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Die kleine Gebirgsstraße kletterte immer steiler, steiniger und reicher an Windungen am Hang empor. Jetzt zwängte sie sich zwischen mannshohe Steinriegel.

Professor Kröner fuhr mit größter Vorsicht. Der mächtige Kraftwagen war wohl für schnelle Fahrten auf glatten Fernverkehrsstraßen berechnet, nicht aber für das Steingewirr tirolischer Gebirgskarrenwege.

Trotzdem schob sich das Gefährt mit ruhig arbeitendem Motor gleichmäßig aufwärts. Jedesmal, wenn ein Rad von einem der querliegenden Steine in die nachfolgende Furche hinabschlug, klang vom Kofferraum und von den beiden Rücksitzen, auf denen sich umfängliche schwarze Kisten wiegten, ein leises Klirren wie von feinem Glas.

Dann verstärkte sich jedesmal die Unmutsfalte auf der Stirn des Professors, der seine Augen gespannt vorauseilen ließ, um etwa entgegenkommende Fahrzeuge schon auf größere Entfernung zu warnen.

Ein Ausweichen wäre unmöglich gewesen. Der große Reisewagen füllte die Breite des Hohlweges. Die trockenen Disteln, die sich aus den Ritzen der Steinriegel herausreckten, zeichneten in die weißgraue Staubschicht des Wagens seltsame Striche und Bänder ein.

Eine Lücke im Mauerwerk gewährte für Sekunden einen Ausblick auf rotbraun gebrannte, dürre Wiesen, über die ein zierlich nadelspitzer Kirchturm emporstieg.

»Gott sei Dank«, murmelte Professor Kröner. Über sein kühn geformtes und braungebranntes, fast noch jugendlich anmutendes Antlitz rann unter der Autokappe hervor der Schweiß in hellen Tropfen auf den Staubmantel herab. Er war sichtlich müde.

Nun schob sich eine strohgedeckte Scheune dicht an die Straße heran. An der wetterzerwirkten und flechtenüberwachsenen Wand des alten Gebäus gab ein kaum lesbares schwarzes Schild an, hier beginne die Ortschaft Oberflins.

Über ein Zaungatter glotzte ein Fohlen, das im nächsten Augenblick mit erschrockenem Aufwiehern davonhopste. Zwischen verkrüppelten Obstbäumen wühlten Schweine im staubtrockenen Boden.

Professor Kröner hob den Kopf …

Was bedeutete das?

Etwa dreißig Schritte vor ihm war an der Straßenecke ein Mann in Bauerntracht aufgetaucht, der ihm lebhafte Zeichen machte, sein Tempo zu beschleunigen.

Professor Kröner gab Gas und sah sich, an dem kurzbeinigen Winker vorüberfahrend, plötzlich einer Reihe von Wagen gegenüber, die anscheinend nur darauf warteten, die Talfahrt zu beginnen.

Erstaunte Bauerngesichter starrten den staubgrauen Reisewagen an, der sich an den aufgeregt zitternden Pferden vorüberschob. Aber da war schon wieder der kleine Mann von früher da, der die Pferde beruhigend tätschelte, den Bauern ermunternde Worte zurief und dann, unglaublich geschwind vorauseilend, den Kraftwagen seitwärts einwies und das Zeichen zum Halten gab.

Professor Kröner bremste.

Im gleichen Augenblick war auch schon der geschäftige Helfer zur Stelle und zog den Filzhut ab, so daß ein freundliches, mit Sommersprossen übersätes Vollmondantlitz sichtbar wurde, über dem schütteres rötliches Haar wie eine etwas kümmerliche Bürste steil emporwuchs. Zwei treuherzige blaue Augen sahen Professor Kröner fragend an.

»Herr Professor Kröner?«

»Jawohl, das bin ich.«

Das Vollmondantlitz erstrahlte vor innerlicher Freude. »Herrschaft! Hab i also doch recht ghabt! Doktor Müller, mein Name.«

Nun flog auch ein freundliches Lächeln über die müden Züge des Professors. »Prachtvoll, Herr Doktor! Das ist ja reizend, daß Sie mich gleich hier auf der Straße in Empfang nehmen. Ihnen verdanke ich es ja wohl auch, daß sich diese urweltliche Karawane hier versammelt hat.« Er wies, aus dem Wagen steigend, auf die Reihe der Fuhrwerke, die sich eben jetzt schwerfällig in Bewegung setzte.

Dr. Müller lachte. »Da hätten S' a Gwürgst ghabt, Herr Professor, wenn Ihnen de Wagerln auf dem Straßl entgegengekommen wärn. Wenn Ihr Wagen net a so gute Stimm hätt und die Bergwand da drüben net so a tadelloses Echo, wär i vielleicht auch net aufmerksam gworden und Sie hätten zruck ins Tal fahren müssen. Bei uns da ist das Autofahren no a halbes Märchenwunder. Sie sehn ja.« Er wies auf die Schar von Kindern und Frauen hin, die den Wagen neugierig betrachtete. »Zu uns kommen höchstens ein paar waghalsige Motorradler.«

»So weltfern hab ich mir allerdings Oberflins nicht vorgestellt«, lächelte der Professor.

»Und i hab wieder net angnommen, daß Sie so gschwind kommen werden. Sonst hätt ich Sie doch wissen lassen, wie es hier ausschaut.«

»Macht nichts, Doktor Müller. Jetzt bin ich ja glücklich da.«

»Und ein ganzes Laboratorium haben Sie sich auch mitgebracht.« Dr. Müller hatte den kurzen Hals so weit wie möglich gereckt und in den Wagen hineingespäht.

»Ja freilich! Wenn schon, denn schon! Ich hatte auch eine Schwester aus meiner Wiener Privatheilanstalt für unsere gemeinsame Arbeit hier mitgenommen. Die gute Seele ist aber bei der Herfahrt in übertriebenem Diensteifer aus dem Wagen und in einen eben vorübersausenden Kraftradfahrer hineingesprungen. Jetzt liegen beide in der Landesheilanstalt. Weiß Gott, für wie lange. Und nun, lieber Herr Kollege, wie komme ich unter und – was mir noch viel wichtiger ist – wo kommen meine Geräte und mein Wagen unter?«

*

Es erwies sich, daß Dr. Müller trotz der verfrühten Ankunft des berühmten Arztes schon weitblickend vorgesorgt hatte. Ehe eine Stunde vergangen war, hatten die kostbaren Geräte des Professor in dem sommerlich leeren Schulhaus, sein Wagen in einer Scheune Platz gefunden.

Er selbst saß in dem schmalen Gärtchen, das sich hinter dem Doktorhaus hinzog, im Hausschatten und ließ sich von dem Landarzt und seiner runden Gattin bewirten.

Diese, als Landkind wenig weltläufig und auch scheu, war dem vornehmen und, ach, so berühmten Manne anfangs ein wenig linkisch und schüchtern gegenübergetreten.

Professor Kröner aber hatte wie mit einer alten Bekannten mit ihr zu plaudern begonnen. Da hatte die kleine junge Frau erleichtert aufgeatmet, immer frischere Antworten gegeben und dabei bewiesen, daß sie in die Arbeit ihres Gemahls tiefen Einblick besaß und ihm nicht nur eine treue Hausfrau und Haushälterin, sondern auch in seinem Beruf eine wirkliche Stütze bedeutete.

Das bewies sie vor allem durch die Betreuung des kleinen Tiergartens, den sich Dr. Müller in seinem Hause und um dieses herum angelegt hatte. Sein Steckenpferd war die Erforschung des Lebens und Wesens der Schlangen, von denen er eine ganze Reihe in einem mächtigen Terrarium hielt. Eine ausgedehnte Zucht von Mäusen sorgte für deren Ernährung. Im Stall wimmelte es von allen Arten Geflügels, an den Fenstern sprangen in kleinen Käfigen verschiedene Vögel von Stange zu Stange, und große Schaukasten an der Wand bewiesen, daß sich der kleine regsame Doktor auch im Bereich der Kerbtiere auskannte.

Bei der Erwerbung und Ordnung aller dieser Schätze hatte Frau Burgi Müller mit Eifer und Verständnis mitgewirkt. Mit mädchenhaftem Erröten nahm sie den Glückwunsch des berühmten Mannes entgegen. Ein Teil ihrer Bewunderung galt auch ihrem Gatten, der es verstanden hatte, diesen Gelehrten in die Steinwüste von Oberflins zu locken.

Nun saß dieser, nach Aussage ihres Mannes weltbekannte Giftforscher und Arzt, dessen Namen der kleine Landarzt immer mit einer Art geheimer Ehrfurcht ausgesprochen hatte, an ihrem bescheidenen Holztischchen hinter dem Haus, trank mit Behagen den sanft gekühlten Rotwein, biß herzhaft in ihren Kuchen und wußte zwischendurch wundervoll spannend zu erzählen, von Negern, von Indianern im Wasser- und Urwaldgewirr des brasilianischen Riesenreiches, von Indien und seinen Schlangenbeschwörern, nicht zuletzt von seinen eigenen so überraschend und glänzend gelungenen Versuchen, bei denen er durch Einführung von Giften und Gegengiften in die Blutbahnen des Menschen Heilungen erzielt hatte, die noch wenige Jahre vorher als märchenhafter Traum erschienen wären.

Von Zeit zu Zeit trafen sich die Blicke der beiden Eheleute. Dann nickten sie und gaben einander mit inniger Freude zu verstehen, welch unerhörtes Glück ihnen widerfahren war, daß sie diesen Besuch in ihrem Berghäuschen beherbergen konnten, wo sie dem berühmten Gast ihr bestes Zimmer eingeräumt hatten.

Der Dorfgasthof sei – so entgegnete sie seinem sanften Widerspruch – erstens schrecklich altmodisch und unbequem, überdies von Sommerfrischlern überfüllt und daher so lärmend, daß er keine Ruhe finden würde, seine Versuche durchzuführen.

Außerdem – und das sei das Wichtigste – hätten sie beide dann immer den weiten Weg hinüber zu laufen, wenn sie ihm helfen wollten. Und es sei doch ihr Herzenswunsch, eben bei diesen Versuchen, soweit es erlaubt sei, mitzuwirken.

Behaglich an die einfache Lehne der Holzbank zurückgelehnt, hörte Professor Kröner lächelnd dem Wettstreit der beiden Eheleute zu, die immer neue Gründe für sein Verbleiben im Berghäuschen ins Treffen führten. Sein nicht übermäßig ernst gemeinter Widerstand wurde schwächer und schwächer. Schließlich blieb es dabei: der Professor nahm im Berghäuschen Wohnung.

In zwei aufeinanderfolgenden Sommern hatte sich in Oberflins eine beängstigende Schlangenplage entwickelt. Dr. Müller hatte nun an Professor Kröner einen Brief gerichtet, in dem er ihm mitteilte, welche Heilerfolge er mit dem von ihm geschaffenen Serum erzielt hatte. Sie waren im allgemeinem ausgezeichnet gewesen, hatten aber bei verschiedener Dauer der Erkrankung und je nach der körperlichen Veranlagung der verletzten Tiere und Menschen sehr unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt. Offenbar antworteten Menschen verschiedener Blutgruppen auf die Wirkung des Schlangenbisses verschieden.

Das hatte Professor Kröner verlockt, die nicht wiederkehrende Gelegenheit zu benützen und die gesamte Bevölkerung des betroffenen Gebiets auf ihre Blutgruppen zu untersuchen und bei dann auftretenden Bissen die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen.

Es war also notwendig, ein Verzeichnis der Einwohner zu führen, die Blutgruppe jedes einzelnen im voraus aufzunehmen und in den einzelnen Entwicklungsstufen der Erkrankung neue Blutpräparate herzustellen.

Bald erwies sich, daß all dies in dem winzigen Häuschen des Landarztes, der so viele andere Kranke zu betreuen hatte, nicht durchführbar war. Dr. Müller empfahl schließlich, das leerstehende Schulhaus zu benützen.

In wenigen Stunden waren zwei Schulstuben in Krankenzimmer und Laboratorium umgewandelt.

Professor Kröner hätte seine Arbeit beginnen können. Aber ohne Gehilfen war er außerstande, zweckentsprechend zu arbeiten. Je einen Vor- und Nachmittag opferten sich Dr. Müller und seine Frau. Dann war der Beweis geliefert, daß es so nicht ging.

Die Hoffnung, daß Professor Kröners Gehilfin nur leicht verletzt sei und bald nachkommen werde, erwies sich ebenfalls als trügerisch.

