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IV. Kapitel.
Die prinzipielle und faktische Bedeutung der Prostitution

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1. Das Wesen der Prostitution. / 2. Die Frage der Reglementierung. / 3. Typen. / 4. Reformen in weiterem Sinn.

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I.
Das Wesen der Prostitution

Das Wesen der Prostitution ist Promiskuität, wahllose Preisgabe. Das charakteristische Merkmal der Entschädigung der weiblichen Seite durch Geld oder Geldeswert wird von manchem Forscher als ein sekundäres Merkmal der Prostitution bezeichnet und oftmals von der Motivierung begleitet, daß in der Ehe genau die gleiche, ja viel ausgiebigere »Entlohnung« der Frau gegeben sei. Dieses Argument scheint mir recht gründlich verfehlt. Denn es ist etwas anderes, wenn eine Frau den Lebensunterhalt annimmt und, ihrer natürlichen Bestimmung nach, annehmen muß, von einem Manne, dem sie in jedem Sinne Lebensgefährtin ist, als wenn sie, wahllos, jedem Beliebigen ihr Geschlecht anbietet, gegen eine Entschädigung. Ja, selbst wenn sie es ohne sofortige Entschädigung, in bar, tut und sich in sexuelle Beziehungen, einfach aus buhlerischen Trieben, einläßt, gebührt ihr die Bezeichnung der Dirne. Denn das charakteristische Merkmal des Dirnentums liegt m. E. darin, daß der Geschlechtsakt für ein Weib möglich wird, ohne bindende innerliche Beziehung zu dem betreffenden Manne, daß der Geschlechtsakt an sich für sie die Hauptsache ist und daß sie ihn heut mit diesem, morgen mit jenem zu vollziehen vermag. Man kann daher »das Fehlen aller individuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau, die allgemeine schrankenlose öffentliche Befriedigung des Geschlechtsgenusses als das charakteristische Merkmal der Prostitution« bezeichnen Die primitiven Wurzeln der Prostitution, Dr. Iwan Bloch..

Aber man kann noch über diese Definition hinausgehen. Denn es können sich zwischen einer Dirne und einem Mann, der sie dauernd oder durch lange Zeit frequentiert, sehr wohl »individuelle Beziehungen« entwickeln, ja in dem Verhältnis kann die Frau eine Liebschaft sehen, während es doch nur Buhlschaft ist. Irgendein skrupelloses, nach möglichst vielfachem Geschlechtsgenuß lüsternes Weib kann sehr wohl eine Art Liebesverhältnis mit einem Manne anknüpfen, den sie in jedem Sinne auszubeuten sucht, wenn dies auch vielfach maskiert wird, um ihn desto mehr zu fesseln. Und sie ist doch eine Dirne, weil ihr die Hingabe ihres Körpers nicht das tiefe Erlebnis ist, das es für die reine Frau bedeutet und weil sie gleichzeitig mit mehreren verkehren kann.

Ich bin der Meinung, daß der Begriff des Dirnentums und der Prostitution nicht nur nicht eingeschränkt, sondern, im Gegenteil, in viel weiterem Umfange gefaßt werden solle, als es heute geschieht. Und daß gerade eine Zeit, in der das menschliche Kulturempfinden, das sittliche Gefühl, schon aufs höchste und feinste entwickelt ist, mit der Anwendung dieses Begriffs weit strenger zu verfahren hat, als es in primitiveren Zeiten nötig und möglich war. Denn warum sollten wir Weiber wilder Stämme, die sich geschlechtlich Männern darbieten und dafür einige Kakaobohnen, als Entgelt, in Empfang nehmen, mit einer sittlich vernichtenden Wertung, wie sie im Begriff der Dirne und der Prostitution liegt, bezeichnen? Dieser Vorgang, bei wilden und rohen Völkern, bei denen alle Lebensformen unentwickelt sind, hat nur wenig des sittlich Anstößigen für unser Kulturgefühl. Es liegt in der Preisgabe solcher Weiber ganz roher Naturvölker eben die Naivität des Urzustandes, demgegenüber sittliche Werturteile überhaupt nicht am Platze sind. Die Möglichkeit, sittlich zu wägen, zu unterscheiden und zu werten, ist aber in einer hochentwickelten Kulturwelt durchaus gegeben. Und darum soll das dirnenhafte Weib, die Prostituierte, sei sie es mehr oder minder heimlich oder öffentlich, das für Buhlereien zugängliche »Frauenzimmer« auch deutlich als die Ratte der Gesellschaft bezeichnet werden, welche beständig alles das, was die höhere Natur des Menschen aufbaut, zernagt und unterwühlt. Denn diese Entfesselung der geilsten und tierischsten Geschlechtstriebe, diese Hingabe an die gemeine Orgie ist die tiefste Schattenseite unserer Kulturwelt. Hier ist der vergiftete und vergiftende Quell, der fortgesetzt alles verjaucht und verpestet. Hier, in der Skrupellosigkeit im Geschlechtserleben, liegen alle Gefahren des Einsturzes der moralischen und sozialen Existenz eines Menschen, der sich diesen Trieben ergibt und, im Gefolge, der Einsturz aller seiner höhergearteten Beziehungen zu andern Menschen.

Man hat die Prostituierte einen Streikbrecher genannt, »die sich mit weniger als dem Marktpreise (nämlich der Ehe) für die geleisteten sexuellen Dienste begnügt« (Ellis). Auch Schopenhauer hat sie in diesem Sinne charakterisiert. Er nennt die Prostituierte eine Unterbieterin des Marktes, die, anstatt lebenslanger Versorgung, eine kleine Münze, als Gegenleistung für die geschlechtliche Hingabe, nimmt. Mit Fug und Recht verachtet man aber solche Streikbrecher und Unterbieter, die sich selbst und das, was sie bieten, entwerten. Meines Erachtens gebührt einem Weibe, das die »Forderung« einer umfriedeten und geordneten Existenz erhebt, bevor sie sich den Gefahren der geschlechtlichen Hingabe ausliefert, weit mehr Achtung, als eben jener, die sich diesen Gefahren fast bedingungslos preisgibt, selbst wenn sie nicht kleine Münze als Ersatz dafür fordert und sogar dann, wenn sie angeblich aus »Liebe« sich ohne Bedenken in einen Sumpf schleifen läßt. Nur die Frau ist vor dem moralischen und sozialen Zusammenbruch, auch bei freiester Verfügung über ihre Geschlechtstriebe, bewahrt, die in jeder Beziehung allein für alle Konsequenzen, die sich daraus ergeben, einstehen kann.

Die gewerbsmäßige Prostitution ist industrialisiert, ein Fabrikbetrieb. Der Mann deckt da seinen Bedarf an Geschlechtsorgien zu kleinen Tagespreisen, und das Höchste, die geschlechtliche Vermischung zweier Menschen, wird auf die grauenhafteste Art entwertet. Darum ist es nicht ganz richtig, wenn ehrliche Forscher, die als Junggesellen eine Zwickmühle zu empfinden vermeinen, dagegen donnern, daß die Prostitution nicht mit »Ethik« behandelt werden soll, sondern ausschließlich mit Sublimat (Robert Hessen). Der Standpunkt hat auf den ersten Blick etwas für sich, aber nur, wenn man vergißt, daß durch diesen Vorgang, an den sich der Mann gewöhnt hat, der für ihn an der Tagesordnung ist, Werte verwüstet werden, die absolut nicht mit Sublimat wieder hergestellt werden können, daß er an seiner Seele einen Schaden nimmt, von dem er selber nichts ahnt, wenn er den Ekel vor der Vermischung, die sich im Schoß einer Dirne vollzieht, in sich erschlägt. Wie soll der Vorgang der Geschlechtsvermischung jemals für ihn die Weihe bekommen, die er in den Armen einer geliebten Frau hat, wenn er sich daran gewöhnt hat, Körper an Körper, in innigster Umschlingung, mit Weibern zu liegen, die aus ihrer Geschlechtlichkeit eine Latrine gemacht haben, / wenn er, anstatt in den Tempel, in den Tümpel geht!

Haltet den Ekel hoch! möchte ich der jungen Generation von Männern, die jetzt heranwächst, zurufen. Steigt nicht hinein, in diese Tümpel, deren Benutzung, wenn ihr sie einmal gewöhnt seid, euch zu einem grausigen Doppelleben zwingt, das eure Seelen durch und durch verjauchen muß.

Das sexuelle Elend, die Vereinsamung, das Darben vieler ungezählter, liebenswerter Frauen hat darin seinen Grund, daß der Mann die Möglichkeit hat, seine Geschlechtstriebe auf »billige« und fabrikmäßige Art zu befriedigen. Die Dirne ist die »Unterbieterin« ihres Geschlechts, / dies sei zugegeben; sie drückt den Preis; statt Lebensversorgung und / was noch mehr ist / Lebensgefährtenschaft / nimmt sie / drei Mark. Sie hätschelt das Vieh im Manne und bringt es dadurch, daß es sich mit der geilsten Obszönität bei ihr füttern kann, dahin, daß der Mann, der dieses Treiben einmal gewohnt ist, am Geschlechtsleben in seinen einfachen und reinen Linien, in ehelichen Formen, keine Befriedigung mehr findet.

Das Mittelalter, das die Dirne stäupte, war im Recht. Denn aus diesem Betriebe, aus diesem Mißbrauch des Geschlechts, sickert unablässig das Gift in alle höheren und reineren Strömungen des Lebens. Diejenigen Menschen, deren Leben ausschließlich der Geschlechtlichkeit ergeben ist, deren Hauptbeschäftigung der Sexualakt ist, für die alle Bestrebungen nach der Dungstätte gravitieren, sind tatsächlich die niedrigst organisierten unter den Menschen, die Gesellschaft stößt sie, mit Recht, in den Abgrund der Verachtung. Diese Verachtung sollte in einem weit höheren Maße, als bisher, aber auch den Mann mittreffen, dessen Geschlechtsleben schmutzig ist. Grausam hat die Natur diesen Mißbrauch ihres Heiligsten gerächt. Die »Lustseuche« schlägt ihre Jüngerinnen und Jünger. Schon in dem Ausdruck, in dem Wort, hegt eine Fülle verhaltener Erkenntnis. Die Seuche, welche auf die »Lust« gesetzt ist, auf die schnöde Lust, in dem Sinne, in dem das Wort noch keine Verklärung empfangen hat. Die englische Sprache kennt den Ausdruck lust, im Sinne von geiler Geschlechtsgier. In der Lustseuche hat die Natur mit einer Deutlichkeit ohnegleichen, durch Schwären und Verwesung bei lebendigem Leibe, gezeigt, welche Strafe auf die Schändung des Heiligtums gesetzt ist. Dieses Heiligtum ist das eigene Ich, der eigene Leib, die eigene Seele und das Band der Liebe und Treue, das zwei Menschen zu einer Lebensgemeinschaft verbinden soll.

Die meisten Menschen lebten in dieser Zeit, besonders vor dem Krieg, in ihrem Geschlechtsgefühl stumpfer und unbewußter als die Tiere. Wo der Schmutz der Hölle anhebt und die »Romantik«, mit der sie ihre Buhlereien umkleideten, aufhört, das wußten sie im allgemeinen gar nicht; sie steckten schon bis zum Hals im Sumpf und gaben der Sache noch schönklingende Namen. Sie sahen nicht hell, was sie waren und was sie trieben. Ihre Duldsamkeit war die der Blöden, sie betäubten leise Unlustgefühle mit »Scherzen« und mit der »Toleranz« und wußten nicht, wenn der Moment gekommen war, / die Peitsche zu ergreifen und dreinzuhauen.

Will man sich einen rechten Ekel vor der unglaublichsten Verkleidung des stinkendsten Unrats holen, so lese man manchen Roman von Emil Rasmussen, besonders »Schwester Ingeborg«, das den in einem lichten Moment konzipierten Untertitel »Aus dem Lazarett der freien Liebe« führt. Mit einem erstaunlichen Gestaltungs unvermögen zeigt der Autor, daß ihm jeder Schimmer einer Gesinnung, geschlechtlichen Wirrnissen gegenüber, fehlt. Als edel stellt er es hin (und diese Richtung ist bezeichnend für eine ganze Sorte von Literatur, die ernst genommen wird, und wird darum hier als etwas Prinzipielles aufgeführt), wenn die Menschen einer »guten Familie« eine Art Bordellbetrieb in ihrem Heim haben, und dabei alle diese Vorgänge mit idealsten Namen benennen. Z. B. wird da ein Vater gezeigt, der als der Typus eines edlen und reifen Mannes gelten soll, der seiner Familie durchbrennt mit einem kleinen Frauenzimmer, das er »liebt«, das aber wieder von einem andern, dem »Helden« des Buches, schwanger ist. Der hat außer dieser Person noch etwa ein halbes Dutzend andrer Weiber geschwängert, und all diese grauenhaften Enthüllungen hindern die Familie nicht, ihn als Verlobten der verführten Tochter ins Haus zu rufen. Die edle Schwester Ingeborg schafft ihn durch einen verkappten Mord aus dem Weg, um die Schwester von ihm zu »erlösen«, tritt ihr ihren eigenen Bräutigam ab und widmet ihr weiteres Leben der Aufzucht jenes Menschenkindes, welches die »kleine Freundin« ihres Herrn Vaters inzwischen geboren hat, das aber der »Liebe« jenes jungen Wüstlings sein Dasein verdankt und bei dessen Geburt, die mit pornographischer Detailmalerei geschildert wird, Schwester Ingeborg assistierte.

Es ist charakteristisch für die Zeit und Ära, die der Krieg hoffentlich abgetan hat, daß solche Literaturerzeugnisse in ihr möglich waren und als ernst zu nehmende Produkte in angesehenen Blättern mit Verschleierung des Inhalts/ vermutlich von guten Freunden / besprochen wurden. Es ist dies charakteristisch für eine fast tierhafte Bewußtlosigkeit und Verschwommenheit des inneren Lebens. Dieser Literatur steht als Gegensatz gegenüber die übelste Familienblattsimpelei, die ihrerseits die Menschen so rund und glatt und nett zeigt, als ob sie Zuckerfigürchen wären, die harmlos auf einer Torte sitzen. Das Grauen, die Dämonie des dunkelsten Triebes der menschlichen Natur, soll erkannt werden und soll sich in der Literatur widerspiegeln, es soll also nicht darüber hinweggetäuscht werden. Aber was diese Triebe bedeuten und sind und wie sich die Menschen von ihnen erlösen, / das zu zeigen ist die Aufgabe der wirklichen Kunst. Schmutz nicht als solchen erkennen und ihm noch romantische Namen geben, / darin hegt eben die Pest.

Ein symbolischer Traum zeigte mir einmal eine Dirne, »schäkernd« mit einem »jungen Herrn«. Sie entkleidete sich, / und ihre Brüste waren rötlich und violett schimmernde Fäulnisklumpen, ihr Schoß troff von giftigen Säften. / Das ist die Prostitution Was dieser Traum »bedeutet«, wird man aus jedem populären Traumbuch, ebenso wie aus der wissenschaftlichen Traumanalyse, entnehmen können..

II.
Die Frage der Reglementierung

Gegen die Reglementierung der Prostitution haben sich aus dem Lager aller Freiheitsfreunde, insbesondere aus dem Lager der Frauenbewegung und hier wieder besonders von Seiten der Abolutionisten, große Bewegungen des Protestes erhoben. Ich teile diesen Standpunkt nicht und bin der Meinung, daß die Prostitution unbedingt der Reglementierung bedarf, wenn auch alle unmenschlichen und unnötigen Grausamkeiten, aller Mißbrauch dabei entfernt werden müssen. Nicht die Prostitution bedarf der »Befreiung« von der Reglementierung, sondern die Reglementierung bedarf einer Reform. Aber sie ganz abzuschaffen, halte ich für einen Irrweg Auch Geheimrat Prof. Neißer steht auf dem Standpunkt, daß »eine gut kasernierte, reglementierte Prostitution besser ist, als eine freilebende«. Eine allgemeine sanitäre Überwachung nicht nur der Prostitution, sondern sogar »loser Verhältnisse« ist, nach ihm, notwendig..

Die heutige Form der Reglementierung ist nur deshalb schlimm, weil sie der privaten Ausbeutung, dem Bordellbetrieb, Möglichkeiten bietet. Als staatlich überwachtes, human gehandhabtes Institut wäre sie aber von diesen Mißständen vollständig zu befreien. Die möglichste Eindämmung der Ansteckung beim Verkehr, der in Deutschland ungefähr in 600 Millionen Fällen jährlich außerehelich vorkommt, muß das leitende Prinzip einer gesunden Sexualreform sein. Sich damit zu begnügen, den Leuten geschlechtliche Enthaltsamkeit zu empfehlen und gleichzeitig die Prostitution aufsichtslos zu lassen, heißt, Vogel Strauß spielen. Daß das »Gewerbe« angemeldet werden muß, bedeutet gewiß einen schweren Schimpf für die, die es betreiben. Man nehme aber diese Ächtung weg, und die tatsächliche Berufsprostitution wird ins Unermeßliche ausarten. Die Zwangsunterstellung, die Zwangseinschreibung in die Listen der offiziellen »Berufshure« Geh. Sanitätsrat R. Schmölder, Hamm. hat »das Gute«, daß das Weib, das vielleicht schon längst insgeheim mit diesem Betriebe die Gesundheit, die sittliche Charakterbildung und die wirtschaftliche Lage von Männern gefährdet bzw. verwüstet, indem sie für ihre schmutzigen Triebe sich ihnen heimlich dienstbar macht, daß ein solches Weib offiziell abgestempelt wird und damit aus der Gesellschaft ausscheidet. Solange das nicht der Fall ist, bleibt es undeutlich, was sie ist und treibt, und sie wird zu einer sozialen Gefahr, noch in einem weiteren Sinne.

