt wurde, gab es freilich ein Geschrei, das dem, welches die Verlobung des Mädchens mit dem Lehrer hervorgerufen hatte, in keiner Weise nachstand. Im Gegenteil, die Ausrufungen waren jetzt noch leidenschaftlicher, das Gewunder größer und nachhaltiger, weil die Nachricht wirklich ganz unerwartet gekommen und wie ein Blitz aus wolkenlosem Himmel herniedergefahren war. Welch ein Ohrenschmaus für die ehemaligen Mitbewerberinnen! Welch ein Triumph für diejenigen, die in ihrer sittlichen Entrüstung einen schlimmen Ausgang vorhergesagt hatten! – Die Partei der Weiber und Mädchen hatte gesiegt; das Schicksal hatte ihnen recht gegeben. Und nun ließen sie's die jungen Bursche, die ihnen früher widersprochen hatten, gehörig empfinden und kosteten den Ruhm bewährter Prophetengabe von Grund aus. »Hab' ich's nicht gesagt? Hab' ich's nicht vorher gewußt? Du hast mit mir gestritten, aber nun siehst du, wer recht gehabt hat. Mit Schand' und Spott ist sie heimgekommen, die eitle Närrin! Und nun wird's aus sein mit ihrer Vornehmheit – aus für alle Zeit!«

Die große Frage war nun: wie werden die Leute miteinander forthausen? Ist's denn möglich, daß sie beisammenbleiben? Und wenn sie's tun, was soll am Ende daraus werden? – In einer zahlreichen Bauernfamilie, wo dieser Punkt beim Abendessen erörtert wurde, meinte der Oberknecht: »Am End' nimmt sie der Hans doch noch zum Weib.« – Da fuhr aber die älteste Tochter, die nicht zu den schönsten gehörte und ihre Sechsundzwanzig hinter sich hatte, empört auf und rief: »Red' nicht so dumm, alter ›Gischpel!‹ Ein Mensch wie der Hans, der etwas hat und andere kriegen kann, wenn er will, der wird wohl eine nehmen, die ein halbes Jahr mit einem Schulmeister herumgefahren ist! Schäm' dich! 's ist sündlich, einem braven Burschen so was zuzutrauen!« – »No, no,« versetzte der in der Tat schon etwas bejahrte Knecht phlegmatisch lächelnd, »man kann nicht alles so genau nehmen, und 's hat sich schon gar manches noch g'macht in der Welt.« – »Und ich wett', was du willst,« erwiderte die erzürnte Person, »er nimmt sie nicht mehr!« – »'s kann auch sein,« versetzte der Knecht. »Ich kenn' den Hans nicht so genau, daß ich weiß, was er in einem Jahr tun wird. Ich weiß nur, was ich tät' – und ich tät' sie nehmen, wenn sie mich möcht'.« – »Du!« entgegnete die Tochter des Hauses mit verächtlichem Blick, während die andern Ehehalten lachten und die Magd schließlich meinte: »Du wärst net ›blöad‹ (blöde), Heiner! So eine könnt' dich aufrichten!«

Einige Tage später, und die Frage, die so viele Zungen in Bewegung gesetzt hatte, war entschieden. Man erfuhr, die Christine sei in *** (einem zwei Stunden entfernten, westlich gelegenen Dorfe) beim Holzbauern in Dienst gegangen. Damit erhielt das Gerede einen Kehraus, der den bisherigen Lärm würdig abschloß. »Die Lehrersbraut eine Bauernmagd! Und bei dem, wo's noch keine auf die Läng' hat aushalten können! – bei dem gröbsten aller Menschen im ganzen Ries! Die hat's zu was gebracht, das muß man sagen! Die kann sich freuen!« – Zur Ehre des Dorfs muß ich übrigens bemerken, daß auch gar mancher die Sache von einer anderen Seite ansah. Als ein ehrenhafter alter Bauer davon hörte, sagte er zu seiner Ehehälfte: »Wenn das in ihrem Kopf gewachsen ist, dann fang' ich wieder an, etwas zu halten von dem Mädchen.«

Allerdings war es in dem Kopf der Christine gewachsen, und zwar ging es so zu.

Am anderen Tage nach der Heimkehr ihrer Tochter hatte die Glauning schon einen großen Teil ihrer Ruhe und Besonnenheit wiedererlangt. Gedrückt war sie noch immer, und traurig ging sie im Hause umher; aber ihr Geist richtete sich allmählich auf und überlegte, wie sie das Unglück, das sie betroffen hatte, wieder gut machen könne. Leute wie sie überreden sich leicht, daß sich alles auf eben die Art wieder ausgleichen lasse, die ihnen erfreulich dünkt. Als sie nun ihre Tochter in der Stube und Küche wieder arbeiten sah wie ehedem, als sie den Vetter mit ihr umgehen sah, wie wenn nichts vorgefallen und sie höchstens von einem längeren Besuch zurückgekehrt wäre, da beurteilte sie die beiden nach sich und glaubte, alles könnte noch recht werden. Als erfahrene Frau mußte sie am besten wissen, was man alles zu tun habe, um in dieser Welt etwas zu erreichen; als Mutter hatte sie die Pflicht, für ihre Tochter zu denken und zu sorgen. Die Scheu, die sie gestern noch gefühlt hatte, wich daher einer Entschließung.

Nachmittags fing sie gegen Christine aufs neue an zu klagen und ihre Bekümmernis auszusprechen; es geschah dies aber in einem Ton, daß die Tochter gleich fühlte, der eigentliche Schmerz sei schon vorüber und eine ernste Tröstung nicht mehr vonnöten. Sie entgegnete mit Ruhe, daß diese Reden jetzt zu nichts mehr führen könnten. Man müsse das Geschehene geschehen sein lassen und nicht mehr daran denken, dann werde vielleicht alles wieder besser ins Gleiche kommen, als man glaube. »Da kannst du auch recht haben,« erwiderte die Mutter begütigt. Und nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: Man glaubt oft, man müsse ein recht großes Glück machen und deswegen ein kleineres, das einem entgegenkommt, verschmähen. Aber das große ist einem nicht bestimmt und bleibt aus; und wenn man das sieht und gescheit ist, nimmt man das kleinere an und lebt auch zufrieden dabei.« – Christine sah ihre Mutter befremdet an: diese glaubte, sie müsse sich deutlicher erklären, und sagte: »Du hast recht, Christine, alles kann wieder ins Gleiche gebracht werden, und du hast's in deiner Hand. Mir kannst du wohl glauben, denn ich versteh' mich darauf – der Hans hat dich noch immer gern! Er ist einer von den guten Menschen, die alles verzeihen, und denen es nicht möglich ist, etwas nachzutragen. Wenn du dich wieder freundlich gegen ihn benehmen und ihm ein wenig schöntun wolltest, so bin ich überzeugt –«

Das Gesicht des Mädchens hatte sich während dieser Rede, nach dem ersten deutlichen Wort, mit tiefer Röte bedeckt; jetzt funkelten ihre Augen, und mit erzürnter Heftigkeit rief sie: »Red' nicht weiter, Mutter! – ich bitte dich! – Wenn der Hans mich jetzt noch nähme, so wär' er ein Tropf – der jämmerlichste Mensch, der auf Gottes Erdboden herumwandelt! Und wenn er's wäre, und wenn er mich wollte, so möcht' ich ihn nicht, weil ich ihn verachten würde! Pfui! wie kannst du an so etwas denken und einem ehrlichen Mädchen solche Vorschläge machen!« – Die Mutter war betroffen; sie faßte sich indes wieder und sagte: »Nun, ich rate dir nichts, als was gar manches Mädchen schon getan hat, die jetzt als Frau hoch in Ehren steht. Du kennst die Welt nicht. Ich bin deine Mutter, ich muß für dich sorgen, ich muß dich wieder auf den rechten Weg weisen –« – »Red' nicht weiter,« rief Christine am ganzen Leibe zitternd, »oder es geschieht ein Unglück! – Noch ein Wort davon – und ich geh' fort und spring' ins Wasser!« – Die Alte starrte sie an. »Um Gottes willen,« rief sie, »tu' nur nicht gleich so wild! Ich hab' nur gemeint –« – »Du sollst nicht meinen, was eine Schande wäre für mich und für ihn. Glücklich sein muß man nicht in der Welt, aber seinen Charakter muß man behaupten und seine Ehre! Und das sag' ich dir jetzt: wenn du nochmal von dieser Sache anfängst, wenn du nur noch eine Silbe davon sprichst, dann geh' ich aus deinem Haus und deiner Lebtag wirst du mich nicht wiedersehen!«

Die Alte schwieg, seufzte tief und verließ die Stube. In ihrer Herzensangst ging sie in den Stall und traf dort den Vetter, der eben vom Felde heimgekommen war. Sie sah ihn traurig an und schüttelte den Kopf. Hans fragte, was ihr wäre, und sie erwiderte: »Ich bin betrübt über meine Tochter. Nicht nur, daß sie unglücklich heimgekommen ist – sie ist auch bös heimgekommen. Wenn ich etwas sag' und ihr einen guten Rat geben will, fährt sie mich an wie rasend. Als ob ich eine Schlechtigkeit von ihr verlangte! Guter Gott, wer hätte das gedacht! Wer hätte geglaubt, daß ich noch so was erleben müßte!« Hans fragte, um was es sich denn eigentlich handle, und die Mutter, die ihr Herz erleichtern wollte, erzählte ihm den ganzen Auftritt mit der Christine, indem sie in bezug auf ihn die zu seiner Ehre nötigen, schmeichelhaft klingenden Veränderungen anbrachte. Allein das fruchtete sehr wenig. Hans war bei ihrer Erzählung braunrot geworden und ein Blitz zuckte aus seinen Augen. Es kostete ihn Gewalt, den Zorn hinunterzudrücken, den er empfand; aber es gelang ihm, und er entgegnete mit einer gewissen Ruhe: »Die Christine hat recht gehabt. Mit uns beiden ist's aus. Je freundlicher sie gegen mich wäre, um so weniger möcht' ich sie, und Ihr würdet mich dann nicht lang' mehr bei Euch sehen.« – Die Mutter sah ihn tief betroffen an und rief: »Kann's denn wahr sein! ist wirklich alle Lieb' vergangen in dir?« – »Alle,« erwiderte Hans mit Nachdruck. »Und ich muß Euch nur sagen, Base, auch mir wär's lieb, wenn Ihr davon nicht mehr reden wolltet.« – »Ach,« rief die ebenso von der Liebe des Hans wie von der Schönheit ihrer Tochter überzeugte Frau in ihrer Not, »ich kann's nicht glauben, daß es dir Ernst ist! Geh weiter! Mit der Zeit –« – Aber nun sah Hans, dem die Stirnader schwoll, mit einem Gesicht auf sie, daß sie schleunig rief: »Sei ruhig, sei ruhig, ich will nichts mehr sagen!« – Hans drehte ihr den Rücken zu und ging an eine Arbeit.

Nun war die Reihe zu verzweifeln an die Alte gekommen. Wenn die Sachen so standen, dann war alles verloren; die letzte Hoffnung war ihr geraubt, und die Schande, die auf sie herabgefallen war, blieb auf ihr sitzen. Ein ehrbarer, vermöglicher Mann, das fühlte sie, meldet sich jetzt schwerlich mehr um ihre Tochter. Einen armen Teufel, einen Liederlichen konnte sie nicht brauchen, um so weniger, als ihr Vermögen im letzten Jahre ohnehin eine ziemlich bedeutende Einbuße erlitten hatte. Und wenn auch einer von der Mittelgattung kam, war zu glauben, daß die »bockbeinige« Christine ihn nehmen würde? – Ihr ganzes Leben war verdorben durch die Schlechtigkeit eines Menschen, dem sie getraut hatte. Sie konnte nichts dagegen tun, sie mußte ruhig dasitzen und alles über sich ergehen lassen, Schadenfreude, Spott und Verachtung. – Als sie sich das recht deutlich machte, stand ihre Seele, die vor allem auf eitler Ehre Glanz gerichtet war, Folterqualen aus. Sie weinte und wehklagte und rief zu wiederholten Malen: »Warum muß denn mir's grad' so gehen? Warum muß denn ich grad' so unglücklich sein?«

Auf diese Frage gab es eine Antwort, und auch das in moralischen Dingen nichts weniger als fein empfindende Weib kam endlich auf ihre Spur. Nach einer Weile des Zurückdenkens in die Vergangenheit sagte sie sich: »Ja, ja! – hätten wir nicht immer weiter getrachtet, wären wir beim Hans geblieben – hätt' ich selber das Maul aufgetan damals, wie ich's hätte tun können und müssen, dann wär' alles anders jetzt. Wir wären geachtet, wohlhabend und glücklich alle miteinander.« Und nun, in Not und in Schaden und in der Erkenntnis ihrer Mitwirkung dazu, klopfte auch bei ihr das Gewissen an. Es ging ein Licht auf in ihrem Kopf und ein Feuer durch ihr Herz, und sie rief: »Ich bin selber schuld an meinem Jammer, ja, ja, ich selber! – ich hab's nicht anders haben wollen!« – Sie stöhnte unter dem doppelten Druck des Unglücks und der eigenen Anklage, und nur in Tränen fand sie einige Erleichterung.