»Also damit wäre es auch nichts«, sagte ärgerlich der Professor, als er diese Nachricht beim Frühstück im Doktorhaus erhielt. »Jetzt bleibt mir nur noch eines übrig. Ich muß nach Wien drahten, daß mir irgendeine Klinik eine Schwester nachsendet. Oder haben Sie einen anderen Vorschlag?« erkundigte er sich, durch eine Bewegung des Landarztes aufmerksam geworden.

»Allerdings«, nickte Dr. Müller, indem er bedächtig Honig in kunstvollen Zierlinien über die goldgelbe Fläche seines Butterbrotes strömen ließ, »meine Frau und ich haben nämlich festgestellt, daß das, was Sie, Herr Professor, am allernotwendigsten brauchen, Handlangerdienste sind, für die vielleicht nicht immer eine besondere medizinische Vorbildung erforderlich ist. Die Kartei führen, die Leute abpinseln, Blut abnehmen und in Präparaten verarbeiten, kann vielleicht auch jemand, der klar im Kopf, leidlich anstellig ist und sauber schreibt.«

»Und haben Sie hier jemand, der den erwähnten Ansprüchen genügen könnte? Hier in dem winzigen Bergdorf?«

»Ja, Herr Professor«, entgegnete Dr. Müller. »Aber hier lasse ich lieber meine Frau reden.«

»Wir wissen wirklich jemand, Herr Professor«, begann die junge Frau in leichter Mundart. »Wir haben nämlich hier in Oberflins an Schullehrer ghabt, an ganz an wunderbaren Menschen, Herr Professor. Eigentlich hätt er an die Universität ghört, net da her in die Einschicht. Wann i heut mein Mann a bissel a Hilf sein kann, wann i net wie ein Depp dasitzn muß, wenn a vernünftigs Gspräch gführt wird, nachher ist der alte Herr Lehrer Kronlachner dran schuld.« Sie hatte den Namen Kronlachner förmlich ehrfürchtig ausgesprochen.

»I weiß net, woher der Mann nur all das gwußt hat, was er uns derzählt hat. Er hat viel Bücher ghabt, a ganzes Zimmer voll. Es hat nix gebn auf der Wölt, was er net gwußt hätt. Er war ledig, der Herr Lehrer. Aber einmal ist eine Sommerfrischlerin dagwesen, auch keine ganz Junge mehr. Er ist mit ihr umanandagstiegn in die Berg. Sie hat ihm gholfen, Steine sammeln und Schmetterlinge aufspannen, und dann ist sie dabliebn. Beim ersten Kind is sie gstorben. Es war recht zum Derbarmen. Er hat's nie recht übertaucht, der alte Schullehrer. Das Kind aber ist am Leben bliebn, a Mäderl, die Josefa. Für die hat er weiterglebt, sonst hätt a si umbracht, so hat a gsagt. Die Josefa is a rechts Hascherl bliebn, wohl weil's gfehlt hat mit der Muttermilch und so halt. Der Alte aber war narrisch mit dem Kind. Dabei hat a's recht plagt. Was des arme Dirndl hat lernen müssn, schon in jungen Jahrn! Wie sie aber fünfzehn Jahr gwesen is, da is er krank gworden. Krebs, Herr Professor. Es war keine Rettung mehr. Aber nahezu sechs Jahre hat der Mann kämpft mit einer Zähigkeit, es war schrecklich! Net wahr, Franz?« wandte sie sich, Bestätigung heischend, an ihren Mann.

Der Doktor nickte zustimmend.

»Und die ganze Zeit hat das Kind den Mann gepflegt. I kann nur sagn, Herr Professor, es war bewundernswert. Wenn Sie des Dirndl sehen könnten. A zartes Dingel, der Wind weht's weg, möcht aner glauben. Aber sie hat's ausghalten. Sechs Jahr hindurch hat sie den armen Teufel gepflegt, gfüttert wie ein Kind, im Wagen herumgführt … voriges Jahr is er gstorben. Jetzt is das Dirndl dagestanden. Verwandte hat's kane ghabt. Seine Frau war auch a Einsame gwesen. Jetzt ist das Dirndl zu einem Bergbauern in Dienst gangen, der sie halb totschindet. Jammerschad um das Dirndl, wo's doch so gscheit is, unheimlich gscheit, könnt man sagen.«

»Außerdem kann sie die schwere Bauernarbeit auf die Dauer nicht aushalten«, setzte Dr. Müller hinzu.

Der Professor hatte mit lebhafter Teilnahme zugehört. »Und dieses Mädel empfehlen Sie mir also für meine Arbeit?«

Die junge Frau wandte sich voll dem Gast zu. »Herr Professor, Sie täten a gutes Werk, und gholfen war Ihnen dazu. Sie is ja so bescheiden und dankbar. Mein Mann und i, wir habn eigentlich kaum was tun können für sie. Aber wo sie nur kann, bringt sie meinem Mann Tiere, Käfer, Schmetterlinge und Mineralien. Aus lauter Dankbarkeit.«

»Verschaffen Sie mir das Mädel«, sagte der Professor.

Der Doktor holte tief Atem. »Sie werden es nicht bereuen, Herr Professor. Sie kriegen eine hochintelligente Hilfskraft. Ich bring sie Ihnen morgen; ich muß ohnehin in die Leiten zu den Bergbauern hinauf. Da kann ich den kleinen Umweg machen.«

»Josefa ist da«, meldete Dr. Müller, in sein vorläufig noch als Laboratorium verwendetes Arbeitszimmer tretend, in dem Professor Kröner am Mikroskop saß, während die junge Frau mit einer Tafel, auf der allerlei Werkzeug lag, geduldig neben ihm stand und wartete, was er von ihr verlange.

»Herrlich«, sagte Professor Kröner, ohne sich von seinem Gerät abzuwenden. »Ich hoffe, es hat nicht zu viel Mühe gekostet. Darf ich um das zweite Glasplättchen bitten?«

Frau Müller reichte ihm das Verlangte.

»Da bin ich Ihnen sehr verpflichtet, lieber Kollege.«

»Gerne geschehen, Herr Professor. Und überdies im rechten Augenblick. Das Mädel ist nämlich vollständig kaputt«, setzte er auf die fragenden Blicke der beiden fort. »Der Mensch, der Ödlochbauer, hat das armselige Dirndl mit der Kraxen Heu holen lassen von der Rotwandleiten.«

»Das ist doch Männerarbeit!« empörte sich die junge Frau.

»Und noch dazu die schwerste«, ergänzte der Doktor. »Natürlich ist das Mädel unter der Last, die ihr der Mensch aufgepackt hat, zusammengebrochen und kann seit Tagen nur mühsam schleichen. Ich hab sie mehr heruntergetragen als geführt.«

»Und wo ist sie denn jetzt, Franz?«

»In der Küche sitzt sie. Schau dich ein bißl um sie um, Burgi, und bring sie herein, wenn sie sich hergerichtet hat.«

Die junge Frau lief eilfertig hinaus, während sich der Doktor wieder dem Professor zuwandte. »So sind unsere Bauern. Sie haben ein hartes Leben, ich geb's ja zu. Aber wie sie sich selbst zusammenrackern, glauben sie, sie dürfen es auch von jedem anderen verlangen. Sie wissen nicht, Herr Professor, was das heißt, von der Rotwandleiten Heu holen. Das ist ein Klettersteig, auf dem manch ein starker Mensch vor Schwindel net gehen kann. Stufen – fünfzig und mehr Zentimeter hoch. Und da steigt der Bauer mit seiner Kraxen und dem ungeheuren Binkel Heu herunter zu Tal. Er braucht nur einmal anstreifen, so dreht ihn seine Last in den Abgrund hinunter. Und da hat dieser Kerl das schwache Mädel hinaufgeschickt. Sie hat es geleistet. Aber dann ist sie zusammengefallen. Weiß Gott, wieviel Stunden sie gelegen ist, bis ein Tourist sie zufällig gefunden hat. Der hat sie heruntergebracht. Die Kraxe aber hat er liegenlassen, die war ihm zu schwer, ihm, dem Mann!«

*

»Herr Professor! Hier ist die Josefa!«

Die junge Frau hatte hinter sich die Tür geschlossen und dem jungen Mädchen, das sie vor sich ins Zimmer geschoben hatte, einen ermunternden Blick zugeworfen.

Der Gelehrte drehte sich auf seinem Sitz um und stand auf.

Vor ihm stand ein schmächtiges Geschöpf, noch halb Kind. Aus einem ovalen, nicht gerade hübschen, aber sehr ansprechenden Antlitz sahen ihm zwei fast übermäßig große braune Augen entgegen. Die Lippen des sehr kleinen zierlichen Mundes preßten sich ein wenig zitternd gegeneinander, auch die dünnen Flügel der feingeformten Nase schienen zu beben. Das tiefschwarze Haar lag straff zurückgezogen und bündelte sich dann in einem schwer herabhängenden mächtigen Knoten im Nacken, einem Knoten, der gegenüber dem dünnen Hals des Mädchens wie eine übergroße Last anmutete.

Mit einer schüchternen, aber durchaus nicht linkischen Bewegung legte sie ihre schmale Kinderhand in die Hand des Professors.

Dabei hob Josefa den Kopf und sah den stattlichen Mann, der ihr da gegenüberstand, voll an.

Der Professor hatte schon die Lippen geöffnet, um an das Mädchen die Frage zu richten, ob sie seine Helferin werden wolle. Aber er sprach nicht. Er nahm den Blick dieser seltsam großen, etwas feucht schimmernden Augen stumm in sich auf.

Urplötzlich trat er einen ganz kurzen Schritt zurück, wie einer, der seine ganze Kraft zusammennehmen muß, um einem unerwartet an ihn herantretenden Anspruch gewachsen zu sein.

Der Doktor und seine Frau wechselten befriedigt einen Blick. Welch ein Bild: der hochgewachsene, vornehme Mann, mit dem kühnen Antlitz, der hohen Stirn, der trotzigen Adlernase und dem willenverkündenden, vorgeschobenen Kinn, ein Bild kraftvoller Männlichkeit und Lebenssicherheit.

Und ihm gegenüber das kindhafte, scheue, zarte Geschöpf, mit diesen großen Augen, die, wie die eines gehetzten Tieres, zu fragen schienen: »Wie wirst du mit mir sein? Wirst du mich quälen oder wirst du mich schützen, du großer, mächtiger Mann?«

Der Professor schüttelte fast ein wenig unwillig den Kopf.

Was war das?

Unzählige Male hatte er schon solche Vorstellungen erlebt. Wie viele Hunderte von Mädchen, die ihm als Schwestern oder Prüfungskandidatinnen gegenübergetreten waren, hatte er schon – zum Teil in zitternder Angst – vor sich stehen gesehen.

Das hatte ihm, dem Vielerfahrenen, Weltgewohnten, höchstens ein Lächeln abgenötigt. Mit einem Scherz hatte er die Ängstlichen aufzumuntern gesucht oder wohl auch ein wenig verhöhnt. Es lag in seiner überlegenen Art, sich über andere lustig zu machen.

Vor diesem Blick versagte all dies. Hier war kein Scherzen am Platz, noch weniger ironische Überlegenheit. Hier war etwas, was er nicht kannte, was ihn – wie sollte er es nennen? – fremd berührte, etwas Beklemmendes.

Aber nun mußte er doch wohl sprechen. Das Schweigen lastete merkbar im Raum.

»Der Herr Doktor hat Sie mir empfohlen«, begann der Professor. Er mußte sich räuspern, seine Kehle war merklich trocken.

Das Mädchen wandte den Blick von ihm ab und richtete ihn auf Dr. Müller. Ein Lächeln rührender Dankbarkeit lag plötzlich über den Zügen des schmalen Gesichtes.

»Der Herr Doktor is so viel gut zu mir«, flüsterte sie. »Aber i weiß net, ob i für den Herrn Professor a wirkliche Hilf sein kann. I bin ja so dumm.« Wieder lag der fremde Blick auf des Professors Antlitz.

Jetzt wäre es doch wohl an der Zeit gewesen, daß der Professor ein paar aufmunternde Worte gesprochen hätte: daß sie es versuchen solle; daß er kein besonderes Wissen von ihr verlange; daß sie sich nicht zu fürchten brauche. Aber er ließ kein Wort davon verlauten, bewegte nur noch einmal die Lippen, als wolle er sprechen, verschloß sie dann aber wieder und schwieg.

Die Frau Doktor ließ – nun auch unsicher geworden – einen fragenden Blick zu ihrem Mann hinübergleiten. Aber er sah ihn nicht, weil auch er am Mund des Professors hing.

So nahm sie denn entschlossen die Sache in die Hand.

»Brauchst di net fürchten, Josefa. Der Herr Professor wird dir's schon lernen, was du zu tun hast. Schau, i hab's auch erst lernen müssen. Is ja ganz leicht.«

Aber das Mädchen schien nicht zu hören, was sie sagte, ließ nur in einem fort den fremden, scheuen Blick auf dem Antlitz des Professors ruhen.