Gebt den Prostituierten weitgehenden Schutz, gebt ihnen, nach erfolgter Anmeldung, wirtschaftliche Verhältnisse, in denen sie besser daran sind, als in der heutigen Ausbeutung; aber es kann nicht darauf verzichtet werden, daß ärztliche Untersuchungen und Überwachung der Behörden einem Wesen gegenüber stattfinden, welches in seiner Person ein Zentrum für einen weitverzweigten Geschlechtsbetrieb darstellt, der, immer und auf jeden Fall, gemeingefährlich ist. Die kasernierte Prostitution könnte vollständig aus Wucher- und Ausbeuterhänden befreit werden. Diese Häuser müßten unter staatlicher Kontrolle, aber auch unter den Grundsätzen staatlicher Humanität stehen, und die gesundheitliche Prüfung der sie frequentierenden Männer müßte hier Bedingung sein. Die, die diese Häuser dann besuchen würden, hätten eine etwas größere Gewähr, gesund zu bleiben, (soweit sie bei der Promiskuität überhaupt möglich ist), wodurch wohl den meisten ein vollgültiges Äquivalent für die Unannehmlichkeiten der ärztlichen Untersuchung geboten wäre.

Der Grund, warum man den Mann, der die Prostitution benutzt, nicht im selben Grad verachtet wie die Prostituierte selbst, Hegt darin, daß, / wie ich schon im ersten Buch dieser Untersuchung ausführte, / dieser Vorgang eben nicht die Spezialbeschäftigung des Mannes ist, wie bei dem Weib, das seinen Beruf daraus gemacht hat. Und sicherlich ist sie in den meisten Fällen, wenn auch die große Not, die viele auf diesen Weg zwingt, nicht unterschätzt werden soll, dazu prädisponiert. Ihr Geschlechtsgefühl reagiert auf jede Annäherung, sie kennt keinen Ekel, schreckt vor nichts Häßlichem und Gemeinem zurück; sie begehrt auch den ständigen Wechsel der Objekte und findet insbesondere / das ist das Charakteristische / die ungefähr gleichen Beziehungen zu jedem Mann. Natürlich gibt es eine absolute Gewähr gegen die Erwerbung von Geschlechtskrankheiten für niemanden, der die Prostitution benutzt, auch nicht bei schärfster Kontrolle, schon deswegen nicht, weil z. B. die Inkubationsfrist der Syphilis sechs Wochen dauert. Und ein Mann, der den Zynismus hat, während der Ehe Paniximie zu treiben, /in einer » Mehrseitigkeit« der geschlechtlichen Beziehungen zu leben, / wird schon deswegen zur Lebensgefahr für seine Frau, weil ein solcher Geselle doch natürlich nicht sechs Wochen im »Zölibat« leben und, im ehelichen Doppelbett, seine Frau, während er mit Dirnen lebt, etwa/verschonen kann. Ich kenne einen Fall, wo ein Mann ein ganzes Rudel syphilitischer Kinder erzeugte, sechs Stück, von denen die meisten als Idioten geboren wurden. Die Frau war das schönste und feinste Mädchen ihrer Heimatsstadt gewesen.

Was der Prostitution einzig und allein den Boden abgraben könnte, wäre eine total veränderte Willensrichtung in der Geschlechtsmoral des jungen Mannes. Dieser Wille müßte sich von der Orgie der Organe, die der Geschlechtlichkeit dienen, abwenden und nach gemütsbetontem Geschlechtsleben, in monogamen Formen, verlangen. Nur ganz minderwertige Männer, Lebegreise oder kranke und widerliche Gesellen, die kein Weib für sich allein finden, das ihnen heb ist, würden dann auf die Prostitution angewiesen sein. Die geschlechtliche Anarchie des Mannes konnte bis heute sich immer weiter drauflos entwickeln, weil die Frauen gezwungen waren, den Mann als Ehemann und als Erhalter so zu akzeptieren wie er eben war. Er konnte also seinen wildesten Trieben freien Lauf lassen und wußte doch, daß er jederzeit Frauen, sei es zur Ehe, sei es zu einem Verhältnis finden würde. Diese Situation wird eine Wandlung erfahren durch die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frau, ergänzt durch Mutterschutz. Dann erst wird die Frau Forderungen moralischer Natur stellen können, wie sie heute an ihr Geschlecht gestellt werden. Solange sie wirtschaftlich vollkommen vom Manne abhängt, ist das unmöglich. Besonders wenn sie mit ihm schon Kinder und keinen wirtschaftlichen Rückhalt hat, kann sie meist nicht mehr los, eben weil er der Ernährer ist.

Es ließe sich sehr wohl denken, daß die Reglementierung der Prostitution so eingerichtet wird, daß sie durch die großen Vorteile, die sie bietet, die Frau, die sich prostituiert, von selbst anzieht. Anstatt, wie heute, mit Drangsalen und Ausbeutung verbunden zu sein, sollte sie Vorteile bieten, z. B. durch Vorsorge für hygienisch einwandfreies und billiges Wohnen. Nur noch die »Abstempelung« bliebe, und die ist, aus tausend Gründen, für einen Menschen, der dieses Gewerbe eben betreibt, mit Recht notwendig.

Ich bin mir bewußt, daß ich mich mit dieser Forderung in Gegensatz zu der gesamten Frauenbewegung aller Richtungen stelle. Ich kann nicht umhin, sie dennoch zu erheben und sentimentalen und idealischen Motiven, solchen eisernen Notwendigkeiten gegenüber, wie sie die möglichste Erhaltung der Volksgesundheit einerseits und vor allem auch die Abgrenzung der Dirnenschaft von der Gesellschaft anderseits darstellen, kein Recht zugestehen. Höchste Humanität soll die notwendige Kontrolle begleiten, aber ignoriert kann dieser Betrieb nicht werden. Gleichzeitig aber muß gegen jede Art von Frauenausbeutung gekämpft werden, und die Gesellschaft muß für soziale Verhältnisse sorgen, die den Frauen ermöglichen, in den meisten Berufszweigen einen Lohn zu erhalten, von dem sie leben können.

Auch der Rückweg aus der Prostitution müßte jeder Frau, die ihr verfiel, auf das Denkbarste erleichtert werden. Arbeitsvermittlung unter humanen Bedingungen, die auch nicht etwa einen Geschlechtsverzicht von ihr fordern, sondern ihr den Spielraum für ein natürliches Liebesleben gewähren, müßten jeder Frau, auch wenn sie Prostituierte war, geboten sein. In meiner Auffassung, daß die Dirne es durch Konstitution und durch organische Anlage ist, soll nicht etwa ein Werturteil hegen, sondern einfach die Feststellung, daß es mancher Frau überhaupt gar nicht möglich wäre, durch einen geschlechtlichen Betrieb ihr Dasein zu fristen, auch wenn sie die Gelegenheit dazu hätte, wie jede Frau sie hat, wenn sie sie haben will. Die Frau, die nicht Dirne ist, vermöchte es ebensowenig, sich zu fremden Menschen in eine solche Beziehung zu setzen, als sie in der Lage wäre, etwa tausend Kilo hochzustemmen. Es ginge ihr, mit einem Wort, gegen die Natur, während es eine große Anzahl Frauen gibt, denen es nicht gegen die Natur geht und die darum diese Fähigkeit zu einem Beruf ausgebildet haben.

Komisch ist es, daß Vereine zur Hebung der Sittlichkeit, zusammen mit Frauenvereinen, große Versammlungen für die Abschaffung der Reglementierung veranstalten; sie sind also gleichzeitig / für die Sittlichkeit und / für die Freizügigkeit der Prostitution. Für die Polizeiassistentin, deren Prozeß die Öffentlichkeit beschäftigte, hat man in diesen Kreisen die größte Bewunderung gefunden. Daß die öffentlichen Häuser verboten werden sollen, in ihrer heutigen grauenhaften Art, ist sicherlich zu befürworten. Diese Ausbeutung des Lasters wird aber nur möglich, solange der Staat betrogen sein will, dieses Übel einerseits duldet, anderseits verfolgt und sich davor scheut, durch vernünftige hygienische und insbesondere wohnungsreformerische Einrichtungen hier zu sanieren, so viel wie möglich. Verfolgen, hetzen, strafen / das sind eben nicht die richtigen Mittel, diese Übel einzudämmen, sondern diese Mittel liegen einzig und allein in sanitären Maßnahmen. Eine pädagogisch-sanitäre Behörde, die von Chikanen und Brutalitäten nichts weiß, könnte hier sanierend wirken. Wenn man aber davon spricht, daß die ärztliche Untersuchung Prostituierten den Rest ihres »Schamgefühls« nähme, so ist das eine so krasse Lächerlichkeit, daß ich staune, daß man dieses komische Argument noch so oft hört und liest. Frauenärztliche Untersuchungen muß jede Frau über sich ergehen lassen, und ebenso könnte man behaupten, das Gebären nähme den Frauen den Rest ihres Schamgefühls. Nun sollte eine weibliche Person, die bereit ist, den Geschlechtsakt gegen Entgelt mit einem Fremden zu vollführen, ihr »Schamgefühl« darin verletzt finden, daß der Arzt ihren geschlechtlichen Gesundheitszustand untersucht! …

Die sentimentalsten Argumente tauchen auf, wo für die Prostitution Lanzen gebrochen werden. So hat man hervorgehoben, daß auch der Dichter sich prostituiere, wenn er seine heftigsten Gefühle auf den Markt trägt! »Ich glaube aber, daß das Umgekehrte der Fall ist, daß der Dichter sich prostituiert, der seine wirklichen Gefühle und Gedanken verbirgt und seine Meinung fälscht; aber nicht der, der im Dienst der Wahrheit spricht und schreibt.« Ein Ausspruch / nicht im Wortlaut / von Hedwig Dohm. Auch werden, in sonderbarer Weise, Hetären der Antike, deren idealisiertes Bild auf uns überkommen ist, für den Wert der Prostitution ins Treffen geführt. Sinnenlust, in höchster Schönheit, gepaart mit Geist, kann den Gipfelpunkt einer Kulturepoche darstellen. Die Orgie an sich, die die Abkehr von den höchsten Geistes- und Gemütswerten bedeutet, wird selbst in einer Zeit, wie der unseren, die nicht ruht, bevor nicht jede Abart des Sexuallebens ihren wissenschaftlichen Namen hat, nimmermehr als ein Kulturgewinn empfunden werden.

Eine reformierte Reglementierung könnte nicht nur einen erweiterten Schutz gegen Ansteckung, sondern auch einen Schutz der Prostitution selbst vor allem erdenklichen Mißbrauch bedeuten. Die volle »Freiheit« für die Prostitution fordern, scheint mir etwas Ähnliches, wie wenn man es als eine Verletzung der »Freiheit« betrachtet, wenn der Raubbau der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung durch Vorschriften über die Minimallöhne, über gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit, durch sozialpolitische Vorschriften jeder Art begrenzt werden soll. Wenn man da alle Regulierung sich selbst überließe, würde man freilich im Sinne unbegrenzt individualistischer »Freiheit« bleiben, die aber zum Wohl des Ganzen dort, wo sie Mißbrauch wird, sehr tatkräftig beschnitten werden muß.

Im Publikationsorgan der Internationalen Föderation zur Bekämpfung der staatlich reglementierten Prostitution finde ich die folgende Seltsamkeit. Es wird darauf hingewiesen, daß die Abschaffung der Reglementierung weder in Norwegen noch in Dänemark einen Einfluß auf die Zunahme der Geschlechtskrankheiten ausgeübt hätte. In Norwegen wurde die Kontrolle 1888 abgeschafft. Nun folgt die Statistik (aufgeführt auf derselben Seite!), und die zeigt, daß in Norwegen die Zahl der Fälle von Syphilis, die 1888 0,71 pro Mille der Bevölkerung betragen hat, im Jahre 1895 auf 1,11 der Bevölkerung gestiegen ist; in Christiania bei Männern im Jahre 1888 von 0,75 auf/2,83 im Jahre 1895!! Vermehrung der Gonorrhöe in Norwegen von 1,27 pro Mille im Jahre 1888 auf 2,45 im Jahre 1898. Die annähernd gleiche Steigerung zeigt Dänemark.

Wie man, angesichts einer solchen Statistik, die man veröffentlicht, noch eine Einleitung schreiben kann des entgegengesetzten Inhalts, ist mir vollkommen unverständlich. Ein erschütterndes Bekenntnis hat ein norwegischer Dichter, der Verfasser des Romans »Albertine«, gegeben. Er klagt sich in der Vorrede zu einer Neuauflage des Buches an, durch dieses Buch die Abschaffung der Reglementierung in Norwegen erreicht zu haben, und er bekennt, daß er, durch die darauf erfolgte rapide Zunahme der Geschlechtskrankheiten, heut auf dem Standpunkt stehe, diese Wirkung seines Werkes zu bedauern.

Die reformierte Reglementierung würde mit ebensowenig Recht mit der heutigen Bordellwirtschaft zu vergleichen sein, als etwa ein modernes Dienstvermietungsbureau mit dem Sklavenmarkt von einst. Durch eine Reglementierung in der Art, wie sie in Amerika z. B. in den Assignations Houses bestehen soll, würde die geheime Prostitution sehr an Boden verlieren, weil die, die sich in hygienisch einwandfreier Weise in diesen Häusern aufhält, bevorzugt würde. In diesen Assignations Houses sollen die hygienischen Einrichtungen auf der Höhe sein, und jede Übervorteilung und Ausbeutung ist ausgeschlossen.

Vor allem aber muß jede Eindämmung der Maßregeln, die gegen die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten getroffen werden, bekämpft werden. Diese Maßregeln müssen vielmehr den Charakter allgemeinster Durchführbarkeit tragen. Seit z. B. das österreichische Kriegsministerium, planmäßig, gewisse Direktiven zur Verhütung der Geschlechtskrankheiten verfolgte, ließ sich, / wie wir aus einem einschlägigen Aufsatz von Privatdozent Dr. Rust, k. k. Regimentsarzt, entnehmen, eine Abnahme der venerischen Infektion von 65 bis 62% auf 50% der Kopfstärke feststellen. »Bei einzelnen Regimentern, bei denen der Militärarzt sich einer ganz besonderen Fürsorge befleißigte, ist die Zahl der venerischen Erkrankungen tatsächlich auf ein Minimum herabgedrückt worden.« Umso krasser muß es berühren, daß in Deutschland Frauenvereine, zusammen mit Männersittlichkeitsvereinen, seinerzeit ein Kesseltreiben für die Entfernung der Schutzmittelautomaten aus den Kasernen und Kriegsschiffen veranstaltet haben.

Daß alles geschehen soll, was den Geschlechtstrieb, den Naturtrieb von elementarster Gewalt, in möglichst reine Bahnen lenkt und ihm zur höchsten Sublimierung verhilft, ist sicher. Aber eine Kampf weise, die damit arbeitet, Schutz gegen Ansteckung zu hintertreiben, ist auf ganz verkehrten Wegen und nimmt mehr auf ihr Gewissen, als sie verantworten kann. Es ist schlimm genug, daß die Gier nach geschlechtlicher Orgie bei manchen Männern so weit geht, daß sie, selbst im Verkehr mit Dirnen, die Benützung von Schutzmitteln verschmähen, um sich ganz schrankenlos der übelsten Sorte von Wollust hingeben zu können. Diese ganz Gewissenlosen sind die gefährlichsten Verbreiter der Seuche. Wenn aber schon die Behörden sich zu sexueller Pädagogik aufraffen, den Soldaten und Matrosen die Schutzmittel gegen die venerische Krankheit an die Hand zu geben, so müßte das von jedem Einsichtigen hoch begrüßt werden, zumal nicht daran zu denken ist, daß Soldaten und Matrosen sich zur Abstinenz verurteilen werden, da ja selbst die größte Gefahr der Infektion sie von dem Verkehr mit der Prostitution nicht abhält.

