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Wladimir Ssolowjow

(Eine Gedenkrede).

Warum ist eine Gedächtnisfeier für Ssolowjow heute besonders zeitgemäß?

Seine ganze philosophisch-öffentliche Tätigkeit kann als Kampf gegen den Nationalismus bezeichnet werden. Es scheint aber, daß er sich der ganzen Bedeutung dieses Kampfes gar nicht bewußt war; jedenfalls verstand er nicht, etwas darüber zu sagen – darin ist seine Zunge »schwer« wie die eines Propheten.

Er hatte ganz richtig vorausgesehen, daß das Schicksal Rußlands von der Überwindung des Nationalismus abhängt:

O Rußland, eine stolze Frage
In deinem Herzen ewig brennt:
Was willst du sein: des Herrn und Heilands
Oder des Xerxes Orient?

Es ist eine furchtbare Frage. Sich von Christo lossagen, um ein Orient des Xerxes zu werden, ist natürlich nicht besser und vielleicht sogar schlimmer, als gänzlich unterzugehen. Wir beginnen jetzt aber etwas viel Schrecklicheres zu begreifen: nämlich, daß der Nationalismus als eine blasphemische Bejahung und absolute Vergöttlichung seines Volkes nicht nur für Rußland, sondern auch für ganz Europa und die ganze Menschheit eine Daseinsfrage bedeutet.

Der Weltkrieg stellt eben diese Frage.

Einen solchen Krieg wie diesen hat es in der Weltgeschichte noch nie gegeben. Alle früheren Kriege sind im Vergleich mit diesem partielle, relative Erscheinungen, beinahe gar keine Kriege. Er ist eigentlich der erste, – wir wagen nicht zu sagen: auch der letzte – jedenfalls der erste allgemeine, bedingungslose, endgültige oder unendliche absolute Krieg.

Der absolute Krieg ist eine Frucht des absoluten Nationalismus. Wir trösten uns damit, daß der absolute Nationalismus nur eine Eigenschaft unserer Gegner, aber nicht unsere Eigenschaft sei. Zugegeben, daß unser Nationalismus geringer und bedingter ist. Man kann aber nicht ein Größeres durch ein Kleineres, ein Absolutes durch ein Relatives überwinden. Man kann das falsche Absolutum des Nationalismus nur dann besiegen, wenn man ihm ein wahres Absolutum gegenüberstellt, d. h. wenn man das nationale Ideal durch irgendein höheres ersetzt. Welches Ideal ist nun höher als das nationale?

Vor dem Kriege hätten wir die Frage sehr leicht beantwortet: das allmenschliche Ideal. Heute werden wir es entweder gar nicht, oder nicht so leicht wie früher über die Lippen bringen.

Erst heute, nach der furchtbaren Erfahrung dieses Krieges haben wir erkannt, was für eine blutige Last auf dem nationalen Ideal ruht. Man kann wohl sagen, daß dieses Ideal sich mit dem ganzen Blute, das heute auf den Schlachtfeldern vergossen wird, vollsaugt, während das Ideal der Menschlichkeit um diese gleiche Blutmenge ärmer wird. Man kann wohl sagen, daß kein anderes Ideal heute so erdrückt, zertreten, beschimpft und totgeschlagen ist wie das allmenschliche; daß das nationale Ideal heute das lebendigste, feurigste, notwendigste und allgemein verständlichste ist, das allmenschliche aber – das abstrakteste, kälteste, toteste, überflüssigste und unverständlichste. Millionen von Menschen sterben heute für das nationale Ideal, für das Vaterland; wer stirbt aber für das Ideal der Allmenschlichkeit? Und wenn es solche gibt, so nennen wir sie Phantasten, arme Narren, Träumer.

Russen, Deutsche, Engländer, Franzosen sind ja alle Menschen. Menschen dem Namen nach; in der Tat ist aber ein Mensch dem andern ein wildes Tier, sogar kein Tier, sondern ein Teufel.

Wenn wir das nicht wollen, wenn wir den absoluten, unendlichen Krieg, diese Selbstvernichtung des Menschengeschlechts nicht wollen, so müssen wir uns daran erinnern, daß das heute tote Ideal der Allmenschlichkeit einst lebendig gewesen ist; und wir müssen glauben, daß es einmal wieder lebendig sein wird.

Wladimir Ssolowjow wußte es und glaubte daran wie kein anderer Mensch: nur davon handeln alle seine Worte und alle seine stummen Prophezeiungen. Er wußte wie kein anderer Mensch, daß der absolute Nationalismus nur durch das Ideal der absoluten Menschlichkeit überwunden werden kann. Dieses Ideal bleibt aber abstrakt, leblos und wirkungslos, solange es nicht in der Wirklichkeit, wenigstens in einem Punkte, in einer Person, in einem Absoluten Menschen verkörpert ist. Ein solcher Absoluter Mensch ist der Gottmensch Christus. Vom Gottmenschen zum Gottmenschentum – so lautet der religiöse Hauptgedanke Ssolowjows.

Tolstoi steht zu Ssolowjow in vielen Dingen in Widerspruch; unter anderm auch in seinem Verhältnis zum Kriege.