Noch einmal legte sich die Doktorin ins Zeug: »Herr Professor, reden S' doch a Wörtl. Es is halt so verschreckt, das Madl.«

»Ja!« Der Professor schien aus einer anderen Welt zurückzukehren, zu erwachen. »Ja, Fräulein Kronlachner. Ich brauche jemanden, der mir hilft. Es ist nicht schwer. Mit ein wenig gutem Willen geht es ganz leicht. Wollen Sie es nicht versuchen?«

Über das Antlitz des Mädchens ging ein feines, leises Zucken, und ein sanftes Rot durchblutete das Braun ihrer sonnverbrannten Wangen.

»Wann's der Herr Professor mit mir versuchen will? Ich möcht mi schon recht bemühn, daß i's recht mach.«

»Na alsdann«, atmete der Doktor auf. »Dann ist ja alles in Ordnung, Josefa. Wohnen kannst neben uns im Dachgeschoß in dem kleinen Stüberl. Und morgen fängst mit der Arbeit beim Herrn Professor an.«

Aber das Mädchen schien noch nicht überzeugt.

Zum drittenmal lag ihr scheuer Blick auf dem Professor. »Derf i wirklich?«

»Gewiß, Fräulein Kronlachner«, sagte der Professor mit noch immer rauher Stimme. »Morgen um acht Uhr fangen wir an.« Er stockte, weil er merkte, daß sie noch etwas sagen wollte … »Wollen Sie noch etwas fragen, Fräulein …«

»Wann mich der Herr Professor halt einfach nur Josefa rufen tat«, bat sie mit leiser Stimme.

»Ganz recht«, pflichtete der Doktor bei. »Wir sind das Feierliche hier nicht gewohnt. Wenn ich mich nicht sehr täusche, so wär es der Josefa am liebsten, Sie würden ›du‹ zu ihr sagen.«

Das Mädchen nickte eifrig.

»Gut, Josefa«, lächelte der Gelehrte. Das Mädchen war ihm noch einmal gegenübergetreten und hatte ihm treuherzig die Hand entgegengestreckt. Die Spannung in seiner Haltung und Stimme legte sich plötzlich. Er nahm freundlich die dargebotene Hand und sagte: »Auf gute Zusammenarbeit, mein Kind.«

Sie hob ihm ihr selig lächelndes Antlitz entgegen. »I werd recht fleißig sein«, sagte sie leise. Und dann huschte sie hinter der Frau Doktor aus dem Zimmer. An der Tür aber wandte sie sich noch einmal um und lächelte zurück. Ihre gesunden weißen Zähne blitzten zwischen den Lippen hervor. Dann war sie mit einer anmutigen Wendung verschwunden.

»Ich hoffe«, sagte Dr. Müller, »daß wir Sie nicht am Ende in eine Zwangslage versetzt haben, Herr Professor.«

»Wieso, Herr Kollege?«

»Es schien mir, als wenn Sie irgendeine innere Hemmung überwinden müßten.«

Professor Kröner sah einen Augenblick vor sich hin. »Es ist wirklich so, Herr Kollege. Wie mich dieses Mädchen angesehen hat mit diesen großen feuchten Augen, da war es mir einen. Augenblick … Ich weiß selbst nicht, wie ich das nennen soll.«

Der Doktor nickte. »Sie hat etwas Eigenartiges in ihrem Blick, als sähe sie einem bis auf den Grund der Seele. Dabei ist sie bei all ihrer Intelligenz das naivste und kindlichste Geschöpf, das Sie sich vorstellen können.«

»Meinen Sie wirklich, Herr Kollege?«

»Gewiß, Herr Professor. Und was diesen eigenartigen Blick anbelangt … Haben Sie nicht schon an Tieren beobachtet, daß sie einen so seltsam ansehen, als wollten sie einen enträtseln oder anklagen? Schier unheimlich oft.«

Der Professor nickte. »Da haben Sie recht. Es ist vielleicht der Blick der reinen, unverfälschten Natur, der wir Menschen uns viel zu sehr entfremdet haben.«

Der Doktor griff diese Äußerung eifrig auf. »Nicht wahr, Herr Professor? Sieger bleibt immer … die reine Natur.«

Der Professor stand und starrte vor sich auf den Boden, als hätte er nicht mehr zugehört. Dann hob er den Kopf und sah den Doktor ein wenig geistesabwesend an. »Meinen Sie, Herr Kollege? Meinen Sie?«

»Es ist meine tiefste Überzeugung, Herr Professor.«

»Mag sein, Herr Kollege, mag sein. Aber jetzt wollen wir weiterarbeiten.«

*

Josefa war gerade zur rechten Zeit gekommen.

Es gab Arbeit in Hülle und Fülle.

Professor Kröner hatte es dank seinen Beziehungen erreicht, daß schwere Fälle von Vergiftungen nicht – wie es üblich war – an das Landeskrankenhaus abgegeben wurden, sondern in Oberflins durch ihn untersucht, beobachtet und behandelt werden durften.

Gleich am ersten Tag wurden von den zwölf Betten, die Professor Kröner aus der Kreisstadt hatte holen lassen, fünf belegt.

Professor Kröner hatte also Gelegenheit, seine Versuche an geeigneten Kranken durchzuführen.

Er ging dabei planmäßig vor. Es wurde nicht nur jeder einzelne Fall von Vergiftung auf das genaueste verbucht und in allen seinen Entwicklungsstufen festgehalten – zum Teil auch mit Lichtbildaufnahmen verewigt –, sondern es wurde auch die gesamte Bevölkerung des Tales nach den Einwohnerlisten der Gemeinden auf ihre Blutzusammensetzung untersucht. Bei diesen Untersuchungen wiederum wurde ein Teil der Einwohner, namentlich solche, die Schlangenbissen ganz besonders ausgesetzt waren, barfüßige Kinder und alte Beerensammlerinnen, mit einer Schutzimpfung versehen.

All das kostete nicht bloß außerordentlich viel Arbeit, sondern auch Geduld. Denn die Bevölkerung dieses weltfernen Gebietes hatte vor allem, was mit ärztlicher Kunst zusammenhing, eine tief sitzende Angst.

Die meisten der von Schlangenbissen Betroffenen verheimlichten dies lange Zeit hindurch, weil sie fürchteten, der »Doktor« werde sie in schmerzhafter Weise »schneiden« oder mit glühenden »Stageln« ausbrennen.

Dr. Müller hatte sich zwar im Laufe seiner Tätigkeit als Arzt in dieser Gegend das Vertrauen der Leute in steigendem Maße zu erwerben gewußt. Ja, als sich die Kunde verbreitete, daß er die Wirkung des Schlangengiftes hauptsächlich mit Alkohol bekämpfte, den er freigebig zur Verfügung stellte, war der Zustrom zu ihm größer geworden und hatte der zu einer alten »Wunderdoktorin« des Tales nachgelassen. Aber ganz überwunden war das Mißtrauen noch nicht.

Vor allem aber wollten sich die Leute keine Blutproben abnehmen lassen.

Als nun Professor Kröner damit beginnen wollte, stellte sich heraus, daß die Leute sich versteckten und verleugnen ließen oder ihr Heim tagelang mieden, nur um nicht »gestochen« zu werden.

Es half wenig, daß der Doktor und seine Frau sich als erste behandeln ließen, und zwar öffentlich; daß sie bei dem keinerlei Schmerz verursachenden Ritzen des Ohrläppchens munter lachten und laut versicherten, es habe nicht weh getan.

Die Leute hielten das für ein abgemachtes Theater und zwinkerten einander bauernschlau zu.

So war dieses Unternehmen im Anfang nichts anderes als eine ewige Jagd nach den Einwohnern, die untersucht werden sollten, eine Jagd, die viel Geschick und List erforderte. Nach wenigen Tagen gestand der Professor Dr. Müller, daß er ohne die Hilfe Josefas außerstande gewesen wäre, sein Vorhaben durchzuführen.

Sie war den Leuten bekannt. Sie hatte eine stille unaufdringliche Art. Vor allem liefen ihr die Kinder zu. Halb im Scherz, halb durch sanfte Drohungen und Mahnungen wußte sie zuerst die Kinder dem Professor zuzuführen; und wenn diese dann – glücklich, das große Abenteuer überstanden zu haben – zu ihren Eltern liefen und stolz darauf hinwiesen, daß sie die Gefahr mutig überwunden, hätten und daß es »net a bißl« weh getan hätte, dann entschlossen sich die Alten auch dazu.

Mit zwei Handtaschen, die das nötige Werkzeug für die Arbeit enthielten, zogen der Professor und Josefa Tag für Tag aus, um die Bauernhöfe an den Hängen aufzusuchen.

Vor ihm huschte wegweisend Josefa. Sie trug einen Rucksack, der für ihre Gestalt zu groß war und ihr lächerlich stand. Und doch heftete der Professor oft seine Blicke auf die leichtfüßige Gestalt, die so mühelos die Steigung der Bergwege überwand.

Von Zeit zu Zeit blieb sie an einer Wegbiegung oder bei einer schönen Aussicht stehen und sah ihm entgegen. Dann lag in ihren Augen etwas von dem Blick eines treuen, schönäugigen Hundes.

Professor Kröner fühlte sich heimlich berührt, wenn er dies immer wieder von neuem erlebte. Er hatte in seinem Leben, namentlich seit sein Name bekannt geworden war, zahllose Beweise von Anerkennung und Bewunderung empfangen. Wortreiche Lobsprüche waren an sein Ohr geklungen, schwungvolle Briefe bei ihm eingetroffen. Er hatte glänzende Mitarbeiter gefunden, die ihm den Weg ebneten und sein Werk innerlich verstanden.

Aber ihm war dabei selten warm geworden. Meist knüpften die Leute an den Ausdruck ihrer Bewunderung und Verehrung irgendeine Bitte, oder es waren Schwätzer und Schönredner.

Die ruhige und selbstlose Mitarbeit des einfachen Landmädchens war etwas anderes.

Sie entsprang vor allem ihrer wortlosen, aber stündlich durch die Tat bewiesenen Dankbarkeit.

Wenn er des Morgens in das Schulhaus kam, fand er die Räume gelüftet und in Ordnung vor, die Vorbereitungen für den Ausmarsch waren getroffen, die unentbehrlichen Feldflaschen gefüllt, das Werkzeug so verpackt, wie er es ihr einmal gezeigt hatte. Ein Imbiß stak, gut gegen die Sonnenbestrahlung verwahrt, im Innern des Rucksackes.

Näherten sie sich dem Ziel, dann ging Josefa gewöhnlich voraus. Er selbst trat immer erst auf ein verabredetes Zeichen näher, fand dann die Kinder, manchmal auch schon die Erwachsenen vorbereitet und konnte sein Werk beginnen.

Zeigte sich dann hie und da immer noch Widerstand, dann begann Josefa mit ihrer leisen, eindringlichen Stimme zu sprechen. Sie fand fast immer die richtige Wendung, bald mahnend, bald bittend, und vergaß nie, die inzwischen errungenen Erfolge einzuflechten.

Waren endlich die Leute bereit, dann packte sie flink den Rucksack aus. Die Glasplättchen wurden auf dem Tisch ausgebreitet, die Flüssigkeit aufgetragen, die bei ihrer Berührung mit dem Blut zeigen sollten, welcher Blutgruppe jeder einzelne angehörte.

Und dann war es blitzschnell geschehen. Das erste beste Kind wurde mit harmloser List herangerufen. Ehe es noch wußte, was mit ihm geschehen, war der feine Ritz im Ohrläppchen angebracht, der Blutstropfen auf das Reagenzplättchen verpflanzt, das Ohrläppchen wieder mit Watte gereinigt und mit einem blutstillenden Stein berührt.

Es kam vor, daß sich ein Kind erst nach vollzogener Blutabgabe dessen erinnerte, daß es Angst hatte zeigen wollen, und daß es erst dann zu weinen begann.

Die meisten aber, Erwachsene und Kinder, sahen gespannt auf die Glasplättchen und ließen sich erklären, daß das Blut mancher Personen mit der Reagenzflüssigkeit eine Bindung einging, bei anderen Gruppen aber zerfiel und samt der Flüssigkeit zu einer formlosen Masse erstarrte.

War es einmal so weit, gab es kaum noch einen Widerstand, die Arbeit ging dann leicht vonstatten.

So rasch, wie sie gekommen war, entfernte sich die unheimliche Gefahr.

Professor Kröner war kein Freund der Rast. Die unruhige, fast ein wenig hastig drängende Art des Großstädters hing ihm auch hier in der großen und stillen Natur, in der der Zeitbegriff keine Rolle spielte, noch immer an.