Bei Nachprüfung des Falles der Mainzer Polizeiassistentin hat das Reichsgericht die folgenden Rechtsgrundsätze aufgestellt:

»Eine körperliche Untersuchung darf nur dann angeordnet werden, wenn ein aus bestimmten Tatsachen abgeleiteter Beweis für die gewerbsmäßige Begehung der Unzucht erbracht ist. Voraussetzung ist also, daß der zuständige Polizeibeamte nach seiner pflichtgemäßen Überzeugung eine Frau der gewerbsmäßigen Unzucht, somit der fortgesetzten Hingabe ihres Körpers an mehrere Männer, gegen Entgelt, für überführt erachtet. Mangelnde sittliche Führung, das Unterhalten von Liebesverhältnissen, anstößiges Benehmen geben dazu an sich keine Berechtigung, solange nicht Tatsachen vorliegen, die dringend auf die Gewerbsunzucht hinweisen. Völlig unzulässig aber ist es, die körperliche Untersuchung lediglich zu dem Zwecke anzuwenden, um die Untersuchten des Geschlechtsverkehrs zu überführen; damit hat diese im Interesse der öffentlichen Gesundheit gegen Dirnen zugelassene Maßnahme nicht das geringste zu tun. Androhung oder Ankündigung der Untersuchung ist ein Mittel, das die Polizei als Nötigungsmittel überhaupt nicht, sonst aber jedenfalls nur gegenüber den als Dirnen erkannten Frauen anzuwenden befugt ist.«

In dieser Entscheidung liegt ein sehr weitgehender Schutz vor Übergriffen, und es wird dadurch tatsächlich nur die gewerbsmäßige Prostitution von der Kontrolle erfaßt. Sowohl Ärzte, wie Dr. Grotjahn, als auch der bekannte Sozialforscher Schmölder verlangen, daß, anstatt des Bordellwesens, Absteigequartiere für die Prostitution geradezu begünstigt werden müßten, und daß die Rechtsunsicherheit, bei gleichzeitiger, besonders hoher Besteuerung direkter und indirekter Art, dieser Klasse gegenüber, aufhöre. Zu den seltsamen Argumenten, die in der Frage der Reglementierung gebraucht werden, gehört auch dies, daß manche Reformer auf diesem Gebiet sagen: »Die Angst vor der Kontrolle hält manches Mädchen zurück, ist sie aber erst unter Kontrolle, so fühlt sie: jetzt darfst du! und die letzte Schranke fällt.« Dazu ist zu sagen: Gäbe es gar keine Kontrolle mehr und gar keine »Belästigung« für dieses Gewerbe, so fiele diese Schranke dann eben für alle, die es betreiben, und sie würden dann um so eher sagen: jetzt darfst du! Anstatt für die Freiheit der Prostitution Lanzen zu brechen, sollten sich alle diese Vereine, die derartige Bestrebungen verfolgen, einheitlich und ganz der Bekämpfung des Mädchenhandels zuwenden, der noch immer sein schwunghaftes Geschäft mit allen modernen Verkehrs- und Hilfsmitteln betreibt, und die Lasterhöhlen des Ostens, des Orients, Südamerikas und auch der Vereinigten Staaten mit immer frischem Material aus Europa füllt.

Die Stadtkreise der Prostitution, besonders im Orient, sind als förmliche Ausstellungsparks eingerichtet, die, / wie ein Forscher hervorhebt, / von der britischen Flagge beschützt werden. »Ohne Kleidung, ohne Geld, ohne Freund, halbtot geschlagen und seelisch gebrochen, ergeben sich die Opfer schließlich ihrem Schicksal, um wenige Jahre darauf, wenn ihre Jugend verblüht und ihr Fleisch im Preise gesunken ist, an die Bordelle des Chinesenviertels verkauft zu werden, von woher noch keine zurückgekommen ist.« Geh. Sanitätsrat Schmölder. Diesen Zuständen gegenüber müßte die Internationale Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels geradezu Hand in Hand mit einer Liga zur schärfsten Überwachung der Prostitution, im höchsten humanitären, sozialpolitischen und sanitären Sinne, zusammenarbeiten und jede Art von Nutznießung Dritter aus diesem Gewerbe unmöglich machen. Dies aber ist nur möglich, wenn der Staat und die Behörden selbst für Unterkunft, Reinlichkeit und menschenwürdige Zustände in jedem Sinne, bei dieser Klasse Sorge tragen, so daß die Prostituierten es nicht nötig haben, sich Kupplern auszuliefern. In Australien, wo die Frauen politisch gleichberechtigt sind, haben sie durchgesetzt, daß Mädchenhändler nicht allein Zuchthausstrafe erhalten, sondern auch »ausgehauen« werden. Vor allem müßte das Recht bestehen, Mädchenhändler auf den bloßen Verdacht hin zu verhaften. Schmölder verlangt »statt der heutigen Reglementierung eine Überwachung, die geeignet ist, der hygienischen Gefährlichkeit entgegenzuwirken … Jede Privilegierung und Konzessionierung der Prostitution muß dauernd fallen. Die Polizeiaufsicht muß dem Kuppler und seinen Wohnräumen gelten …« Die Wichtigkeit der Wohnungsfrage wird auch von Major Wagner betont; dabei wird der Unterschied zwischen Bordell und Prostitutionswohnhaus aufgedeckt. Schmölders Vorschläge in bezug auf Reformen des Strafgesetzbuches lauten:

»An Stelle des § 361, 6: Bestraft wird eine Person, die gewerbsmäßig Unzucht treibt und dabei das Gewerbe in Ärgernis erregender Weise zur Schau trägt, mit Zuhältern, Dieben und anderen Verbrechern einen sie begünstigenden Verkehr unterhält oder nicht den Nachweis erbringt, daß sie sich in ärztliche Behandlung begeben und alle Anforderungen des Arztes befolgt hat, wenn sie mit einer ansteckenden Geschlechtskrankheit behaftet angetroffen wird. 2. Der Kuppeleiparagraph soll einen Zusatz darin erhalten: straffrei ist die Zur-Verfügungstellung einer Wohnung, sofern dabei alle Anordnungen der Polizei beachtet sind. 3. Eine neue allgemeine Strafbestimmung ist dahin aufzunehmen: Bestraft wird, wer geschlechtlich verkehrt, obgleich er weiß oder den Umständen nach annehmen muß, daß er an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit leidet.« Diesen Vorschlägen, besonders dem letzten, kann man sich durchaus anschließen.

Neuerdings sind Gerichtsurteile ergangen, die in dem strikten Verbot von Herrenbesuchen, das manche Hauswirte ihren Mieterinnen auferlegen wollten, eine Beschränkung der Persönlichkeit erblicken, zu der ein bloßes Mietverhältnis keinen Anlaß gibt. Tatsächlich verlangte die pharisäische Willkür des Durchschnittsmenschen, der selbst meistens den absonderlichsten Lastern frönt, daß eine alleinstehende Dame sich mit keinem Herrn zeige, widrigenfalls er sie als Prostituierte zu brandmarken droht, auch wenn sie vielleicht überhaupt niemals in ihrem Leben Geschlechtsverkehr gehabt hat In dem im März 1916 neu errichteten Studentinnenheim in Berlin-Charlottenburg dürfen die Bewohnerinnen selbstverständlich auch den Besuch ihrer männlichen Kollegen empfangen, was ausdrücklich hervorgehoben wurde. Einen gebildeten Menschen kann man nicht auch noch zur geistigen Totalabstinenz von jedem Verkehr mit dem anderen Geschlecht verdammen, in der kleinbürgerlichen Praxis geschieht dies aber tatsächlich..

Dr. Robert Hessen formuliert seine Forderung, sehr treffend, so: »1. Verhütung von Sklaverei. 2. Herstellung von Reinlichkeit.« Um die Prostitution zu verhüten oder einzuschränken, um sie wahrhaft zu begrenzen auf jenes Frauenmaterial, welches von Natur aus zur Dirne geschaffen ist, müßte eine vollständige Veränderung in bezug auf die Bewertung der Frauenarbeit durchgreifen. Sehr richtig sagt ein Autor: »Solange die Frauenlöhne noch so viel niedriger sind, als die der Männer, so lange liegt die Gefahr einer Prostituierung für jede weniger bemittelte Frau nahe.« Polizeivorschriften, welche irgendeine Willkür möglich machen, müßten energisch bekämpft werden. 1912 wurde in Potsdam ein Polizeibeamter wegen versuchter Nötigung im Amt zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Als typisch schildert diesen Vorgang für Norwegen der Verfasser von »Albertine«. Im allgemeinen hält man solche Zustände für russisch. Sie kommen in Wahrheit überall da vor, wo die Befugnisse untergeordneter Polizeiorgane zu weitgehende sind.

Ein Forscher, Dr. Max Müller, Metz, hat, durch systematische Durchführung der mikroskopischen Untersuchung bei der Kontrolle der öffentlichen und geheimen Prostitution, festgestellt, daß die Gonorrhöeerkrankungen seit Einführung der Reglementierung in Metz in der großen Metzer Garnison mit damals 24 000 Mann in einigen Jahren um 50% zurückgegangen sind; während die Abnahme der Gonorrhöe in der gesamten deutschen Armee für den gleichen Zeitraum nur 4% beträgt. Auf der 85. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien forderte Dr. Max Müller, auf der Grundlage dieses von ihm erreichten Resultates, eine rationelle Handhabung der Reglementierung. Warum man in der gesetzlichen Abstempelung des Lasters eine »empörende Tatsache« sieht, ist mir nicht recht klar. Diese Empörung bildet den »idealen Kern« der abolutionistischen Forderungen, die sich präzise dahin formulieren: keine Prostituiertenkaste, keine zwangsweise Untersuchung. Anstatt aller hygienischen Maßnahmen und aller Schutzeinrichtungen der Gesellschaft gegen vollständige Durchseuchung »fordern« sie ganz »einfach«: Enthaltsamkeit bis zur Ehe. Den dunklen Gewalten des mächtigsten Naturtriebes gegenüber mit solchen »Forderungen« zu operieren, scheint mir wahrlich eine recht gefährliche Art von »Idealismus«. Eine Vogelstraußpolitik, gegenüber den Tatsachen, die ihresgleichen nicht findet. Mit Recht hat sich die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in ihren Veröffentlichungen zumeist auf einen rein medizinisch-technischen Standpunkt gestellt und sich mit antisozialen Ideologien nur wenig befaßt.

Äußerst wichtig wäre es, in jedem Sinne das Grauen vor der Prostitution zu erwecken und nicht nur vor der gewerbsmäßigen Prostitution, sondern vor jeder Trennung und Loslösung des Geschlechtstriebes vom innigsten Gemütsempfinden. Tatsache ist, daß sich diese Triebe überhaupt nicht trennen lassen, daß die Betätigung der Sexualität unbedingt, auch wenn es sich die Beteiligten vorher gar nicht träumen ließen, zu einem Näherkommen der beiden Menschen führen muß, sofern der Akt nicht durchaus vereinzelt bleibt und nicht schnellstens eine vollständige Trennung der Personen erfolgt. So geschieht es, daß mancher junge Mann sich von der Geilheit, die ich als den Gegenbegriff der beseelten Erotik bezeichnen möchte, dazu verleiten läßt, sich mit weiblichen Wesen, von dirnenhafter Art, einzulassen, und dann / und dies ist das Furchtbarste! / zu diesen Wesen, wenn er sie öfter frequentiert, schließlich in eine Gemütsbeziehung gerät. Es entsteht ein Verhältnis eines Menschen, der zu einer besseren Gemeinschaft geschaffen war, mit einem Weibe schlechtester Art, die schließlich sein ganzes moralisches Empfinden vergiftet, seinen ganzen inneren Menschen verseucht. Unzählige werden auf diese Art verdorben, / sie haben so lange mit dem Sumpf gespielt, / bis sie der Sumpf verschlang.

III.
Typen

Otto Rühl, der Verfasser des Buches: »Das proletarische Kind« Albert Langen, München., hat mit Recht darauf hingewiesen, daß, was immer der Kapitalismus berührt, er ins Riesenhafte treibt. »Hat der Kapitalismus die Prostitution auch nicht erzeugt, so dankt diese doch ihren Aufschwung, vor allem ihre gesteigerte Fähigkeit zu sozialer Verwüstung dem Zeitalter, dem er den Namen, das historische Gepräge gibt.«

Die Prostituierte des Kapitalistenzeitalters hat nichts gemein mit den Hetären Griechenlands, zum mindesten nicht mit jenen, die, als hochbegabte Frauen, Freundinnen hochstehender Männer waren. Die Kurtisane konnte seinerzeit nur eine große Rolle spielen, weil sie, neben einer fesselnden erotischen Persönlichkeit, auf der Höhe der geistigen Bildung ihrer Zeit stand, / und weil es Geschlechtskrankheiten bis zur Einschleppung der Syphilis aus Amerika nicht gab.

Daß die Prostituierte aus Not anders zu beurteilen ist, als die geborne Dirne, steht fest. Aber es ist anzunehmen, daß ein Verbleib in der Prostitution für die Frau, die aus Not dahin gekommen ist, kaum möglich sein wird, nicht nur, weil sie selbst mit allen Kräften herausstreben wird, sondern weil ihr die Qualifikation für das Metier fehlt, weil sie des Ekels nicht bar ist und sich darum für das Gebiet nicht eignet. Die geborne Dirne, auch eine solche, die nicht in die gewerbsmäßige Prostitution hineinsteigt, aus dem einfachen Grunde, weil die geheime viel rentabler ist und sie als quasi »anständiges Mädchen«, das nebenbei noch einen anderen Beruf hat, viel leichter und besser zahlende Liebhaber findet, als die offiziell gewerbsmäßige Dirne, / hat als charakteristische Eigenschaft nicht nur einen unersättlichen und gänzlich wahllosen Geschlechtstrieb und eine tüchtige kaufmännische Veranlagung, seine Ausübung gut bezahlt zu machen, sie hat nicht nur den völligen Mangel an Ekel vor der wahllosen Vermischung, sondern sie ist ebenso verschlagen, wie sie geil ist, und der Betrug und die Heuchelei sind ihr Lebenselement. Sie wird jedem Einzelnen, mit dem sie anfängt, die »große Liebe« vorheucheln, sie wird sich ihm in der raffiniertesten Weise anpassen, und sie wird ihn erst in eine Hypnose der Geschlechtsbrunst versetzen, um ihm dann, in dieser Hypnose, alle Suggestionen zu geben, die ihr Vorteil bringen. Sie wird sich mit einem Dauerverhältnis sehr gut einzurichten wissen und daneben noch Neben- und Detailgeschäfte in der »Liebe« betreiben, wo sie sich ergeben. Gleichzeitig mit mehreren Männern zu verkehren, ist für sie ein Leichtes; sie kann jedem dabei ins Gesicht sehen, der Verrat ist ihr Element.

Auch der Mann, der die geheime Paniximie durchführen kann, der es fertig bringt, täglich zu verraten und zu betrügen, die reinste Atmosphäre zu schänden, durch Verbindung mit der schmutzigsten Tiefe, gehört zu der allerniedrigsten Sorte, steht moralisch auf der niedrigsten Stufe der Menschheit. Bei einem höhergearteten Manne, bei einem feurigen Temperament, bei einer wirklich männlichen Persönlichkeit ist das auch ganz und gar unmöglich. Mit überzeugender Gewalt schildert Hans Land in seinem Roman »Staatsanwalt Jordan« S. Fischer, Berlin. Vergl. meinen Artikel hierüber, der, als Anhang, in desselben Verfassers Roman »Artur Imhoff« S. Fischer, Berlin, aufgenommen ist., wie sofort die Ehe und die bisherige soziale Wirkungssphäre des Staatsanwalts zusammenbricht, als er in Beziehungen zu einer Dirne tritt. Die Kraft dieses Buches liegt darin, daß es vor unsern Augen zeigt, wie sich ein solches Doppelleben bei einem Manne von sittlicher und starker Natur unmöglich durchführen läßt.

Das Dämonium, die Magie des Geschlechtlichen, ist etwas so Schicksalhaftes, daß man wahrlich mit niemandem zu Gericht gehen kann, über den geschlechtliche Triebe der wildesten Art Macht bekommen haben. Aber der Unterschied zwischen der moralischen und reinen und zwischen der durch und durch verschmutzten Natur wird der sein, daß die eine nicht ein ekelerregendes Kuddelmuddel, nicht eine unsaubere Vermischung der verschiedensten, gegensätzlichsten, geschlechtlichen Beziehungen herstellen kann, / die schmutzige Natur aber einen solchen Zustand, in dem der grauenhafteste tägliche Verrat wohnt, mit Leichtigkeit »durchhält«. Eine höhere Natur, Mann oder Frau, die auf geschlechtliche Nebenwege gelockt wird, wird unbedingt einen »Umsturz« schaffen, der auf den ersten Blick sehr unklug erscheint, der aber doch die einzige Rettung aus einer unhaltbaren Situation bedeutet. Eine schmutzige Natur wird jeden Verrat, jedes Doppelleben durchführbar und haltbar finden, und es werden auf diese Art, nach und nach, Lawinen des Schmutzes anwachsen, die eines Tages natürlich ins Rollen kommen und alles, was in ihrem Umkreis liegt, für ewig begraben.

»Und die Zweie werden ein Fleisch sein,« sagt Christus, »wer es fassen kann, der fasse es«. Das heißt, daß die fleischliche Gemeinschaft aus zwei Menschen auch etwas organisch Einheitliches gemacht hat und daß darum ein Eindringen Dritter in diesen Organismus einen Bruch dieser Einheit, eine todbringende Katastrophe bedeutet.

Wenn auch manche Führerin der Abolutionisten die Frage, ob es geborene Dirnen gibt, resolut mit Nein beantwortet, so steht dennoch die Tatsache, daß die ganze Gesellschaft überschwemmt ist von dirnenhaften Weibern aller Gesellschaftsklassen, dem gegenüber. Auf weitgehende Definitionen dieses Typus braucht man nicht einzugehen, hier sagt ein Bibelwort die schlichte Wahrheit: »Was ein hurisch Weib ist, das erkennet man am Gesicht und an ihren Augen.« In der Art, wie dieser Typus jedem Mann entgegentänzelt, ihn mit geiler Schöntuerei provoziert, ihn angrinst, nicht fähig ist, irgendein Gespräch zu führen, um irgendeines sachlichen Gegenstandes willen, sondern überhaupt nur spricht, um zu buhlen, / in diesem widerlichen »Schäkern« und pfauenhaften Sichblähen ist der Typus der Dirne für jeden erkennbar, der nicht durch die Gier nach diesem Typus vollständig verblendet ist.