Christine ließ sie weinen. Sie verrichtete die Arbeiten des Tags und schien für nichts anderes mehr Sinn zu haben. Hier und da sah sie zu der Betrübten auf; aber ihr Gesicht verriet eher Befriedigung als Bedauern. Es war, als ob sie sagen wollte: »Fühl' es nur! Das kann dir nur gut sein, wie es mir gut gewesen ist!«

Der Sonntag kam und brachte einen Besuch. Es war wieder eine Base (deren jede gestandene Person im Ries eine ungezählte Menge hat), zugleich mit der Glauning und mit Hans verwandt, eine Söldnersfrau aus dem Dorfe des Holzbauern, die einem Hiesigen Zins bezahlt hatte. Nach geschehener Einweihung in das erlebte Unglück und der Empfangnahme von Worten des Bedauerns und Trostes kam die Rede auf die Angelegenheiten der Freundin, auf ihr Dorf und auf den genannten Bauern, der unter allen durch Reichtum, Verstand, Heftigkeit und Grobheit hervorragte. Frau Hubel (so hieß die Base) erzählte, daß dieser sonst so gescheite Mann eben je älter, je ärger würde, daß er wieder eine Magd wegen einer kleinen Vergeßlichkeit ausgeschimpft habe »fürs Vaterland«, daß die Magd ihm auch »ein rechtes Maul angehängt« habe und davongelaufen sei. »Und nun,« setzte sie hinzu, »kann er sehen, wo er eine kriegt. Seit einem Jahr ist das die vierte, die er weggejagt hat, und schon ist eine Woche vorbei, und noch immer hat er keine. Er kriegt auch keine, sag' ich, wenigstens keine ordentliche.« – Christine, die der Erzählung aufmerksam zugehört hatte, erwiderte: »Doch, Base, er kriegt eine, und ich hoff' auch, eine ordentliche.« – »Wen denn aber?« fragte die Base verwundert. – »Mich selber,« versetzte das Mädchen. »Ich will zu ihm gehen und mich anbieten, und ich hoff', er wird mich nicht wieder fortschicken. Gleich heute will ich mit Euch nach *** – Ihr werdet so gut sein, mich über Nacht zu behalten.«

Man kann sich denken, welches Staunen diese Erklärung bei der Hubel, welchen Sturm sie bei der Mutter hervorrief. Aber alle Einwendungen und alle Vorstellungen, die man ihr machte, wurden beantwortet und blieben fruchtlos. Das Mädchen sagte zuletzt: »Auf so eine Gelegenheit hab' ich gepaßt, und wenn ich sie jetzt nicht benutzen wollte, wär's eine Sünde.«

In ihrer Aufregung suchte die Alte wieder den Hans auf, teilte ihm ihr Leid mit und rief: »Nun, was sagst du dazu? Was hältst du von diesem neuen Einfall?« – Hans bemerkte ruhig: »Ich find' ihn ganz vernünftig. Wir haben hier nicht auf sie gerechnet und brauchen sie nicht. Da sie aber doch schwerlich mehr in die Stadt heiratet, so wird's gut sein für sie, wenn sie die Bauernarbeit wieder recht lernt; und beim Holzbauern ist sie in der besten Schule.« – »Aber denk' nur,« rief die Glauning, »dieser jähzornige Mensch, der nach niemand was fragt. Wenn er in seiner Wut ist, wird er sie herstellen vor allen Leuten wie ein Bettelmädchen!« – »Bah,« versetzte Hans, »so arg ist's nicht! Und am Ende,« setzte er lächelnd hinzu, »kann's ihr nicht schaden, wenn sie ein bißchen unter die Fuchtel genommen wird.«

Frau Glauning schüttelte bedeutend den Kopf, kehrte seufzend zurück und hatte keine Widerrede mehr. Christine packte Wäsche und Kleider zusammen und verließ gegen Abend mit der Base das Haus.

Am anderen Morgen ging sie in den großen stattlichen Hof des Holzbauern. Sie traf diesen vor dem Hause und eröffnete ihm ihr Begehr. Der Bauer, hochgewachsen, breitschulterig, von rotbraunem Gesicht und mit dem Gebiß eines Wolfs, schien von ihrem Aussehen nicht sehr erbaut zu sein und fragte, wer sie wäre. Christine nannte ihren Namen und ihr Dorf. »So,« erwiderte er mit verdrießlicher Geringschätzung, »du bist die? Hab' vorgestern von der Geschichte gehört. – Nun, und du glaubst, du könnt'st wieder eine Bauernmagd abgeben?« – »Ich hoff's, Herr Bosch,« antwortete Christine dem Manne, der schon zweimal an der Spitze seiner Gemeinde gestanden hatte. – »Verstehst du denn die Arbeiten noch?« – »Was man von Jugend auf getrieben hat, verlernt man nicht in einem Winter.« – »Kommt darauf an,« erwiderte der Bauer. Und ihre Hand fassend und betrachtend, sagte er: »Das Händle da scheint mir die Arbeit schon recht verg'wöhnt zu haben.« Er drehte sie hin und her und schüttelte mürrisch den Kopf. Das Mädchen konnte nicht umhin zu lächeln. Ihre Hand, die man in der Stadt, zu groß gefunden hatte, sollte nun wohl zu klein und zu fein sein. In der des Holzbauers war sie freilich klein; aber das war auch eine danach, nicht sowohl eine Hand, als eine »Doap« erster Größe. – Doch sie mußte antworten und sagte so ernsthaft als möglich: »Die Hand da wird so viel schaffen als eine andere, und bei Euch, glaub' ich, wird sie bald wieder gröber werden. Übrigens will ich mich Euch nicht aufnötigen. Wenn Ihr mich wollt, so versucht's mit mir; steh' ich Euch nicht an, so sagt's, und ich geh' meiner Wege.« – Die entschlossene Sprache gefiel dem Holzbauern, der ohnehin nicht gemeint war, ein Mädchen, das er so notwendig brauchte, wieder gehen zu lassen. »Der Teufel!« sagte er, »dein Maul geht ja wie ein Mühlrad. – Nun, probieren will ich's mit dir. – Viel trau' ich dir nicht zu, das muß ich dir aufrichtig sagen; aber am End' – No, so komm 'rein zur Bäurin, da wollen wir den Handel richtig machen.«

Christine ging mit ihm ins Haus, bestand die Prüfung auch der würdigen Ehehälfte des Gewaltigen, und war gedungen. Als sie, dem ersten Befehl gehorchend, die Stube verlassen hatte, sagte die Bäuerin: »Eigentlich ist das doch ›a rechts Häa'le‹ (Hühnchen)! Ich glaub' nicht, daß wir die lange haben werden.« – »Wenn's ihr nicht gefällt bei uns,« brummte der Bauer, »dann kann sie meinethalben wieder zum Teufel gehen!«


7.

Mit dem Eintritt Christines in den Dienst des Holzbauern hatte das Außerordentliche in dem Leben unserer Personen für jetzt ein Ende gefunden, und alles ging wieder seinen gewöhnlichen Gang. Die Arbeiten des Frühlings wurden die Hauptsache, und alle sahen ihre persönlichen Angelegenheiten durch sie in den Hintergrund gedrängt.

Von dem Frieden, den eine solche Epoche mit sich bringt, genoß am wenigsten die Witwe Glauning. Sie mußte zugeben, daß unter den obwaltenden Verhältnissen das Dienen ihrer Tochter eine Auskunft war; aber den gewaltigen Sprung von der Lehrersbraut und der künftigen Oberlehrerin zur Bauernmagd konnte sie nicht verwinden, und es war ihr eine ängstliche Sache, das Mädchen, die ihre einzige Freude war, bei dem »Wilden«, d. h. beim Holzbauern, zu wissen und sich vorzustellen, wie er sie anfahren und heruntermachen werde.

Zu der Plage, die sie sich mit ihren Gedanken selber antat, gesellte sich noch eine andere. Das Schicksal der Christine war zu merkwürdig, zu seltsam, als daß in den guten Freundinnen der Mutter und der Tochter sich nicht ein unwiderstehliches Verlangen hätte regen sollen, das Nähere darüber zu erfahren. In den Stunden der Muße kam nun eine um die andere angeschlichen, und den Versicherungen der Teilnahme folgten regelmäßig Fragen, welche die gute Frau sehr inkommodierten. Sie erklärte zwar die Vorgänge durchaus zur Ehre ihrer Tochter; aber was half das? Ein Gesicht wie beim Erzählen eines glücklichen Ereignisses konnte sie doch nicht machen. Und wenn die Freundinnen Christine lobten und hinzufügten: das hätten sie an ihrer Stelle auch getan, und sie hätte sich benommen wie ein rechtes Mädchen, so klang dies in den Ohren der Mutter lange nicht so gut, als die Ausrufungen und Gratulationen geklungen hätten beim Verkündigen der Nachricht: ihre Tochter sei Frau Lehrerin. – Und wenn gar erst eine von der schlimmen Sorte kam und ein ungläubiges Gesicht machte, und eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen konnte, und von den unschuldigen Fragen zu den spitzigen überging, da wurde die Situation der ehrgeizigen Mutter höchst fatal. Sie konnte nur mit Mühe die Ungeduld ihres Herzens bemeistern; ein paarmal, gegenüber von besonders Zudringlichen, gelang ihr dies aber nicht, und sie mußte sich mit entschieden unhöflichen Antworten helfen. Damit gewann sie freilich nichts; die Weiber entschuldigten sich heuchlerisch und lächelten dabei noch viel beglückter als vorher.

Doch die Zeit verging, das Mißgeschick der Familie wurde altmodisch, in einem Bauernhause des Orts gab es ein Ärgernis, das bedeutend von sich reden machte, obwohl es lange nicht so außerordentlicher Natur war, und die Glauning bekam endlich Ruhe. – Christine hatte schon zweimal Grüße geschickt und der Mutter zuletzt noch herunter »verbieten« (entbieten) lassen: sie sei gesund und es gehe ihr gut; der Holzbauer wäre nicht so bös, als man ihn mache, zum wenigsten meine er's nicht so bös, und ihr selber sei alles recht bei ihm. Diese Nachrichten trugen dazu bei, das Herz der Mutter zu beschwichtigen, so daß sie hier und da sogar wieder behagliche Stunden hatte. Sie wußte freilich nicht, was aus ihr und ihrer Tochter werden sollte. Sie wußte nicht, ob Hans gesonnen war, bei ihr zu bleiben, oder was er sonst im Sinne hatte. Der sonderbare Mensch arbeitete weiter, als ob er der Sohn des Hauses wäre. Er hatte von dem Ankauf des Gutes nicht mehr gesprochen, sagte überhaupt sehr wenig und wollte offenbar nicht gefragt werden. Aber konnte er nicht jeden Augenblick zu ihr kommen und sagen: er hätte nun eine gefunden, die ihm passe, er wolle heiraten und müsse nun entweder sein Geld oder das Gut haben? Diese Unsicherheit der Zukunft hatte nichts Tröstliches, aber vorderhand war dem Herzen doch eine wirkliche Last abgenommen, und eins ins andere gerechnet, konnte man sich in sein Schicksal ergeben. Die Witwe nahm sich ein Beispiel an dem Vetter, und so hauste man zusammen weiter und ließ es, auf gut deutsch und auf gut ländlich, gehen, wie's eben ging.

An einem Sonntag in der zweiten Hälfte des Mai kam unerwartet eine Einkehr, in der Person der Base Hubel. Diese gehörte zu den Weibern, die gern Neuigkeiten einsammeln und verbreiten, und deswegen auch öfter über Land gehen, wenn sie gerade Zeit und dem Manne gegenüber einen Vorwand haben. Diesmal hatte sie im Dorf eigentlich nichts zu tun; sie wollte nur erzählen und hören, und sehen, wie's bei der Glauning stehe. Zunächst richtete sie recht schöne Grüße von Christine aus. Auf Befragen der Mutter, was diese mache und wie ihr das Dienen anschlage, legte sie ihr Gesicht in bedenkliche Falten und bemerkte: »Ja, da wär' viel zu sagen! 's geht ihr eben recht hart bei dem Menschen, recht hart!« – »So?« erwiderte die Mutter. »Aber sie hat mir ja sagen lassen, sie sei wohl zufrieden?« – »Ja seht, Base, das ist eben zum Verwundern. Sie selbst tut, als ob ihr nichts zu viel und alles recht wär'. Sie schafft mehr als die anderen und besser. Aber anstatt nun ein Einsehen zu haben und sie zu schonen, verlangt der alte Bär immer mehr von ihr, und wenn sie ›in der Acht‹ (unversehens) ein kleines Fehlerle gemacht hat, schnurrt er sie an. 's ist grad', als wenn der Teufel in ihn gefahren wär'! Eine andere wär' schon lange davongelaufen. Aber wenn die Christine noch so meint, es müßt' sein, sie wird doch auch nicht bleiben können: sie macht's nicht aus auf die Läng'.« – »Du lieber Gott!« rief die Mutter, »was sind das für Sachen! Aber wie steht's denn mit ihrer Gesundheit? Wie sieht sie denn aus dabei!« – »Wie wird sie aussehen, Base! Wie man eben aussieht, wenn man alles tun muß! Mager ist sie und schwarz (braun) und gelb im Gesicht.« – »Meine Christine!« rief die Alte, wie von einer Schlange gebissen. »Aber das kann so nicht fortgehen, sie kann's nicht aushalten und ich darf's nicht leiden.« – »Das hab' ich ihr auch gesagt, erst heut' früh noch. Mädle, hab' ich gesagt, das kannst du nicht prästieren, du bist's nicht gewohnt und du schaffst dir die Schwindsucht an den Hals. Wenn du deinen Sinn nicht ändern und mit Gewalt dienen willst, so such' dir wenigstens einen anderen Platz; 's gibt ja bessere. Aber was hat sie mir darauf gesagt? Grad' der Platz ist mir recht und grad' da will ich bleiben!«

»Da seh' eins den eigensinnigen Kopf! Guter Gott! 's ist ja grad', als ob sie sich expreß zugrunde richten wollte!« Und die unglückliche Mutter wendete sich zu dem Vetter, der am Ofen »Speikel« schnitzte zum Festmachen einer Hacke am Stiel, und rief: »Nun, Hans, was sagst denn du zu der Neuigkeit? Soll ich das dulden? Ist's nicht meine Schuldigkeit, sie mit Gewalt von dem Menschen wegzubringen?« – »Base,« erwiderte Hans nach kurzem Besinnen, »Ihr wißt, daß ich nicht gern in anderer Leut' Sachen rede; aber weil Ihr mich gefragt habt, will ich Euch doch meine Meinung sagen. Daß man sich die Schwindsucht an den Hals ärgert, mag sein, zum wenigsten sagt man so; aber daß man sie sich an den Hals schafft, hab' ich noch nie gehört. Ich glaub' auch nicht, daß es mit dem Aussehen der Christine grad' so arg ist, wie's die Bas Hubel macht. Die Bas red't manchmal gern ein bißchen mehr, als an der Sach' ist; und natürlich, wenn man über zwei Stunden Wegs macht, um etwas zu erzählen, so muß es doch auch der Müh' wert sein.«

Hier verzog die Hubel bedeutend die Oberlippe; Hans aber, ohne sich daran zu kehren, fuhr fort: »Runde und rote Backen muß man grad' nicht haben, sonst wär's bös für viele Leut' in der Welt. Im übrigen ist die Christine ein Mädchen, die ihren Verstand hat und selber am besten wissen muß, was sie vertragen kann; ich mein' also, daß Ihr sie lassen sollt, wo sie bleiben will.« – »Geh weiter!« rief die Hubel, »du bist mir auch der Rechte geworden! Wenn das die Christine hörte, daß du dich jetzt so gar nichts mehr um sie bekümmerst, dann tät sie's kränken, recht in der Seel' kränken, das kann ich dir sagen.« – »Ich glaub's nicht,« erwiderte Hans, der unterdessen aufgestanden war; »übrigens müßt' ich's mir gefallen lassen, ich kann mich nicht anders machen, als ich bin.« – Dann verließ er die Stube und hämmerte draußen die Speikel ein. Die beiden Weiber sahen sich an und schüttelten den Kopf. »Wer hätte das geglaubt?« rief die Hubel. Und die Glauning jammerte: »Alle sind verhext! Ist das ein Elend!«

Manches wurde noch hin und her geredet. Endlich rüstete sich die Base zum Aufbruch und fragte, was sie der Christine sagen solle. »Sie solle sich schonen,« rief die Glauning eifrig; »und wenn ihr's der ›Unmassel‹ zu arg macht, soll sie zu ihrer Mutter kommen. Das sag' ihr!« – »Sagen will ich ihr's,« versetzte die Base; »aber ich sorg', es wird nichts helfen.«

Und es half nichts. Christine hörte es, dankte der Base – und blieb. Gelegentlich ließ sie der Mutter sagen: sie werde das Schaffen immer mehr gewöhnt, und man solle doch ja keine Sorge haben um sie.