Gegen Mittag traf er mit Josefa gewöhnlich wieder in Oberflins ein.

Dort hatte inzwischen Dr. Müller mit seiner Frau die eingelieferten Kranken betreut.

Kehrte der Professor nach kurzer Mittagspause wieder zum Krankenhaus zurück, dann fand er im Laboratorium Josefa, die alles für die Arbeit am Mikroskop vorbereitet hatte.

Jetzt wurden die Blutstropfen noch auf ihre genaue Zusammensetzung untersucht und aus dem Blut Kranker Präparate gemacht.

Jedes Präparat erhielt seine Nummer und wurde in einer eigenen Kartei vermerkt, während in einer zweiten Kartei die Namen der Bevölkerung, der geimpften und der ungeimpften, derer, die ihre Blutprobe abgegeben hatten, und solcher, die noch fällig waren, verzeichnet wurden.

Professor Kröner liebte es nicht, bei der Arbeit zu reden.

Das schien auch dem Mädchen recht zu sein. Er hatte sie ein paarmal angesprochen und um ihre Jugendzeit und ihre Vorbildung befragt. Aber er hatte dann regelmäßig bemerkt, daß sie dieses Fragen einschüchterte. Sie wurde dann wieder scheu und einsilbig.

So ließ er es denn von nun an sein.

Still und kaum merkbar schaffte sie neben ihm. Nach wenigen Tagen hatte sie erfaßt, was er in jedem Augenblick benötigte. Anweisungen seinerseits wurden so gut wie ganz überflüssig. Er brauchte nur die Hand heischend zur Seite zu halten und hatte in der nächsten Sekunde das gewünschte Gerät zwischen den Fingern: Pinzetten, Nadeln, Glasplättchen, die Injektionsspritzen, die Präparattafeln, das Buch für die Eintragungen.

Es waren wohl immer nur Handlangerdienste, für die wissenschaftliche Ausbildung nicht vonnöten war. Und doch, es bedeutete ihm eine angenehme, wohltuend empfundene Hilfe.

Auch bei der Pflege der Kranken erwies sich das Mädchen geschickt und anstellig. Ihre lautlose, ruhige Art war den Kranken angenehm. Ihre kleinen Hände griffen sanft zu. Wenn sie den Kranken zuredete, so hatte sie eine glückliche Art und traf den richtigen Ton.

An einem Abend hatte sich der Professor so tief in eine Beobachtung versenkt, daß er es gar nicht merkte, daß die Zeit des Abendessens nahezu verstrichen war. Als ihn Josefa darauf aufmerksam machte, konnte er sich nicht entschließen, die Arbeit zu unterbrechen, und schickte sie mit dem Auftrag ins Doktorhaus, ihn noch für eine Stunde zu entschuldigen.

Josefa traf die Doktorin bei den Vorbereitungen für das Abendessen. Sie richtete ihren Auftrag aus und half dann, den einfachen Tisch decken.

Das war bald geschehen, und die junge Frau ließ sich müde für einen Augenblick auf dem, altväterlichen Diwan nieder.

»Komm, Josefa«, sagte sie, das Mädchen neben sich niederziehend. »I hab schon lang mit dir reden wollen. Sag amal, macht dir d' Arbeit beim Herrn Professor Freud?«

Josefa hob den Kopf und sah die junge Frau mit einem glücklichen Lächeln an. »Er ist so viel gut zu mir«, flüsterte sie »so viel gut.«

Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, das Leuchten verschwand und ein Zug tiefer Traurigkeit legte sich über das schmale Antlitz. Im nächsten Augenblick hatte sie die Hand der Doktorin erfaßt, sich über diese gebeugt und sie mit Küssen bedeckt.

»Aber Seferl«, sagte die Doktorin erschrocken, indem sie ihre Hand zu befreien versuchte, »Seferl, was hast du denn? Bist narrisch?« Sie fühlte, daß heiße Tränen auf ihre Hand fielen. »Aber Madl, so red doch!«

Es war ihr unmöglich die Hand aus der Umklammerung zu befreien. Als sie sie an sich ziehen wollte, hob sie gleich das weinende Mädchen mit.

Und da war es, daß Josefa sich plötzlich aufrichtete. Aber nur, um die Doktorin mit einer sonderbaren Kraft zu umfassen und sich an ihre Brust zu pressen. Das geschah mit einer solchen Gewalt, daß der jungen Frau gar nichts anderes übrigblieb, als stillzuhalten und mit der freien Hand über das straffe, dichte Haar des schluchzenden Mädchens zu streichen.

So vergingen Minuten. Dann richtete sich endlich das weinende Mädchen wieder auf. »San S' mer net bös! I bitt recht schön, Frau Doktor«, flehte sie mit aufgehobenen Händen.

»Ja, aber sag mir doch nur, Madl, was soll denn das heißen?« Die Doktorin hatte Josefas Hände ergriffen und so das Mädchen gezwungen, sich ihr zuzuwenden. »I versteh di net. Ist dir denn was geschehen?«

»Naa!« Das Mädchen schüttelte kräftig den Kopf. »Nix, gar nix.«

»Warum weinst nachher a so?«

Josefa hob den Kopf und sah der Doktorin tief in die Augen. Dann regte sie leise die Lippen.

Aber sie sprach nichts.

»Na, Josefa, so red doch!«

Da schüttelte das Mädchen heftig den Kopf und urplötzlich hatte sie sich losgerissen und flüchtete. Schwer fiel die Zimmertür hinter ihr ins Schloß, ihre Tritte wurden auf dem Gang hörbar, dann fiel auch die Haustür zu.

Dr. Müller trat ins Zimmer. »Was ist denn eigentlich los, Burgi?«

Die junge Frau hob die Achseln und ließ dann die halb erhobenen Hände wieder mit einer zweifelnden Bewegung in den Schoß sinken. »›So viel gut is a zu mir, der Herr Professor‹, hat sie gsagt, und nachher hat sie ganz herzbrechend zu weinen angfangt.«

»I hab's gesehen. Es hat sie ja förmlich geschüttelt.«

Dr. Müller ging ein paarmal im Zimmer auf und ab.

»Ich weiß mir nur eine Erklärung für dieses sonderbare Verhalten, Burgi.« Er blieb vor seiner Frau stehen und sah sie ernst an. »Das Mädel fürchtet sich, daß diese gute Zeit früher oder später wieder aus sein wird. Wie lange kann es denn auch dauern? Zwei, drei Wochen noch. Höchstens! Dann ist der Professor mit seiner Arbeit fertig und die Sefi muß wieder irgendwo zu einem Bauern in Dienst.«

»Ist möglich«, gab die junge Frau zurück. »Aber es kann noch was sein.«

»Nämlich?«

»Daß sich die Sefi in ihn verliebt hat.«

»Aber, Burgi, geh zue!« Der Doktor hatte sich mit einer Geste empörter Überraschung aufgerichtet. »Das war doch närrisch. Das glaub ich net.«

Sie hob wieder die Schultern. »Gar so zum wundern wär's net, Franz. So an Menschen, wie der is, siehst net alle Tag. So groß, so stattlich, a so schöne Stimme und die Augen. Das kann einem jungen Dirndl schon den Kopf verdrehen.«

»Na, sei so gut«, lachte der Doktor ein klein wenig gereizt auf. »Am Ende …« Er brach plötzlich ab und verbiß die Worte, die ihm auf der Zunge lagen.

»Du wirst doch net am End noch eifersüchtig werden, Franz? Hab i dir je was gsagt, wanns d' an feschen Dirndl nachgschaut hast?«

Der Doktor sah die schelmisch lächelnden Augen seiner Frau, die ihn aus größter Nähe anblitzten.

Er begann zu lachen. »Du kennst di aus, Burgi«, sagte er, zog sie ganz an sich heran und küßte sie. Dann aber schob er sie zur Seite. »Die Gschicht mit der Seferl aber geht ma im Kopf herum.«

»I wunder mit net«, sagte die Doktorin. »Schlecht genug hat's das Madl ghabt. Plötzlich kommt einer, erlöst's von der Plag, is gut mit ihr, schafft ihr a schöne und interessante Arbeit. Ka Wunder, wann das Kind narrisch wird. Hast du noch net gsehen, wie sie neben ihm herlauft? Wie ein Hunderl, das sein Herrl anschaut, nix auf der Welt kennt, wie sein Herrl!«

»Und was sollen wir tun?« hob der Doktor den Kopf.

»Wir können nix tun, Franz«, sagte die junge Frau. »Einmal fährt er halt fort. A Weil wird's ihr halt schier das Herz zerbrechen und nachher wird's wieder gut werden …«

Der Doktor ging ein paarmal im Zimmer auf und ab.

»Und was meinst du, Burgi«, sagte er plötzlich, »wenn wir das Kind ganz zu uns nehmen täten?« Er ließ seinen Blick zärtlich über die Gestalt seiner Frau gleiten. »Lang dauert's ja so nicht mehr und du wirst dich schonen müssen. Und reichen tät's schon, was ich verdien, daß du dir a Hilf schaffen kannst.«

Die junge Frau wollte abwehren.

Aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. »Sag nicht, daß du's allein weiterschaffen kannst. Ihr Frauen wollt nie wen eingreifen lassen in eure Rechte. Nein, nein. Das ist beschlossene Sache. Und denk dir nur, was es für die Sefi für eine Erleichterung bedeuten wird, wenn er weggeht und sie erfährt, daß sie nicht wieder in den Bauerndienst zurück muß. Das wird die beste Medizin für ihren Herzenschmerz.«

»Da kannst recht haben«, fügte sich die junge Frau.

»Also beschlossene Sache«, lachte Dr. Müller, hob seine Frau zu sich empor und küßte sie nach derber Tiroler Art schallend.

*

Vom Wetter und auch vom Glück begünstigt schritten die Versuche Professor Kröners sehr rasch fort. Fast jeden Tag konnte er neue Beweise dafür eintragen, daß sich die verschiedenen Blutgruppen gegenüber der Gifteinwirkung verschieden verhielten.

Ganz besonders gute Erfolge aber erzielte die Schutzimpfung. Die geimpften Kinder und auch die Erwachsenen zeigten sich gegenüber den Schlangenbissen als vollständig immun, Versuche, die er an Hunden, Katzen und Hühnern anstellte, sehr zum Entsetzen der Einwohner Oberflins' und nicht weniger zum Schmerz Josefas, die ihm auch hiebei helfen mußte, bestätigten die Erscheinung.

»Ich bin eigentlich hier fertig«, sagte Professor Kröner eines Tages, als ihn der junge Doktor in seinem Laboratorium besuchte. »Nur noch ein paar abschließende Versuche und ich kann die Koffer packen. Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Kollege. Sie haben mir mit Ihrer Einladung einen unbezahlbaren Dienst erwiesen.«

»Freut mich von Herzen, Herr Professor!« strahlte der kleine Arzt glücklich. »Was kann so einen kleinen Landbader, wie i einer bin, mehr freuen, als daß er an berühmten Professor eine kleine Gefälligkeit erweist.«

Dr. Müller nahm seinen Filzhut auf, schwenkte ihn und verließ das Zimmer.

In der Tür freilich stockte er einen Augenblick. Ihm war, als höre er aus dem Nebenraum ein schluchzendes Geräusch. Aber es mochte wohl Täuschung sein. So ging er.

*

Aber es war keine Täuschung gewesen.

Auch der Professor wurde nach wenigen Minuten aufmerksam. Er stieß die Tür, die zu der von Josefa bewohnten Kammer führte, auf.

»Josefa!«

Aber sie hörte ihn nicht. Sie lag auf ihrem einfachen Bett, das Gesicht im Kissen vergraben. Der ganze schmale Körper warf sich unter einem heißen, grimmigen Schluchzen.

»Josefa! Sefi!«

Professor Kröner fuhr sich bedächtig über die Stirn, während er auf die zarte Gestalt herabsah, die sich auf dem Bett, so schmal und dürftig dieses auch war, förmlich verlor.

»Aber, Josefa«, sagte er leise; dann setzte er sich neben sie auf das Bett und strich ihr sanft über die schmalen Schultern. »Aber Seferl!«

Sie hörte ihn nicht, schien auch die leise Berührung seiner Hand nicht zu fühlen.

So blieb er denn ratlos neben ihr sitzen.

An der Tür des Nebenzimmers klopfte es.

Er stand auf, nahm die Sendung des Postboten entgegen und las flüchtig die wichtigste Post durch.

Darüber mochte eine Viertelstunde vergangen sein.

Im Nebenraum war es ruhig geworden.

Er trat an die Tür.