Eine geistig hochstehende, reine Frau wird von Mittag bis Mitternacht mit einem Manne zusammensitzen können und sich in der lebhaftesten Art mit ihm über alle möglichen Themata, die sie und ihn interessieren, unterhalten können, ohne daß er ihr auch nur mit einem Blick, mit einem Hauch zu nahe kommen darf und wird. Es wird ihm, im Gespräch mit ihr, gar nicht einfallen, denn: es liegt keine Provokation dazu in ihrem Wesen. Wenn er diese Frau Hebt, dann wird er sich ihr anders nähern, als durch einen sexuellen Überfall.

Bei einer andern weiblichen Person kann man hingegen, falls sie »Herrenbesuch« empfängt, mit Sicherheit darauf schließen, daß die »Herren« nur zu ihr hingehen, um geschlechtlich mit ihr zu verkehren, denn eine andere Beziehung zu einer solchen Person gibt es nicht. Das Volk hat einen sehr treffenden Ausdruck, den man hier nicht wiedergeben kann, der die buhlerische Provokation schon durch den Blick zum Ausdruck bringt. Die Frau, die diesen Blick hat, ist eine Dirne, und der Mann, der diesen Blick hat, gehört nicht an die Seite einer vornehmen und reinen Frau. Sie löse sich vielmehr von dieser üblen Gesellschaft so schnell wie möglich los.

In dem Flugblatt: »Krieg und Ehe« Verlag Oesterheld & Co., Berlin W15. habe ich die Dirne wie folgt charakterisiert:

»Der Unterschied zwischen der Dirne und der Frau ist der, daß für die Dirne jeder als Mann in Frage kommt, daß von differenzierter sexueller Auslese bei ihr nicht die Rede ist: ob er vornehm oder gemein ist, ob er sich mit ihr in einen seelischen Kontakt setzt oder sie nur unzweideutig herausfordert, ob sein Charakter oder seine Gesamtnatur auf einer gewissen Höhe stehen oder nicht, / das alles ist für sie vollständig gleichgültig, ja es tritt nicht einmal in ihren Bewußtseinskreis, es berührt auch nicht ihr Instinktleben. Ihr genügt es, daß ein Wesen des andern Geschlechts ihr gegenübersteht, um die intimste Vereinigung, die die Schöpfung kennt, für sie möglich zu machen. Anders die Frau, die keine Dirne ist. Auch sie ist verführbar; aber ihre Sinne erwachen nur dann, wenn die Seele spricht, und von dem Mann, der nicht ihr ganzes inneres Leben gefangen nimmt, trennt sie eine Welt. Darum wird eine solche Frau jahrelang, oder sei es auch für immer, im Zölibat leben, was ihr gar nicht als besonderes Verdienst anzurechnen ist. Denn sie würde sehr gern das Zölibat, mit seinen deprimierenden physischen und psychischen Folgen, eintauschen gegen ein beglücktes Sexualleben, sei es auch außerhalb der gesetzlichen Ehe. Aber sie hat zu wenig Auswahl in dem Sinne, daß zu wenig Männer da sind, zu denen sie eine innere Beziehung finden könnte. Sie wird also, auch wenn sie selbst sehr stark gefällt und anzieht und sexuelle Vollbefriedigung begehren würde, zum Zölibat verurteilt sein, durch ihre höheren menschlichen und weiblichen Instinkte und Bedürfnisse. Die Dirne hat immer Männer (ich meine nicht nur die professionelle Prostituierte, sondern die geborene Dirne); in ihrem Leben gibt es keine zölibatere Pause. Ein jeder, er mag aussehen wie er will, und sein, was er will, der ihr begehrliche »Augen macht«, kann sie auch haben, und instinktiv rotten sich die Männer um diesen Typus, weil sie fühlen: daß sie auf ihn wirken. Das ist das Geheimnis der starken Anziehung, die sie fast auch auf jeden ausübt. Die Frau reagiert nur dort, wo sie sich entweder tief innerlich gebunden oder von sehr starken Illusionen angezogen fühlt. Mit dem Augenblicke aber, wo sie dahinter kommt, daß sie den Mann ihrer Wahl überschätzt hat, wo sie desillusioniert wird, ist es auch schon zu Ende mit ihrer Reaktion auf seine Geschlechtlichkeit. Sie wird ihn ablehnen und einsam bleiben. Daß die Frau, (zum Unterschied von der Dirne), dem Mann, an den sie ein inneres Band bindet, unbedingte Treue hält und ihrer Natur nach halten muß, ist selbstverständlich. Sie kann das Band brechen, um eine neue Verbindung einzugehen, aber sie wird niemals polyandrisch leben können. Nun ist es allerdings richtig, daß unsere Gesellschaft von Grenztypen wimmelt. Vor allem aber ist der furchtbare Ernst, die schicksalhafte Abhängigkeit des ganzen Menschenlebens vom Geschlechtsleben andauernd so überdeckt worden, daß beständig nur an den Wirkungen zu erkennen ist, wie das Leben, von diesem Punkte aus, systematisch verdorben wird.«

Dringt die Dirne, in irgendeiner Funktion, unter irgendeiner Maske, in ein Haus ein, so wird sie, wenn nicht bewußte Wachsamkeit das Haus hütet und wenn es sich um schwache und verführbare Charaktere handelt, dieses Haus zum Einsturz bringen. Darum hüte man sich vor Tolerierung der Prostitution, in dem Sinne, daß man Wesen dieser Art irgendwie in seiner Nähe duldet. Großzügige Naturen werden ein solches Treiben, das um sie herum vorgeht, wahrscheinlich gar nicht bemerken, / und der Einsturz wird darum nicht ausbleiben. Eines Tages wird das von Ratten, Schlangen und Schweinen unterwühlte Gebäude krachend zusammenstürzen …

Typisch sind die Aussagen mancher Prostituierten. Sehr recht hat eine, die von ihren Kunden sagt: »Wir tun's doch nur des Geldes wegen; leben muß der Mensch, verhungern kann man nicht. Man muß für die Zukunft sparen. Aber wenn so'n feiner Herr noch Schweinereien zum Vergnügen macht, so kann man doch bloß vor ihm ausspucken.« »Die Welt, von der man nicht spricht.« Aus den Papieren einer Polizeibeamtin, zusammengestellt und bearbeitet von Anna Papritz. (Felix Dietrich, Leipzig 1908.) Es ist vollständig richtig, daß schmutzige geschlechtliche Vorgänge umso ekelhafter sind, je weniger sie aus Not und je mehr sie aus Passion betrieben werden. Es fehlt dem Manne, der sich mit schmutzigen Frauenzimmern abgibt, / hier liegt eine Entartungserscheinung schwerster Art, / nicht nur der Ekel vor ihnen, sondern, jemehr er sich der Orgie überläßt, umsomehr wird eine Aversion gegen den Geschlechtsverkehr in seiner höchsten Form sich in ihm entwickeln. Ein Nervenarzt teilte mir mit, daß einer seiner Patienten ihm geklagt hätte, er wisse nicht, was mit ihm vorgegangen, aber er habe ein solches Bedürfnis, schmutzige Weiber zu attackieren, daß er sich kaum zurückhalten könne, sie zu überfallen: während gleichzeitig sich eine Aversion gegen seine Frau, die er aus leidenschaftlicher Liebe gewählt hat, in ihm entwickelte. Er konnte schließlich die Frau nicht mehr berühren, / es zog ihn zur Dirne. Der Sumpf hatte ihn verschlungen.

Die psychologische Definition ist die: der Frau gegenüber mußte, seines entsetzlichen Doppellebens halber, ein derartig schwerer Druck auf ihm lasten, daß er ihre Nähe nicht mehr ertragen, geschweige denn sie umarmen konnte. Ein Mann, besonders ein junger, nicht sehr charakterfester Mann, der sich erst an den Verkehr mit Dirnen, an die Ungebundenheit der geschlechtlichen Vorgänge an sich, losgelöst und »befreit« von allen höheren Gefühlen, / gewöhnt, dessen ganze Natur und dessen ganzer Charakter wird sich derartig umbilden, daß aus dem reinen, hochstrebenden, jungen Menschen, der er einmal war, in wenigen Jahren ein skrupelloser, schmutziger Wüstling geworden ist, der vor keiner Gemeinheit, keinem Verbrechen mehr zurückschreckt, durch das er seine geilen Triebe befriedigen kann. Wie sich das Ehe- und Familienleben und die soziale Existenz von Männern, die auf diese Art verderben, gestaltet, kann man sich ausmalen.

Der Ekel ist, ebenso wie die Angst und die Scham, eine Schutzvorrichtung der Natur, ersten Ranges. Sind diese Hemmungen erst überwunden, / dann gibt es keine Grenzen mehr.

Ein typischer Ausspruch einer Dirne, mitgeteilt von Dr. med. H. W. Hammer, kgl. preuß. Kreis- und Gerichtsarzt, ist auch der: »Kein Mann war mir ekelhaft; wenn ein älterer kam, habe ich die Anständige markiert.«

Die Verachtung hingegen ist eine (vorzügliche) Schutzvorrichtung der Gesellschaft.

Hammer macht in der Schrift, aus der ich den oben zitierten Ausspruch entnehme, die im Buchhandel nicht zu haben und nur zu wissenschaftlichen Zwecken zu beziehen ist, auch die Mitteilung, daß die Gewerbsunzucht auch schwunghaft von Frauen betrieben wird, die nicht im mindesten dazu durch Not gezwungen sind. Aus seinen Akten geht hervor, daß sich sogenannte höhere Töchter sehr zahlreich an der Gewerbsunzucht beteiligen und besonders auch Staatsbeamtinnen; daß es unter diesen gewisse Typen gibt, die insgeheim, obwohl ihnen, solange sie im Dienst sind, sogar die Ehe verboten ist, sich nicht selten nicht nur etwa ein Verhältnis gönnen, / denn das wäre durchaus begreiflich, / sondern mit jedem, der ihnen den Geschlechtsakt anbietet, ihn auch vollziehen; zumeist gegen eine kleine Vergütung oder die Freihaltung bei einem Vergnügen. Hammer sagt dazu: »Kein einziger der von mir befragten Verwandten dieser Mädchen versuchte auch nur die Behauptung aufzustellen, Brothunger habe die Mädchen zur Unzucht gezwungen. Diese Angabe ist um so irrtümlicher, als das Unzuchtgewerbe in Berlin derartig mit Arbeitskräften überfüllt ist, daß nur sehr geschickte und gerissene Mädchen der Männerwelt das zum Lebensunterhalt nötige Geld entlocken können.« Darum haben sie meist auch einen sozial anständigen »Nebenberuf«. Anm. d. Verf. »Der Mitbewerb derer, die sich, ohne Bezahlung, auf Verkehr einlassen, ist in allen großen Städten erheblich, während Mangel an zahlungslüsternen Männern zutage tritt.« So lüstern Einer auch sein mag, / zahlungslüstern ist er selten! / Eine Konjunktur, die etwas Hoffnung einflößt. Unter Umständen wird sogar also Arbeit noch etwas besser bezahlt als »Liebe«.

In dem absoluten moralischen Dämmerzustand, in dem die meisten Menschen leben, können und wollen sie sich selbst und die Natur und Beschaffenheit ihres eignen Seins und Treibens zumeist nicht erkennen. Die allgemeine Verschwommenheit der sittlichen Empfindungen und Begriffe, die die epidemische Krankheit dieser letzten Epoche war, hilft ihnen hierbei erfolgreichst. So glaubt auch die Dirne, weil sie ihr Gewerbe heimlich betreibt, sie sei »anständig«; und so glaubt mancher Mann, weil er sich nur heimlich der schmutzigsten und skrupellosesten Orgie ergibt, er sei eine tadellose Stütze der Gesellschaft.

Professor Dr. Robert Michels erzählt, daß es, z. B. in Turin, Schneidereien, Nähstuben und andere Arbeitsstätten gibt, wo die Arbeit »nur die eine Seite des Betriebes darstellt, die andere aber in der Ausübung eines ganz anderen Berufes besteht. In jenen Betrieben findet die Männerwelt der höheren Stände das, was sie sucht: geheimen, nicht kompromittierenden Geschlechtsverkehr mit ›anständigen Mädchen‹, und eine Reihe von Mädchen ihrerseits das, dessen sie bedarf: relativ hohen Verdienst, ohne der Schande preisgegeben zu sein«. Verfasser hat diese Mädchen über ihre ökonomische und soziale Lage interpelliert und festgestellt, daß sie mit dem »kombinierten System« weit mehr verdienen, als wenn sie sich, ehrlich und offen, nur der einen oder andern Seite ihrer Doppelexistenz hingeben würden; denn wenn die Prostitution ihr zugestandener Beruf wäre, so würden sie im Preise sinken.

Unzählige gutsituierte Männer, die diesen Mädchen als Ausbeutungsobjekte hochwillkommen sind, fühlen sich verlockt, mit irgendeinem Mädchen in »fester Stellung«, bei dem sie die Gewähr zu haben glauben, sie nicht ganz erhalten zu müssen, ein Verhältnis anzuknüpfen. Sie rechnen damit, daß diese Person die Grundlage ihrer Existenz aus ihrer sozialen Arbeit bezieht und sie nur für kleine Geschenke, Freihaltungen usw. aufzukommen hätten. In Wahrheit ist diese Rechnung falsch: denn die Dirne mit dem kombinierten System geht auf einen ganz anderen Plan aus. Nicht nur, daß das verschwenderische Leben, zu dem der Verkehr mit ihr führt und dem sich der Mann williger hingibt, als es sonst jemals der Fall wäre, weil er sich damit beschwichtigt, daß er ja ihren eigentlichen Unterhalt nicht zu decken habe, / nicht nur, daß dieses Leben mit seinen kostspieligen Freihaltereien in teuren Restaurants, Ausflügen, Wertgeschenken u. dgl. weit mehr kostet, als ein bescheidener, gutgeführter, kleiner Haushalt, den sich derselbe junge Mann, wenn er sich zur Ehe mit einem reinen Geschöpf, auch mit einer Frau ohne Vermögen, entschließen würde / leisten könnte, / besteht auch noch die Gefahr, daß diese Dirne den jungen Mann, weil er sie als »anständiges Mädchen« in einem Beruf kennen lernt, je mehr er sich an sie gewöhnt und an sie anschließt, zu einer Herzensbeziehung gewinnt, die, da sie darauf ausgeht und ihm gewöhnlich mit einer Schwangerschaft die Pistole auf die Brust setzt, sehr oft mit einer Heirat schließt. Nicht selten hat er dabei ein Wesen als Lebensgefährtin »errungen«, welche sich, ebenso wie ihm, jedem andern, der ihr ein Abendbrot bezahlte oder ein Geschenk machte, zum Geschlechtsakt anbot. Das ist die Gefahr der heimlichen Prostitution, deren Vertreterin sich sozial ihren Ruf als »unbescholtenes Mädchen« durch die Maske eines bürgerlichen Berufes bewahrt.

»Eine Sartine (Schneiderin), mit der ich darauf zu sprechen kam, ein hübsches, etwas blasses Ding von anständigen, vornehmen und keuschen Bewegungen, hob, wie zur wissenschaftlichen Beweisführung, die Röcke in die Höhe und zeigte mir ihre Unterkleider. Sie trug lange, dicke, schwarze Wollstrümpfe und geschlossene Beinkleider. Wehe, sagte sie mir, wenn ich durch meine Kleidung die Eltern abends erraten ließe, was ich den Tag über treibe. Es würde mir schlecht gehen … Außer dem engen Kreis ihrer Benützer ahnt niemand etwas von ihrer wahren gesellschaftlichen Funktion.« Michels. Dieser Benützerkreis ist wahrscheinlich gar nicht so eng, wie Verfasser annimmt, der übrigens zugibt, daß die soeben beschriebene Dirne des Nähateliers nicht die raffinierteste ihrer Gattung ist. Sie ist um so raffinierter, je mehr ihr Deckberuf die Maske strenger Ehrbarkeit trägt. Nach den Feststellungen von Hammer, der über Kontrolldirnen Akten führte, die als ehemalige Lehrerinnen, Staatsbeamtinnen u. dgl. schließlich so weit gekommen waren, kann man annehmen, daß gerade auch in den Kreisen, in denen die Ehrbarkeit amtliche Vorschrift ist, sich ein großes Material für die geheime Prostitution findet.

Die Überzahl der öffentlichen Prostitution rekrutiert sich aus ehemaligen Dienstmädchen. An vielen von ihnen hat man die Prostitution im Hause, und der junge Sohn des Hauses oder auch mancher Ehemann, der nicht ganz charakterfest ist und für den solche »Genüsse« in Frage kommen, hat hier die hübscheste Gelegenheit, im eigenen Heim, an der Zentralstelle seines Lebens, einen netten, kleinen Bordellbetrieb einzurichten. Es soll keine Seltenheit sein, daß diese Wesen sich zu den halbwüchsigen Knaben des Hauses ohne viel Federlesens direkt ins Bett legen … An ihnen hat man, in einem riesigen Prozentsatz von Fällen, ohnehin auch den Todfeind im Hause.