Mehrere Wochen gingen vorüber. Die Glauning war wieder ruhiger geworden, da sie nichts Besonderes von ihrer Tochter erfuhr, und ihr Herz hatte sich wieder einigermaßen der Lebensfreude geöffnet. Nun brachte aber das Schicksal eine andere, stärkere Prüfung an sie. An einem Sonntag in der Heuernte kam ein Besuch von ***, der sich mit einen Gruß der Hubel einführte. Es war eine Nachbarin derselben, etwas verwandt mit ihr, deswegen sie auch die Glauning sofort mit dem Titel Frau Base anredete. Als die letztere nach den ersten Höflichkeiten und nachdem sie ein gutes »Vorbrot« auf den Tisch gesetzt hatte, die Frau genauer ansah, merkte sie an einer gewissen bedenklichen Ernsthaftigkeit derselben alsbald, daß sie etwas Neues bringen werde von Christine, aber nichts Gutes. Sie erkundigte sich etwas kleinlaut, was ihre Tochter mache, und ob sie's noch aushalte in ihrem Dienst. »Noch immer, Frau Base,« war die Antwort; »aber ich kann's Euch wohl sagen, 's wundert sich alle Welt darüber.« – »Wieso?« fragte die Glauning; »wird sie noch alleweil so hart gehalten?« – »Frau Bas,« erwiderte die andere, »ich hätt' mir nicht getraut zu erzählen, was vorgefallen ist; aber die Bas Hubel hat gesagt, weil ich hier grad' etwas zu tun hätt', sollt' ich zu Euch gehen und Mitteilung machen, denn Ihr müßtet's wissen.« – »Guter Gott,« rief die Mutter, »was werd' ich wieder hören müssen!«

Und die andere begann: »Wie Eure Christine, die's doch wahrhaftig nicht nötig hätt', alles tun muß beim Holzbauern, wie er ihr mehr aufhängt als anderen, und wie sie auch wirklich mehr schafft als andere, das wißt Ihr schon; 's ist zum Verstaunen! Da ist nun ›vodertags‹ (vorgestern) zum ›Häat‹ (Heuernte) schön's Wetter kommen, und der Bauer ist wieder gewesen wie der ›Massich‹ und hat gemeint, alles müss' auf einmal drin sein. Er hat getan und gewirtschaftet auf der Wies', daß ›a Graus‹ gewesen ist. Am Himmel ist a Wölkle gestanden, ganz klein und unscheinbar; aber er hat doch gesehen, das könnt' ein Wetter geben, denn gescheit ist er, das muß man ihm lassen. Wie nun ein Fuder heimgefahren und die Christine mitgegangen ist zum Abladen, hat er ihr noch nachgerufen, sie sollt' des Nachbars Wagen ›verdleihen‹ (entlehnen) und rausschicken. Nun, wie's einem eben geht – entweder hat sie's nicht recht verstanden oder sie hat's vergessen – du lieber Gott, was passiert einem nicht in der Unmuß', wenn alles auf einen hineinschreit? Die Bäuerin hat auch noch schnell was haben wollen von ihr, und wenn die red't, muß auch gleich alles laufen und springen; kurz, der Bauer wartet und der Wagen bleibt aus, aber das Wetter kommt am Himmel rauf. Da hättet Ihr den Mann sehen sollen! Reingelaufen ist er wie ›wüadeng‹ (wütend), und wie er erst vom Nachbar gehört hat, daß der Wagen gar nicht bestellt worden ist, da ist's gar aus gewesen. Herrgott, Frau Bas, wie hat er die Christine hergestellt! Ich bin grad' am Hof vorbeigegangen und stehengeblieben; mein Lebtag hab' ich keinen Menschen so lästern hören. ›Du dummes Tier! Du einfältiges Mensch! Bist do'sohrad (taub), he'! oder denks an dein Schulmeister, wann ich was sag'? Ich hätt' 'n guten Lust und nähm' die Karbatsch und tät' dir die Gedanken austreiben, daß sie deiner Lebtag nimmer kommen.‹ – Ach, Frau Bas, ich will nicht sagen, was er alles noch geschrien hat. 's ist so arg gewesen, daß die anderen Ehehalten ganz blaß dagestanden sind und ordentlich verstarrt, und zuletzt auch die Bäuerin gerufen hat: ›Jetzt sei still einmal und schäm' dich vor den Leuten. Geschehen ist geschehen!‹«

Die Mutter war bei den Schimpfreden, womit ihr Kind befleckt worden, von der Bank aufgesprungen mit einer Miene, als ob sie das Schrecklichste vernommen hätte, und sogar die uns bekannte pflanzenruhige Tagelöhnerin, die hinter dem Ofen gestrickt hatte, war herbeigeeilt. »Das ist meiner Tochter passiert?« rief die Alte zitternd vor Entrüstung, meiner Christine? und sie hat dem Schandmenschen nicht augenblicklich den Dienst gekündigt und ist auf und davon gegangen?« – »Jede andere hätte das getan,« versetzte das Weib, »keine hätte sich das gefallen lassen.« – »Ich wahrhaftig auch nicht,« rief die Tagelöhnerin, deren Backen sich gefärbt hatten, ordentlich aufgebracht. – »Die Christine,« fuhr die Erzählerin fort, »hat sich's gefallen lassen und ist geblieben. Zuerst ist sie bestürzt gewesen und hat ihn mit großen Augen angesehen. Je mehr er aber gewütet hat, je ruhiger ist sie geworden; und wie er endlich aufgehört hat, weil ihm ganz der Schnaufer ausgegangen ist, da hat sie gesagt: ›Herr Bosch, ich seh's ein, ich hab' gefehlt. Verzeiht mir's – es soll nimmer geschehen.‹« – Die Glauning war empört. »Das hat meine Tochter gesagt?« rief sie. »Mit der muß was vorgegangen sein. Es ist nicht anders möglich – bei der ist's nicht mehr richtig im Kopf!«

Das Gesetz der Schwere, wie man weiß, gilt in der geistigen Sphäre so gut wie in der materiellen. Die Schwäche gravitiert nach der Stärke; wer außer sich ist, strebt zu dem Festen und Gefaßten hin und klammert sich an ihn an, und zwar zunächst ganz instinktmäßig, ohne alle Reflexion und trotz aller Anprallungserfahrungen, die man gemacht hat. – Diesem Instinkt zufolge suchte die Glauning den Vetter auf; sie traf ihn im »Emmenstand« und erzählte ihm die Geschichte. Der Bursche horchte mit großem Ernst, und die Mutter, die hierin Übereinstimmung mit ihren Gedanken erblickte, schloß mit den Worten: »Nun wirst du mir doch recht geben, wenn ich's nicht mehr leide, daß sie noch länger bei dem Menschen dient? Gleich morgen in der Früh' geh' ich hin und nehm' sie mit nach Haus.« – Hans, nach kurzem Schweigen, versetzte: »Wenn sie nun aber nicht mitgeht?« – »Nicht mitgehen?« rief die Mutter. »Das will ich doch sehen, ob ich über mein Kind keine Gewalt mehr hab'. Sie muß mit!« – »Base,« fuhr Hans fort, »übereilt Euch nicht und macht überhaupt die Sache nicht ärger als sie ist. Wenn man Heu hereinbringen will und durch den Fehler eines Dienstboten wird's verregnet, so ist das für einen Bauer eine sehr ärgerliche Sach'. Der Christine hat was gehört, und wenn der Bosch es ihr nicht geschenkt hat, so ist das begreiflich.« – »Aber so rasend, so abscheulich tun –« – »Das will ich gar nicht loben,« versetzte Hans. »Aber kennt man den Holzbauern denn nicht? Wenn der zornig wird, ist's grad', wie wenn ein Wetter ausbricht. 's geht nicht anders, es muß raus aus ihm, er kann sich nicht anders helfen, und darum kann man's ihm auch nicht so übelnehmen wie anderen Leuten. Das wird sich die Christine wohl auch gedacht haben, und drum ist sie geblieben.« – »In einem Haus, wo man einen so schandbar behandelt hat,« erwiderte die Glauning mit dem Ausdruck der Entrüstung und Geringschätzung, »da bleibt man nicht mehr, wenn man ein ordentliches Mädchen ist. Und die da, die zu mir gesagt hat, daß man vor allem seinen Charakter und seine Ehr' behaupten müss' in der Welt – die will sich so was gefallen lassen!« – »Sie wird eben unter Charakter und Ehr' etwas anderes verstehen als Ihr, Base.« – »Meinetwegen!« rief die Mutter, erzürnt darüber, den Burschen gegen ihr Vermuten auch diesmal im Widerspruch mit sich zu finden. »Ich leid's einmal nicht, daß sie noch dort bleibt. Und ich geh' hin und hol' sie, und mit Gewalt nehm' ich sie mit mir!« – »Ihr kennt Eure eigene Tochter nicht,« rief Hans mit Nachdruck. »Ich sag' Euch, sie geht nicht mit Euch!« – »Das wird sich zeigen – ich tu's nicht anders und setz' alles in Bewegung.« – »Dann, Frau Base,« rief Haus mit strengem Gesicht, »dann macht Ihr einen törichten Streich und kommt doch nicht zu Eurem Zweck. Die Christine, das könnt Ihr nun wohl sehen, hat sich was in den Kopf gesetzt und läßt sich nicht davon abbringen; und ich für meine Person, ich denk', ich kann's erraten. – Bah,« fuhr er mit einem eigenen Lächeln fort, »an einem Schimpfwort stirbt man nicht – namentlich, wenn man nicht ohne Schuld ist, und je mehr man aushalten lernt, desto besser ist's.« – »Aushalten!« rief die Glauning; »Schande soll niemand aushalten.« Aber nun wurde Hans aufgebracht. »Base,« rief er, »ich will Euch meine Meinung rund heraussagen. Ihr seid eine eitle Frau und wollt nichts als Ehr' haben und flattiert sein und prangen mit Eurer Tochter. Euer Prangen ist Euch aber schlecht bekommen bis jetzt. Wer weiß, wer weiß, ob nicht Euch so gut als Eurer Tochter die Schande gesünder ist.«

Die Alte war von diesen Worten getroffen – und entwaffnet. Sie ging niedergebeugt ins Haus zurück und sagte zu sich selber: »Der ist nun auch ein Satan geworden. – O ich unglückliche Mutter!« Als die neue Base Abschied nahm, erhielt sie keinen anderen Auftrag, als der Christine zu sagen, sie solle doch ja heimkommen oder in einen anderen Dienst gehen und nicht mehr bei dem Menschen bleiben; es wär' ja ein Schimpf und eine Schande für die ganze Freundschaft.

Die Mahnung hatte aber denselben Erfolg wie die erste, Christine blieb und ließ bei Gelegenheit heruntersagen, es sei alles wieder in Ordnung und alles vergessen.

Mit der Satanschaft, welche die Glauning dem Vetter beilegte, war es freilich nicht weit her. Ich glaube, daß es an der Zeit ist, die Leser nun ein wenig mehr in das Herz des Burschen blicken zu lassen, damit sie das Verhalten desselben vollständiger begreifen und würdigen können.

Hatte die Natur den Hans nicht zu einem Satan bestimmt, so war er doch ebensowenig zu einem sogenannten »guten Menschen« geschaffen, d.h. zu einem, der aus Schwäche gegen andere und ihre Prätensionen die Pflichten verletzt, die er gegen sich selber hat. Unser Freund sollte werden, was man auf dem Land einen rechten Mann – einen Ehrenmann nennt. Zu einem solchen gehört die Güte und die Großmut, die in seinem Wesen lag, als notwendiges Element, aber eine Güte und eine Großmut, die weiß, was sie will, und sich nicht beikommen läßt, mit ihren Vorzügen den eiteln Trieben der Welt zu dienen. Die Lehre, die ihm das Schicksal gegeben, war nicht fruchtlos geblieben; er hatte etwas profitiert von seinem Leid und sich ein Benehmen vorgezeichnet, das er streng einhalten wollte. Er hatte sich vorgenommen, sich selbst höher zu achten, nicht zu tun, was andere, sondern was er selber für gut ansah, und den größten Schatz, den er besaß, nimmermehr an ein Wesen zu verschleudern, das seiner nicht wert war.

