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Kapitel XLI. Dahlias Wahnsinn

Am Montag Abend war Master Gammon mit der Gig an der Bahn. Robert und Rhoda kamen mit einem späteren als dem angegebenen Zuge, aber der alte Mann schien sich der Verzögerung nicht bewußt geworden und nahm ihre Entschuldigungen mit einem blöden Lächeln und Nicken entgegen. Mehr als einmal fragten sie ihn, ob auf dem Hofe alles gut ginge, worauf er antwortete, es ginge alles gut, und ihm ginge es nie anders wie gut. Etwa eine halbe Stunde darauf war an seinen unteren Gesichtsmuskeln ein sachtes, stummes In-sich-hinein-Lachen wahrnehmbar. Er berührte leicht und wie zweifelhaft sein Pferd hie und da mit der Peitsche, wandte dann den Kopf um, erst nach Roberts Seite, dann nach Rhodas, und endlich wurde sein Kichern laut:

»Die letzten Melonen sünd gestern abend verrottet!«

»So?« sagte Robert. »Dann muß man frische zur Aussaat besorgen. Was denn weiter?«

Master Gammon deutete nur pantomimisch an, daß er anderer Ansicht sei.

»Sie haben wahrscheinlich Unfug mit den Schafen getrieben,« beschuldigte ihn Robert.

Das traf den alten Mann an seiner schwachen Stelle.

»Ich treib' kein' Unfug mit irgendwelchen Schafen auf der Welt, Mr. Robert. Das Vieh will sein gewöhnliches Futter haben, un' kein anderes nehmen sie nich'. Ich mag auch nich' mit einmal anderes Essen, un' 'n Schaf auch nich', un' 'n Kuh nich', un' 'n Bull' auch nich', wenn 'n Tier da was über zu sagen hätt'. Ebensogut künnt' ich 'n Schaf Bier geben, a's daß ich ihn – mit freier Hand – ich mein', freiwillig – 'ne Melone geben tät. Verrottet sünd sie.«

Robert lächelte, obschon er ärgerlich war. Die köstliche, harmlose, ländliche Unterhaltung hatte für Rhoda etwas geradezu Wohltuendes; sie blickte liebevoll zu dem alten Manne hinüber in dem Gedanken, daß er unmöglich so in seiner gewohnten gemächlichen Art reden könnte, wenn nicht zu Hause alles gut stände.

Die Hügel jenseits ihres Vaterhauses, deren einen der Leuchtturm bekrönte, und die Reihe verkrüppelter Fichten, die sie die »gebeugten alten Bettelmänner« getauft hatte, tauchten jetzt in der Abenddämmerung auf. Ihre Augen flogen nachdenklich darüber hin, mit einem Gefühl, als müßten sie längst alles vorausgesehen haben, was ihr und ihren Lieben geschehen sei und in der glühenden Hoffnung, daß sie, wie sie dalagen, als die Grenze ihres Horizontes, nicht noch weitere Schrecknisse voraussehen möchten.

»Wenn nur die Schafe gedeihen,« wagte sie zu bemerken, um den alten lieben Unterhaltungsstoff nicht ausgehen zu lassen.

»Ja, das ist das bedeutsame ›Wenn‹« sagte Robert, mit einer Anspielung auf eine Sache, der sich nicht aus dem Wege gehen ließ.

Master Gammon nahm dieses Hindernis mit größter Behendigkeit.

»Die Schafe waren noch nie so munter,« sagte er mit energischer Betonung.

»Viel Angebote für Melonen-Samen, Gammon?«

Hierauf entgegnete der Veteran zögernd: »Gibt ja mehr Narren als ein'n, denk' ich!« und Robert räumte ihm, indem er von einer Rückäußerung abstand, den Sieg ein.

»Nichts Neues in Wrexby? Gar nichts?« sagte Rhoda.

Jede direkte Frage stürzte Master Gammon so tief in den Abgrund seines Nachdenkens, daß es kein sichereres Mittel gab, um von vornherein eine Antwort von seiner Seite auszuschließen, aber diesmal wurde sein ehrliches Besinnen doch von Erfolg gekrönt.

»Squire Blancove, der 's' tot.«

Der Name jagte einen Schauder durch Rhodas Glieder.