Es ist im allgemeinen kein gutes Menschenmaterial, welches heute die Hilfskräfte für die Hauswirtschaft auf die unzulänglichste Weise liefert. Erst kürzlich wurde in Steglitz ein 15jähriges Dienstmädchen wegen dreifachen Mordversuchs in der Familie des Dienstgebers verhaftet. Als sie mit der Hausfrau einmal, als sie nach 10 Uhr vom Ausgang zurückkam, einen Wortwechsel hatte, faßte sie sofort den Entschluß, den sie zu Bekannten äußerte, daß sie der Frau schon »eins auswischen« werde. Sie versuchte, während sie gegen die Arbeitgeberin treue Anhänglichkeit heuchelte (dies ist charakteristisch), zuerst das wenige Wochen alte Kind ums Leben zu bringen, indem sie in die Milch des Kindes ungereinigte Salzsäure hineingoß. Voll Interesse wartet sie auf die Wirkung, die ihr anscheinend wohlbekannt war, denn sie schrieb an eine Freundin in einem von der Behörde ermittelten Brief: »Unsere Jöhre wird nun bald sterben. Ich kenne die Anzeichen genau, und in einigen Tagen wird blutiger Stuhlgang auftreten.« Die Frau versuchte sie ums Leben zu bringen, indem sie in der Nacht den Gashahn öffnete; wieder einige Tage später streute sie ihr ins Badewasser eine Anzahl Stecknadeln, deren Spitzen nach oben gebogen waren. Als auch das nichts nützte, schüttete sie ihr in den Morgentee eine starke Dosis konzentrierter Salzsäure. In ähnlicher Weise suchte sie auch die Mutter der Frau zu ermorden. Zum Glück bemerkte die Frau an dem widerlichen, brennenden Geschmack, daß an dem Tee etwas nicht in Ordnung war Es ist nicht zu übersehen, daß dieser Haß vor allem der Frau gilt und daß es ein sexueller Haß ist. Die ganze Familie hatte das Mensch umbringen wollen, nur den Mann hatte sie verschont!! Umgekehrt wird ein lüsterner Diener seine Haßströmungen gegen den Mann richten, besonders wenn die Frau eine derartige ist, daß Wunschgedanken in dem Diener überhaupt entstehen können, wie denn auch eine Dienstmagd die Frau nur dann hassen wird, wenn sie fühlt, daß die an ihrem Mann keinen Mann hat, sondern daß dieses männliche Wesen, das in dieser Häuslichkeit den »Ehemann« und »Herrn« vorstellt, von ihr, der Dienstmagd, nicht durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden ist, sondern / »auch« für sie zu »haben« wäre bzw. ist.. Endlich erwachte in ihr Verdacht. Daß das so spät der Fall war, darüber darf man sich nicht wundern, denn Menschen, die keine Mörder sind, werden eben auf einen solchen Verdacht nicht verfallen, ebensowenig wie eine Frau normalerweise auf den Gedanken kommen wird, daß sie, in der Hausgenossin und Dienstmagd, die Hure ihres Mannes im Hause habe, deren Haß und Hohn er sie täglich und stündlich ausliefert.

Die Art von Geschlechtstrieb, die in solche Tiefen führt, ist nahezu etwas Okkultes. Die letzten Wurzeln liegen dort verborgen, wo die Hölle ist. Wer von diesem Trieb besessen ist, der macht uralte Redewendungen der Volkssprache verständlich, z. B. einen Ausspruch wie: »den reitet der Teufel«. Es ist dies eine dämonische Besessenheit, ein Hang zur Tiefe, eine Sucht, sich dem Geschwäle der Unterwelt zu überliefern Im März d. J. versuchte eine 14jährige Dienstmagd den ihr anvertrauten 4 Monate alten Knaben ihrer Dienstherrschaft ums Leben zu bringen, indem sie dem Kind wiederholt ein Gemisch von Öl und Petroleum zu trinken gab. Als sie verhaftet wurde, versuchte sie zu fliehen. Die Vorstellung, daß es »Männer« gibt, die sich mit derartigem Unrat, den man im Hause hat, noch verbünden und »verbinden« und der Dienstmagd den Liebhaber abgeben, hat etwas phantastisch Unheimliches an sich, / als ob sie von E. T. A. Hoffmann erfunden wäre..

Sehr anschaulich schildert Michels das Treiben in gewissen Tanzlokalen, zu deren Besucherinnen, wie er feststellte, auch einige junge Lehrerinnen gehörten. In diesen Ballhäusern wird sozusagen eine Prostitution aus dem Mittelstand betrieben, und auch die verheiratete Prostitution hat hier ihr Geschäftslokal. Während der Mann, vielleicht ein kleiner Beamter, sich im Bureau abarbeitet, geht die Frau »tanzen«, um das häusliche Budget, das durch ihren Luxus in Unordnung geraten ist und dem der Mann mit seiner Arbeit nicht mehr aufhelfen kann, zu »sanieren«. Die Unterhaltung bewegt sich in ziemlich obszöner, ungeschminkter Art, auch einen Kniff und unkeuschen Griff (die Manieren der Hexenküche) kann der Besucher des Lokals riskieren. Aber auch Dirnen, die die Keuschheit der Lucretia vormimen, finden sich hier, um die Preise in die Höhe zu treiben, besonders aber um ihr großes Geschäft zu machen, welches für sie die Ehe ist, die sie allerdings nicht hindert, ebensowenig wie sonst irgendeine Beziehung zu einem Manne, noch außerdem auf den »Abschluß kleiner Geschäfte« auszugehen. Was Hauptamt und Nebenamt ist, ist bei diesen Typen, den »Zwischenstufen der Ehrbarkeit«, nicht festzustellen. Nur ein gründlicher Blick auf ihr Budget und ihre tägliche Lebensweise kann darüber Klarheit bringen, »welche der beiden Beschäftigungsarten im Leben jener Mädchen überwiegt«. Sehr richtig sagt Michels: »Gemessen mit dem Maßstab unseres Gefühls und unseres gesunden Instinktes sind diese ›Jungfrauen‹ (denn oft finden sich auch tatsächlich Mädchen unter ihnen, die ihre Virginität, aus Geschäftsinteresse, intakt erhalten und alle Perversitäten anstatt des ›Eigentlichen‹ bieten), verderbter und widerlicher als die Volldirne. Aber gemessen mit dem Maßstab der landläufigen Moral stehen sie zwar auf der Grenze zwischen Gut und Böse, aber immer noch diesseits des Abgrundes.«

Dieser hier geschilderte Dirnentyp hat m.E. nur zweierlei Schicksalschancen: dennoch in den Abgrund gestoßen zu werden, durch irgendeine Entgleisung, die um das »Amt« bringt, oder, auf die furchtbarste Weise, zu Verderberinnen der Gesellschaft zu werden, indem sie als Dirnen, die sie sind, ihren Hauptcoup machen und zur Ehe gelangen. Als Ehefrauen haben sie dann erst Oberwasser bekommen und können, in der schamlosesten Weise, in Haus, Existenz, Geldbeutel des Mannes herumwüsten. Sie werden dann etwa ihre Ehe in der Art führen und sie so heilig halten, wie viele Männer ihre Ehe führen und heilighalten. Hierin könnte man also einen Straf- und Racheplan der Natur sehen, für alle die Schändungen, die der Mann am Geschlechtsleben begangen hat. Nur daß leider dieser Strafprozeß sich nicht immer dort vollzieht, wo er verdient wäre … In der Tat, was man auch Schlechtes von der Frau, die eine Dirne ist, als Eheweib erwarten kann, / schlimmeren Ruin, als Frauen ihn fortgesetzt von Männern erleben, dadurch, daß jene sich gegen sie mit der Tiefe verbünden und sie dadurch ärger schänden, als wenn Kosaken das Haus und die Frau überfallen hätten, kann kein Mann von irgendeiner Frau, bzw. Dirne, erleben.

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Sicherlich ist die Dirne nicht nur ein unbedingt, von Natur aus, dazu geschaffener Typus, sondern sie wurde es vielfach durch die Verwahrlosung der Tiefe, der sie entstammte. Welch wunderbarer Schutz nicht nur in geordneten Lebensverhältnissen, sondern auch, gerade im Punkt der Geschlechtsehre, in den strengen Moralanschauungen des Bürgertums liegt, darüber wollen wir uns erst im Kapitel »Moral« des Näheren äußern. Wir Modernen haben dem Bürgertum alles erdenkliche Üble aufs Kerbholz geschrieben, aber wie richtig im allgemeinen seine Grundsätze, in bezug auf die geschlechtliche Moral, sind, zum mindesten die Grundsätze, die es offiziell vertritt und die es für seine Töchter in den meisten Fällen tatsächlich bewahrt, das muß auch einmal hervorgehoben werden: besonders in einer Zeit, die mit ihren oft recht unkritischen Freiheitsbestrebungen das Kind mit dem Bade auszuschütten liebt.

Zu beklagen und zu beschützen ist das Kind der Armut, das Kind, dem nie ein gutes, gesichertes Elternhaus zur Verfügung stand, das nie die strenge und doch milde Hand einer reinen Mutter fühlte, das von seiner Umgebung nie daran gewöhnt wurde, in Fragen des Geschlechtslebens im Sinne strengster Zucht zu denken.

In einem Vortrag über dieses Thema beleuchtete die Referentin, Frau Gertrud Zucker, die Ursachen der Prostitution. Tatsache ist, daß, abgesehen von wenigen Ausnahmen, die meisten Prostituierten aus den ärmsten Bevölkerungsschichten und aus zerrütteten Familienverhältnissen hervorgehen. »Eine von Schöneberg veranstaltete Enquete über die Ursachen der Fürsorgeerziehung ergab zwei Kinder unter sechs Jahren mit schlechten Neigungen, ein Kind unter sechs Jahren mit Unzucht (!), eine 14½jährige Mutter und ein Mädchen von 15 Jahren, das zum zweitenmal Mutter wurde.« Sehr richtig und aus einem schönen, menschlichen Gefühl heraus, kam die Rednerin zu dem Schluß, daß man bei diesen Kindern der untersten Volksschichten weit eher von Prädisposition als von Prädestination zu einem Leben in Verkommenheit sprechen kann. Allerdings kommen sie meist schon erblich belastet, von Alkoholisten und lasterhaften Eltern stammend, zur Welt, aber ebenso häufig werden sie durch das Vorbild ihrer nächsten Umgebung verdorben. »Die Kinder der Armut, namentlich der in den Großstädten, sind Schattenpflanzen. Die engen Wohnverhältnisse, das Schlafgängerwesen legen den Grund zu der frühen sittlichen Verwilderung. / Ergab doch die Enquete von 1900, daß 3317 Wohnungen einen einzigen, unheizbaren Raum hatten, auf den bis 15 Bewohner kommen! Kinder, die derartigen Verhältnissen entstammen, sehen, erleben und erleiden daher oft an sich selber Dinge, die den mittleren und oberen Schichten zeitlebens unbekannt bleiben.«

Mit tiefmenschlichem Verständnis erörterte die Rednerin auch die Not, die viele junge Mädchen zur Prostitution führt, die nicht immer der einfache Brothunger ist, »sondern mehr die Sucht nach angenehmer Existenz, nach Lebensfreude«. Viele schlechtentlohnte Arbeiterinnen machen die Prostitution zum Nebenberuf, bis sie Hauptberuf wird.

Im Grunde hat niemand, der nicht zu einem Leben in versklavender Arbeit und größter materieller Dürftigkeit verurteilt ist, das Recht, diesen Hunger nach Lebensfreude, nach besseren und angenehmeren Lebensverhältnissen, ja selbst nach dem vielgeschmähten »Luxus« zu verurteilen. Die Dame, die überhaupt nie sich angestrengt hat, um Geld zu erwerben, für die, zuerst von den Eltern, dann vom Manne, alles herbeigeschafft wurde, was das Leben einer Frau bequem und angenehm macht, / die wird sich oft, sehr schnell, wenn sie als professionelle Wohltätigkeitstante im öffentlichen Leben wirkt, entrüsten, daß so ein junges Ding auch ein hübsches Kleid, eine gute Mahlzeit und ein mehr oder minder erotisches Vergnügen haben will. Dabei ist noch hervorzuheben, daß asketische Lebensbedingungen gerade wieder eine hohe sittliche und moralische Kultur voraussetzen. Ein Mensch, der auf der Höhe dessen steht, was die menschliche Persönlichkeit, an Bewußtheit und an Streben nach moralischer Vervollkommnung, erreicht hat, der wird, auch jahrelang, im Sinne einer höheren Idee, vollständig enthaltsam in jedem Sinne, unter Umständen in strengstem Zölibat und in der Askese leben können. Ein unentwickelter Mensch, der nicht aus einem reichen Innern alles schöpfen kann, was er an Erhebungen braucht, wird auch kleine und kleinste, gemeine und gemeinste Genüsse zu erhaschen suchen, ohne daß man ihn hierfür verurteilen kann.

Auf die Frage, ob die Prostituierte zu »retten« ist, muß darum zumeist mit nein geantwortet werden. Denn man kann keinem Menschen künstlich einen Fond seiner Seele geben, aus dem er den Ersatz für den Verzicht auf materielle Lebensfreude holen könnte. Diese Seelenbeschaffenheit hat ein Mensch entweder, oder er hat sie nicht. Und ob er diese Beschaffenheit der Vererbung oder der Art seiner Erziehung verdankt, ändert nichts an der Tatsache, daß man, ohne daß diese psychische Disposition zum höheren, d. i. zum inneren Leben da ist, niemanden zu einem Verzicht auf die gemeineren Formen des Lebensgenusses bringen kann.

So kommen wir auch in dieser Frage weit ab von jeder pharisäischen Verurteilung des Phänomens, das wir geschildert haben. So ist auch hier jenes wahrhafte Erlösungsgefühl, das einzig und allein aus allen Abgründen und allen Dissonanzen dieses Lebens herausführen kann, am Platz, jenes Gefühl, das Schopenhauer Pietà genannt hat.

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Einen sehr eigenartigen Typus der Prostitution hat Hans Ostwald in den »Wandernden Frauen der Landstraße« geschildert »Wandernde Frauen«, in der Zeitschrift »Sexualprobleme«.. »Schwer nur kann man sich ein solches Weib vorstellen: Immer auf der Landstraße, ohne Sehnsucht nach einem geregelten Hausstande, ohne Verlangen nach den kleinen geringfügigen Freuden des seßhaften Lebens.« Es sind dieses Frauen, die durch Veranlagung und Belastung zu dem Leben der Straßenmädchen bestimmt sind, die aber zu wenig körperliche Reize haben, um es dabei »auf einen grünen Zweig zu bringen« (!). Ostwald meint zwar, daß es dieser Mangel an Reizen nicht sein kann, denn so groß sei auf dem Liebesmarkt die Nachfrage, daß selbst die Häßlichste Käufer finde. Aber es wird wohl dies sein, daß die Landstreicherin das Bedürfnis hat, während einiger Dauer, vielleicht für Wochen oder Monate, mit einem Mann in einem eheähnlichen Verhältnis zu leben. Das kann sie auf dem Strich der Großstadt nicht finden. Es sei denn etwa in Person des Zuhälters, der sie aber zu aufreibender Permanenzprostitution zwingt, ausbeutet und schlecht behandelt.

Es liegt in diesem Zug, hinaus in die einsame Natur zu gehen, immer der Landstraße nach, direkt mit der Suche nach »Glück«, in Gestalt eines Wanderburschen, wie der poetische Name für diese Erscheinung heißen mag, eigentlich etwas ungemein Rührendes. Und wenn die »Schickse«, wie sie in ihren Kreisen genannt wird, auch in Herbergen und Gasthöfen dem männlichen Dienstpersonal gefällig ist, »um ihrem landstreichenden Begleiter das Leben zu erleichtern«, so ist wenigstens doch er, der temporäre Dauergefährte (scheinbar eine contradictio in adjecto), die Hauptsache in ihrem Leben und nicht die Promiskuität. Ohne Entgelt lebt sie mit ihm, ja sie ist nicht selten die Hauptstütze ihrer gemeinsamen Existenz; sei es, daß sie, wie gesagt, freies Quartier und Abendbrot »verdient«, sei es, daß sie für ihn in den Dörfern bettelt. Sie ist eben, wie Ostwald sagt, »wegen ihrer Unfähigkeit, aus ihrem Geschlecht Kapital zu schlagen, in die Tippelei geraten«. Gerade diese Unfähigkeit aber ist das Rührende. »Nicht einmal zu gleichen Teilen zerlegen sie die Beute; das Beste, die fettesten Bissen, die größten Wurststücke und das ganze Geld bekommt der Scheeks, ihr Begleiter.«

Zu dieser Art Lebensweise verführt wohl auch ein ganz bestimmter pathologischer Trieb, den Dr. Magnus Hirschfeld einmal, in ganz anderer Beleuchtung, bei den oberen Klassen dargestellt hat und den er den Wandertrieb nennt. Derselbe Trieb, der die Angehörigen der besitzenden Stände so vielfach dazu peitscht, immerzu auf Reisen Veränderung zu suchen, / diese Unrast, die gerade, komplizierte Persönlichkeiten mitunter zu einem auffällig ausgedehnten Reiseleben führt, welches, je nach den Verhältnissen, entweder unter Opfern der größten Bescheidung oder auch sehr opulent geführt wird, / ganz derselbe Trieb ist es im Grunde, der ein heimatloses Proletarierweib oder auch einen solchen Mann dazu treibt, zu wandern. Sicherlich spielt die geschlechtliche Abenteuerlust, mehr oder minder bewußt, ebenso wie der Mangel an innerem Frieden überhaupt, die Unfähigkeit beharrlich an einer Arbeitsstätte und in einem bestimmten Pflichtenkreis zu verbleiben, bei diesem Wanderleben mit, ob es nun als Landstreicherei, oder als durchaus von der eigenen Gesellschaftsklasse legitimierte Reiselust auftritt, die dazu jagt, das Heim so oft wie möglich zu verlassen, dem Frühling in den tiefsten Süden entgegenzustürzen, als ob man nicht erwarten könnte, bis er in die Heimat kommt; im Sommer unbedingt der Großstadt »entfliehen« zu müssen, um in teuren Bädern wochen- und monatelang die Zeit totzuschlagen: und in den anderen Jahreszeiten jede Pause im Berufsleben dahin auszunützen, um schnell wieder die Koffer zu packen und sich zu »verändern«.