Als die Glauning ihm den Brief mitteilte, worin Christine das Auseinanderkommen mit Forstner meldete, war er zuerst hoch überrascht; denn auch er hatte an einen solchen Ausgang nicht mehr gedacht. Das Benehmen und die Ausdrücke des Mädchens gefielen ihm; er freute sich, daß sie den Menschen, dem er freilich nie recht getraut, nach Verdienst behandelt habe; er freute sich an ihrem Stolz, und daß sie sich achtungswerter zeigte, als er von ihr erwartet. Zugleich hatte er aber ein Gefühl der Genugtuung, und er unterdrückte es nicht. Sie war gestraft – er gerechtfertigt. Sie hatte erfahren, wieviel mehr ein braves Herz wert ist als ein glattes Gesicht, und das war ihr gut und heilsam. Sie hatte das Schicksal, das sie gewollt – sie mußte es hinnehmen.

Die Rückkehr des Mädchens änderte seine Empfindung in etwas, aber nicht in der Hauptsache. Ihr Aussehen, die Folge der erduldeten Krankheit, regte sein Mitleid an; er fühlte, wie es ihr zumute sein mußte, und bedauerte sie von Herzen. Indem er überlegte, wie er sich gegen sie benehmen sollte, hielt er es in jeder Hinsicht für das beste, sie mit Fragen ganz zu verschonen und zu tun, als ob nichts vorgefallen wäre. In seinem Herzen mußte freilich auch er sich fragen: was soll aus ihr werden? was soll am Ende aus uns allen werden? Er fühlte das Bedenkliche und Ängstliche des gegenwärtigen Zusammenlebens und dachte darüber nach, wie es allenfalls geändert werden könnte. Aber die Auskunft, die anderen eingefallen war, und die in jenem Bauernhause den Streit zwischen Knecht und Tochter hervorgerufen hatte, stellte sich nicht einmal als Möglichkeit vor seine Seele. Ein Mädchen aus Mitleid zu heiraten und gar die Untreue zu belohnen mit dem Besten, was er hatte, das war nicht die Sache unseres Burschen. – Er konnte vergeben und vergessen, er konnte Freund und Vetter sein, er konnte Hilfe leisten und Wohltaten erzeigen; aber Christine zum Weib zu nehmen, wär' ihm jetzt nicht eingefallen, auch wenn er sie noch geliebt hätte. Er verlangte von der Seinen, daß sie ihm in Lieb' und Treu' anhänglich sei und ihn zu schätzen wisse nach Verdienst. Und wenn er auch aus der Not eine Tugend machte, wenn er eine nahm, die er selber nicht liebte, wie er Christine geliebt hatte, dann mußte es doch eine sein, die ihn gern und an ihm ihre Freude hatte, und die ihn höher achtete als jeden anderen in der Welt.

Daß ihn bei dieser Gesinnung die Erzählung der Mutter von ihrem Streit mit der Tochter, d.h. die Ansicht und die Hoffnung der Alten selbst, wie verzuckert sie ihm präsentiert wurde, empören mußte, leuchtet ein. Er empfand eine solche Wut in seinem Herzen, noch einmal für den Gutgenug gehalten zu werden, daß er ein ungewöhnliches Zucken in seiner Rechten verspürte und die größte Anstrengung nötig hatte, gegen die »dumm unverschämte Zumutung« nicht loszuplatzen. Dagegen, was ihm von den Reden der Christine mitgeteilt wurde, gefiel ihm, und er freute sich ihrer »Einsicht«.

Seinen ganzen Beifall hatte der Entschluß des Mädchens, als Magd zu dienen. Die Fragen, die ihn belästigten, fanden damit ihre Erledigung, und das gegenwärtige bängliche Beisammensein ein Ende. Er mußte sich sagen, daß in Christine doch ein Geist wohne, der nach mehr aussehe, als er ihr bisher zugetraut hatte. Es war ihm recht, daß sie gerade zum Holzbauern kam, und er rechnete es ihr als Tugend an, daß sie ihn nicht scheute. »Bei dem,« sagte er zu sich selber, »ist sie am rechten Platz, um das Frauenzimmer ganz wegzukurieren und wieder etwas nutz zu werden für das Dorf.«

Die Berichte, die nacheinander von den zwei Basen gemacht wurden, konnten seine Achtung vor ihr nur erhöhen und seinen innerlichen Beifall nur verstärken. Er überzeugte sich, daß Christine einen Zweck habe, so zu handeln, und er glaubte ihn zu kennen. Da es nun gerade nicht nötig ist, Philosoph oder Theolog zu sein, um zu wissen, daß eine unter gewissen Umständen, mit Fleiß und aus guten Gründen erduldete Beschimpfung keine Schande, sondern vielmehr Ehre bringt; da es zu dieser Einsicht genügt, nur kein Geck zu sein und das Herz auf dem rechten Fleck zu haben, so konnte Hans auch bei der zweiten Meldung nicht mit der Entrüstung und dem Lamento seiner Base harmonieren. Nachdem er dieser seine Meinung gesagt und in der Einsamkeit das Vernommene wieder überdacht hatte, rief er im Gegenteil zufrieden für sich hin: »Bravo!«

Man würde unseren Freund mißverstehen und ihm unrecht tun, wenn man glauben wollte, die Achtung, die er empfand, sei derart gewesen, daß sie in natürlicher Steigerung zum Wiederaufleben seiner Liebe führen mußte und nicht mehr weit davon entfernt war. Er fühlte Respekt vor dem Respektabeln, er freute sich an dem Erfreulichen – nichts weiter. Alte Liebe rostet nicht, sagt das Sprichwort; aber gerade bei den liebefähigsten Menschen kann sie unter Umständen doch etwas rostig werden. Die Liebefähigsten sind nämlich in der Regel auch die Liebeklarsten, und fühlen und wissen, daß an der Geliebten eben ihre Liebe die höchste und schönste, d.h. die liebenswürdigste Eigenschaft ist. Wenn diese ihre Liebe nun dahinschwindet oder als bloßer Schein erkannt wird, dann schwindet für einen solchen Menschen eben das Höchste, das Licht und Leben der Schönheit, hinweg, und die Flamme, die von der Anschauung dieses Höchsten genährt war, muß zu Boden sinken.

Unser Bauernbursche hatte treu geliebt in Hoffnung, wenn auch anfangs mit schüchterner Hoffnung; er hatte verziehen und wieder geliebt, als er in der Geliebten Reue und Liebe zu sehen glaubte; er hatte das Leid der unglücklichen Liebe im Grund seines Herzens durchgelebt und überwunden. Damit war's aber auch zu Ende.

Die Zeit der Ernte kam heran und gab auch im Hause der Glauning vollauf zu tun. Es war sehr heiß diesen Sommer, man hatte viel auszustehen beim Schneiden und Sammeln; die Beschwerden der Mutter wurden aber dadurch noch vermehrt, daß sie sich die Leiden der Tochter vorstellte. »Gott,« rief sie einmal aus, als die Sonne gewaltig niederbrannte, »wie wird es meiner Christine gehen! Die schwindet mir ganz zusammen diesen Sommer und wird alt vor der Zeit!« – Hans, dem sie diese Worte zu Gehör geredet, lächelte und schwieg. Die Alte fuhr fort: »Wie sie wieder heimgekommen ist von der Stadt, bin ich froh gewesen, daß ich ihre Bauernkleider und sonstige Ausstaffierung nicht verkauft gehabt hab', denn ich dacht' mir: wer weiß, was geschieht! Aber jetzt, wenn sie so zusammengeht, wie ich höre, kann sie die Sachen ja doch nicht brauchen, und es wär' gescheiter gewesen, ich hätt' sie weggegeben.« – Hans zuckte die Achseln: dann sagte er: »Was der Sommer nimmt, das bringt die Winterszeit wieder. Wenn's kühl wird und die Arbeit nicht mehr so scharf geht, dann wird sie schon wieder runder werden, Eure Christine. Und dann wird auch gewiß bald ein Hochzeiter da sein. Wenn sie ein Jahr beim Holzbauern gedient hat, dann hat sie die Prob' gemacht, und dann werden Bursche, die ein sauberes und fleißiges Weib suchen, von allen Seiten kommen. Verliert den Mut nicht, Base! Solche Mädchen bleiben nicht übrig im Ries!« – Ein tiefer Seufzer war die Antwort. Die Witwe hatte ihre frühere Sicherheit ganz verloren; sie konnte nicht mehr glauben an ein Glück, und die Worte des Hans, die ihr wie Spott klangen, waren nicht geeignet, ihren Geist aufzurichten.

Mühevoll – denn auf die heißen Tage folgte noch Regenwetter – und freudlos – denn sie wußte nicht, für wen sie sich eigentlich so plagte – ging die Erntezeit für die Glauning vorüber. Als die Feldfrüchte, auf die es hauptsächlich ankam, im Stadel gesichert waren, hatte sie doch wieder eine frohere Empfindung. Sie berechnete, daß sie vorwärts kam in diesem Jahr und von dem Ausfall des letzten etwas zu decken vermochte, und so etwas muß einer Person, die von Kindesbeinen an aufs »Hausen und Sparen« gerichtet wird und nur durch die Ehre zu außergewöhnlichen Ausgaben vermocht werden kann, immer wohltun.

An einem Sonntag im September, nach dem Essen, saß sie mit Hans an dem abgedeckten Tisch. Sie hatten eben zusammen eine Geldzählung vorgenommen, die zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen war, und erfreuten sich daher einer Stimmung, in der sie eine gemütliche Ansprache hielten. Die Witwe hatte dem Vetter eben wieder bedeutendes Lob gezollt, als die Tür aufging und mit den Worten »Grüß euch Gott miteinander!« die Hubel in die Stube trat. Ihr Aussehen fiel dem Burschen im ersten Moment auf. Sie war nicht nur vergnügter als gewöhnlich, sondern zeigte auch eine eigentümliche Feierlichkeit, wie eine Person, die sich bewußt ist, etwas in der Hand zu haben. Nach den ersten allgemeinen Fragen und Antworten rief die Glauning gastfreundlich: »Dasmal muß ich aber der Bas einen Kaffee machen – ich tu's nicht anderst« – Die Hubel versetzte: »Ich hab' nichts dagegen; denn ich hab' heut' früher gegessen als sonst, von wegen, weil ich bald wieder zu Hause sein will, und mir ist's ›wäger‹ (wahrlich) schon wieder ›a bißle eitel‹ im Magen.« – »Der Hans da,« bemerkte die Witwe, »kann dir unterdessen was Neues erzählen, oder du ihm.« – »Wie's kommt,« erwiderte die Hubel. »Gott sei Dank, jetzt sieht er doch wieder aus, daß man sich ein Wort mit ihm zu reden getraut!« – »Ja,« sagte die Glauning, »ein wenig hat er sich gebessert,« und verließ die Stube.

Sie wollte was Rechtes machen, denn ihre verständige Ansicht war immer: entweder gar keinen Kaffee oder einen guten. Gebrannte Bohnen waren in einem Haus, wo das Kaffeetrinken zu den Ausnahmen gehörte, natürlich nicht vorrätig, und ihr war das lieb; frischgebrannte gaben ein besseres Getränk, und wenn sie ein wenig später fertig wurde, was schadete das?

Freilich dauerte es nun geraume Zeit, bis sie die blanken zinnernen »Kanden« (Kannen) füllen konnte. Als sie diese mit glücklicherweise vorhandenen Schneckennudeln in die Stube trug und auf den Tisch setzte, fiel ihr, die sich bei dem Auftreten der Base nichts Besonderes gedacht hatte, doch das Ansehen des Hans auf.

Glänzend saß er da, ein freudiger und ein stolzer Blick ging aus seinen Augen, und noch dazu schien es, als ob er das Vergnügen, das er empfand, gar nicht alles herauslassen wollte. – Verwundert sah die Witwe von dem einen zur anderen und sagte dann: »Ihr müßt euch ja recht gut unterhalten haben. Seit langer Zeit hab' ich den Hans nicht so hellauf gesehen!« – Dieser nahm sich zusammen und erwiderte: »Man spricht von allerhand. Und die Base da kommt unter die Leute und wird immer was Neues inne.« – »Das ist wahr,« sagte die Hubel, »und ›ebbania‹ (etwanje, zuweilen) recht gut, wenn man was erfährt, und manchem geschieht ein Gefallen damit, wenn man ihm zu rechter Zeit was sagt.«

Diese Reden und die beiden Gesichter dazu kamen der Glauning seltsam vor. Hatte die Hubel eine ausfindig gemacht, die den Hans wollte, eine schöne und eine reiche – am Ende eine Bauerntochter? Danach sah er wahrhaftig aus! Und einem Burschen mit seinem Geld und mit dem Lob, das er hatte, konnte auch gar wohl ein solches Glück anstehen. – Ihr Herz war bei diesen Gedanken plötzlich schwer geworden; es kostete sie Mühe, die schickliche Freundlichkeit aufzubringen, mit welcher zum Trinken und Zulangen ermahnt werden mußte. – Nach einer längeren Pause, die mit dem Genuß und Lob des Kaffees ausgefüllt wurde, begann die Witwe: »Aber nun erzähl' mir doch noch etwas von meiner Christine. Ist sie immer noch so schmal?« – »Stark ist sie nicht geworden,« erwiderte die Base, »aber sie ist gesund und wohlauf.« – »Gott sei Dank!« versehe die Mutter, »das ist doch das best'. Und ist derweil nichts mehr vorgefallen mit dem Bauern?« – »Nichts, was der Rede wert wäre. Du weißt ja, der ist eben, wie ihn unser Herrgott erschaffen hat, und wenn er bös ist, wird er auch wieder gut.« – Die Mutter erwiderte: »Was hilft's, wenn man einem den Kopf heruntergerissen hat und will ihn dann wieder aufsetzen! – Aber was sagt man denn bei Euch im Dorf über sie?« – »Nichts als Gutes, Base. Man sieht, wie sie schafft und aushält, und alle ordentlichen Leute schätzen sie und loben sie.« – »Nun, das ist doch ein Trost,« erwiderte die Mutter. Und mit einem Selbstgefühl, das ihrem gedrückten Wesen eine Art Würde verlieh, setzte sie hinzu: »Ein braves Mädchen ist sie eben doch, die Christine. Und wer weiß, am End' gibt's auch für sie noch ein Glück in der Welt.« – Nach kurzem Schweigen bemerkte sie: »Nun sag ihr aber, sie soll mich endlich einmal besuchen, jetzt, wo die Hauptarbeit doch getan ist.« – Die andere schüttelte den Kopf: »Darüber hat sie ihre eigenen Ansichten, Base, ich glaub' nicht, daß sie jetzt schon kommt. Besuch' du lieber mich einmal, dann kannst du sie bei mir sehen.« – »Ist das eine Welt jetzt!« rief die Witwe. »Die Kinder folgen ihrem Kopf und die Alten sollen ihnen folgen! – Nun, ich will sehen.«