Nun saß das Mädchen tief vornüber gebeugt auf dem Bettrand und hatte die gefalteten Hände zwischen die Knie geklemmt.

Als sie seine Nähe fühlte, zuckte sie zusammen, richtete sich aber auf.

Er setzte sich neuerdings neben sie. »Na, Josefa«, sagte er freundlich. »Was ist denn mit dir geschehen? Warum hast du denn so herzbrechend geweint?«

Sie schüttelte den Kopf, stand plötzlich auf und wollte flüchten.

Aber er hielt sie fest. »So«, sagte er, »jetzt setz dich einmal da nieder, Kind, und hör schön vernünftig zu.«

Sie ließ sich widerstandslos auf das Lager zurückfallen und saß nun dicht neben ihm.

»Hör mal, mein Kind«, begann der Professor. »Ich weiß, du hast ein sehr trauriges Leben hinter dir. Du hast nie davon gesprochen, was mir von dir sehr gefallen hat; aber ich habe es von anderen erfahren. Du stehst mutterseelenallein in der Welt und bist gezwungen, dich irgendwie durchzubringen. Für die Bauernarbeit hier im Hochgebirge bist du nicht geeignet, dazu bist du nicht kräftig genug. Eine leichte Beschäftigung wirst du aber hier schwer finden.«

Er hielt einen Augenblick inne und sah auf ihre Hände, die in krampfiger Bewegung das Taschentuch, das sie umfaßt hielten, zu zerfasern drohten.

Er nahm es ihr sanft aus den Händen und behielt diese in der seinen.

»Du warst mir in den drei Wochen, die wir gemeinsam gearbeitet haben, eine brave und treue Helferin, Josefa. Dafür bin ich dir dankbar. Und ich will dir auch weiter dankbar sein.«

Er zog die Hand zurück und sah sie an. Eine große Träne war auf sie herabgetropft und leuchtete nun im Schein der Abendsonne, die durch das Zimmer hereinschien.

»Ich begreife, du hast jetzt Angst, Sefi, daß du wieder zu einer Arbeit zurückkehren mußt, die für dich zu schwer ist. Weine nicht wieder. Ich mache dir jetzt einen Vorschlag, der dich davor beschützen soll.«

Er schaltete eine kleine Pause ein. »Willst du«, fuhr er dann fort, »auch weiterhin so wie in den letzten drei Wochen Laboratoriumdienst machen?«

Sie hob ganz wenig den Kopf. »Wia denn?« fragte sie leise. »Und wo? Hier is ja nirgends wer, wo i …«

Er legte wieder seine Hand auf die ihre. »Bei mir«, sagte er ruhig, »in Wien.«

Er spürte, wie ein elektrischer Schlag ihren Körper durchzuckte.

Im nächsten Augenblick sah sie ihn voll an. »I vasteh net«, murmelte sie.

Er lächelte. »Ganz einfach, Kind. Ich nehm dich mit, wenn du willst, du sollst in Wien deine Arbeit fortsetzen.«

»Das … das geht doch net«, zögerte sie.

»Freilich wird es nicht ganz leicht sein«, gab er zu. »Das Arbeitsamt wird mir verschiedene Schwierigkeiten machen. Du bist weder geprüfte Pflegerin noch Schwester noch Laborantin. Aber wer kann es mir verbieten, mir eine Handlangerin, eine Volontärin für meine Privatheilanstalt aufzunehmen? Und damit ist das Haupthindernis beseitigt. Oder gibt es sonst eines? Wolltest du vielleicht nicht mitkommen? Hält dich hier irgend etwas fest?«

Das Mädchen, das bisher neben ihm gekauert hatte, schien plötzlich zu wachsen. Die kleine, schmächtige Gestalt reckte sich; jetzt hob sie den Kopf, und die großen, tiefen Augen lagen mit einem ernst fragenden und noch ungläubigen Blick auf ihm.

»Der Herr Professor«, zögerte sie mühsam hervor, »der Herr Professor macht do net am End an Spaß?«

»Nein, Seferl. Es ist mir ernst. Du bist ein braves Mädel und arbeitest zu meiner Zufriedenheit. Wenn du willst, dann brauchst du nur in meine Hand einzuschlagen und es ist eine abgemachte Sache.«

»Jessas, Maria und Josef!« flüsterte Josefa. »Jessas, Maria und Josef!« Sie preßte beide Hände an das Herz und starrte ihn an. »Das is ja net möglich.«

»Es ist möglich, Sefi. Schlag ein.«

Er hielt ihr die offene Hand entgegen.

Sie schlug nicht ein. Aber im nächsten Augenblick war sie neben ihm auf den Boden herabgesunken, hatte seine Hände ergriffen und bedeckte sie mit Küssen.

Er nickte, indem er ihr die Hand überließ. »Also abgemacht, Josefa, wir fahren übermorgen.«

Er erhob sich, sie dabei mit in die Höhe ziehend, und strich ihr mit der freien Hand über das Haar. »Es freut mich, wenn dich mein Vorschlag glücklich macht, Sefi.«

Sie blickte auf. »Mein Gott!« stotterte sie. »I … in der großen Stadt. I paß ja gar net hin. Wia …, wia …« Sie verstummte.

»Das laß meine Sorge sein«, sagte er aufmunternd. »Und im übrigen bist du meine brave Josefa und wirst deinen Dienst dort wie hier eifrig versehen.«

»Herr Professor!«

Er entzog ihr seine Hand und schob sie, die Türe schließend, in ihr Zimmer zurück.

Auf seinem Antlitz lag ein Zug tiefster Befriedigung.

Das war ja wohl ein gutes Werk gewesen.

*

Zu seiner großen Verwunderung zeigte sich das Doktorehepaar über dieses Geschehen nicht erfreut, sondern eher bestürzt. Der Professor hatte befriedigt davon zu erzählen begonnen. Als er aber bemerkte, daß das Ehepaar erschrockene Blicke wechselte und betreten schwieg, verging auch ihm die Lust an weiterem Berichten.

»Sie scheinen von dem Geschehen nicht gerade entzückt zu sein«, begann er, nach Aufklärung suchend. »Bestehen Bedenken dagegen, daß ich das Mädel mitnehme? Sagen Sie Ihre Meinung nur rund heraus.«

Die beiden sahen einander voll Unbehagen an.

Wie sollten sie dem berühmten, von ihnen so verehrten und ihnen im Alter überlegenen Mann das sagen, was sie dachten?

»I hab mir halt«, begann schließlich die Doktorin zu stottern, »i hab mir halt denkt: wer weiß, ob's der Josefa gut tut, so plötzlich in der Großstadt …«

Der Professor runzelte die Stirne. »Auch das Land kann einem solchen zarten Geschöpf schaden. Haben Sie nicht selbst den Vorschlag gemacht, daß wir sie von der ländlichen Arbeit erlösen sollen? Haben Sie nicht gesehen, wie sich das Kind in den drei Wochen erholt hat? Sie ist ja förmlich aufgeblüht.«

»Das ist schon richtig, aber …«

»Oder hätten Sie, wenn ich nicht gekommen wäre, die Josefa daran gehindert, eine Stelle in Wien anzunehmen? Bitte, sagen Sie das doch.« Seine Stimme klang ein wenig ungeduldig.

»Nein«, gestand der Doktor.

»Was kann es also dann für Bedenken geben? Oder meinen Sie, das sie bei mir etwa …« Er machte eine kleine Pause. »Ich glaube Ihnen doch gesagt zu haben, daß ich verheiratet bin.«

Aufgeregt wiesen die beiden den Gedanken zurück, daß sie eine solche Annahme geleitet haben könnte.

Schon wollte Dr. Müller einen Anlauf nehmen und die Wahrheit sagen, da blitzte es im Antlitz der jungen Frau auf, und ein Blick sagte ihm soviel wie: »Ich hab's. Das ist das Richtige.«

»Wann ma ehrlich sein wollten, Herr Professor«, begann die junge Frau, »hätten wir halt die Josefa selber gern in unser Haus aufgenommen. Ich brauch bald a Hilf, und da war mir das Mädel halt gerade recht. Wir würden sie halten wie das Kind im Haus.«

»Ach so?« Die Stimme des Professors klang ein wenig gedehnt. »Ja, das ist dann freilich etwas anderes. Da haben Sie ja wohl das Vorrecht.«

Er bemerkte, wie die beiden erleichtert aufatmeten.

»Nur eins«, setzte er langsam fort, »muß ich mir nunmehr von Ihnen erbitten: daß Sie das dem Mädchen beibringen. Sie hat eine derartig maßlose Freude gehabt, daß ich – hm –«, er hüstelte, »offen gestanden, nicht recht weiß, wie ich ihr das jetzt begreiflich machen soll …«

Hiermit war der Fall für diesen Abend erledigt.

Es kam aber nicht mehr die sonst gewohnte gemütliche Stimmung auf.

Alle drei waren befangen.

Alle empfanden es als Erlösung, als der Professor vorzeitig aufbrach und sein Zimmer aufsuchte.

Er lag noch lange wach und hörte das junge Paar noch geraume Zeit hindurch eifrig reden.

Er hatte sie bis jetzt noch nicht streiten gehört.

Warum waren sie nicht einer Meinung?

Was sprach dagegen, daß er das Mädchen mitnahm?

Er drehte sich im Bett und legte sich auf den Rücken.

Durch einen Ritz im Fensterladen schimmerte Mondlicht und zeichnete einen feinen gelblichweißen Strich auf den düsteren Schrank zur Seite.

So schwach der Schimmer war, er hinderte ihn doch am Einschlafen.

Vielleicht war es wirklich besser, wenn das Mädchen nicht mitkam. Wie war das nur gewesen, als ihm das Kind zum erstenmal entgegengetreten war? Etwas an diesem Blick der großen fragenden Augen war ihm fast ein wenig unheimlich gewesen. Er hatte dem Blick damals ausweichen müssen wie ein ertappter Sünder.

Sollte sein Grundsatz, der erste Eindruck habe eine nicht wegzuleugnende Bedeutung, auch hier gelten? Hatte er den treuen Blick des Mädchens nicht inzwischen hundertmal auf sich ruhen gefühlt?

Natürlich! Alles andere war Unsinn! Hirngespinst! Das Mädel war treu und ergeben. Schade, sehr schade.

Er ertappte sich dabei, daß er sich in den Gedanken, Josefa mitzunehmen, schon recht tief hineingedacht hatte. Er hatte sich schon vorgestellt, wie sie in seinem Wiener Laboratorium neben ihm stehen und ihm in ihrer stillen, unaufdringlichen Art die Geräte reichen würde. Er sah sie in einem weißen Arbeitsmantel den Gang zu seiner Wohnung hinübergehen.

Und jetzt … jetzt drehte sie sich um und lächelte ihn an.

Herrgott! Er war doch nicht am Ende in das Kind verliebt?

Nein! Das nicht. Zumindest nicht im landläufigen Sinn. Aber man kann sich auch in einen treuen Hund bis zu einem gewissen Grad verlieben und eine plötzliche Trennung als bitter empfinden.

Und was für eine tolle Freude das Kind gehabt hatte, als er ihr den Vorschlag gemacht hatte.

War es nicht eigentlich ein Versprechen gewesen, das er nun nicht halten sollte?

Er schlief wenig in dieser Nacht und mußte sehen, wie der Mond langsam weiterschlich und der feine Strich am Schrank auf den Fußboden wanderte, dann zu ihm auf das Bett herauf kroch und schließlich kürzer und kürzer wurde.

Dann war es dunkel.

Er horchte auf.

Hörte er weinen?

Nein! Es war Täuschung.

Ärgerlich warf er sich auf die andere Seite. Die Hitze mußte ihn wohl mitgenommen haben. Er war doch sonst nie so weich gewesen.

Was hatte es zum Teufel für eine Bewandtnis mit diesem Mädel? Strahlte dieses nichtige, kleine Geschöpf eine solche Kraft aus?

Was war das mit ihr? Sie war weder gescheit noch wußte sie viel. Was ihr Vater in sie hineingetrichtert hatte, war zum Großteil wieder vergessen. Sie war nicht hübsch, nein, gewiß nicht. Was war es also, was aus diesem unscheinbaren Körper sprach?

Der Arzt ließ an seinem geistigen Auge die Reihe seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorüberziehen. Was waren da für prächtige Menschen darunter gewesen, prächtig in jeder Hinsicht! Wissenschaftlich geschulte, kluge und tatkräftige, fleißige und ausdauernde Menschen, manch einer auch mit ganz guten, neuen Gedanken.

»Herrgott noch einmal!« Der Professor setzte sich auf und rieb sich die Augen.

Was war das?

Alle diese Gestalten hoben sich von ein und demselben Hintergrund ab und da war immer wieder das Antlitz Josefas mit den beiden großen fragenden Augen.