»Tot in 'n Bett gefunden, Sonnabend früh,« fügte Master Gammon hinzu und fuhr, sich gleichsam an seinem Gegenstande erwärmend, fort: »Er 's' so steif, sagen die Leute, so steif is' er, daß man 'n runden Sarg für ihn machen muß. Gerad' wie so 'n halber Tonnenreif soll er daliegen. Ganz in 'n Haufen zusammen, sagen sie. Hat sich mit sein'n Kopfkissen 'rumgeschlagen, un' 'n kürzeren dabei gezogen. Aber ob das nun von 'n Druck gekommen, oder ob er die Gicht in 'n Bauch gekriegt hat – mausetot is' er. Un' 'n Hof wird er nu' auch nich' kaufen. Un' die Läden an 'n Herrenhaus sind alle zu. An 'n Mittwoch soll er begraben wer'n. Männer, die trinken, kann man nich' lang' liegen lassen.«

Rhoda schlug sich vor den Kopf, um zu erwägen, inwieweit dieser Todesfall als Strafe des Himmels über einen Missetäter aufgefaßt werden und wirken könne, aber der Strahl des Zornes war zu schwer daraus ersichtlich, so gab sie sich dem Frieden, der über den Feldern und den Hecken, die an ihnen vorüberzugleiten schienen, lagerte, hin. Das Gehöft kam in Sicht, und der freundliche alte Adam mit seiner Eva stand im Mondlicht da. Sie hörte das Murmeln des Wassers. Jedes Zeichen tiefen Friedens lagerte über dem Hofe. Die Kühe waren längst gemolken worden, die Gänse waren still. Nichts, als die weiße Tafel über dem Gartentor redete von der Geschichte, die ihr Herz beschäftigte.

Sie fanden den Bauer allein, die Stirn in die Hand gestützt, dasitzen. Rhoda küßte ihn auf die Wangen und fragte flüsternd, wie es Dahlia gehe.

»Geh' hinauf zu ihr,« sagte der Bauer.

Rhoda fröstelte es. Auf scheuen Füßen ging sie hinauf, und als sie Mrs. Sumfit vor Dahlias Tür erkannte, umarmte sie sie und hörte sie sagen, daß Dahlia von drinnen abgeschlossen habe und von früh bis spät weine. »Das kann so nicht weitergehen,« schluchzte Mrs. Sumfit, »solche einsame Weinkrämpfe, das is' der Tod! Sie wird noch ganz wunderlich werden. Ich will gehen, denn mein Anblick regt sie auf.«

Rhoda klopfte und wartete geduldig, bis das stete Wiederholen ihres Namens ihr Einlaß verschaffte. Sie erblickte in der Tat ihre Schwester, aber nicht die gebrochene Dahlia, von der sie Abschied genommen hatte. Dahlia verhielt sich ihren Liebkosungen gegenüber völlig passiv und stand mit dem Ruf: »Ist er gekommen?«, ein Bild der Verzweiflung, da; das Weiße ihrer Augen trat hervor, und die ganze Erscheinung hatte etwas vollkommen Starres.

»Nein, Liebste, er wird dich nicht beunruhigen; hab' keine Angst!«

»Bist du ganz voller Heuchelei?« sagte Dahlia und stampfte mit dem Fuß auf.

»Ich hoffe nicht, meine Schwester.«

Dahlia stieß einen langen, zitternden Seufzer aus. Sie ging auf ihr Bett zu, auf dem die Bibel ihrer Mutter lag und hielt dieselbe in ihren beiden Händen Rhoda vors Gesicht:

»Schwöre auf dieses Buch!«

»Was soll ich schwören, Liebste?«

»Schwören, daß er nicht im Hause ist.«

»Das ist er nicht, meine süße Schwester, glaube mir. Es ist keine Lüge. Er ist nicht hier. Er wird dich nicht beunruhigen. Sieh, ich küsse die Schrift und schwöre es dir, Geliebte. Ich spreche die Wahrheit. Komm zu mir, Liebling!« Rhoda streckte ihr bittend die Arme entgegen, aber Dahlia trat zurück.

»Du betrügst mich nicht? Du bist nicht kalt? Du bist nicht unmenschlich? Unmenschlich! Bist du es wirklich nicht? Bist du es nicht? O mein Gott! Sieh sie nur an!«

Die tonlose Stimme klang Rhoda ebenso traurig, wie die Anschuldigungen. Sie antwortete nur mit einem müden Lächeln. »Ich bin nur keine Lügnerin. Komm, und sieh mich an. Du wirst nicht beunruhigt werden.«