Das Gespräch wandte sich anderen Gegenständen zu, wobei auch Hans wieder mitreden konnte. Endlich erklärte die Hubel, es sei die höchste Zeit, sie müsse fort. Die Mutter gab ihr die Hand, dankte für den Besuch und trug ihr Grüße an ihre Tochter auf. »Habt auch von mir Dank,« fügte Hans hinzu, »und kommt gut heim.« Die Witwe sah ihn mit einem Blick an, der wahre Gekränktheit verriet. »Nun,« sagte sie, »läßt du die Christine nicht auch grüßen? Einen Gruß ist sie doch wohl noch wert, sollt' ich glauben!« – »Meinethalb,« rief Hans, »grüßt sie auch von mir!«

Am Abend ging der Bursche ins Wirtshaus. Der mannhafte Schritt, mit dem er auftrat, das Glück, das aus seinem Gesicht leuchtete, konnten nicht unbemerkt bleiben. »Was Teufel ist denn mit dem Hans?« rief ein junger Mensch an einem Tisch zu seinen Zechgenossen; »der sieht ja aus, als ob er das Große Los gewonnen hätt'!« – »Wird wohl endlich eine gefunden haben, die ihm ansteht,« warf ein anderer hin. »Kannst recht haben,« versetzte ein hochgewachsener, stolz aussehender Kerl. Und mit einer gewissen großartigen Geringschätzung setzte er hinzu: »'s ist doch merkwürdig, was der Mensch auf d'Weibsbilder gibt! So'n Kerl, und läßt sich von der einen traurig und von der anderen wieder vergnügt machen! Bah! das könnt' mir einfallen!« – Der erste bemerkte: »'s ist so ein Stiller, der Hans, die sind alle so.« – Und der zweite sagte: »Am End' ist's ihm auch zu gönnen, wenn er eine kriegt nach seinem Sinn. Die Christine hat ihm doch Verdruß genug gemacht.«

Hans war an einem anderen Tisch niedergesessen, den etliche nähere Bekannte von ihm in Besitz genommen hatten. Nach dem Naturgesetz, das auf dem Lande wie in der Stadt, in der niedersten wie in der höchsten Schicht der Gesellschaft gilt, muß jeder, der ein auffallendes Vergnügen blicken läßt, geneckt werden. Dies geschah denn auch unserem Burschen. Fragen wurden gestellt und Vermutungen geäußert, die sich alle um den vorhin erörterten Punkt drehten. Hans war indes nicht in der Stimmung, ärgerlich zu werden, im Gegenteil, sein Humor stieg infolge der Angriffe; er duckte einen, der sich ungeschickt dabei benahm, gehörig ins Wasser und bekam die Lacher auf seine Seite. Als er an einem anderen Tisch Bescheid tat, sagte einer der Bekannten: »'s ist schon richtig, er hat eine! – aber wen?« – Man riet hin und her, konnte aber nicht schlüssig werden und tröstete sich mit dem Gedanken, daß es jedenfalls wieder eine Hochzeit geben werde und einen lustigen Ansing.

Jeden Tag in der Woche erwartete die Glauning, daß der Vetter im Staat vor sie treten und sagen würde, er müsse über Land gehen; denn ihr saß der Gedanke, der in ihr aufgestiegen war, so fest im Kopfe, wie den Kameraden des Burschen. Als sie sich auch am Donnerstag getäuscht sah, meinte sie: nun wird er am Sonntag gehen. Und in der Tat, am Vorabend erklärte Hans, er werde morgen über Land – fahren. »Fahren?« rief die Witwe betroffen. – »Warum nicht?« erwiderte Hans lächelnd. »Der Hiesinger leiht mir seinen Braunen und sein Wägele. Und darf sich unsereiner nicht auch einmal ein Pläsier machen?« – »Wegen meiner fahr du,« entgegnete die Glauning. »Du bist dein eigener Herr und kannst tun, was du willst.« – Sie tat ihm aber nicht die Ehr' an oder sie hatte nicht den Mut, zu fragen wohin.

Am anderen Tage, im Schein der Morgensonne, als der Bursche von ihr Abschied nahm, geputzt wie nochmal einer, der »auf d'Gschau« geht, hatte sie doch so viel Kraft erlangt, mit einer Art von Lächeln zu sagen: »Nun, Hans, ich wünsch' dir viel Glück! Du wirst dir hoffentlich nicht einbilden, daß ich nicht weiß, worauf du ausgehst?« – »Nein,« erwiderte Hans gemütlich. »Vor Euch kann man sich nicht verstellen, Base – und ich versuch's auch nicht. Was wollt Ihr? Einmal muß man doch dran!« – Er gab ihr die Hand und verließ mit kräftigen Schritten den Hof. Die Base sah ihm nach. »Wie sicher er seiner Sach' ist!« dachte sie. »Nun, wenn er ein Glück macht, ich muß es ihm gönnen – allein um mich hat er's verdient.« Diese Gedanken konnten aber doch nicht bewirken, daß sie sich über sein Glück freute; im Gegenteil, sie hatte ein Gefühl, als ob ihr der letzte Rest des ihrigen genommen würde.

Hans ging zu dem Bauer, den er Hiesinger genannt. Das Wägelchen stand im Hof, aber der Gaul wurde noch gefüttert. »Mach ›fürsche‹ (vorwärts),« rief der Bauer dem Handknecht mit Laune zu, »und spann an! In solchen Geschäften will man bald an Ort und Stelle sein.« – Einige Minuten später, und Hans fuhr im Trab durchs Dorf. »Aha,« rief einer von seinen Kameraden, der ihn sah, »nun werden wir's bald innewerden!«

Wenn die Glauning gesehen hätte, in welchen Weg der Bursche einlenkte, dann hätte vielleicht ihr Herz zu klopfen und wieder zu hoffen angefangen. Er fuhr dem Dorfe zu, in welchem Christine sich befand. Er konnte es, er durfte es – er mußte es; und das hoff' ich jedem klar zu machen, wenn ich erzähle, was sich unterdessen begeben hatte.

Die Art, wie Christine bei dem Holzbauern ihre Pflicht erfüllte, zusammengehalten mit ihren ungewöhnlichen früheren Erlebnissen, hatte die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfs auf sie gelenkt. Das Mädchen hatte die Zweifler und Spötter, die sich auch dort aufgetan, beschämt; ihr ausdauernder Fleiß in dem beschwerlichen Dienst hatte ihr nicht Geringschätzung, wie die Mutter gefürchtet, sondern Achtung, bei einzelnen sogar Bewunderung erworben.

Bei Christine kam etwas hinzu, was ihr eine besondere Bedeutung gab. Ihr Aussehen hatte sich nicht so geändert, daß man sie nicht mehr für ein ungewöhnlich hübsches Mädchen hätte müssen gelten lassen. Die frühere Fülle allerdings war nicht wiedergekehrt; aber die verhältnismäßige Schlankheit, mit der sie aus der Stadt heimgekommen war, hatte infolge der ländlichen Arbeiten einen gesunden Charakter erhalten. Ihre Gesichtsfarbe war keineswegs gelb, wie die Hubel auch für die erste Zeit übertreibend berichtete, sondern der ihr eigene bräunliche Ton war nur kräftiger geworden, hatte dann aber auch wieder einen Hauch frischen Rots erhalten. Sie war noch immer die »schöne Christine«, die ehemalige Lehrersbraut und jetzige Bauernmagd; aber sie war mehr als das. Ihr Gesicht hatte einen eigenen höheren Charakter erhalten – den Charakter, der das natürliche Erzeugnis inneren Lebens und einer Kraft ist, wie sie die Geprüfte besaß und bewies. Ob sie nun im Hause, auf dem Felde tätig war, oder ob sie in der Kirche den Worten des Geistlichen horchte, Christine hatte etwas in ihrem Wesen, dessen sich kein anderes Mädchen im Dorfe rühmen konnte. Die Töchter der wohlhabenden Bauern konnten den Kopf hochhalten und an Festtagen in ihrem besten Staat und ihrer Stellung sich bewußt mit feingeschlossenem Mäulchen anmutig über die Gasse sich schwenken, so fein und so vornehm sah doch keine von ihnen aus wie unsere dienende Heldin, und aus keinem Auge blickte so viel Seele als aus den uns bekannten graublauen, die mit dem Gehalt (wenn dieses Wort hier gestattet ist) auch an Umfang zugenommen zu haben schienen.

Unter denen, die das Mädchen und ihr Verhalten zu taxieren wußten, stand eine Familie obenan, und zwar eine Bauernfamilie. Der Vater war ein Landmann der besten Art – einer von denen, die ihren Stand hochhalten, aber noch höher die Tugenden, die den echten und rechten Bauer machen. Er führte mit Weib und Kindern einen musterhaft geregelten Haushalt, und die Folge war, daß er, der mit Schulden begonnen hatte, jetzt unter die Wohlhabendsten des Orts zählte. Der Kinder waren nur zwei, ein Sohn und eine Tochter, jener siebenundzwanzig, diese neunzehn Jahre alt, beide noch unverheiratet. Der Sohn, ein Abbild seines Vaters und nur etwas weniger lustig, als der Alte im ledigen Stand gewesen, befand sich wohl unter dem Regiment der Eltern, und darum, und weil er einigermaßen scheu war und wählerisch, hatte er noch keine Frau gefunden und noch nicht den ihm gebührenden und bestimmten Hof erhalten. Die Tochter, ein angenehmes, gutes Geschöpf, trug schon ein Bild in ihrem Herzen, d.h. ein Mannsbild. Ein Bauernbursche, der alle Qualitäten besaß, die sie und ihre Eltern nur verlangen konnten, war ihr gewogen, und ihre Hochzeit stand in Aussicht, sobald der Vater des Liebhabers sich entschloß, den Hof zu übergeben.

Diese Familie war es, die unsere Christine von allen zuerst mit günstigen Augen betrachtete. Der Alte, der an ihr die guten Eigenschaften wahrnahm, die er von einem rechten »Bauernweibsbild« verlangte, rühmte sie, und Mutter, Kinder und Ehehalten stimmten mit ein. Was man von ihrem Schicksal erfuhr, konnte dem Mädchen bei wohlwollenden Beurteilern nicht schaden. Hatte sie schon als halbe Mamsell in der Stadt gelebt, so war es um so verdienstlicher, daß sie eine so brave Magd wurde, und die Gerüchte, welche zuerst über sie umliefen, wurden durch ihren streng ehrbaren Lebenswandel vollkommen widerlegt. Sie war noch nicht sechs Wochen im Dienst, als der Alte schon zu seinem Weibe sagte: »Wenn das Mädchen eine Bauerntochter wäre, eine bessere für unseren Sohn könnten wir nicht bekommen.« – Nach und nach erfuhr man, was die Glauning der einzigen Tochter immer noch mitgeben konnte, und wenn es auch nur den vierten Teil dessen betrug, was der Alte gab, so verfehlte es doch nicht, das Haupt der Magd in seinen Augen mit einem gewissen Schein zu umgeben. Endlich kam es dahin, daß der wackere Mann sich fragte: »Muß es denn gerad' eine Bauerntochter sein? Und wenn sie weniger hat als mein Sohn, ist ihr Fleiß, ihre Geschicklichkeit und ihre Tugend nicht mehr wert als Geld und Gut?« Weib und Tochter, denen er seine Gedanken mitteilte, traten ihm lebhaft bei. Gutmütig, wie sie waren, hatten sie das Mädchen ins Herz geschlossen, und die Tochter namentlich interessierte sich für den Heiratsplan mit dem ganzen Eifer einer liebesglücklichen Jungfrau. Sie sprach mit dem Bruder und brachte aus ihm heraus, daß er ganz im stillen selber schon ein Auge auf Christine geworfen! – Allgemein war die Zufriedenheit über diese Entdeckung; nach der Ernte hielt man nochmals einen Familienrat, und das Projekt gedieh zum festen Beschluß.

Das Mittel der Liebeswerbung konnte unter den gegenwärtigen Umständen allerdings nicht in Anwendung kommen. Wäre unser Freier auch der Mann gewesen, ein Mädchen durch Schmeichelreden zu gewinnen, so hätte er von dieser Fähigkeit gegenüber einer Magd beim Holzbauern doch keinen Gebrauch machen können. Aus allen Gründen mußte man den bewährten alten, auch jetzt noch immer praktischen Weg der Unterhandlung durch eine dritte Person gehen, und wandte sich an Base Hubel.

Welch einen Eindruck machte die Eröffnung auf die nicht sehr bemittelte Söldnerin! Ihr Bäschen eine Bäuerin – und was für eine! Sie selber zur Freundschaft einer der ersten Familien im Ries gehörig! Und sie hatte das in der Hand! sie sollte das machen – sie wurde darum gebeten! Das Entzücken der Frau war so groß, daß sie für den ersten Augenblick sprachlos dastand, weil sie ganz eigentlich den Mund nicht mehr zusammenbringen konnte, um Worte zu bilden, so daß Mutter und Tochter, welche die Eröffnung gemacht hatten, sich Mühe geben mußten, das Lachen, das sie ankam, zu einem Lächeln zu mildern. – Natürlich versprach die Gebetene, als sie endlich sprechen konnte, alles. Die Sache war schon gemacht – sie brachte das Jawort der Christine heute abend noch. Welche Ehre war es für diese und welche Freude! Welche Ehre und welche Freude für die Base Glauning und für sie alle miteinander!