Das ging nicht mehr mit rechten Dingen zu. Das war eine verdammte Hexerei der Nerven.

Es war ganz gut, daß das Mädel hierblieb. Sehr gut sogar.

*

Am nächsten Morgen stand Professor Kröner absichtlich später auf als gewöhnlich.

Er wollte der jungen Doktorin Gelegenheit geben, frühzeitig mit Josefa zu sprechen. Wenn er dann ins Spital hinunterkam, war die Sache erledigt.

Er hatte wahrhaftig keine Lust dazu, das heulende Mädel zu trösten. Nein!

Er zog sich mit grimmiger Miene an. Dann stieß er die Fensterläden auf. Heißer Sonnenschein flutete herein.

Er pustete unwillig. Es war höchste Zeit, daß er von hier wegkam.

Im Speisezimmer unten begrüßte ihn der Doktor.

Auch der sah unausgeschlafen aus und schien schlimmer Laune. Die ordnende Hand Frau Burgis fehlte. Sonst hatte diese die Tassen vollgeschenkt, die Butterbrote gestrichen, das Brot geschnitten.

Das sonst gewohnte behagliche Gespräch kam nicht in Fluß.

*

Es war schon ziemlich spät am Vormittag, als die Doktorin auf der Dorfstraße auftauchte. Sie sah sehr erhitzt und erregt aus.

»Da stimmt etwas nicht«, meinte Dr. Müller, indem er seiner Frau in den Hausflur entgegenging.

Die Doktorin legte sofort los. »Ich sag dir, von dem Mädel haben wir eine ganz falsche Vorstellung. Sie glaubt es nicht, daß ich die Wahrheit rede und daß der Professor einverstanden ist, daß sie dableibt. Das läßt sie sich nur von ihm sagen. Sie glaubt es nicht. Glaubt es nicht.«

Die junge Frau schrie die Worte förmlich vor sich hin.

Die Tür zum Speisezimmer ging auf, und der Professor trat in den Flur.

»Sie verzeihen!« sagte er. »Aber Sie haben so laut gesprochen, daß ich es hören mußte. Ich gehe also selbst hinunter, um die Sache in Ordnung zu bringen.«

Die Doktorin sah an ihm vorbei in die Ecke. »Ich beneid Sie nicht um das Geschäft, Herr Professor.«

»Das heißt also doch wohl«, meinte der Professor, »daß das Mädel durchaus mitkommen will.«

»Natürlich!«

Der Gelehrte neigte sinnend den Kopf. »Sie wissen, ich war gestern abends einverstanden, daß die Josefa hierbleibt. Ich hatte ja auch nichts getan, um ihren Entschluß zu beeinflussen. Wenn Sie es nun wünschen, werde ich, schon aus Dankbarkeit meinen lieben Gastgebern gegenüber, versuchen, das Kind zu bewegen, hierzubleiben …«

»Nein!« Die junge Frau drehte sich jäh herum. »Das müssen S' net tun, Herr Professor. Soll sie machen, was sie will, das halsstarrige Ding, das.«

»Aber, Burgi!«

»Nix ›Burgi‹! Glaubst du, ich will mir dann ewig das lange Gesicht anschauen, in dem es geschrieben steht, daß sie lieber wo anders war? Ich sag dir, Franz. Die Augen, die sie mir gemacht hat, wie ich es ihr gsagt hab! Ich hab keine Lust, noch einmal solche Augen zu sehen …, kei … ne … Lust. Nein! Aus! Die Josefa fährt nach Wien.« Sie wandte sich ab und entschlüpfte in die Küche.

*

Kaum hatte der Professor das Haus der Doktorsleute verlassen, als er wie befreit aufatmete.

Es war also alles in Ordnung. Er konnte das Mädel mitnehmen und mußte es nicht erst trösten.

Unglaublich geschwind war er im Schulhaus und stieß die Tür zum Laboratorium auf.

Josefa stand vor ihm.

Sie hielt die Hände über der Brust gekreuzt und sah ihm mit weitgeöffneten Augen entgegen.

Er wußte, jetzt brauchte er nur diesem Blick standzuhalten. Dann wußte sie, woran sie war.

Und es war so. Einen einzigen kleinen Schritt trat sie ihm entgegen. Dann zuckte es um ihre Mundwinkel, und ein leises, seliges Lächeln breitete sich über ihr Antlitz.

Sie bewegte leise die Lippen, dann hob sie die Hand leicht in die Höhe, als greife sie nach irgend etwas Kostbarem.

»Net wahr«, flüsterte sie, »es is net wahr, was die Doktorin gsagt hat?«

Er stand und lächelte.

»I hab's gwußt, Herr Professor.«

Sie ging langsam auf ihn zu.

Er hob die Hände und ergriff die ihren.

»Du fährst mit mir, Josefa.«

Er spürte, wie sie zitterte. Aber ihre Augen lagen mit einem glückstrahlenden Lächeln auf seinem Antlitz.

*

Zwei Tage später fuhr der Professor von Oberflins ab.

Zahlreiche Einwohner von Oberflins halfen beim Verpacken der Geräte. Nicht wenige taten es aus Dankbarkeit. Hatte sie doch das Serum des Professors oder seine Schutzimpfung vor bösen Folgen von Schlangenbissen bewahrt.

Er selbst war sehr vergnügt. Seine Versuche waren über Erwarten gut gelungen und berechtigten ihn zu hohen wissenschaftlichen Erwartungen.

Dann war der große Wagen, wohlgewaschen und hellblinkend, aus der Scheune, die ihm als Unterkunft gedient hatte, hervorgerollt, die Kisten und Pakete waren verstaut worden.

Es ging ans Abschiednehmen.

Der Professor und die Doktorsleute tauschten noch einmal aufrichtig gemeinte Dankesworte, er für die Einladung und die liebe Aufnahme, die beiden für die Anregungen und Ratschläge, die er ihnen im Laufe seines Aufenthaltes gegeben hatte.

Von Josefa war in diesem Gespräch nicht die Rede.

Das Mädchen stand schmal und scheu ein paar Schritte abseits.

Sein Abschied von den beiden Doktorsleuten gestaltete sich kurz.

»Bleib gesund, Mädel«, sagte der Doktor einfach. Die Doktorin sah sorgenvoll drein. Sie hatte wohl beobachtet, mit welchem Blick der Treue und Anhänglichkeit das Kind an seinem neuen Beschützer hing. Das war nicht bloß Treue, das war nicht bloß Anhänglichkeit, stellte sie fest.

Weiß Gott, wie das ausgehen mochte.

Der Professor war es wohl gewohnt, daß ihn anbetende Schülerinnen und Schüler umgaben, er nützte wohl jede Hilfskraft, die sich ihm darbot, bedenkenlos aus, ohne sich zu kümmern, ob ihr das guttat.

Sie sah scharf zu dem Professor hinüber, wie er mit einem selbstgefälligen Lächeln die Dankesworte der Einwohner entgegennahm. Und wie ihn namentlich die Frauen der Sommerfrischler umdrängten! Mein Gott ja, er war groß, stattlich, genau genommen, ein schöner Mann.

Wie wohl seine Frau aussehen mochte? Ob die auch schön war?

Die war wohl auch in den großen Mann vollständig verschossen. Wenn sie dann merkte, daß Josefa …

Die Doktorin preßte die Lippen zusammen. Es reute sie jetzt, daß sie gelogen und dann nicht den Mut gehabt hatte, die Lüge einzugestehen.

Der Wagen war fertiggepackt. Josefa saß neben dem Professor. In dem riesigen, weichgepolsterten Sitz verlor sich ihre kleine Gestalt.

Nun hatte sich der Professor in den Staubmantel gehüllt und neben ihr Platz genommen. Ein Hupsignal schreckte zum Spaß die kreischende Dorf Jugend. Der riesige Wagen setzte sich in Bewegung, schaukelte über ein paar Unebenheiten des Dorfplatzes, fiel wuchtig und dumpf dröhnend in die Fahrrinne der Straße und schob sich um die Ecke.

Ein paar Kinder trabten bloßfüßig nach. Die übrigen Bewohner verloren sich in die Häuser. Denn der Himmel hatte sich – nach mehr als vier Wochen sengenden Sonnenscheins – umzogen, und ein Gewitter drohte im Westen.

Als der Wagen verschwunden war, sahen Dr. Müller und seine Frau einander mit ernsten Gesichtern an.

»Wenn das nur gut ausgeht«, sagte er leise. »Wär schad um das Kindel. Sie hat einen so guten Kern, die Josefa. Aber schließlich, der Professor is doch auch nicht blind. Und wenn sie …«

Er verstummte.

Die blonde Frau schob ihren Arm unter den seinen. »Woaßt, Franzl«, sagte sie leise, »ganz kenn i mi mit dem Professor net aus. Er hört's gern, wenn aner ihm sagt, daß er a ›Wohltäter der Menschheit‹ is. I glaub, er büld si viel drauf ein.«

»Er ist auch ein Wohltäter, Burgi.« Der Doktor sah seine Frau verwundert an.

»Is schon recht«, meinte die. »Aber ob er halt so a wirklich guter Mensch is?«

»Warum zweifelst du daran, Burgi. Hat er uns den geringsten Grund dafür gegeben?«

»Naa, Franzi.«

»No siehst du, Burgi!«

»Trotzdem!« Die kleine Frau sagte es trotzig.

*

»Also, das ist nun Josefa, liebe Liesel«, sagte Professor Kröner zu seiner Frau.

Josefa überschritt zögernd die Schwelle zu der sonnenüberfluteten Terrasse, auf der, von einem riesigen roten Schirm überdacht, der Frühstückstisch stand, an dem das Ehepaar Kröner Platz genommen hatte.

Scheu starrte das Landkind auf die ihm ungewohnte Pracht, auf den mit geschmackvollem Geschirr und allerlei Herrlichkeiten überladenen Tisch, auf den Professor, der in weißer Tennishose und lichtem Hemd in einem Korbsessel lehnte und behaglich an einer Zigarre sog, und auf eine stolze Frauengestalt, die, unsagbar vornehm und zurückhaltend, neben ihm mehr thronte als saß.

Ihr Vater hatte in seinem Studierzimmer ein Bild hängen gehabt. Da saß eine in weiße, wallende Gewänder gehüllte Frauengestalt an einer Mauerbrüstung, stützte das Haupt in einer Hand und sah sehnsuchtsvoll in die Weite. Tiefschwarzes Haar lastete in einem schweren Knoten auf dem Nacken.

Ihr Vater hatte ihr das Bild einmal erklärt. Das sei eine griechische Königstochter, die in der Fremde lebe und voll Sehnsucht über das Meer nach der Heimat Ausschau halte.

War diese Königstochter lebendig geworden? Diese Frau in dem weißen Sommerkleid, mit dem dunklen Haarknoten im Nacken, mit dem klaren, marmorweißen Gesicht und der feingeschnittenen Nase, sah sie nicht dieser Königstochter gleich?

»Nun, Josefa, willst du nicht näher kommen?« fragte der Professor. Er hatte mit Genuß den Eindruck verzeichnet, den die Erscheinung seiner Frau auf das Mädchen gemacht hatte. Nun erhob er sich lächelnd aus seinem Korbsessel und trat neben Josefa. »Nun, Kind?« Er nahm sie sanft am Arm und schob sie näher.

Nun stand auch die Frau Professor auf.

Sie war beinahe so groß wie der Professor, also eine für eine Frau ungewöhnlich hohe Erscheinung. Sie hatte eine ungemein ruhige Art der Bewegung. Das zeigte sich schon darin, wie sie dem scheuen Mädchen eine wohlgepflegte schmale Hand reichte, in die Josefa nun ihre braune, kleine Arbeitshand legte.

Wie war diese feine, vornehme Hand kühl!

»Wie haben Sie geschlafen, Fräulein Kronlachner?« Die Stimme der Frau Professor klang voll und musikalisch wie der Ton eines tiefen Instrumentes.

»Ach, so guet«, flüsterte Josefa. »I weiß gar net, wia i ins Bett kommen bin.«

»Das glaub ich«, lachte Professor Kröner. »Die Josefa hat ja die halbe Fahrt verschlafen.« Er fuhr ihr leise über das Haar. »Bums! ist sie mir mit dem Kopf auf den Arm gefallen, daß ich kaum hab lenken können.«

»Mein Gott!« stammelte Josefa erschrocken.

»Wollen Sie nicht ein wenig Tee nehmen?« lenkte die Frau Professor ab.

»I bitt schön, gnädige Frau.« Josefa nahm auf der Kante eines Strohsessels Platz und sah zu, wie die Frau Professor mit ihren schlanken Händen auf dem Tisch hantierte.