»Woran bin ich gebunden?« Dahlia rang müde, als wehre sie sich gegen ein Gewicht von Ketten. »O, woran bin ich festgebunden? Es haftet an mir, ganz fest, wie Zähne. Ich kann nicht los. Es läßt mich nicht atmen. Ich war wie ein Stein, als er mich fragte – ihn heiraten! mich zu lieben! Irgend jemand hat gepredigt – meine Pflicht! Ich bin verloren, ich bin verloren! Warum? Mädchen, – warum? – was hast du getan? Warum hast du im Schlaf meine Hand genommen und hast mich so weit gehetzt? Was habe ich dir getan? Warum stießest du mich weiter? – ich konnte nicht sehen, wohin? Ich hörte das Geplärr in der Kirche. Für dich – unmenschlich! unmenschlich! Was hab' ich dir getan? Was hast du damit zu tun, Sünden zu bestrafen? Es ist keine Sünde. Laß mich meinetwegen sündig sein. Ich bin es. Ich bin schlecht. Hör' mich. Ich liebe ihn, ich liebe meinen Liebhaber und« – sie schrie es heraus, »er liebt mich!«

Rhoda hielt sie nun für wahnsinnig.

Sie sah die unbeugsame Gestalt ihrer so ganz verwandelten Schwester einmal an, dann setzte sie sich, bedeckte ihre Augen mit den Händen und weinte.

Dahlia waren diese Tränen zunächst eine glühende Freude; da sie aber schwach war, sank sie neben dem Bett hin, lehnte sich schwer dagegen und vergaß eine Zeitlang ihr irres Toben.

»Du hast mich betrogen,« murmelte sie und noch einmal, »du hast mich betrogen.« Rhoda antwortete nicht. Während sie danach rang, zu verstehen, warum ihre Schwester sich einbilden mochte, daß sie sie betrogen habe, begann es ihr klar zu werden, daß sie dieselbe tatsächlich betrogen habe. Die Versuchung, ein hilfloses menschliches Wesen dahin zu bringen, recht zu tun, hatte sie dazu verführt, einem guten Zweck zuliebe eine Lüge zu äußern. Hatte sie unrecht damit getan? Fern von der tragischen Gestalt im Zimmer hätte sie sich vielleicht eingeredet, sie sei im Recht gewesen, aber das Entsetzen in Blick und Stimme des zum Bewußtsein erwachten Opfers nahm ihrer theoretischen Rechtfertigung jegliche Stütze. Mitleid für das arme zerstörte Leben, das sich in seiner Hilflosigkeit vor ihr wand und auf dem Gipfel weiblichen Elends keine andere Zuflucht sah, als Wahnsinn oder Tod, ließ jede vernünftige Überlegung sich in einer Flut von Tränen auflösen. Mehr als eine Stunde hörte Dahlia sie weinen und immer wieder murmelte sie: »Du hast mich betrogen!« Aber es klang nicht mehr wie ein Vorwurf, sondern vielmehr wie eine Rechtfertigung für ihre Vorwürfe: »Du hast mich betrogen, Rhoda.« Rhoda richtete ihren Kopf halb empor; der leise Wechsel des Tones zu sanfter Freundlichkeit ließ ihr Mitleid völlig überfluten, sie weinte laut. Dahlia kam mühsam wieder auf die Füße, schwankte vorwärts, sank an ihrer Schulter nieder und rief sie: »Mein Lieb! Meine gute Schwester!« Eine lange Zeit hielten sie einander stumm umschlungen. Ihre Lippen fanden einander, und sie küßten sich, wie im Krampf. Aber als Dahlia Rhoda genau ins Gesicht sehen konnte, wich sie zurück und sagte mit tonloser Stimme: »Weine nicht! Wenn du weinst, sehe ich mein ganzes Elend.«

Rhoda versprach ihrer Tränen Herr zu werden, und sie saßen ruhig, Hand in Hand nebeneinander. Mrs. Sumfit draußen vor der Tür wurde zweimal fortgeschickt, als sie mit einer frischen Auflage trostreichen Tees und Toasts und den Kuchen heraufkam, die, wenn man sie warm mit guter Landbutter und einer Prise Salz zu sich nähme, den allerelendesten menschlichen Geist wieder neu belebte, wie sie ihr Äußerstes tat, die Schwestern durch die geschlossene Tür hindurch zu versichern. Von Zeit zu Zeit wechselten sie einen innigen Händedruck, und die Augen hefteten sich liebevoll ineinander.

Mitten in der Nacht sagte Dahlia: »Ich fand einen Brief von Edward hier vor beim Nachhausekommen.«

»Geschrieben? – O, der erbärmliche Mensch!« konnte Rhoda sich nicht enthalten auszurufen.

»Vorher geschrieben,« sagte Dahlia, die sofort erriet, was sie meinte. »Ich habe ihn gelesen und hab' nicht geweint. Ich habe keine Tränen. Willst du ihn sehen? Er ist kurz – genug; er sagt genug, und er ist geschrieben, vordem –« Ihre Finger schlossen sich krampfhaft um Rhodas. Als Rhoda, um ihr einen Gefallen zutun, sagte: »Ja,« ging sie zum Bett hin und zog den Brief unter dem Kopfkissen hervor.