Mit brennendem Kopf lief sie zu dem glücklichen Mädchen. Es war an einem Feiertage nach der Betstunde, und Christine konnte ihrer Einladung zu einer wichtigen Unterredung in ihrem Hause ungehindert folgen. Als sie allein waren, bedachte die Erfahrene, daß das Mädchen vielleicht vor Freude umsinken könnte, wenn sie ohne weiteres ihren Auftrag ausrichtete; sie begann daher mit Reden, welche sie auf das beispiellose Glück, das ihrer wartete, vorbereiten sollten. Christine, ungeduldig, fragte, was es denn wäre. Die Unterhändlerin machte ihre Eröffnung triumphierend und in der sicheren Erwartung, die Glückliche würde, außer sich, ihr um den Hals fallen, mit Freudentränen »ja, ja« rufen und des Dankes kein Ende finden. Welch ein Erstaunen, ja welch ein Schrecken, als Christine nach vorübergehendem leichtem Rotwerden ernst und ruhig erwiderte: »Die Leute sind gut gegen mich und tun mir eine große Ehr' an. Ich dank' ihnen auch von Herzen dafür, aber ich kann's nicht annehmen, Base.« – Die Hubel sah starr auf sie, wie auf eine Plötzlich toll Gewordene. »Du willst's nicht annehmen?« rief sie endlich. – »Ich kann nicht,« war die Antwort. – »Bist du rasend, Mädchen?« – »Nein, ich bin bei gutem Verstand. Geht zu den Leuten und dankt ihnen in meinem Namen recht schön, und sagt ihnen, ich kann nicht heiraten – weil ich überhaupt nicht heiraten will!«

Zu dem Erstaunen der Base gesellte sich jetzt die Entrüstung, der Geist und die Autorität einer Mutter fuhr in sie, und sie stellte dem Mädchen vor, welch unsinnigen Streich sie mache, wenn sie eine der ersten Bäuerinnen im ganzen Ries werden könne und nicht wolle. »Hast du etwas gegen die Leute? Hast du etwas gegen den Menschen? Ist er nicht brav und geschickt und häuslich, und ein sauberer Bursch obendrein?« – Christine mußte das zugeben. – »Und du willst nicht? Du willst so ein Glück versäumen, mit Füßen von dir stoßen? Warum? weswegen?« – Das Mädchen, bewegt, geängstigt, rief: »Um Gottes willen, Base, fragt mich nicht! – es geht nicht!«

In dem Kopf der Hubel blitzte ein Gedanke. »Wär's möglich,« begann sie, »hättest du einen anderen im Kopf? Denkst du vielleicht« – (die Wangen des Mädchens begannen sich zu färben) – »kannst du deinen Schulmeister nicht vergessen?« – Die Farbe verging wieder auf dem Gesicht der Gefragten und ihre Lippe verzog sich geringschätzig. Da ging der Base ein Licht auf wie eine Fackel; sie rief bestimmt: »Du hast den Hans im Kopf!« – Eine glühende Röte überströmte das Gesicht der Armen, sie zitterte – Tränen stürzten ihr in die Augen. – »Der ist's also! der Vetter! Himmel, was ist das!« – »Ja,« rief das Mädchen, die jetzt wirklich außer sich gebracht war, »der ist's! der beste Mensch, der bravste Mensch, und mir der liebste auf der Welt! Ich hab' schändlich gehandelt gegen ihn, er haßt mich, er verachtet mich, und er hat recht, und ich will's nicht anders haben. Aber nun wißt Ihr, warum ich auf Euch nicht hören kann! Ihn krieg' ich nicht und verdien' ich nicht, einen anderen will ich nicht und mag ich nicht, und darum heirat' ich nicht und will als Bauernmagd leben und sterben!«

Die Frau, von der Leidenschaft des Mädchens überwältigt, verstummte. Sie kannte den Wunsch der Glauning, ihre Tochter an Hans verheiratet zu sehen; sie wußte, daß er der Mann war, ein Weib glücklich zu machen; aber wenn er sie nicht mehr wollte, war's nicht ganz widersinnig, wegen seiner ein ganzes Lebensglück aufzuopfern? Sie mußte doch noch ein Wort reden, die erfahrene Mittelsmännin, und sie sagte daher, mit größerer Ruhe zwar, aber mit Nachdruck: »Mädle, Christine, bedenk', was du tust! Ein solcher Antrag wird dir nicht wieder gemacht! Und wenn du ihn ausschlägst um eines Menschen willen, der nichts mehr nach dir fragt – aus Eigensinn, aus Tollheit – es wird dich reuen, all dein Lebtag wird's dich reuen.« – Aber hierauf erwiderte Christine bestimmt und entschlossen: »Base, ich hab' Euch gesagt, wie ich denke, und nun ist's genug. Streiten will ich nicht mit Euch. Redet also nichts mehr, es hilft Euch nichts, jedes Wort ist umsonst.« – »Gut,« versetzte die Hubel, »dann hab' ich wenigstens meine Schuldigkeit getan! Ich hätt' nicht geglaubt, daß ich von einem Mädchen, wie du bist, mit so einer Antwort zu solchen Leuten gehen müßt'. Aber sie warten darauf, ich hab' ihnen versprochen, die Antwort heute noch zu bringen, und ich will hingehen und sagen, daß du nicht willst und warum du nicht willst.«

Christine stand erschreckt. Das Geheimnis, das sie bewahren wollte vor jedermann, war ihr entrissen, und jetzt erst merkte sie's. Scham und Angst bemächtigten sich ihrer, und im dringendsten Tone rief sie: »Nein, das dürft Ihr nicht! Sagt, daß ich überhaupt nicht heiraten will, daß ich mich für solche Leute nicht gut genug achte, sagt was Ihr wollt, nur sagt nichts vom Hans! Es könnte herumkommen – er könnt's erfahren, und« (setzte sie heftig hinzu) »er soll's nicht erfahren! Ich geh' nicht von Euch, Base, bis Ihr mir's versprecht! Gebt mir die Hand darauf, ich bitt' Euch, ich beschwör' Euch!« – »Gott,« entgegnete die Frau, »ist das ein Kreuz mit dem Mädle! Nun gut, ich versprech' dir's.« – »Ich dank' Euch, Base,« rief das Mädchen herzlich und gerührt: »ich dank' Euch für all Eure Güte und Freundschaft! Sagt den braven Leuten alles Schöne und Gute in meinem Namen; sagt, ich wolle gar nicht heiraten, und sie würden sehen, daß ich auch keinen anderen nehme. Sagt ihnen, ich würde keiner Seele etwas merken lassen von ihrem Antrag, und sie sollten sich jetzt eine bessere aussuchen als ich bin, denn mit mir wäre ihr Sohn doch niemals glücklich geworden.« Sie faßte die Frau bei der Hand und sah ihr ins Gesicht. Ihre Augen waren feucht geworden und füllten sich mit Tränen. Wehmütig lächelnd, in liebevollem Ton sagte sie: »Ihr seid brav – ich kann mich auf Euch verlassen!« Und ihr die braune Wange streichelnd, setzte sie hinzu: »So, nun geht und macht Eure Sache gut!« – Sie schüttelte ihr die Hand und verließ die Stube, nachdem sie ihr nochmals einen bittenden Blick zugeworfen hatte.

Die Base Hubel gehörte indes nicht zu jenen Personen, die, wenn sie ein Versprechen gegeben haben, nun auch glauben, es unter allen Umständen halten zu müssen. Im Gegenteil, sie hatte eine heroische Ader in sich, und wenn sie gutmütig genug war, auf eine dringende Bitte ja zu sagen, so besaß sie doch auch den Mut, sich »nach Gestalt der Sach'« von der übernommenen Verpflichtung selber zu dispensieren und ihr Wort zu brechen. Als sie allein war, rief sie daher: »Du einfältiges Ding! Nichts sagen vom Hans? Das ist ja das einzige, was in deine Antwort ein bißchen Sinn bringt und Verstand, so daß ich nicht ganz in Schand' und Spott dastehen muß vor diesen Leuten, und du mit mir! Augenblicklich sollen sie's erfahren!« – Um vieles langsamer dennoch, als sie es verlassen hatte, ging sie in das Haus des Bauers zurück, traf die Eltern und die Tochter und erzählte alles, indem sie nicht versäumte, über den Wahnsinn des Mädchens entrüstet ihr Verdammungsurteil auszusprechen. Die wackeren Leute bedauerten die Antwort von Herzen; aber – offen zu reden – ihre Betrübnis wäre doch größer gewesen, wenn der Korb von einer in jeder Hinsicht Ebenbürtigen erteilt worden wäre. Sie hatten doch daran denken müssen, welches Aufsehen die Verheiratung ihres Sohnes mit der Magd des Holzbauern machen würde, und der Umstand, daß nun dieses Aussehen mit all seinen Unbequemlichkeiten wegfiel, erleichterte ihnen die Tröstungen ihrer Seelen bedeutend.

Der alte Bauer klärte sich endlich auf und sagte zu der Hubel: »Nun habt Ihr Euer Geschäft aber erst halb gemacht.« – Die ihrer vornehmen Freundschaft beraubte und darum niedergeschlagene Söldnerin sah ihn fragend an. – »Die Hauptsach' ist jetzt, daß Ihr die Christine und ihren Vetter zusammenbringt.« – »Aber wie soll ich das anfangen?« rief das Weib. Der Bauer fuhr fort: »Hat nicht der Hans sein Bäschen für sein Leben gern gesehen?« – »Jawohl,« erwiderte sie; »aber jetzt will er durchaus nichts mehr von ihr wissen.« – »Ganz natürlich! – weil sie ihn aufgegeben hat und er glauben muß, sie halte nichts von ihm und habe keine Zuneigung zu ihm. Geht aber jetzt nur hinunter und erzählt ihm, was die Christine gesagt hat und was geschehen ist, und dann seht zu, ob er noch immer nichts von ihr wissen will. Ich bin der Meinung« (setzte er lächelnd hinzu), »daß Ihr noch immer Euern Kuppelpelz verdienen könnt.« – Das Gesicht des Weibes erhellte sich bei diesen Worten. »Ihr könnt wahrhaftig recht haben! – Aber darf ich denn auch alles sagen?« – »Alles,« versetzte der Bauer, »mit der Bedingung, daß es unter der Familie bleibt.« – »O, das versprech' ich mit Freuden! Kein Mensch weiter soll etwas davon erfahren!« – Beim Abschied reichte die Bäuerin dem Weibe die Hand und sagte: »Habt Dank für die Mühe, die Ihr Euch unsertwegen gemacht habt. Wenn auch nichts daraus geworden ist, so bleiben wir doch gute Freunde.« – »O,« rief die Hubel, »das ist eine große Ehre für mich! – Und wer weiß, vielleicht kann ich Euch doch noch einmal auf eine andere Art dienen!«

»Was für gute Leute das sind!« rief sie mit einem Seufzer, als sie ihrem Hause zuging; »'s ist doch jammerschade!« – Etwas indes war ihr geblieben. Sie faßte nun das neue Geschäft ins Auge und ihre Seele erheiterte sich wieder. »Wenn das gerät, wenn die zwei zusammenkommen und glücklich sind, dann bin's eben doch ich, die's gemacht hat, und der sie danken müssen für ihr Glück, solang' sie leben.«

Am nächsten Sonntag trat sie die Wanderung beizeiten an, um den Vetter sicher zu treffen, und erzählte ihm, während die Glauning den Kaffee machte, alles und jedes. Hans konnte nicht zweifeln; die Base beschwor ihre Aussagen bei allem, was heilig ist, und gab ihm in jeder Hinsicht die beruhigendsten Versicherungen. – Und nun erstand die entschlafene Liebe plötzlich, wie wenn ihr ein neues schöpferisches Werde! zugerufen worden wäre. Sie glühte hervor und durchloderte und durchleuchtete ihn mit wonnevoller Glut. Woran er nicht mehr glauben, worauf er nicht mehr hoffen konnte, das war doch geschehen! Das Mädchen, das ihm lieber war als alles, war sein! Sie war zur Erkenntnis gekommen, sie verstand ihn – sie liebte ihn – ihn allein und über alles! – O, nun war es besser als vorher – tausendmal besser! Er mußte ihr nicht nur vergeben – nein, Gott danken mußte er für den Weg, den sie geführt worden – Gott danken für ihr Leid und ihre Erkenntnis, und sie lieben und ehren und ihr Leben versüßen und sie glücklich machen – glücklicher, wenn's möglich wäre, als er selbst wurde! – Die Empfindungen des Glücks und des Dankes strömten durch sein Herz und erschütterten ihn so gewaltig, daß ihm Tränen in die Augen traten, und die gute Verwandte in gerührter Teilnahme sich freute, daß ihr dieses zweite Werk gelungen war, und nicht das erste. Eine innere Stimme rief dem Glücklichen zu, der Mutter die Kunde noch zu verschweigen; er gebot der Hubel aufs strengste, seiner Base nichts zu sagen und sie auch nichts merken zu lassen, und ebenso der Christine alles geheimzuhalten. Die Hubel versprach beides. Sie kam der Mutter gegenüber der Forderung auch sogleich nach; der Liebende selbst aber vermochte es nicht, und die Glauning hätte das Geheimnis erraten müssen, wenn ihre Gedanken nicht schon vorher auf falscher Fährte gewesen wären.

Das war es, was Hans bewog, heute dem Dorfe zuzufahren, in welchem Christine lebte.

Als das nette »Gefährt« im Sonnenschein über den trockenen Weg hinrollte, näher und näher dem lieben Ziel, da hatte unser Freund eine selige Empfindung, und die Wirkung davon ward sichtbar in seiner ganzen Erscheinung.