Zwischendurch gab sie Antwort auf die Fragen, wie sie mit ihrem Schlafzimmer zufrieden sei und was sie etwa vermisse.

»Ach, nix, gnädige Frau. I kumm mir ja vor, wia a Prinzessin im Märchen. So a schönes Bett und die vielen Blumen. Mir wird's völlig leid sein, wann i wieder außa muaß aus dem Zimmer.«

»Warum sollst du denn wieder heraus müssen?« fragte der Professor erstaunt.

Josefa sah mit offenem Mund auf ihn. »I … I …«

Er lachte wieder auf. »Ja, mein liebes Kind. So sehen alle Zimmer hier im Hause aus. Jede meiner Schwestern hat so ein Zimmer.«

»So schön?«

»Freilich, so schön!« ahmte er ein wenig spöttisch nach. »Das ist von nun an dein Zimmer, Josefa. Es unterscheidet sich von den Zimmern der anderen Schwestern nur dadurch, daß es einzeln liegt, zwischen meiner Privatwohnung und meinem Laboratorium. Die anderen Schwestern wohnen ein Stockwerk höher, näher zu den Krankensälen. Aber meine Laboratoriumsgehilfin will ich in unmittelbarer Nähe haben. Ja, mein Kind. Denn der Dienst hier ist nicht so gemütlich wie in Oberflins, das habe ich dir ja schon dort gesagt. Ich arbeite oft bis tief in die Nacht, und meine Laboratoriumsgehilfin muß dann mit mir wach bleiben. Oder zumindest in erreichbarer Nähe sein.«

»Wenn das Fräulein diesen Ansprüchen nur gewachsen sein wird«, sagte die Professorin mit einem zweifelnden Blick auf die zarte Gestalt Josefas.

»O gewiß«, beeilte sich diese zu versichern. »Schwerer als die Arbeit bei die Bergbauern kann's net sein.«

Die Frau Professor sah mit einem leisen Lächeln zu, wie Josefa den Herrlichkeiten des Frühstücks mit Begeisterung zusprach. Es war erstaunlich, was das kleine Persönchen unterbrachte. Buttersemmel um Buttersemmel, Kuchen um Kuchen verschwanden in rascher Folge.

Tirol muß ein sehr hungriges Land sein, dachte sie belustigt.

Auch der Professor sah vergnügt zu. Das Gespräch war ganz eingeschlafen. Nach einer geraumen Weile erschien in schneeweißer Schwesterntracht eine kugelrunde, aber trotzdem unglaublich bewegliche Person mit einem bereitwillig lächelnden Vollmondgesicht. Mit einer kleinen komischen Verbeugung – es sah aus, als rutsche ihr der rotwangige Kopf plötzlich auf die Brust – blieb sie vor dem Tisch stehen.

»Guten Morgen, Mali«, begrüßte sie der Professor. »Hier übergebe ich Ihnen unsere neue Errungenschaft, die Josefa Kronlachner. Das ist unsere Oberschwester, Josefa«, erklärte er. »In allen Dingen, in denen du Weisungen nicht von mir bekommst, erhältst du sie von der Oberschwester.«

»Willkommen«, sagte die kleine, dicke Person und streckte Josefa eine wohlgepolsterte Patschhand entgegen, in die Josefa willig einschlug.

»Sie werden«, ließ sich der Professor weiter vernehmen, »die Josefa jetzt vor allem einkleiden. Wenn wir keine Schwesterntracht für ein so schmales Geschöpf haben, dann muß sie eben rasch geschneidert werden. Hernach führen Sie die Schwester Josefa oder Sefi einmal durch das ganze Gebäude. Um zehn Uhr bringen Sie sie mir wieder ins Laboratorium herunter.«

»Jawohl, Herr Professor.« Die Oberschwester ließ wieder den Kopf nach vorne rutschen. Dann zögerte sie einen Augenblick. »Und Schwester Albertine?« fragte sie vorsichtig.

Die Frau Professor wandte sich zum Professor.

Josefa hob den Kopf.

Wer war Schwester Albertine?

Der Professor runzelte die Stirne und blies nachdenklich den Rauch seiner Zigarre vor sich hin. »Schwester Albertine wird wohl kaum vor drei Wochen auftauchen.«

»Sie hat aber noch alle ihre Sachen in dem Zimmer«, warf die Oberschwester ein.

Der Professor schloß für einen Augenblick die Augen. Dann warf er einen Blick auf Josefa. »Tut nichts. Lassen Sie die Sachen der Schwester Albertine sorgfältig verpacken und ins obere Stockwerk schaffen. Wenn Albertine zurückkommt, wird sie oben Dienst machen … Worauf warten Sie noch?« setzte er ungeduldig hinzu, als er sah, daß die Oberschwester zögerte.

Diese erschrak über den ungeduldigen Ton. »Jawohl, wie der Herr Professor befehlen«, murmelte sie. »Kommen Sie mit, Schwester Josefa«, sagte sie zu dem Mädchen gewandt, das neben ihr stand. Der Kopf zuckte vor, die kleine Dicke rollte gegen die Terrassentür.

Josefa machte einen Knix. Aber weder der Professor noch seine Frau achteten darauf. Der Professor sah auf seine Zigarre, als ob sie seinen Wünschen nicht gehorche und zu lässig brenne, die Frau Professor aber hatte die Augen auf ihn gerichtet.

»Hast du bei deiner Entscheidung bedacht«, ließ sie nach einer unbehaglichen Pause ihre dunkle Stimme ertönen, »wie Albertine diese Versetzung ins obere Stockwerk aufnehmen wird?«

Der Professor erwachte aus seinem Sinnen und sah seine Frau erstaunt an.

»Albertine?« fragte er. »Albertine wird dort Dienst machen, wo ich es anordne.«

»Wo du es anordnest …«, erwiderte sie bitter. »Das hast du ganz vergessen, daß Albertine sich diese Stellung in dreijähriger aufopferungsvoller Arbeit erkämpft hat.«

»Aufopferungsvolle Arbeit«, erwiderte er mißmutig. »Was für hochtrabende Ausdrücke, Liesel. Albertine war verwendbar. Ich gebe es zu. Aber ich bin gewohnt, jeden und jede dort zu verwenden, wo ich es für meine Arbeit für wichtig halte. So habe ich es immer gehalten und werde es auch weiter tun.«

»Und ist dieses …, dieses dürftige Geschöpf, diese Josefa, die du jetzt mitgebracht hast, tatsächlich so ein Ausbund an Brauchbarkeit?«

Professor Kröner richtete sich auf. Über sein Antlitz flog ein spöttisches Lächeln. »Liesel! Was soll denn das? Seit wann erweckt denn meine Einteilung des Personals deine Teilnahme?« Er lächelte mit einem deutlichen Zug von Überlegenheit.

Sie sah einen Augenblick auf ihre Hände, deren linke einen mächtigen, mit einem herrlichen Saphir geschmückten Ring auf dem Ringfinger der rechten Hand drehte. »Du hast mir oft vorgeworfen, daß ich deinen Arbeiten nicht die genügende Teilnahme entgegenbringe. Gut, ich verstehe nichts von Toxinen und Antitoxinen, ich fürchte mich vor diesen grauenvollen und geheimnisvollen Dingen.«

»Und hast doch einen Mann geheiratet, dessen Arbeitsfeld diese Wissenschaft ist.«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr ebenmäßiges Gesicht. Aber sie ging auf den scherzhaften Ton, den er angeschlagen hatte, nicht ein. »Ich habe mich immer gehütet, Hubert, dir in diesen Dingen Ratschläge zu geben. Da bist du unumschränkter Herrscher. Da ist dein Gebiet. Aber ob du auf dem Gebiet der Menschenbehandlung ebenso untrüglich das Richtige findest, Hubert …«

»So?« Er sah sie spöttisch an. »Sag mir hier in meinem Betrieb irgend jemand, der nicht auf dem richtigen Platz ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »So meine ich es nicht, Hubert. Aber ob die Leute in deiner Umgebung nicht vielleicht noch ganz anderes leisten würden …«

»Oh?« Er richtete sich auf. »Ganz anderes leisten würden? Schau, schau! Möchtest du mir vielleicht sagen, wer nach deiner Meinung keine volle Leistung zeigt?«

Frau Elisabeth hob die Oberlippe, so daß zwei Reihen wundervoll weißer Zähne sichtbar wurden. Ihr Gesicht bekam durch diese leise Bewegung einen leicht verächtlichen Zug. »Du weißt, daß ich nie etwas sagen werde, was irgendeinem deiner braven Leute schaden könnte. Du hast mich nicht verstanden oder willst mich nicht verstehen. Aber glaubst du, die Albertine wird mit derselben Begeisterung im oberen Stockwerk arbeiten, wie sie es im Laboratorium getan hat? Sie wird diese Versetzung als eine Zurücksetzung empfinden und das wird sie lähmen.«

»Sie soll sich nur nicht zu sehr lähmen lassen«, grollte nun ernstlich unwillig der Professor. »Sonst fliegt sie raus.«

Die Frau Professor zuckte leicht zusammen. »Fliegt sie raus«, erwiderte sie traurig. »Dieses brave, arbeitsame Mädel willst du auf die Straße setzen?«

»Das sag ich doch nicht. Nur, wenn sie ihren Dienst nicht so tut, wie sie soll. Im übrigen, Albertine ist groß und stark. Sie kann ich beim schweren Krankendienst verwenden, wo es gelegentlich Kranke zu heben und zu tragen gilt. Josefa ist das nicht imstande.«

»Und du bist überzeugt, daß diese Josefa dir im Laboratorium die Dienste leisten kann, die du von ihr erwartest?«

»Davon, liebe Liesel, hat sie mich schon in Oberflins ›überzeugt‹! Eine andere Frage ist, wie sie sich hier in der Großstadt eingewöhnen wird. Von meiner engeren Mitarbeiterin muß ich Umgangston und Lebensart verlangen. Josefa ist zwar die Tochter eines Schulmeisters, aber aus der Bauernumgebung nicht herausgekommen. Sie braucht Schliff in dieser Hinsicht. Ich wäre dir dankbar, wenn du sie in die Kur nehmen wolltest. Ein bißchen Belehrung kann nicht schaden. Und du kommst auf diese Weise zu einer Beschäftigung, nach der du immer verlangst.«

»Ich habe mich auf erzieherischem Gebiet noch nie versucht«, sagte die Frau Professor abwägend. »Aber ich will es einmal erproben. Das arme Ding dauert mich ohnehin.«

»Warum dauern?« Er hob erstaunt den Kopf.

»Sie wird es nicht leicht haben, Hubert. Eine Neue hat es nie leicht, wenn sie in ein eingespieltes Unternehmen eintritt. Und nun gar, wo sie auf den bevorzugten Posten im Laboratorium kommt.«

Der Professor hatte die Zeitung ergriffen, die vor ihm auf dem Frühstückstisch lag. »Ich werde dir etwas sagen, Liesel. Wenn du deiner Albertine etwas Gutes tun willst, dann gib ihr den Rat, daß sie mir nicht mit einem verdrossenen Gesicht in den Weg läuft. Sonst mache ich von vornherein Schluß mit ihr.«

Der Professor hatte sich in heftigen Zorn geredet. Er warf die Zeitung ungelesen auf den Tisch, erhob sich und ging ein paar Schritte auf der Terrasse auf und ab.

Über die Gärten her klang der Schlag einer Kirchturmglocke.

»Ein Viertel vor acht«, murmelte er. »Höchste Zeit, daß ich nach dem Rechten sehe.« Plötzlich flog ein freundlicher Zug über sein Gesicht. »Oberflins war für mich eine Fundgrube, Liesel. Jeder einzelne Fall eine Bestätigung meiner Theorie über die Blutgruppen und ihr Verhalten gegen Toxine. Jetzt bin ich dort, wo ich sein wollte. Das heißt auf der ersten Stufe.«

Er ging in selbstgefälliger Haltung ein paar Schritte auf und ab. »Hat der Äskulap-Verlag in der Zwischenzeit angerufen?«

»Ich weiß nicht, Hubert. Da mußt du Lorenz fragen. Aber ich glaube, er hat etwas davon gesagt.«

Er nickte zufrieden. »Ich kann es mir denken. Die warten mit Schmerzen auf die Druckbogen. Liesel, ich sag dir: es wird ein Schlag, eine Sensation, wie sie schon lange nicht da war. Wenn ich den Gedankengang fortsetze, so gelange ich schließlich zu der Auffassung, daß es keine irgendwie geartete Krankheit geben wird, die sich nicht durch irgendein Gift oder Gegengift bekämpfen läßt. Dann bleibt Altersschwäche als einzige unüberwindliche Todesursache. In allen übrigen Fällen kann ich sagen: Schach dem Tode.«

»Schach dem Tode«, wiederholte die Frau Professor nachdenklich.