Tolstoi verwirft den Krieg wie jede Gewalt, wie jedes »Anstreben gegen das Böse«. Dies Verhältnis ist zweifellos aufrichtig, gerecht und heilig, aber persönlich und unsozial, daher auch unzeitgemäß, unreal und unwirksam. Um den Krieg so zu verwerfen, muß man ein Tolstoi sein. Es hat aber nur einen Tolstoi gegeben.

Wladimir Ssolowjow rechtfertigt und bejaht den Krieg nicht (man kann ihn gar nicht rechtfertigen oder bejahen), – aber er nimmt ihn hin, demütigt sich vor ihm, beugt sich zugleich mit den andern zu ihm hinab, um ihn gänzlich aus sich »hinauszuleben«, von innen heraus zu überwinden, ebenso wie er auch den ganzen welthistorischen Prozeß hinnimmt.

Tolstoi ist ihm dermaßen entgegengesetzt und feindlich, daß er ihn zuweilen für den »Antichrist« hält. Und doch stimmen sie im Wichtigsten, in der Idee oder, genauer gesagt, im Gefühl der Allmenschlichkeit vollkommen überein. Auch Dostojewskij, der in seinen finstersten Augenblicken der wütendste Nationalist war, sagte zu anderen Zeiten (z. B. in seiner berühmten Puschkin-Rede), daß »Russe sein – Allmensch sein« bedeute. Puschkin hat die Fähigkeit, sich in die anderen Völker künstlerisch hineinzufühlen. Ssolowjow und Tolstoi tun dasselbe religiös. Diese Fähigkeit der Einfühlung, der Durchdringung eines fremden nationalen Körpers mit seiner Seele ist nicht nur eine ideelle Möglichkeit, sondern eine durchaus reale Wirklichkeit, gleichsam eine Offenbarung jener »neuen Kreatur«, von der der Apostel Paulus spricht, – eine neue Geburt, ein Eindringen in fremdes Fleisch und Blut. Wenn Ssolowjow für die Juden oder die Polen eintrat, wurde er selbst zu einem Juden oder Polen (er »verjudete«, wie es die Unverständigen nannten, um ihn zu lästern); den Juden und Polen ist er wie ein Blutsverwandter, uns aber nach wie vor Russe, vielleicht noch mehr Russe, als er bis dahin war. Ebenso erscheint auch Tolstoi den entferntesten und fremdesten Völkern als ihr Blutsverwandter. Diese Erscheinung ist nicht nur metaphysisch, sondern auch physiologisch. Ebenso wie es in den Blutkörperchen etwas gibt, was die gelbe Rasse von der weißen unterscheidet, so enthält vielleicht auch das Blut solcher Menschen Keime einer neuen Allmenschenrasse.

Dieses Wunder der Umwandlung, der Durchdringung eines fremden Körpers mit seiner Seele, der Allmenschlichkeit, ist ein spezifisch russisches Wunder, eine eigentümliche, große und schreckliche Gottesgabe. Man könnte sagen, daß die nationale Bestimmung Rußlands in der Überwindung des Nationalen und in der Erreichung des Allmenschlichen liegt. Ob wir wollen, oder nicht, – wir können uns dieser Bestimmung nicht entziehen. Der Weltkrieg hat aber die Frage der russischen Allmenschlichkeit zu einer so akuten gemacht, wie sie noch nie war:

O Rußland, eine stolze Frage
In deinem Herzen ewig brennt:
Was willst du sein: des Herrn und Heilands
Oder des Xerxes Orient?

Rußland muß diese Frage beantworten. Und wir nehmen es nicht mit Freude und nicht mit Stolz, sondern mit Grauen hin, daß wir wohl die einzigen sind, die einsehen, daß die Frage, ob man mit Christus oder gegen Christus sein soll, nicht nur für uns sondern für die ganze Menschheit die Daseinsfrage bedeutet.

Wenn Christus niemals war, so wird der absolute Nationalismus, der absolute Krieg, niemals ein Ende nehmen: dann ist die Welt verloren und wir sehen schon den Anfang vom Ende. Christus aber war und die Welt wird errettet, und wir sehen schon den Anfang der Rettung oder werden ihn bald sehen. So würde Wladimir Ssolowjow in unseren Tagen sprechen.

Er verwarf den Krieg nicht. Er würde auch diesen Krieg hingenommen haben. Er würde dasselbe sagen, was wir sagen: es ist ein schrecklicher, verfluchter Krieg, und doch muß er zu Ende geführt werden. Er hätte aber das Recht, auch das zu sagen, was heute viele ohne jedes Recht sagen: man muß den Krieg zu Ende führen, weil das Ende dieses Krieges das Ende aller Kriege ist.

Mit Ssolowjow zu sagen: es komme die absolute Menschheit, das Gottmenschentum! – also zu sagen: dieser Krieg sei das Ende aller Kriege, es komme der ewige Friede! – dies zu sagen ist heute notwendiger als je, und darum ist auch eine Gedenkfeier für Wladimir Ssolowjow heute zeitgemäßer als je.


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