Seine Züge glänzten verklärt und hatten einen rührend liebenswürdigen Ausdruck. – Es ist eben doch schön, wenn man nicht mehr ganz allein auf sich und seine Tugend angewiesen ist, wenn man der Welt nicht bloß zu verzeihen, sondern auch etwas zu danken hat, wenn die Kraft der Seele getragen wird von der Schwellung des Glücks, wenn zu dem Gefühl, den Sieg zu verdienen, die stolze Freude des wirklich errungenen Sieges kommt. Aus dem Gesicht des Liebenden sprach jetzt nicht allein das Glück und die Freude, sondern auch die Würde des Mannes, der sich endlich auf die Stelle erhoben sieht, nach der er getrachtet hat, und die ihm gebührt.

Als der Wagen in das Dorf rollte, lag auf diesem eben das feierliche Schweigen des Sonntags: die Kirche hatte eben begonnen und die Gemeinde horchte dem Worte des Geistlichen. Hans fuhr ins Wirtshaus, versorgte mit dem anwesenden Knecht das Roß und ging dann im Hof umher. Die Glocke, die beim Vaterunser geläutet zu werden pflegt, verkündigte das baldige Ende des Gottesdienstes, Hans erwartete es, sah die Leute des Hauses und der Nachbarschaft von der Kirche heimkehren und machte sich endlich selber auf den Weg, mit Herzklopfen zwar, aber mit dem überherrschten eines Mannes, der mit tiefer Zuversicht dem Erfolge entgegengeht. Er hatte sich vorgenommen, bei der Geliebten sich nicht ohne weiteres auf die Erzählung der Verwandten zu berufen, er wollte so ruhig, als es ihm möglich war, als Besuch auftreten, zuerst von anderen Dingen reden und selber hören und sehen.

Als er in den Hof trat, sah er das »Mädle«, d.h. die zweite Magd des Bauers. Er fragte nach Christine, indem er hinzufügte, er sei ein Verwandter und hätte mit ihr zu reden. Die Gefragte erwiderte, die Magd sei im Garten, und wies ihm den Eingang. Hans trat hinein und sah Christine von weitem Gemüse abschneiden, das ihr die Bäuerin zu bringen aufgetragen hatte. Sie war in der Kirche gewesen, hatte aber an dem warmen Tage den Kittel ausgezogen und bückte sich zu Boden in blanken Hemdärmeln, die nur den Oberarm bedeckten. Als sie jemand gehen hörte, schaute sie auf. Sie erkannte den Vetter und sah errötend vor sich hin.

Hans trat näher und sagte treuherzig: »Guten Tag, Christine!« – Die Gegrüßte dankte und erwiderte mit erkenntlichem Blick: »Du kommst herauf? Das hätt' ich wahrlich nicht erwartet!« – »Nun,« sagte Hans, »ich muß doch auch einmal sehen, wie's dir geht.« – Die Brust des Mädchens hob sich und ein leichter Strahl der Freude ging über ihre Züge. Sie versetzte: »Gottlob, mir geht's gut, ich bin gesund und zufrieden.« Und in der Tat, so sah sie aus. Hatten Sonnenschein und Regen in Frühling und Sommer sie erfrischt und gestärkt, so war sie in den letzten, weniger »unmüßigen« Wochen schon wieder auch etwas runder geworden, und ihre ganze Erscheinung hatte den Charakter einer größeren sinnlichen Ruhe erhalten. Hans lächelte. »Das freut mich,« erwiderte er. »Du scheinst den Holzbauern nicht so schlimm zu finden wie deine Vorgängerinnen?« – »Er ist auch nicht so schlimm,« versicherte Christine. »Hitzig ist er freilich, und wenn er in seinen Zorn kommt, weiß er nicht mehr, was er sagt, aber im Grund seines Herzens ist er ein ehrlicher Mann und meint's besser als so ein glatter, süßer Schwätzer. Seit dem letzten Sturm im Heuet« – setzte sie lächelnd hinzu – »kommen wir ganz gut miteinander aus. Ich pass' aber auch besser auf.« Nach einem Moment des Schweigens ernster geworden, sagte sie: »Was macht denn aber meine Mutter? Ist sie doch wohlauf?« – »Jawohl,« versetzte Hans, »und auch zufrieden – bis auf die Gedanken, von denen sie zeitweis geplagt wird. Sie kann sich immer noch nicht dreinfinden, daß ihre Christine, ihre einzige Tochter, bei einem andern dienen soll.« – »O,« rief das Mädchen, »daran wird sie sich eben doch gewöhnen müssen. Mir gefällt das Dienen, und ich bin lange nicht so vergnügt gewesen wie jetzt.« – Der Bursche betrachtete sie mit innigem Wohlgefallen. »Ja,« sagte er, »du bist auch wieder eine ganze Magd geworden.« Und mit gutmütigem Stolz setzte er hinzu: »Das Bauernhandwerk ist halt doch das schönste und gesündeste, und über den Bauernstand geht nichts in der Welt!« – »Das ist wahr,« erwiderte Christine, durch seine Anerkennung geschmeichelt und erfreut. »Drum will ich auch fortarbeiten, weil ich seh', daß ich's doch nicht ganz vergessen hab', und dazu lernen, was ich noch nicht versteh', und das kann ich am besten auf so einem großen Hof wie hier. Sag' das meiner Mutter, sag' ihr nur, ich bin gern eine Bauernmagd und hoff's noch lange zu bleiben.«

Um den Mund des Burschen spielte ein fast unmerkliches schelmisches Lächeln. »Nun,« erwiderte er endlich, »auf einem Bauernhof kann man auch etwas anderes sein als Magd. Du bist keine Magd wie die erste beste, du bist das einzige Kind deiner Mutter, und wenn das der Rechte erfährt, und wenn er sieht, wie du schaffen kannst in einem großen Werk, dann könnten wir auf einmal hören, daß die Magd eine Bäuerin geworden ist.« – Christine, des an sie ergangenen Antrages gedenkend, wechselte die Farbe und sah den Vetter scharf an; aber dieser hielt aus und verriet seine Kenntnis der Sache mit keinem Zuge. Das Mädchen entgegnete mit Ernst: »Ich trachte nicht so hoch hinaus; ich begnüge mich mit dem, was ich bin, und bleib' im ledigen Stand.« Eine sanfte Heiterkeit verbreitete sich über ihr Gesicht, mit einem Hauch von Trauer gemischt, der sich indes im Ausdruck wahrer Teilnahme verlor. Sie sagte: »Aber von dir hört man jetzt, daß du ans Heiraten denkst. Nun, wundern wird sich niemand darüber. Du weißt ja, wie oft ich dir selbst früher zugeredet hab'.« Und plötzlich errötend rief sie: »Am End' hast du schon eine? und willst mich zur Hochzeitmagd?« – »Eins ist wahr,« erwiderte Hans, »heiraten will ich.«

Christine erschrak bei diesen Worten, ihr Gesicht wurde blaß und im Augenblick darauf purpurrot. Aber nun war es zu Ende mit der Zurückhaltung des Burschen. Wie er die Zeichen der Liebe an dem Mädchen erblickte, die er sich erkoren hatte, als sie fast noch im Kindesalter stand, wie er das Bild, das ihn im Spiegel der Seele entzückt hatte, mit Augen schaute, da schlug die Flamme seiner Leidenschaft durch, und mit jenem Blick unendlicher Liebe, den er früher nur verstohlen auf sie zu richten gewagt hatte, sah er ihr mutig und gerade in die Augen. Und sie verstand ihn – mit der Schnelle des Blitzes erleuchtete sie die Erkenntnis, daß er alles wisse, und erschüttert und beseligt stand sie vor ihm. Hans ergriff ihre Hand und sagte im herzlichsten Ton: »Ja, Christine, heiraten will ich: aber ich brauch' keine Hochzeitmagd, sondern eine Hochzeiterin!« Und als sie bei diesen Worten zuckte, als ob sie sich ihm entziehen wollte, rief er: »Laß mir die Hand! – Die Base hat mir alles gesagt. Ich bin heraufgekommen, um dich zu fragen, ob du mein Weib werden willst – und nun red' und sag' es!«

Das Herz des Mädchens drehte sich im Busen um vor Wonne; aber noch wagte sie nicht, das ihr vom Himmel gefallene allzu große Glück anzunehmen, und sie rief: »Wie! – mich, die so gegen dich gehandelt hat – mich willst du zum Weib?« – »Still!« entgegnete Hans mit einer Bewegung, als ob er ihr den Mund zuhalten wollte; »das ist vorbei und vergessen, und nun tu' dir nicht selber unrecht. Ich kenne kein Mädchen in der ganzen Welt, die ich für besser und für rechtschaffener halte, und die ich höher schätze als dich.« – Nach dieser Ehrenerklärung, welche die Liebeserklärung diesmal ergänzte und sanktionierte, sah Christine mit dem rührendsten Blick der Liebe und des Dankes auf ihn. »Ja,« rief sie mit Tränen in den Augen, »du bist eben immer der beste der Menschen! Wieviel hab' ich erfahren, wieviel hab' ich leiden müssen, um das einzusehen.« Und während die Tränen über ihre Wangen rollten, vergaß sie alles und fiel im Drang ihres Herzens dem Guten und Treuen um den Hals, und küßte ihn und weinte an seinem Gesicht.

Sie hatten Glück, die Glücklichen. Kein Wesen sah diesen Vorgang, der am hellen Tage und unter freiem Himmel auf dem Dorfe höchst ungewöhnlich ist, ein einziges Paar Schwalben ausgenommen, die auf dem Stadeldache saßen und, die Flügel streckend, neugierig herunterzulugen schienen.

Aber nicht lange mehr sollten sie ungestört bleiben. Indem der Erschütterung auf beiden Gesichtern innige Heiterkeit folgte und das Mädchen ihre Tränen mit der Sonntagsschürze trocknete, vernahmen sie von der Gartentür her plötzlich den Ruf: »Aber was Kreuzblitz ist denn das?« – Sie sahen hin: in höchsteigener Person und in voller Autorität des Richters kam der Holzbauer auf sie zu. »So?« rief er zu Christine, »die Bäuerin wartet auf dich und du unterhältst dich mit einem – wer ist der Bursch da?« – Hans trat mit festem Schritt vor den Gefürchteten hin und sagte: »Mein Nam' ist Hans Burger.« – Der Bauer betrachtete ihn und rief, sich erinnernd: »Ah so, du bist der!« – »Ja,« sagte Hans, »und die Christine hier ist mein Bäschen und seit einigen Minuten – meine Hochzeiterin.«

Der Holzbauer stand überrascht und sah ihn groß an. Er war zu gescheit, um nicht einzusehen, daß seine Autorität jetzt ein Ende hatte; so schnell indes konnte er das nicht einräumen. »Das Donnerwetter,« polterte er mit einer eigenen Mischung von wirklichem Unwillen und gespieltem Zorn, »was ist denn aber das für eine Art? Du kommst so mir nichts dir nichts her zu mir und heiratest mir meine Magd weg? Da soll ja doch gleich« – Hans, von diesem Spaß des Holzbauern ergötzt, entgegnete: »Ja, da kann ich nicht helfen, das Heiraten geht allem vor.« – »Hol's der Teufel!« brummte der Bauer. »Die bösen Weibsbilder laufen einem weg, und hat man eine, die ein wenig ordentlich wäre, dann kommt so ein verfluchter Kerl und nimmt sie einem zum Weib! – Nun,« setzte er mit einem satirischen Blick hinzu, »und du willst's also wirklich riskieren? – mit der Feinen?« »Ja, Holzbauer,« versetzte Hans mit der Laune des Glücklichen. »Nachdem sie ein halbes Jahr bei Euch gedient hat, mein' ich, kann ich's riskieren.« – Der Bauer, der heute einen Sonntagshumor hatte und von Natur Spaß verstand, lachte. »Ja, ja,« sagte er dann, hast auch recht – jetzt kannst du's. Ich hab' sie dir gezogen und du kannst dich bei mir bedanken.« – Indem er seine Zornanfälle auf diese Art sich als Tugend anrechnete, konnten die beiden Liebenden nur mit Mühe den Ausdruck ihres Vergnügens zurück. halten. Hans nahm sich indessen zusammen und sagte: »Ich dank' Euch auch, Holzbauer, von Herzen.« – »Und ich desgleichen,« setzte Christine hinzu; »bei Euch hab' ich gerade gelernt, was mir fehlte, und ohne Euch wär' ich meiner Lebtag nicht glücklich geworden.«

Der Holzbauer, wie alle Großen, war darum, weil er Schmeichelworte als etwas ihm Zukommendes betrachtete, für ihre Süßigkeit keineswegs unempfindlich. »Freut mich,« erwiderte er, »daß ihr das einseht.« Und in dem Gefühl seiner unleugbaren Güte setzte er hinzu: »Da sagt man immer, ich sei bös und schimpfe die Leute. Dummköpfe, Ochsen, alberne Weibsbilder sind's, die so was sagen. Ich schimpfen! Einfältiges Lumpenpack, verfluchtes! – Ich verlang', was recht ist, und wenn etwas Dummes geschieht, lass' ich's nicht durchgehen; und so muß man's auch machen, sonst wird nie etwas aus den Leuten. Da hat man nun das Beispiel! – Und 's freut mich doch, daß ihr das einseht, und daß man auch einmal seinen Dank bekommt in der Welt.« Im vollen Genusse des Selbstgefühls hielt er ein bißchen inne, ließ seinen Blick auf dem Mädchen ruhen und sagte dann zu Hans: »Noch ein Jährle, wenn ich sie hätt' – dann solltest du sehen!« – »Nein, nein,« versetzte Hans lachend, »man muß nicht zu viel verlangen. Von jetzt an will ich sie schon selber ziehen.« – Der Bauer sah ihn an, wie etwa ein Kaiser einen jungen Grafen ansieht, der sich auch fühlen zu können glaubt. Durch seinen guten Leumund, der auch zu ihm gedrungen war, schon für ihn eingenommen, fühlte er sich von seinem Wesen angesprochen und sagte daher mit der Miene huldvoller Approbation: »Nun, die Postur hast du dazu.« – Hans bemerkte: »Vorderhand, nämlich bis wir uns zusammengeben lassen, bleibt die Christine ohnehin noch bei Euch, wenn Ihr nichts dagegen habt. Heute freilich möcht' ich bitten, daß Ihr sie mit mir zu ihrer Mutter fahren lasset.« – »Alles was recht ist,« versetzte der Bauer mit Würde. Und mit der Freundlichkeit, deren sein Gesicht überhaupt fähig war, fügte er hinzu: »Seid vergnügt miteinander und macht bald Hochzeit, und ladet mich auch darauf. Ich komm', ich versprech 's euch, und wär's nur, um die dummen Weiber zu, ärgern. Dann sollen sie mir nochmal sagen, keine Magd könnt's aushalten bei mir und jede käm' in Unfrieden von mir weg! – Aber Sapperment!« rief er, sich plötzlich unterbrechend, »jetzt müssen wir in die Küche!« Und zu Christine gewandt, setzte er hinzu: »Klaub das Zeug da zusammen und schneid' noch ein wenig ab. Ich will indes zur Bäuerin gehen und dich entschuldigen; denn die könnt' am End' nicht so Spaß verstehen wie ich!« Und in einer Laune, wie man ihn seit langer Zeit nicht gesehen, schritt er hinweg.