Diese Unrast (die aber auch okkulte Gründe haben kann: ein Mensch kann z. B. durch den Verrat, der in seinem Heim wohnt, sich darin so unbehaglich fühlen, daß es ihn beständig fortdrängt), kann auf eine bestimmte Periode des Lebens beschränkt bleiben und macht nicht selten, nach einer durchgreifenden Krise, die die moralische Persönlichkeit eines Menschen von Grund aus umwühlt, einem um so festeren Bedürfnis, sich an die Heimat zu klammern, jedes Stückchen des eigenen Heims mit einer Liebe zu umschließen, die man früher nicht kannte, Platz. Alles das sind im Grunde mehr oder weniger Nervenkrankheiten, bei denen auf den Höhen der Gesellschaft, ganz ebenso, wie in den untersten Schichten. Die Formen richten sich nach den umgebenden Verhältnissen, der Trieb ist im Grunde derselbe.

Auf die seltsamste Weise werden Schicksale aus der Bahn geschleudert, und Menschen verfallen dem Untergang, durch irgendeinen Zwang, dessen letzte Ursache ihnen selbst geheim bleibt und der sicherlich meistens Krankheit ist. So kannte ich eine Frau, die aus einfachen bürgerlichen Verhältnissen, aus einer durchaus gutbürgerlichen Familie stammte und mit einem kleinen Gewerbetreibenden in glücklicher Ehe lebte, zumal sie zwei schöne und wohlgeratene Kinder hatte. Plötzlich wurde diese Frau von einem unerklärlichen Trieb befallen, ihr Heim zu verlassen und zu / »wandern«. Hätte sie in größeren Verhältnissen gelebt, so wäre diese Krankheit wahrscheinlich nicht offenkundig geworden und hätte nicht zu so katastrophalen Wirkungen geführt, weil dann eben die Mittel vorhanden gewesen wären, daß die Dame im Frühling nach Nizza, im Sommer nach Ostende, im Herbst in verschiedene Sanatorien und im Winter nach Ägypten »gegangen« wäre. So aber, im Kleinbürgertum, war das nicht möglich, und so mußte sie eben zu Fuß wandern, tatsächlich / auf die Landstraße, wo sie regelrecht als Tippelschickse lebte. Selbstredend kam es zu schnellster Scheidung, sie verlor ihre Kinder, ihren Mann, ihr Heim, ihre Existenz. Auch als ihr die Verwandten die Mittel boten, um in die eigene Familie zurückzukehren, hielt sie es da nicht aus und ging wieder auf die Wanderschaft. Bis zum Ausbruch dieser Krankheit / denn das ist es ohne Zweifel / (dieser Ausbruch erfolgte in der Zeit des Klimakteriums, also im »gefährlichen Alter«) war die Frau eine durchaus ehrbare und anständige Gattin und Mutter gewesen.

Hans Ostwald berichtet, daß man auch häufig in Mittel-, Süd- und Westdeutschland wandernde Mädchenbanden trifft, die singend und musizierend oder auch wahrsagend herumziehen und für jeden, der ihnen ein paar Pfennige zahlt, zu haben sind. Er berichtet auch von einem besonderen Fall, wo eine Frau, einmal durch einen Fehltritt entwurzelt und in ihrem Vertrauen auf den Liebhaber getäuscht, die geschiedene Gattin eines Geheimrats, / die Landstraße unsicher machte, weil sie da am zügellosesten, gänzlich ohne jede Maskierung, sich den brutalsten sinnlichen »Genüssen« hingeben konnte. »Das letzte Schamgefühl hatte sie verloren. Selbst die Gegenwart von Kindern genierte sie nicht. Sie war wegen Ehebruch auf Antrag verurteilt worden. Als sie das Gefängnis verlassen hatte, wollte sie ihr Geliebter nicht mehr kennen. Entwurzelt aus ihrem besten Empfinden, war sie verweht worden …« Alle diese Landstreicherinnen wollen, wie der Verfasser richtig bemerkt, »ihrem Unglück entwandern und schleppen es doch mit sich, von Dorf zu Dorf«. Ganz derselbe Trieb drückt sich in der offiziellen Sitte der besten Gesellschaft aus, nach großen Krisen oder seelischen Erschütterungen, / »auf Reisen Vergessenheit zu suchen«.

Die vornehmen Herren der englischen Gesellschaft gehen, z. B., wenn sie von einer schönen Miß einen Korb bekommen haben, auf die Tigerjagd, oder sie kreuzen mit ihrer Yacht im Mittelmeer. Dieselbe Geschichte dort wie hier, nur ein wenig anders anzusehen, durch die Verschiedenheit der Portemonnaies.

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Diese Sucht, »sich zu verändern«, dieser eingeborne Abenteuertrieb der menschlichen Natur, dieser Erwartungstrieb, in der Hoffnung auf Lusterlebnisse, führt, wenn man ihm nachgibt, in seiner letzten Konsequenz zur geschlechtlichen Libertinage. Hinter der Buhlerei steht, außer einem deutlichen geschlechtlichen Gelüste und der lächerlichsten Sorte menschlicher Eitelkeit, auch noch als Peitsche diese Sucht nach Veränderung, nach Erlebnissen neuer Art. Mit tiefster Psychologie hat ein Gelehrter, Dr. Heinrich Kahane, in einer Schrift, betitelt: »Der defekte Mensch« Moderner Verlag Szelinsky & Co., Wien., als ein Merkmal der hochwertigen, d. h. der wohlgeordneten und gesammelten Natur, die er als lucide Psyche bezeichnet, zum Unterschied von der defekten, / die Stabilität, die Beharrlichkeit, die Abwesenheit der Sensations- und Veränderungsgier, den Mangel an Abenteuerlust und Experimenten gekennzeichnet. Der organisch durchaus gesunden Psyche eignet Stetigkeit, Treue, Geduld und Beharrlichkeit im Aufbau des Gegebenen. Die Buhlerei und die Sucht dazu und alle mehr oder minder geheimen Instinkte, die, mehr oder minder bewußt, auf das Anknüpfen von buhlerischen Beziehungen, auch wenn sie nicht bis zur letzten Konsequenz gelangen, ausgehen, ist eine Grenzerscheinung der Prostitution, von der sie nur eine kurze Linie trennt. Jeder Beginn einer buhlerischen Annäherung muß natürlich sehr schnell zu den äußersten Konsequenzen führen. Unter Buhlerei ist jedes erotische Tändeln zu verstehen, das nicht auf innere Bindung abzielt.

Die Sucht, zu buhlen, verschont nicht die heiligste Stätte, und wer von dieser Sucht besessen ist, der frönt ihr, auch inmitten seines eigenen Heims, am Herd, der das Heiligtum seines Lebens mit der reinsten Flamme nähren soll, ganz ebenso, wie etwa an einer andern Stätte höchster Heiligkeit. Interessant ist es, daß selbst am Grabe Christi sich dieses Treiben breit macht. Der griechisch-katholische Archimandrit Wladimir hat ein Sendschreiben veröffentlicht, in dem er die Orgien schildert, die sich nächtlicherweile in den Pilgerlagern, am Grabe Christi, abspielen, wobei, / wie er schildert, / die Geistlichkeit sehr häufig die Frauen anlockt und, / wie er schreibt, verführt. In den Zellen der Geistlichen werden die Pilgerinnen mit Wein bewirtet, es wird ihnen daselbst Nachtlager angeboten usw. Aus diesem Grunde bittet der Archimandrit, keine Pilgerinnen unter 40 Jahren nach Palästina zu lassen. Er vergißt dabei, daß die Sucht nach Orgien keine Altersgrenze auf der einen Seite und keinen Ekel auf der andern Seite kennt. Die Sexualtriebkraft, einmal aus ihren natürlichen und gesunden Bahnen geschleudert, einmal verjaucht und verschmutzt, durchsickert, als ekler Tümpel, auch noch (und erst recht) das Greisenalter.

Alle Volkssitten und Gebräuche, Volksfeste u. dgl. sind durch und durch mit Prostitution verquickt, wobei die Süchte nach gemeinen Vergnügungen aller Art ihren Gipfel erreichen. Ein Schilderer dieser Erscheinung, Dr. Georg Zepler, spricht in einem einschlägigen Artikel mit Recht von einem angeborenen sozial-sexuellen Vagantentum, das »den Willen zur Prostitution hat«. Wenn er auch damit recht hat, daß sittliche Entrüstung, dieser Erscheinung gegenüber, nichts nützen wird, so hat er doch m. E. nicht recht darin, daß er als das »Heilmittel« (?) die Abschaffung der Reglementierung empfiehlt, eine Schlußfolgerung, die mir, in diesem Zusammenhang, ganz besonders wenig begreiflich ist. Selbst wenn man an die entsetzlichsten Lasterstätten der Welt denkt, etwa an die Bordellviertel von Yoshivara oder in einer südamerikanischen Hafenstadt, so muß man sich sagen, daß es doch noch ein wahres »Glück« ist, daß die Prostitution, die hier ein ganzes großes Stadtviertel für sich bildet, eben in dieses Stadtviertel hineingebannt ist und nicht die ganze Stadt, das ganze Land, die ganze Welt, schrankenlos und ungehemmt, in jedem Sinne, überschwemmt und durchtränkt.

Schopenhauer hat die Prostitution eine Schutztruppe für die Bürgertöchter, und ein anderer Autor hat sie den Abzugskanal für ehebrecherische Gelüste genannt. Vielleicht kommt aber doch eine Zeit, in der das Geschlechtsleben des Mannes solchen von Ratten wimmelnden Kanal nicht mehr begehren und die Bürgertöchter keine Schutztruppe mehr brauchen werden, weil keine von ihnen ihres natürlichen Geschlechtslebens mehr beraubt sein wird.

Die große Kurtisane war ein Wesen, das sicherlich volle Daseinsberechtigung hatte, weil sie einen Typus darstellte, der in die wollüstigste Geschlechtsbeziehung eine geistig und seelisch sehr stark betonte Note hineinbringen konnte, und weil darum eigentlich nicht der Mann, der die grobe Orgie suchte, ihr verfiel, sondern der, der nach höheren Kulturstufen der Erotik verlangte, die er bei einer Ehefrau, deren persönliches Wesen unkultiviert und unentwickelt war, nicht finden konnte. Natürlich artete diese Erscheinung aus, und mit dem Zusammenbruch des französischen Königtums, durch die Mätressenwirtschaft, wurde die »große Kurtisane« endgültig begraben; um so mehr, als aus der Französischen Revolution eine ganze Reihe neuer Menschenrechte hervorging, deren höchstes das Recht der Frau auf die volle Entwicklung ihrer geistigen und sozialen Persönlichkeit ist. Die hochentwickelte und kultivierte Frau machte dem Privilegium der einstigen Hetäre und Kurtisane, die fast allein, unter den Frauen ihrer Zeit, höhere Bildung und Persönlichkeit besessen hatte, ein Ende. So steht heute die Prostitution ihres letzten Zaubers entkleidet da, heute bedeutet sie nichts, als die wüsteste Orgie schlechthin. Sie lebt von atavistisch-geschlechtlichen Trieben des Mannes, die gerade in die Tiefe verlangen, dorthin, wo er allen Kulturballast abwerfen kann, wo das Tier sich schrankenlos gehen lassen darf. Je gemeiner, je schmutziger, je schamloser, je obszöner, desto »verlockender« für das Kontrastbedürfnis des sog. »Kulturmenschen«, der eben doch mit seiner sog. Kultur noch nicht ein einziges, untrennbares, organisches Ganzes geworden ist, sondern sie nur als eine unausweichliche soziale Verpflichtung, als konventionelle Maske mit sich führt.

»Die Gegensätze sind hier wild gepaart.« Wo die Moral nach außenhin am strengsten sich gebärdet, wuchert die Prostitution nicht selten am üppigsten. Die augenzwinkernde Doppelmoral bietet ihr den besten Nährboden. So sind im Orient die Ausschweifungen am rasendsten, ebenso wie die Prostitution von Süditalien und Paris alle Grenzen des scheinbar Menschenmöglichen übersteigt. Nirgends aber sind die Moralbegriffe für die ehrbare Frau strenger als im Orient, und schon je weiter man nach Süditalien kommt, desto mehr macht sich die Zurückhaltung und Abgegrenztheit der anständigen Frau bemerkbar. Auch das konventionelle Leben des jungen Mädchens in Frankreich kennt fast gar keine Freiheiten. Wo das Weib am strengsten gehalten wird, gerade dort ist der Mann meist ohne Grenzen der Ausschweifung ergeben und hat für dieses Bedürfnis natürlich eine besondere Sorte von Frauen, mit denen er es befriedigt. Diese scharfe Zweiteilung ist ein Überrest der Moral des Altertums, welches zwischen Bürgern und Sklaven scharf unterschied, und, um den Strom der sinnlichen Begierden der Männer von den Bürgerfrauen und Mädchen abzulenken, die Prostitution der Sklaven und Sklavinnen einführte. »Solon und Cato waren auf diese Institution stolz. Aber die Theorie war falsch, die Leichtigkeit, zum Geschlechtsgenusse zu gelangen, führte zu Perversitäten, die der Volksgesundheit gefährlich wurden und eine Verweichlichung, Energielosigkeit und schließlich den völligen sittlichen und weiter staatlichen Verfall blühender Staatenwesen nach sich zogen.« Aus einem Vortrag von Senatspräsident Schmölder in der Dtsch. Ges. z. Bekämpfung d. Geschlechtskrankheiten.

Im Mittelalter war die Prostitution beschützt und geregelt und die »Freytöchter« genossen sogar ein gewisses Ansehen, bis / zum Auftreten der Syphilis. Von da an mußte die Promiskuität des Geschlechtsverkehrs geächtet und gefürchtet werden. »Der Aufwand für die Prostitution in Deutschland wird vom Finanzrat Losch auf 300 bis 500 Millionen M. jährlich berechnet. Und hierzu gesellt sich noch ein sinnloser Verbrauch von Alkohol schlechtester Qualität.« Ebenda.

In Amerika hat der junge Rockefeller ein Bureau für soziale Hygiene gegründet, das sich der Bekämpfung des Mädchenhandels widmet. In einer Rede vertritt dieser junge Mann einen Standpunkt, aus dem eine sehr reine Gesinnung spricht, eine Verachtung der »bezahlten Liebe, mit der der Einzelne eine Stunde der Nacht betäubt« und eine Verachtung des Mannes, der diese Institution benützt. Natürlich ist der Verkehr mit der geheimen Prostitution noch viel gefährlicher, als der mit der Berufsdirne!