»Ich weiß jedes Wort auswendig,« sagte sie, »ich würde sterben, wenn ich ihn wiederholte: ›Mein Weib vor Gott,‹ fängt er an. Ich war also sein Weib. Ich muß sein Herz gebrochen haben, – meines Mannes Herz.« Dahlia warf einen furchtsamen Blick um sich; ihre Augenlider zuckten, als habe sie einen plötzlichen, harten Schlag erhalten. Dann trat ein harter Zug, wie von bitterm Spott um ihre Lippen: »Meines Liebhabers Herz,« rief sie. »Das ist er. Er liebt mich. Und wenn er mich liebt und ich ihn, so ist er mein Liebhaber, mein Liebster, mein Liebster! Niemand soll mir verbieten, das zu sagen: Mein Liebster! Und keiner hat einen Anspruch auf mich zu erheben, als er. O, entsetzlich! Was für eine Schlange ringelt sich da um mich? Und du sagst mir, die habe Gott dahin getan? Das sagst du? Antworte mir! Denn ich muß es wissen, und ich weiß nicht, wo ich bin. Ich bin verloren! Ich bin verloren! Ich will zu meinem Liebsten. Sag', Rhoda, würdest du mir fluchen, wenn ich zu ihm ginge? Hör' mir zu. Laß ihn nur die Arme aufmachen, so komme ich. Ich folge ihm so weit, wie mich meine Füße nur tragen wollen. Und ob es vom Himmel blitze, ich wollte doch gehen! Und wenn da oben die Warnung geschrieben stände: ›Geh nicht!‹ ich wollte doch gehen! Aber sieh mich an!« Sie schlug an ihre Brust, und es lag etwas Verächtliches in der Bewegung. »So ein Ding, wie mich, würde er doch nicht rufen! Mich, jetzt? Meine Haut muß ihm doch widerlich sein. Ich bin nicht besser, als ein Wurm im Staube. Ich könnte zischen, wie es Schlangen tun. Ich bin ganz verstockt. Ich knie an meinem Bett und bete, den Kopf auf der Bibel, aber ich sage nur: ›Ja, ja! Es ist geschehen, ich hab's verdient, wenn es denn keine Barmherzigkeit gibt.‹ O, wenn es keine Barmherzigkeit gibt, ist es ja verdient. Das sag' ich jetzt auch. Aber was ich sage, Rhoda, ist dies: (wenn ich bete, sehe ich nichts, als lauter Finsternis!) ich sage: ›Laß nichts Schlimmeres zu!‹ ich sage: ›Laß nichts Schlimmeres zu, oder die Folgen fallen auf dich zurück!‹ Er nennt mich sein Weib. Ich bin sein Weib. Und wenn –« Dahlias Reden verlor sich in einem dumpfen Keuchen, ihr Mund war noch geöffnet, ihre Hände bewegten sich, Entsetzen, als wolle ihr eine Gotteslästerung über die Lippen, lähmte ihr die Zunge, aber die Leidenschaft, die sich nicht länger wollte zurückdämmen lassen, war unbezähmbar ... »Lies es,« sagte sie mit mühsamer Stimme, und Rhoda neigte sich über den Brief, las ihn und verlor dennoch den Sinn jedes Satzes wieder, sobald ihre Augen darüber hingeglitten waren. Dahlia waren die wesentlichen Worte sichtbar, als wären sie mit Flammenschrift ins Leere geschrieben. Sie sah sie gleichsam durch die Vorstellungskraft der Schwester hindurchrollen, und gerade, als dieselbe zum Schluß gelangt war, kam es, fast rhythmisch, von ihren Lippen:

» Und ich, der ich mich gegen meinen unschuldigen Liebling versündigt habe, ich will sie darum anflehen, mit mir darum zu beten, daß unsere Zukunft eins werde, so daß ich an ihr gut zu machen vermöge, was sie gelitten hat und vor Gott, den wir beide verehren, die Missetat sühnen, die ich begangen

Rhoda blickte in ein totenbleiches Antlitz mit zwei durchdringend forschenden Augen.

»Lies; hast du bis zu Ende gelesen?« sagte Dahlia. »Wiederhol' es mir. Laß mich es noch einmal hören. Er schreibt es ... Ja? Du willst es nicht? – ›Gatte‹, sagt er,« und dann nahm sie die Sätze seines Briefes auf, von hinten nach vorn bis zum Anfang, nach jedem einzelnen mit einem kurzen Aufstöhnen innehaltend und ihre Brust zerschlagend.