Als das Mädchen zur Bäuerin kam, erhielt sie für die Scheltworte, die sie sonst zu erwarten hatte, einen freundlichen Glückwunsch.

Eine halbe Stunde später trat unser Paar in die Stube der Hubel, die natürlich augenblicklich wußte, woran sie war. Christine rief: »Ihr habt nicht Wort gehalten – Ihr habt mich verraten!« – »Sei still, du dummes Ding,« entgegnete die Base. »Wo wärt ihr denn jetzt, wenn ich das Maul nicht aufgetan hätt'?« – »Ihr habt recht gehabt,« erwiderte die Glückliche und drückte ihr die Hand. Hans sah die Base heiter an und sagte dankbar: »Mir habt Ihr Wort gehalten.« – Die Hubel versetzte würdig: »Wo ich reden muß, da red' ich, und wo das Schweigen notwendig ist, da kann ich auch schweigen.«

Nicht lange, so rollte das Wägelchen mit dem Paare der Heimat zu.

Im Schwunge der Freude gebärdet sich der natürliche Mensch frisch und lustig. Ins Dorf einlenkend, knallte unser zum Hochzeiter gediehene Freund, daß es eine Art hatte, und ließ das wohlgefütterte Roß traben, daß die Leute ihnen nur nachsehen und ein paar am Wege stehende Freunde nur die einfachsten Laute des Staunens ausrufen konnten. – Der Gute eilte der Mutter zu, die trotz alledem und alledem nun auch wieder eine Freude haben sollte.

Als er am Fenster des Hauses vorbeifuhr, erkannte die Glauning nur ihn, der Kopf der Christine war verdeckt. Der Wagen rollte in den Hof. »Da haben wir's!« rief die Witwe, ins Herz getroffen; »nun bringt er sie mir gar ins Haus.« Allein es galt ihre Ehre, sie drückte die Betrübnis ins Innerste ihres Herzens zurück und hatte eine würdig freundliche Miene zustande gebracht, als sie zur Begrüßung heraustrat. »Da ist nun die Hochzeiterin,« rief Hans, »das heißt, wenn Ihr nichts dagegen habt!« Die Mutter, Christine erkennend, stieß einen Schrei aus und fing das vom Wagen steigende Kind in ihren Armen auf. »Gott sei Dank!« rief sie, und Tränen der Freude stürzten aus ihren Augen.

Bei dem besten Kaffee, den man jemals in diesem Hause trank, wurde die Mutter in das Geheimnis der letzten Vorgänge eingeweiht. Wenn ein moralisch-ästhetischer Knauser vielleicht denken sollte, die Witwe hätte das Glück, solche Kinder zu besitzen, doch eigentlich nicht verdient, so beschämen wir ihn mit der Tatsache, daß sie bei Erwähnung der abschlägigen Antwort, die Christine dem reichen Bauernsohn gegeben, nur ein Augenblickchen eine kuriose Empfindung hatte, sich aber durchaus nichts ansehen ließ und aufrichtigst ihren Dank gegen Gott wiederholte für den glücklichen Ausgang, und den Kindern gerührt ihren Segen gab.

Im Dorfe freilich wurde über Hans zunächst gar manches Näschen und manches Mäulchen gerümpft, wovon eigentlich nicht jedes die zierliche Benennung verdiente. In kurzem war aber auch hier von dem wahren Sachverhalt einiges durchgesickert, wir wollen ununtersucht lassen, durch wessen Vermittelung. Ein Name zwar wurde nicht genannt, bald aber sagte eins dem andern: die Christine hätte gar einen Reichen und Großen haben können, wenn sie gewollt hätte, aber sie hat ihn ausgeschlagen, weil ihr der Hans lieber ist als alle. Man begriff endlich das Paar, und an die Stelle der Kritik, die nicht mehr sachgemäß war, trat allgemein freundliche und achtungsvolle Teilnahme.

Hans hatte die Braut an jenem Sonntag wieder zum Holzbauern zurückgeführt. Hier, wo sie nun mit auffallender Rücksicht behandelt wurde, schrieb sie an die gute Base Kahl und meldete ihr Glück und den wunderbaren Weg dazu, und ließ an alle ihre Bekannten in der Stadt, an den Herrn Vetter, an Mamsell Adelheid und Susanne die schönsten Grüße ausrichten. Nach einer Woche lief die Antwort ein. Die Schreiberin freute sich unendlich, daß ihre Prophezeiung so schnell eingetroffen sei, und konnte die Teilnahme der Bekannten nicht warm und lebhaft genug schildern; ihr sei's gewesen, als ob eine Tochter, der Adelheid und Susanne, als ob eine Schwester das Glück gehabt hätte. Jetzt könne sie übrigens ihrem lieben Bäschen auch melden, was sie bisher sich nicht zu schreiben getraut, daß Herr Forstner schon seit drei Wochen mit der Wilhelmine verheiratet sei. Diesem könne sie aber, nach allem, was sie höre, keinen glücklichen Ehestand prophezeien. Die Wilhelmine habe ihren jetzigen Mann schon ganz unter dem Pantoffel; außerdem sei sie eifersüchtig und hüte ihn wie ein Drache. Wenn das schon in der ersten Zeit geschehe, was würde der Mann erst später zu erdulden haben! Im übrigen müsse sie sagen, was wahr sei: vorgestern habe in der »Erheiterung« ein Konzert stattgefunden und Herr Forstner habe auf der Violine gespielt, daß alles Bravo gerufen und Beifall geklatscht habe.

Bei dem letzten Satz lächelte Christine; es schien, als ob sie sich nicht unglücklich fühlte, daß ihr künftiger Mann dieser Qualität entbehrte. Die Vorhersagung eines unglücklichen Ehestandes anlangend, dachte sie: die Base wird wohl übertrieben haben und meint mir vielleicht einen Gefallen damit zu tun; aber da kennt sie mich schlecht. Ich habe nicht das geringste gegen diese Leute und gönne ihnen von Herzen alles Glück, das sie sich verschaffen können.

Aus der Zeit ihres Dienstes beim Holzbauern haben wir nur noch weniges zu berichten. Eines Abends, als sie eben vom Felde heimging, begegnete ihr vor dem Dorfe jener Alte, der ihr die ehrenvolle Stelle einer Söhnerin zugedacht hatte. Dem Mädchen klopfte das Herz in Dank und Achtung, und als sie ihm nahe kam, grüßte sie ihn mit einem Blick der liebevollsten Erkenntlichkeit und – Abbitte. Der Bauer lächelte und sagte, indem er ihr freundlich wie einem Kinde zunickte: »Ich gratuliere, Christine!« Das vollendet heitere Aussehen des Alten hatte, wie wir gestehen wollen, noch einen anderen Grund als seine Gutmütigkeit. Christine war ersetzt. Der Hubel, der ihre Niederlage gegenüber den guten Leuten keine Ruhe gelassen, war eine große Tat gelungen; sie hatte für den Sohn eine ausgemittelt, ihm an Stand und Vermögen völlig gleich und in jeder Hinsicht wundersam passend für ihn, und die Unterhandlungen waren bereits dahin gediehen, daß der Heiratstag in naher Aussicht stand. Christine erfuhr es etliche Tage später, und diese Ausgleichung trug dazu bei, ihr die letzte Zeit bei dem Holzbauern zu der angenehmsten zu machen.

Im Oktober lud Hans mit seinem Bruder, dem Schmied, und mit dem jetzigen Dorflehrer Freunde und Bekannte im Ries herum zu seiner Hochzeit ein. Er lernte den letzteren, den die Vereinigung der Seminarbildung mit einem wackeren, schlichten, zufriedenen Sinn für eine Schulstelle auf dem Lande ganz besonders qualifizierte, bei dieser Gelegenheit näher kennen und freute sich, an ihm künftig einen guten Freund zu haben, und an der braven, munteren Frau desselben eine richtige nützliche Bekanntschaft für Christine.

Mit der Erwähnung der feierlichen Einladung haben wir schon gesagt, daß die Hochzeit im Wirtshause gehalten wurde. So hatte es Hans gewollt. Alle Welt sollte die Christine sehen im bräutlichen »Horbet«, dem jungfräulichen Kopfputz: alle Welt sollte ihn an ihrer Seite erblicken, stolz und glücklich. – Es war eine große Hochzeit für ein solches Brautpaar, die meisten Geladenen, die zugesagt hatten, waren auch gekommen, und richtig befand sich unter ihnen auch der Holzbauer. Derselbe trank sich nach und nach in eine ausnehmend gute Laune hinein, die sich übrigens, bei gelegentlich an ihn gerichteten Fragen, mehr in ergötzlichen als höflichen Antworten kundgab. Nachdem er einige wirksame Trümpfe ausgespielt, und namentlich auch seine Güte und Verträglichkeit in so kräftigen Ausdrücken verteidigt hatte, daß ihm niemand zu widersprechen wagte, schöpfte die glückliche Christine aus seinem vergnügten Aussehen den Mut, einem neckischen Verlangen nachzugeben und den Wunsch laut werden zu lassen, er möchte doch auch ein paar Reihen mit ihr tanzen. Der Hochzeiterin dies abzuschlagen, ging nicht wohl an, und außerdem konnte er durch Erfüllung des Wunsches am besten beweisen, wie gut man es bei ihm habe und wie vortrefflich sie miteinander ausgekommen seien. Deshalb unterdrückte er die bereits auf seiner Zunge befindliche Frage: ob sie verrückt geworden sei? führte sie unter allgemeiner Aufmerksamkeit auf den Tanzboden und drehte sich so stattlich herum, als es seine Leibesbeschaffenheit irgend zuließ. Nach den schicklichen drei Reihen wollte er aufhören; Christine, der es Vergnügen machte, den »Wilden« so zahm an der Hand zu haben, bat ihn noch um einen. Aber nun war seine Geduld zu Ende. »Geh zum – es geht nicht, Mädle! – Jungfer Braut, wollt' ich sagen!« – Hans, der heiter zugeschaut hatte, nahm ihm die Tänzerin ab, und statt ihrer trat die Mutter zu ihm und rühmte ihn, wie »feindle« (feindlich) schön er's noch könne und was für eine »grausame Ehr'« er ihnen angetan habe, daß er auf die Hochzeit gekommen sei. Zufrieden setzte er sich zur Kanne, und während er auf den Tanzlorbeeren ruhte, sammelte er sich neue als Zecher und Sprecher.

Das Fest ging seinen gewöhnlichen Gang, der Abend kam heran. Die Ehrentänze, die bei solchen Gelegenheiten für das Brautpaar eine Pflicht der Höflichkeit werden können, waren getanzt, der Hochzeiter und die Hochzeiterin setzten sich an den »Bräuteltisch«, an welchem sich dermalen nur die Mutter befand. Die Gäste waren zum größten Teil auf dem Tanzboden, wo der junge lustige Hochzeitknecht sich eben nach geheim erhaltenem Auftrag mit der Base Hubel herumdrehte, zum Lohn für ihre Verdienste. In der Stube waren nur zwei entferntere Tische mit Zechenden besetzt, die in lebhaften Diskurs geraten waren und nur Aug' und Ohr für sich selber hatten. Gewissermaßen allein gelassen und von der Festesfreude schon etwas ermüdet, saßen unsere drei Personen still da und gaben sich ihren Gedanken hin. Die Musik draußen störte sie nicht, die bekannten Töne klangen freundlich in ihre Vorstellungen ein. Das Vergnügen, das nachmittags hell auf ihren Gesichtern geleuchtet hatte, nahm nach und nach einen ernsteren Charakter an, und ihre Mienen wurden feierlich, fast so wie sie in der Kirche gewesen. – Die Mutter sah zuerst aus ihren Träumen empor; sie ließ ihren Blick liebevoll auf den beiden ruhen, die so ganz und gar zusammengehörig ihr gegenübersaßen, und sagte dann bedeutsam: »Wie lang' hat's dazu gebraucht! Es ist doch wahrlich gerade, als ob's früher nicht hätt' sein sollen!« – Hans erwiderte auf diesen unwillkürlichen Ausruf in dem milden Tone, wie er tieferen Menschen in ernster Empfindung eigen ist: »Es hat auch wirklich nicht sein sollen, Schwieger! In der Welt ist's nicht jedesmal gut, wenn man ohne weiteres bekommt, was man gern möchte: man muß zum rechten Glück erst fertig gemacht werden. Ich hab' die Christine besser bekommen, als es früher möglich gewesen ist, und sie mich. Glücklich wären wir auch früher miteinander geworden, aber wir hätten nicht gewußt, was wir aneinander haben, und jetzt wissen wir's.« Christine sah ihn bei diesen Worten mit feuchtglänzenden Augen an und drückte ihm zärtlich die Hand.

 

Ende.

 


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