Bei einer Untersuchung, welche über die Gewerbsunzucht minderjähriger Mädchen angestellt wurde, ergab sich, wie Staatsanwalt Ruprecht in der Münchner medizinischen Wochenschrift hervorhob, als auffälligste Erscheinung die große Zahl der jugendlichen Dienstmädchen, die wegen Gewerbsunzucht zur Anzeige kamen. Von 24 noch nicht 16 Jahre alten Dirnen waren 17 Dienstmädchen, viele vom flachen Lande. Gerade bei dieser Klasse kann man nicht die Not als den Anlaß anführen; denn nach brauchbaren, sowohl wie nach sehr wenig brauchbaren Dienstboten, nach jeder Art häuslicher Dienstarbeit besteht, dem Angebot gegenüber, eine überwiegende Nachfrage. Wer die Verhältnisse in Großberlin z. B. kennt, der weiß, daß diese Mädchen zumeist, von Anfang an, mit der größten Renitenz in den Haushaltungen auftreten, daß sie oft bei gänzlicher Unfähigkeit zu den einfachsten Leistungen im Haushalt die größte Widersetzlichkeit und Widerspenstigkeit zeigen und ein lächerliches Maß von Ansprüchen und Forderungen stellen In der Kriegszeit, als alle Welt sich einschränken mußte, weil die Lebensmittel zum Teil fast unerschwinglich, zum Teil überhaupt nicht zu haben waren, wie z. B. Butter, wollten sich nur die Dienstboten in nichts einschränken, und es kam darüber in den Haushaltungen zu den ärgsten Konflikten.. Der Grundzug ihres Benehmens ist ein auffallend bösartiger, man hat an diesen Leuten, wie schon erwähnt, zumeist den Todfeind und die Prostitution, in ihrer schmählichsten und skrupellosesten Form, im Hause. Die meisten sind auch fortwährend im Wechseln begriffen, und da ein großer Mangel an Dienstboten besteht, so sind sie es, die beständig kündigen und von einem Haushalt in den andern ziehen, solange sie überhaupt sich dazu verstehen, Dienstmädchen zu bleiben. Das typische Dirnenmerkmal: nirgends festen Fuß fassen wollen, fortwährender Wechsel der Beziehungen, kein Heimatsgefühl entwickeln können und wollen und sich möglichst unbegrenzt herumtreiben, / haben die meisten von ihnen. Die Münchener Enquete stellte fest, daß minderjährige Dirnen für unglaublich niedrige Gegenleistungen ihren Körper prostituieren, meistens schon für eine Zeche in einem minderen Gasthaus. Die Untersuchung ergab, daß die meisten von ihnen schon aus einem sittlich verwahrlosten Elternhause stammten, aus ärmlichen häuslichen Verhältnissen, daß bei vielen aber auch keine andere Ursache als der Hang zur Liederlichkeit festgestellt werden konnte.

Das Bedürfnis nach den tollsten Exzessen hat sich, inmitten der Zivilisation, auf der primitivsten Stufe des Urzustandes erhalten. Vergleicht man gewisse Sitten der Wilden mit den Orgien brutaler Art, die sich im Verkehr mit der Prostitution abspielen, so kommt man zu dem Schluß, daß zwischen den wüsten sexuellen Exzessen, die, in Form nationaler und religiöser Feste, bei gewissen wilden Stämmen Brauch sind, und zwischen dem »Vergnügen« der Prostitution kaum ein Unterschied besteht, nur daß die Exzesse der Wilden durch religiösen Aberglauben und Stammessitte legitimiert erscheinen. Und während die glücklicheren Wilden nicht selten glauben, durch eine gewisse Art des Phallusdienstes und ähnliche Ritualien die bösen Geister zu verjagen, so wissen wir, um so deutlicher, daß durch die Loslösung geschlechtlicher Vorgänge von den höheren und höchsten Gefühlen den »bösen Geistern« Tür und Tore der menschlichen Seele geöffnet sind.

Durch Benützung der Prostitution, der maskierten, ebenso wie der direkten, entwickelt sich bei dem Manne, der sie benützt, eine seelische und moralische Krankheit, die ich die geile Sucht nennen möchte, in dem Sinne, wie man von der fallenden Sucht spricht. Die geile Sucht oder die partielle »Liebe« besteht in der Begünstigung des Triebes, sich in jede noch so unsaubere geschlechtliche und personale Vermischung einzulassen, wenn irgend etwas »reizt«: es entwickelt sich die skrupellose Bereitschaft, sich durch jede geschlechtliche Provokation reizen zu lassen und zwar mit völliger Verblendung in bezug auf das provozierende Objekt in toto, d. h.: ist ein Mensch von dieser geilen Sucht befallen, so wird ihn der volle Busen irgendeiner schmutzigen Dirne oder der in hohen Hackenschuhen daherklappernde Fuß irgendeines Laufmädchens oder das in engem Humpelrock sich markierende Hinterteil einer vorbeikommenden weiblichen Person von der Straße oder der geile Blick einer Dienstmagd, kurzum alles und jedes, was darauf hindeutet, daß diese Person zum Geschlechtsverkehr zu haben ist, blindlings reizen, und zwar wird er von dem partiellen »Reiz« derartig besessen sein, daß er das Objekt in toto, d. h. die ganze Erscheinung und Wesensart dieser Person überhaupt nicht mehr sieht und beachtet. Nur so ist es zu erklären, daß Männer sich mit Frauenspersonen in intimste körperliche Vereinigung einlassen, die vor Schmutz übelriechen, die, ihrer ganzen Körperlichkeit nach, direkt ekelhaft sind, ganz abgesehen davon, was sie sonst, als Mensch, darstellen. Denkt man an derartige Möglichkeiten, so hat man die Vorstellung, als ob jemand eine Klosettbürste herzen und liebkosen würde … Die geile Sucht ist entschieden als eint Krankheit aufzufassen, die mit unter die Perversitäten zu rechnen ist; wohin sie eingeordnet werden soll, das überlasse ich den Spezialforschern. Genug, diese Krankheit ist ein Merkmal schwerer Degeneration und besteht in der Willigkeit jeder geschlechtlichen Provokation gegenüber, in der Erregung der libido durch partielle Reize, mit völliger Hintansetzung einer Beurteilung des Objekts im ganzen, / eine Krankheit, die zu einer Pest der Seele wird, die ärger ist wie die Läusesucht. Denn von der Sorte Mann, die in diesem Punkt krank ist, die jede noch so schmutzige und noch so erbärmliche Dirne zur geschlechtlichen Vereinigung verführen kann, deren geile Brunst in verborgenem, dumpfem Geschwäle sich überall entzündet, wo irgendein Geschlechtsorgan primärer oder sekundärer Art sich aufdringlich erkennbar macht, / ist nichts Gutes zu erwarten, diese Art Männer sind ungeeignet für die höhere und höchste Form des menschlichen Geschlechtsslebens, vor allem für die Ehe. »Gefesselt« und beherrscht wird diese Sorte Mann nur durch den Dirnentyp. Zum Glück wächst heute ein Geschlecht von jungen Männern heran, das über diese Dinge nachgedacht hat und eine Moral, welche dem Mann erlaubt, eine Kloake aus sich zu machen, verabscheut, / eine neue Männerjugend, die sich rein erhalten will.

Die geborne Dirne provoziert den Mann, der nicht von einem bestimmten Willen zur Selbstbewahrung erfüllt ist, auch in Verkleidungen, durch die sie ihr Dirnentum maskiert. Die Provokation liegt in ihrem Auftreten. Ihr Benehmen, ihr geiles Lächeln und schon ihr Blick ist eine geschlechtliche Beziehung; und zwar eine, die völlig jenseits steht von einer subjektiven und individuellen Auslese, eine Beziehung, die einfach den Geschlechtsorganen und ihrer Betätigung gilt. Darum hat man ein derartiges Benehmen »gemein« genannt, darum empfindet jeder Mensch, er mag noch so verderbt sein, daß ein Weib oder auch ein Mann gemein ist, der für derartige Beziehungen zugänglich ist. Noch unsäglich widerwärtiger ist dieser Typus, ins Männliche übersetzt, der jedes Weib mit seinen Blicken entkleidet und umzüngelt, im buchstäblichen Sinne, der von »Zunge« hergeleitet ist. Es gibt Männer, die mit ihren Blicken jedes Weib belecken. All das Hinüberspielen dieser Vorgänge, die aufs Tiefste an die Wurzeln des Lebens rühren, ins Possenhafte, ins Leichtsinnige, in die ganze obszöne Lustigkeit, von der diese Vorgänge begleitet zu sein pflegen, ist gegen die Natur.

Die Buhlerei ist eine Grenzerscheinung der Prostitution, ja schon das »angangbare«, buhlerisch-agressive Benehmen, die Überschreitung der neutralen Sphäre, die Menschen wohl im Geiste verbinden, aber als Geschlechtswesen scheiden soll, ist charakteristisch und leitet den Akt, der der Höhepunkt vollendetster Intimität sein soll, auf obszöne, abgekürzte Art ein.

Wer von dieser Sucht besessen ist, der wird sich auf Schritt und Tritt wegwerfen. Denn er ist verführbar durch die an sich geringwertigsten, partiellen Reize. Er wird nach und nach zum Fetischisten für alles. Ein freches Gesicht, ein koketter Blick, kurz die dirnenhafte Bereitwilligkeit im Wesen der andern Person wird ihn dahin bringen, das Heiligtum des eignen Selbst, an dem vielleicht die reine Liebe und der beste Glaube eines anderen Menschen hängt, in jeden schmutzigen Tümpel fallen zu lassen. Jede einheitliche Bildung des Charakters wird dadurch ausgeschlossen, das Gesicht eines solchen Menschen wird ein Spiegel seines Lebens; es wird etwas Verschmutztes und Unfreies bekommen, seine ganze Natur etwas Muckerisch-Duckmäuserhaftes, Gedrücktes, Boshaftes, weil sie so viel zu verbergen hat oder, je nach Temperamentanlage, auch etwas Brutal-Zynisches. Die Folgen, die sich für die Frau ergeben, die auf diesen Weg geraten ist, verlaufen meist als kurze Schreckenslinie, / durch eine Reihe von Abenteuern zum Untergang. Für den Mann, der diesen Weg geht, ist in unzähligen Fällen eine ganz besondere Nemesis aufgespart: es entstehen für ihn Verbindlichkeiten katastrophaler Art dort, wo er am wenigsten sich in Verbindlichkeiten einlassen wollte, z. B. Schwängerungen oder Beseitigung der Folgen, die ihn zu einer Person, mit der er nur ein geiles Spiel beabsichtigte, in schwerwiegende Kontribution setzen, während die erotisch-soziale Beziehung seines Lebens, die Ehe, über kurz oder lang zusammenbrechen muß. Er verliert ein Gut, das er sich mit Überlegung gewählt hat, um nicht selten an der Leimrute einer Dirne kleben zu bleiben.

Darum hat ein italienischer Gelehrter, Prezzolini, mit dem Grundsatz, den er aufstellt, recht: Erwähnt in einem Artikel von Prof. Michels. »Es ist uns noch nicht damit geholfen, zu sagen, Unzucht ist schädlich; wir müssen auch sagen, Unzucht ist schlecht, und müssen diese These erklären können. In dieser Erklärung, die einen ethischen Imperativ in sich schließt, liegt unsere Aufgabe für die Zukunft.« Nicht nur, daß dieser Satz richtig ist, so ist er auch sogar in seiner Umkehrung noch richtig; denn wir können ganz ebenso sagen: es ist uns noch nicht damit geholfen, zu erkennen, Unzucht ist schlecht, sondern wir müssen auch erkennen, Unzucht ist schädlich, und müssen diese These erklären können. Dieser Versuch, die Schädlichkeit der Unzucht zu erweisen, wurde hier gemacht.

Nicht, wie so viele moderne »Reformatoren« glauben, die Ehe, / sondern die Hurerei und Buhlerei ist das Übel der Welt, das, was die Schrift als Satan, die alte Schlange, charakterisiert und worüber die Apokalypse die Schale des Zorns ergießt: »Und ich sah ein Weib sitzen auf einem scharlachfarbenen Tier, das war voll Namen der Lästerung und hatte sieben Häupter und zehn Hörner. Und das Weib war bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergüldet mit Gold und edlen Steinen und Perlen und hatte einen güldenen Becher in der Hand, voll Greuels und Unsauberkeit ihrer Hurerei und an ihrer Stirn geschrieben einen Namen, ein Geheimnis: Die große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden.« Warum die Unzucht das Übel der Welt ist, das läßt sich erklären: Weil sie kein Glück in die Welt bringt, / für niemanden, vielmehr das Glück / vernichtet.

IV.
Reformen in weiterem Sinne

Wer je die verheerenden Mächte der sexuellen Einflüsse aus der niederen Sphäre beobachtet, wer gesehen hat, wie eine Dirne rattenhaft eine Ehe unterwühlen und einen Mann ruinieren kann, der heimlich zu ihr in Beziehungen steht, durch die er mehr und mehr demoralisiert, der muß es als einen schweren Mangel in der Gesetzgebung empfinden, daß gar keine gesetzlichen Handhaben da sind, typische Dirnen- und Verbrechernaturen, die verheerend ins Eheleben eingreifen, sofort, auf den Antrag eines Gatten, zu entfernen (Abschub in die Heimat). Die Tatsache der Zerstörung einer Ehe müßte strafrechtlich verfolgbar sein. Es ist durch das Gesetz die Möglichkeit gegeben, Ehebruch bestrafen zu lassen. Aber diese Möglichkeit genügt nicht, da sie erst nach erfolgter Scheidung gegeben ist und da der Antrag auf Bestrafung gegen beide Teile, d. h. gegen den einen Gatten und die Person, mit der er die Ehe brach, erfolgen muß. Ich habe im ersten Teil dieser Untersuchung »Die sexuelle Krise.« gesagt, daß es vollständig gegen die Scham geht, einen Gatten, der die Ehe brach, durch Gefängnis dafür bestrafen zu lassen. Und weil ich auf demselben Standpunkt auch heute noch stehe, darum sehe ich um so deutlicher, daß mit dieser gesetzlichen Handhabe, die nur gegen beide Teile angewandt werden kann, gar nichts gewonnen ist; am wenigsten nach der Scheidung, wenn der Ruin der Ehe schon perfekt ist. Ein solches Vorgehen qualifiziert sich nur als Racheakt, hat gar keinen moralischen Wert und dient in keiner Weise als Schutz- und Rettungsmaßregel. Eine solche aber wäre zu schaffen und manche Ehe wäre zu retten, wenn die Zwangshypnose einer ehebrecherischen Buhlerei rechtzeitig gebrochen werden könnte und wenn die Mächte des Staates, anstatt hier vollständig zu versagen, ihres Amtes walten würden. Sexuelle Hörigkeit ist die meistverbreitete »Männerkrankheit« unsrer Zeit; vielleicht hat der Krieg als eine furchtbare »Kur« gewirkt. Fragt man sich nach jenen Ursachen des Krieges, die geheim hinter den sichtbaren Erscheinungen liegen, so muß man anerkennen, daß schon diese grauenhafte Verwüstung des Geschlechtslebens es notwendig machte, daß der Mann in seiner Gesamtheit wieder einmal in eine Situation gebracht wurde, in der er dem letzten Ernst gegenüberstand, in der alle Schrecken der Vernichtung auf ihn einstürmten. Er hatte die Kraft, die das Leben zeugt, zu sehr mißbraucht, er mußte der Macht des Gegensatzes, des gewaltsamen Todes, gegenübergestellt werden …

Eine Reform, wie die oben skizzierte, ließe sich durchführen, auch ohne Mißgriffe. Eine Person, die mit einem verheirateten Mann oder einer verheirateten Frau im Ehebruch lebt, sollte, auf Antrag des anderen Gatten, so lange ortsverwiesen werden, bis die Scheidung durchgeführt ist. War es ein Herzensband, so wird es dadurch nicht vernichtet. Bestand die Macht aber nur in sexueller Faszination, so wird sie, durch die Trennung, voraussichtlich erschüttert. Bedenkt man, daß bei Scheidungen die schwierigsten vermögensrechtlichen Verhältnisse zu ordnen sind, daß insbesondere das Vermögen der Frau meistens in den Händen des Mannes liegt und daß sie, da er es ja meist nicht in bar und ganz zurückerstatten kann, wie der Wortlaut des Gesetzes es erfordert, auf Kontraktabschlüsse mit ihm angewiesen ist, so kann man ermessen, zu welchen Ausartungen und Kämpfen es kommt, wenn der Mann in den Händen einer Dirne und durch den Verkehr mit ihr meist vollständig demoralisiert, ja für gerechte und loyale Verhandlungen absolut unzugänglich ist; da die Dirne hauptsächlich darauf ausgeht, den Geldbeutel des Mannes für sich zu gewinnen, so tut sie alles nur Erdenkliche, um sein Pflichtgefühl, seinen bisherigen Angehörigen gegenüber, zu verwirren und zu schwächen. Mehr und mehr und Zug für Zug handelt der Mann, unter solchem Einfluß, gewissenlos und sucht sich mit dem größten Zynismus allen Verpflichtungen zu entziehen. Die Scheidung, die eingeleitet wurde, weil persönliche Herzensangelegenheiten oder sexuelle nicht mehr stimmten, weil sich der eine Gatte von dem andern Gatten abgewandt und sich einer fremden Person zugewandt hatte, die Scheidung wird nun zu einem mörderischen, gemeinen Prozeß, in bezug auf Geldfragen, auf Vermögens- und Unterhaltsanspruch. Denn, lebt der Mann mit der Dirne, die diesen Ruin herbeiführte, so ist ihm meistens kaum beizukommen. Die Nächte mit ihr wirken in seinen Tag hinein.