»Ich hab' ihn hier gefunden, Rhoda. Ich hab' seinen Brief hier gefunden, als ich heimkam. Ich bin wie tot hergekommen, und der Brief hat mich wieder zum Leben erweckt. O, es ist Seligkeit, tot zu sein! Ich habe nichts gefühlt, gar nichts – seit Monaten schon!«

Sie warf sich auf das Bett und stopfte ihr Taschentuch in den Mund, um sich selbst daran zu hindern, laut aufzuschreien. »Ich bin gestraft. Ich bin gestraft, weil ich kein Vertrauen in meinen Liebling setzte! Nein, nicht mal ein Jahr lang! Ist es so lange her, seit wir auseinander gingen? Ich bin ein ungeduldiges Geschöpf, und er macht mir keinerlei Vorwürfe. Ich quälte meinen Liebsten, mein Bestes, meinen Einzig-Geliebten, und er glaubte, ich – ich sei unseres Zusammenlebens müde. Nein, er klagt mich nicht an,« antwortete Dahlia auf die unausgesprochene Gefühlsregung ihrer Schwester, mit dem scharfen Instinkt, der das Atemholen der Leidenschaft ist. »Sich allein klagt er an. Er sagt es, – er spricht es aus – er schreibt es: › Ich habe meinen Liebling verkauft.‹ O, in ihm ist kein Falsch. Sei doch gerecht, Rhoda. Liebste,« – sie kam ganz nahe zu Rhoda heran – »du hast mich betrogen, nicht wahr? Du bist eine Betrügerin, Liebling?«

Rhoda zitterte und mit einem Aufschlagen ihrer Augenlider sagte sie: »Ja!«

»Du hast ihn den Morgen auf der Straße gesehen?«

Dahlia lächelte mit einer so gezwungenen Zärtlichkeit, daß es unmöglich war, nicht zu bemerken, daß sie zum Teil trügerisch war, obschon sie dennoch etwas Bezwingendes hatte.

»Du hast ihn gesehen, Rhoda, und er hat dir gesagt, daß er mir treu sei, und daß er bereute, was geschehen; und du, Liebling, du hast ihm gesagt, daß ich kein Herz mehr für ihn habe, daß ich nichts wünsche, als zur Hölle zu fahren – nicht wahr, gute Rhoda? Vergib mir; ich meine ›gut‹, meine wahrhaftige, gute Rhoda. Ja, du haßt die Sünde, sie ist schrecklich, aber du sollst niemals Sünder belügen, denn das lehrt sie niemals, ihre Schuld bereuen. Bedenk' es wohl, du darfst nie wieder lügen. Sieh mich an. Ich bin in Ketten geschlagen, und in meinem Herzen ist kein Gefühl der Reue. Sieh mich an. Mir liegt es näher, – das andre – die Sünde, mein ich. Wenn der Mann kommt ... kommt er?«

»Nein – nein!« rief Rhoda.

»Wenn der Mann kommt – –«

»Er kommt nicht!«

»An der Kirchentür stieß er mich von sich und sagte, man hätte ihn betrogen. Geld! O, Edward!«

Dahlia ließ den Kopf sinken.

»Er wird wegbleiben. Du bist geborgen,« sagte Rhoda.

»Weil – wenn keine Hilfe kommt, bin ich verloren – dann bin ich auf ewig verloren.«

»Aber es wird Hilfe kommen. Ich meine, es wird Friede kommen. Wir wollen lesen. Wir wollen im Garten arbeiten. Du hast den armen Vater wieder aufgerichtet, Liebling.«

»Ach! den alten Mann!« Dahlia seufzte.

»Er ist unser Vater.«

»Ja, der arme alte Mann!« Und Dahlia flüsterte:

»Ich habe kein Mitleid mit ihm. Ich bin weggeschleppt, ich fürchte, ich könnte ihm fluchen. Er scheint ein alter Mann von Stein. Ich verstehe Väter nicht. Er wollte, ich sollte weggehen. Er spricht in Bibelworten, wenn er aufgeregt ist. Ich bin bange, er könnte mir die Bibel noch ganz verleiden. Solche alten Männer wissen nichts von dem Herzen einer Frau. Nun geh' in dein Zimmer, Liebling.«

Rhoda bat dringend, bleiben zu dürfen, aber Dahlia sagte: »Meine Nächte sind ein fortwährendes Fieber. Ich kann keine Arme um mich vertragen.« Sie reichten einander die Hände zur guten Nacht, aber sie küßten sich nicht.


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