In solchen Fällen, wo eine anständige Einigung nicht erfolgen kann, / und es sind 99 von 100 Fällen, in denen meistens sich die Frauen, schon mürbe gemacht, mit einem Bruchteil ihrer Rechte abfinden lassen und auf Abschlüsse eingehen, die zum Ruin ihres Lebens werden, / müßte, auf Antrag des einen Ehegatten, die Person, mit der der andre Teil im Ehebruch lebt, entfernt werden können. Mit diesem Recht ausgestattet, hätte dann eine Frau die Handhabe, einen Abschluß der Vermögensfrage, ohne mörderisches Gezerre, herbeizuführen, / ohne daß des »Ehemannes« zweites Wort lauten kann, / weil sie ihm einmal ihr Vermögen anvertraute: / »Ich habe dich in der Hand!« …

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An ideologischen Reformvorschlägen, der Prostitution gegenüber, hat es gerade unsrer Zeit nicht gefehlt. Man wollte die Prostitution nicht nur retten, sondern auch »erwecken« und sie methodisch zur Hüterin der geschlechtlichen Gesundheit erziehen. Man vergaß die Kleinigkeit, daß, mit der Erweckung ihres moralischen Bewußtseins, ihre Funktion als Prostituierte ihr fürder unmöglich würde. Eine bewußte und moralisch hochstehende Dirne ist eine contradictio in adjecto. Und das Wesen der Prostitution liegt eben darin, daß hier das Geschlecht an sich, in seinen wüstesten Trieben, sich betätigen kann, ohne durch geistigen oder moralischen Einfluß irgendwelcher Art »getrübt« zu werden. Daß dieser Druck und Zwang: hier hast du als ein anständiger Mensch aufzutreten! fortfällt, / davon, von der Aufhebung dieses moralischen Imperativs, der sonst dem Mann in seiner ganzen, oberen Lebenssphäre gestellt wird, lebt die Prostitution. Andrerseits wieder wollte und will man sie von jeder Kontrolle »befreien«; während man Gesundheitsatteste für Eheschließende fordert, also die junge Braut der sanitären Geschlechtskontrolle aussetzen will, / die Dirne aber nicht!

Die Prostitution wird sich zu einer »Organisation« nicht gewinnen lassen, denn Organisation beruht auf einem ehrenvollen Klassengefühl, und dieses ist bei dieser Betätigung niemandem zu suggerieren. Wenn es gelänge, dieses Menschenmaterial, die Prostitution, zu bearbeiten, zu interessieren, zu geistiger Teilnehmerschaft an den sie betreffenden Problemen heranzuziehen, so hätte man, ohne Zweifel, eine große Kulturtat vollbracht, die aber sicherlich identisch wäre mit der Abwendung der auf diese Art bearbeiteten Schichten von ihrem bisherigen Treiben und Sein. Im allgemeinen werden Mädchen, die sich zum Dirnentum eignen, für gar keinerlei geistige oder moralische oder soziale Betrachtungen irgendwelcher Dinge und Fragen zu haben sein, denn ihr Mangel an allen Wesenszügen, außerhalb des rein Geschlechtlichen, prädestiniert sie ja eben zu ihrem »Beruf«. Sie interessieren sich für nichts, als für geschlechtliche Vorgänge, und alle ihre Beziehungen zu Menschen bzw. zu Männern laufen auf diesen Vorgang hinaus, der dann wiederum als Mittel zu materiellem Gewinst benützt wird. Nur die verlarvte Dirne, die noch mit der Hälfte oder einem Bruchteil ihrer Existenz einen sozialen Deckberuf als Schild über sich breitet, wird sich, indem sie eine scheinbar monogame Liebesbeziehung pflegt, (die sie aber heimlich fortwährend bricht), auch für irgend etwas allgemein Menschliches, hie und da, interessieren lassen oder vorgeben, sich dafür zu interessieren, um die Ehe, die sie mit allen Mitteln, als Terrain für weitere »Chancen«, erstrebt, zu erreichen. Man hofft, von seiten der Sozialisten, daß der Prostitution durch die »freie Liebe« der Boden entzogen wird. Hier sind aber die Grenzen so fließend, daß wir diese Hoffnung nicht teilen können. Wer allzu »frei« liebt, der wird, durch den Mangel an innerer und äußerer Bindung, zu einem schnellen Wechsel seiner intimsten Beziehungen gelangen. Dadurch aber wird sein geschlechtliches Ehrgefühl immer stumpfer, seine Auswahl immer weniger spröde, und die Gefahr der vollständigen Promiskuität liegt nahe. Das Geschlechtsleben soll auf Bindungen hinzielen, auf Bindungen äußerer und innerer Natur, aber womöglich so, daß die Frau nicht die bedingungslos Abhängige ist, daß also ausgiebige gesetzliche Sicherungen, dem Manne gegenüber, ebenso wie ein vollwertiger Mutterschutz, ergänzt durch hochgewertete Berufsarbeit der Frau, sie jederzeit unabhängig machen. Mit Recht weist eine Frauenführerin, Dr. Käte Schirmacher, einen Standpunkt wie den der früher gekennzeichneten Reformatoren mit Ironie zurück: »Von der Erringung einer hochgebildeten, gesundheitlich ganz ungefährlichen und völlig wohlerzogenen Prostitution haben uns die Herren bereits in mehreren ernsthaften Kongressen ebenso ernsthaft wie aufrichtig unterhalten.« Und sicherlich in höchst wissenschaftlicher Formulierung!!

Denn es ist geradezu charakteristisch für unsere Zeit gewesen, daß sich die unglaublichsten Feststellungen und »Forderungen« und Erscheinungen mit den wohlklingendsten und imponierendsten, wissenschaftlichen Definitionen drapierten. In Deutschland konnte man alles »fordern«, wenn es nur »wissenschaftlich« geschah. Besonders die medizinisch-klinische und die folkloristische Terminologie lieferte hier die herrlichsten lateinischen Namen und damit Schilder für die abscheulichsten Verirrungen des Geschlechtslebens. Daß man damit die höllischesten Ausartungen geradezu legitimiert, das erscheint mir allerdings als eine Art Gefahr. Besonders deshalb, weil die nur »fachhafte«, klinisch-medizinische, ebenso wie die folkloristische Darstellung dieser Dinge meist ein sachlich nicht ganz unbefangenes Publikum hat. Hier läuft sogar viel verkappte Pornographie, unter wissenschaftlicher Flagge, direkt mit unter.

Eine Reform der Prostitution gibt es nur durch eine Reformierung der Reglementierung in hygienischer, pädagogischer und humanitärer Art. Eine Bekämpfung der Prostitution liegt nur in einer Anstrebung gesünderer Verhältnisse für die breiten Schichten und natürlich auch in einer entsprechenden Erziehung / besonders der männlichen / Jugend. Alles, was den Abscheu und den Ekel vor Paniximie befördert, soll der Jugend eindringlich vor Augen geführt werden, und, womöglich in den Schulen schon, sollen die furchtbaren Gefahren der Geschlechtskrankheiten anschaulich illustriert werden, mit Anwendung aller modernen technischen Hilfsmittel, z. B. mit Vorführung von Tabellen und Wachsmodellen, die das Wesen dieser Krankheiten darstellen.

Charakteristisch für den entgegengesetzten Geist, der über die Nachtseite der Gesellschaft krampfhaft Tücher deckt, ist die Tatsache, daß aus der Hygieneausstellung in Dresden die Tabellen, die die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ausgestellt hatte, entfernt werden mußten. Die sexuelle Heuchelei ist die beste Nährstätte der heimlichen Entartung. Man muß die Jugend und nicht nur die Jugend, sondern vielleicht alle Menschen, die der Führung Anderer, Bewußterer bedürfen, »aufklären«, / aber nicht in flach rationalistischem Sinne, / sondern indem man ihnen eine Ahnung, einen Instinkt dafür gibt, daß es sich hier um dunkle und überaus mächtige Gewalten der Natur handelt und daß von diesen Strömungen des Geschlechtswillens das Schicksal selbst getragen wird. Eine nüchterne Pädagogik, ein altjüngferliches Puritanertum, weltfremde Forderungen nach einem Zölibat von unbegrenzter Dauer u. dgl. wirken nicht und werden niemals wirken dort, wo die Brünste brennen. Nur tiefstes Verständnis, die weiseste Führung der Liebe und die im richtigen Moment einsetzende Erweckung des Ekels, die vor dem schaurigsten Ausdruck den schauerlichsten Vorgängen gegenüber (aus pädagogischen Gründen) nicht zurückschreckt, sind hier, wie ich glaube, das Richtige.

Hinton, ein englischer Schriftsteller, sagt in seinen Schriften, die unveröffentlicht sind und die Ellis zitiert: »Einen Teil der weiblichen Bevölkerung ohne Aussicht auf Verheiratung zu lassen, bedeutet das Dasein der Prostitution, d. h. von Weibern als Werkzeugen der bloßen männlichen Sinnlichkeit, und d. h. in ihnen jede wahre Liebe und jede Fähigkeit dafür vernichten.«

Kolonisierung frauenarmer Länder andrer Weltteile mit dem Frauenüberschuß Europas ist ein wichtiger Programmpunkt eines Systems der Sanierung des Geschlechtslebens.

Ellis erinnert an das berühmte Beispiel, das Herbert Spencer gibt, das Beispiel von der verbogenen Eisenplatte: »Bei dem Versuche, die Platte wieder eben zu machen, ist es nutzlos, auf den aufgebeulten Teil direkt loszuhämmern; wenn wir uns darauf beschränken, so machen wir die Sache nur schlimmer; wenn das Hämmern Erfolg haben soll, so muß es ringsum, nicht direkt auf die unerwünschte Erhebung, die wir zu reduzieren wünschen, ausgeführt werden. Diese elementare Regel haben aber die Moralisten nicht begriffen. Der einfache, praktische, vom gesunden Menschenverstände geleitete Reformer, / der er zu sein glaubte, / hat, von der Zeit Karls des Großen an, seine schwere Faust immer direkt auf den Knubben niedersausen lassen, hat die Prostitution, um einen anderen modernen Ausdruck zu gebrauchen, einfach »zerschmettern« wollen, und hat die Sache immer nur böser gemacht. Nur dadurch, daß wir behutsam und gelassen außerhalb und im Umkreis des Übels wirken, können wir hoffen, es schließlich zu vermindern.«

Reformvorschläge, die einzig auf größere Hygiene, unter Beibehaltung aller anderen Verhältnisse auf diesem Gebiet, ausgehen, verkennen den Geist und das Wesen der kommenden Zukunft. Deren Geist spricht aber aus deutlichen Anzeichen, er spricht aus der Jugend; er spricht aus der Rede des jungen Rockefeller, ganz ebenso wie aus einem erfreulichen Bekenntnis der Hallenser Studentenschaft. Vor einiger Zeit hatten 20 Hallenser Frauenvereine ein Gesuch um Aufhebung der Hallenser Bordelle an den Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung gerichtet. Daraufhin hat der allgemeine Studentenausschuß, in dem 60 Korporationen und eine größere Zahl Nichtinkorporierter vertreten sind, sich spontan an Magistrat und Stadtverordnetenversammlung gewandt, mit der Bitte, daß diese Behörde sich bei der Frage betr. Beibehaltung der Bordelle nicht etwa durch den Gedanken leiten lassen möge, daß deren Beibehaltung, um der Studentenschaft willen, notwendig sei.

Das sind Reformströmungen, die tatsächlich den Tag verheißen. Denn alle Forderungen nach einer Reinhaltung des Liebestriebes können in ihrer Durchführbarkeit und ihrem Ernst bezweifelt werden, wenn sie von älteren Menschen ausgehen, die entweder schon jenseits aller Anfechtungen stehen, oder deren Geschlechtsbedürfnis durch eine gute Ehe geregelt ist. Wenn aber junge, heiße Menschen, für deren Triebbefriedigung in keiner Weise vorgesorgt ist, dennoch den gewaltigen sexuellen Idealismus aufbringen, um in dieser Weise Stellung zu nehmen und dadurch bekunden, daß sie ihr Geschlechtsbedürfnis nicht von ihrem höheren Liebesbedürfnis trennen wollen, so haben wir hier den Versuch vor uns, den die Jugend selbst unternimmt, um den furchtbarsten Zwiespalt natürlicher und kultureller Bedürfnisse, im Sinne einer höheren Entwicklung, zu entscheiden.

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Es wurde festgestellt, daß die meisten von denen, die von dem Gewinn der Prostitution leben und hohe Dividenden aus dem Geschäfte einstreichen, nichts von Kuppeleigesetzen zu fürchten haben. Denn es sind dies die Leute, die die Mädchen in den verschiedenen industriellen Betrieben, durch niedrige Entlohnung, zur heimlichen Prostitution indirekt nötigen und nur auf diese Art so billige Arbeitskräfte haben können. In einem englischen Buch: »Der weiße Sklavenmarkt«, werden diese Stützen der Gesellschaft charakterisiert:

»Es sind Damen und Herren, Geistliche, Bischöfe, Richter, Parlamentsmitglieder, Damen mit hohen Verbindungen, die Führer der hohen Gesellschaft in Bischofssitzen, adlige Herren und Damen und die Stützen des soliden bourgeoisen Puritanismus. Diese Leute besitzen Anteilscheine von industriellen Unternehmungen, wo Frauen und Mädchen beschäftigt werden Dasselbe hat Bernard Shaw in seinem Stück »Frau Warrens Gewerbe« entwickelt.. Tausende dieser Frauen und Mädchen erhalten Löhne, von denen sie sich nicht ernähren können und werden mit geringerem persönlichen Respekt behandelt, als irgendeine Prostituierte … Der Lohn der Prostitution ist in deine Knopflöcher genäht und in deine Bluse, ist auf deine Streichholzschachtel und Nadelbüchse geleimt, in deine Matratze gestopft, mit der Farbe an deinen Wänden gemischt und steckt zwischen den Verbindungsgliedern deiner Wasserröhren. Selbst die Glasur an deinem Napf und deiner Kaffeetasse enthält das Bleigift, das man der anständigen Frau als Belohnung für ehrliche Arbeit bietet, während ihr die Kupplerin gebratene Hühner und Champagner anbietet … Und was bietet man den Mädchen dafür an, daß sie die Straße verlassen? Ein frommes Asyl für Gefallene; einen Ort, wo unter einem Dach womöglich die Habgier der Schwitzhöhle mit der Grausamkeit des Gefängnisses und der moralischen Verdammnis, die die Selbstachtung unmöglich macht, vereint ist. Vom Regen in die Traufe hat nicht viel von Rettung an sich.

Es gibt nur ein, nur ein einziges Heilmittel für den Mädchenhandel. Macht es durch die Erlassung eines Minimallohngesetzes und durch die Fürsorge für die Arbeitslosen unmöglich, daß eine Frau gezwungen ist, zwischen der Prostitution und der Not zu wählen.«

Die Verheerung, die die Prostitution an den Frauen anrichtet, die sie ausüben, ist ja etwas so allgemein Bekanntes, daß man darüber nicht viel zu sagen braucht. Nicht so bekannt ist aber die Verheerung, die die Trennung des Geschlechtstriebes von den höheren und höchsten Gefühlen, mit denen er verbunden sein soll, bei dem Manne anrichtet, der sich erst an diese Art von Geschlechtsverkehr gewöhnt hat. Wer diesem Trieb erst Macht über sich gegeben hat, der wird dann auch nimmermehr eine monogame Ehe rein erhalten können, auch wenn sie aus freiester Herzenswahl geschlossen wurde. »Denn dieser Trieb, Astartes, ist überhaupt nicht zu ›befriedigen‹, er ist unersättlich.« Strindberg. Wer diesen Trieb im Leibe hat, der wird in den Sumpf steigen, ohne jeden Anlaß, der ihn dazu zwingen könnte; ein solcher Mann wird z. B. auch dann die Orgie suchen, wenn er in keiner Weise »entbehrt« d. h. die Frau besitzt, die er liebt und mit ihr nicht etwa neumalthusianistisch, sondern ungehemmt, auf natürliche, vollerfüllte Art, verkehren kann. Trotzdem zieht es ihn, wenn sein Geschlechtsgefühl verdorben ist, zu Exzessen gemeinster Art.

Von der Manneskraft und Männerreinheit einer jungen Generation hängt das Glück dieser Frauengeneration und insbesondere die Bildung der künftigen Rasse ab. Man muß darum dem jungen Manne möglich machen, in jenen Jahren, in welchen das erotische Bedürfnis auf dem Höhepunkt ist, ein junges Weib seiner Wahl zu lieben und zur Mutter zu machen und muß grundsätzlich die Erfüllung des Liebestriebes nicht von der sozialen Vollreife des Mannes, die ums 40. Jahr herumfällt, sondern von der sexuellen Vollreife abhängig machen, / also Frühehe und Mutterschutz, sowie weibliche Selbständigkeit, außerhalb der Mutterschaft, ermöglichen. Nur ein soziales System, in dem sich diese drei Faktoren, zu denen sich, als vierter, zeitweiliger Neumalthusianismus hinzugesellt, systematisch verbinden, kann, nach und nach, die Prostitution, sowohl in ihren krassen und brutalen unverhüllten Formen, als auch in ihren verschiedenen gefährlichen Verkleidungen, entbehrlich machen, zum mindesten sehr einschränken, weil erst im Rahmen dieses Systems ein ganz neues Geschlecht aufwachsen kann, welches nicht den niedersten Süchten von früh an durch Gewöhnung und erbliche Anlage verfallen ist.

Vielleicht kommt dann auch eine Zeit, die nicht jährlich 60 000 blindgeborne Kinder venerischer Eltern in ihren Statistiken verzeichnen wird und in der nicht die Überzahl der Witwen ihren Mann durch progressive Paralyse verloren hat, die, als späte Folge seiner »Jugendsünden«, dem Leben des Durschschnittsmannes ein vorzeitiges Ende zu machen pflegt.

Zu diesem System der Genesung und der Hygiene der Geschlechtsverhältnisse, auch in moralischem Sinne genommen, kann nur ein Bruch mit der bisher von der Gesellschaft geduldeten Doppelmoral der Geschlechter führen.

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