»Ja, Schach dem Tode«, sagte er stark. »Schade, daß ich das Buch nicht so benennen kann. Es klingt zu wenig wissenschaftlich, zu wenig gelehrt. Aber es wäre der richtige Titel.«

»Ich würde ihn nicht wählen, Hubert«, sagte sie leise.

»Und warum, wenn ich bitten darf?«

»Es klingt wie eine Herausforderung, Hubert.«

»Das will ich ja eben. Ich fordere den Tod heraus. Der soll sich stellen. Das ist es, was mich reizt. Ich gestehe ihm nur den Fall der Altersschwäche und mangelhafter Grundanlage zu. Einem körperlich unzulänglichen Menschen hilft natürlich kein Mittel. Und der alte Mensch muß sterben. Aber für alle übrigen bisher gesunden und lebensfähigen Menschen sage ich ihm den Kampf an. Das wird der Grundinhalt meines Buches sein, so wie es der Grundinhalt meines Lebens ist.«

»Es gibt auch seelische Krankheiten, Hubert.«

»Natürlich!« Er lachte etwas gezwungen auf. »Das ist ein echt weiblicher Einwand. Natürlich gibt es sie. Aber gebrochene Herzen, liebe Liesel, sind doch mehr oder minder Märchenangelegenheiten. Gesunde Menschen gehen seelisch nicht zugrunde. Da liegt denn doch immer irgendeine körperliche Unzulänglichkeit vor. Und da sind wir wieder dort, wo ich angefangen habe. Herrgott, ich … ich …« Er strich sich mit beiden flachen Händen über die vorgewölbte Brust. »Warum hat der Tag nicht achtundvierzig Stunden? Warum muß der Mensch schlafen? Es gäbe ja so viel, so unendlich viel zu leisten.«

Er trat vor seine Frau, hob ihr das Kinn und küßte sie auf den Mund.

Sie nahm die Liebkosung reglos entgegen, wehrte sich nicht, erwiderte sie aber auch nicht.

Das schien ihn nicht zu stören. Er nickte ihr noch ermunternd zu und verschwand dann mit großen, raumholenden Schritten.

Elisabeth seufzte leise auf, legte ihr Mundtuch zusammengefaltet auf den Tisch und läutete dem Mädchen.

Als dieses diensteifrig erschien, deutete sie stumm auf den Frühstückstisch und ging. Es sah aus, als gleite sie dahin. Das lange wallende weiße Morgengewand, das sie trug, verstärkte diesen Eindruck.

Im Speisezimmer, das, groß und weiträumig, für größere Veranstaltungen eingerichtet schien, wandte sie sich nach rechts und betrat, den nicht weniger geräumigen Salon durchschreitend, ihr eigenes Zimmer.

Waren die beiden vorhin durchschrittenen Räume durchaus hell, licht und modern eingerichtet, so war dieses Zimmer dicht angefüllt mit altvaterischem Hausrat im Rokokostil. Die vielen Polstermöbel, kleinen Tische, Vitrinen und zahllosen Porzellanfiguren gaben dem Zimmer den Charakter eines Museums. Polster, Nippfiguren, Standuhren und Vasen waren in großen Mengen über das Zimmer verteilt; aus der einen Ecke ragte ein schwarzpolierter Flügel heraus.

Frau Elisabeth trat an diesen heran und schlug ihn auf. Dann ließ sie sich auf den Drehstuhl vor der Tastatur nieder und begann zu phantasieren.

Erst waren es nur einzelne Akkorde, meist in Moll; dann entwickelte sich allmählich eine sanfte, melancholische Melodie mit einem immer wiederkehrenden, wehmütig klagenden Thema.

Elisabeth schloß die Augen, während ihre Finger mechanisch die Melodie unausgesetzt wiederholten, immer langsamer und langsamer, bis schließlich die Töne erstarben.

Dann ließ sie die Hände auf den Schoß herabsinken und öffnete die Augen.

Ein schwer lastender, müder und hoffnungsloser Blick haftete auf dem vielfach verschlungenen asiatischen Muster der Tapete.

In dieser Stellung blieb sie reglos, wie in Erwartung, sitzen.

*

Inzwischen führte Mali, die Oberschwester, Josefa durch die Anlagen der Krönerschen Heilanstalt. Zuerst verhielt sie sich dabei sehr einsilbig.

Eingeschüchtert und bedrückt huschte Josefa neben der runden Person einher und richtete von Zeit zu Zeit ängstlich die Augen auf ihre Führerin, die sich so mürrisch gab.

Als aber in der Kleiderkammer die Beschließerin immer neue, vergebliche Versuche machte, eine Arbeitskleidung für Josefa ausfindig zu machen und diese schließlich in einem Mantel stak, der um ihren schmalen Leib schlotterte, während ihre Hände vergeblich danach trachteten, aus den viel zu langen Ärmelröhren hervorzulugen, da mußte auch Mali lachen.

Mit einem Ruck überwand sie ihren Unmut.

»Sie können ja schließlich nix dafür, wenn dem Professor auf amal was einfällt«, sagte sie gutmütig.

»Mir tat's leid«, flüsterte Josefa, »wann sich a andre wegen meiner kränkt. Oba i kann nix dafür.«

»I waaß, i waaß«, begütigte Mali die Aufgeregte. »So is halt der Professor. Mein Gott.« Sie seufzte. »Da hilft ka Treu und Anhänglichkeit und ka Opfer, Jahr um Jahr. Wann er wen findt, der ihm besser paßt, er nimmt ean. Und der andere kommt zum alten Eisen. Mein Gott. Ja.« Sie holte tief Atem. »Er kennt halt nix wie seine Arbeit, der Professor. Wia i des der Albertine beibring, wann sie zruckkummt, des waaß i noch net.«

Hier unterbrach sich die Oberschwester. Sie schien zu bemerken, daß sie damit das neugekommene Mädchen verschreckte.

Denn Josefa stand in der nichtpassenden, viel zu großen Schwesterntracht wie ein Häufchen Unglück da und starrte ihre Führerin mit weitaufgerissenen, erschrockenen Augen an.

»Freilich können Sie nix dafür«, begann sie nunmehr Josefa zu trösten. »Sie haben ja net wissen können, wie's hier ausschaut. Machen S' Ihna nix draus, Schwester Josefa.«

*

Die Heilanstalt des Professors Kröner war seine eigene Schöpfung. Sie dehnte sich als ein großes und in hellweißer Farbe weithin leuchtendes Gebäude am Hang des Kahlenberges hin und war von vielen Teilen der Stadt wie ein Wahrzeichen sichtbar.

Mit Mali aus dem Erdgeschoß der rechten Hausseite kommend, wo sich das Laboratorium und die private Wohnung des Professors befanden, sah Josefa, daß hier eine große Halle das Hauptgebäude von vorne nach hinten durchbrach, eine Halle, die luftig und geräumig sich hindehnte, an den Wänden teilweise mit Marmor, teilweise mit farbigen Kacheln ausgekleidet war, was ihr ein ungemein sauberes Aussehen verlieh. Auf der dem Laboratorium gegenüberliegenden Seite der Halle kündigten große dunkle Buchstaben an, daß sich dort die »Aufnahme« für Kranke und die Schreibstube der Verwaltung befanden.

Durch eine Glastür daneben sah Josefa in einen endlos erscheinenden Gang, in den beiderseits weiße Türen einmündeten, über deren einer eben jetzt ein rotes Lämpchen aufglühte. Aus einer anderen Tür im Hintergrund des Ganges glitt hierauf eine weiße Schwesterngestalt und verschwand in der von dem Lämpchen gewiesenen Tür.

»Hier liegen die Krankenzimmer 1 bis 25«, erklärte die Oberschwester. »Um 9 Uhr ist ›Visite‹. Da besucht einer der Herren Doktoren die Kranken. Ein leeres Krankenzimmer zeige ich Ihnen oben. Hier unten ist alles belegt.«

Mali öffnete ein Gitter an der Seitenwand der Halle. Ein winziges, vornehm eingerichtetes Zimmerchen lud ein. Die Tür schloß sich. Josefa stieß einen spitzen Schrei aus. Es war das erstemal in ihrem Leben, daß sie in einem Aufzug fuhr.

Die Oberschwester lachte und geriet in gute Laune. Es schmeichelte ihr, der naiven Gebirglerin die Wunder eines modern eingerichteten Heilbetriebes zu zeigen. Das ständige Erstaunen der »Neuen« kitzelte ihre Eigenliebe. Sie wurde von Minute zu Minute gesprächiger, erzählte und fragte zwischendurch, so daß auch Josefa schließlich zutraulich wurde und ein wenig von ihrem Leben im Gebirgsdorf zu berichten begann.

In einem der mit aller Bequemlichkeit eingerichteten Krankenzimmer des ersten Stockes, von dessen Fenstern sich ein weiter Blick über das Häusermeer von Wien eröffnete, lud Mali ihren Schützling ein, ein wenig Platz zu nehmen.

Sie hatte im Verlauf des Gespräches erkannt, daß ihr Vorurteil gegen die »Neue« unbegründet war, ein Vorurteil, das dadurch entstanden war, daß der Professor, ohne sie, die Oberschwester zu befragen, bei seiner Ankunft mitten in der Nacht Josefa in dem Zimmer ihrer Freundin Albertine einquartiert und nun gar entschieden hatte, daß diese der »Neuen« weichen müsse.

Was mochte wohl diese »Neue« geleistet haben, daß es der Professor so sehr mit ihr hielt?

Mali hatte erwartet, daß sie es mit einem berechnend vorgehenden Mädchen zu tun haben werde, das die Lage dazu ausnützte, eine andere von ihrem Posten zu verdrängen. Aber schon das kurze Gespräch mit der jungen Tirolerin hatte ihr gezeigt, daß hier ein durchaus harmloses Mädel vor ihr stand, das keine Ahnung hatte, welche Folgen sein Erscheinen in der Heilanstalt für andere haben konnte.

Malis im Grunde sehr gutmütige Natur bereute es bald, daß sie der ihr Anvertrauten im Anfang so schroff entgegengetreten war. So bemühte sie sich denn jetzt, Teilnahme für das Geschick der einsamen Doppelwaise zu zeigen.

Sie traf dabei den Ton so gut, daß Josefa ins Plaudern geriet. Unter den schweigsamen Tiroler Bergbauern war ihr so gut wie nie jemand gegenübergetreten, der ihr Mitleid und Teilnahme bewiesen hätte. Die Bauern an den Steilhängen des Gebirges, die jede Stunde ihres kargen Lebens im Kampf mit einer verschlossenen und sparsamen Natur zubringen mußten, waren schlechte Zuhörer und noch sparsamere Frager gewesen.

Die freundliche dicke Person aber, die ihr nun gegenübersaß, zeigte ein so teilnehmendes Gesicht, daß Josefa in ein atemloses, hastiges Erzählen geriet.

Über das Gesicht Malis legte sich ein Zug der Rührung.

Was war das doch eigentlich für ein armes Geschöpf, dieses von aller Welt verlassene Mädel. Wie einfach und ergreifend, eben durch diese Einfachheit ergreifend, klang dieser Bericht von dem vergötterten Vater, der so klug und vielwissend gewesen war, der ihr, der Mutterlosen, auch die Mutter hatte ersetzen müssen, der für das unmündige Kind gedarbt und gesorgt, gekocht und die kleine Wohnung aufgeräumt hatte, weil ihm sein winziges Gehalt es nicht erlaubt hatte, eine Hilfe aufzunehmen. Wieviel Glück hatte trotz alldem in dieser jammervollen Armut geherrscht.

Und dann war dieses Glück auf einmal dahin. Der Vater war krank geworden, ach, so krank. Welch ein Bild des Leidens entrollte sich aus dieser einfachen Erzählung, die ohne Ruhmredigkeit vom stillen Heldentum zweier Leute berichtete, von einem Kranken, der, ohne zu klagen, ein zum Tode verurteiltes Dasein hinschleppte, um nur ja nicht das einzige auf der Welt, was er besaß, sein Kind, in einer lieblosen Welt allein zu lassen, und von dem jungen Geschöpf, das bedenkenlos seine Jugend opferte, um dem vergötterten Vater sein Leiden zu lindern, ihn nicht zu verlieren.

Und dann war es doch geschehen.

Josefa war allein gestanden.

Es hatte Leute gegeben, die ihr in ihrer rauhen Art Liebes erwiesen hatten, sie war da und dort an den Mittagstisch geholt worden, die Gemeinde hatte ihr die winzige Wohnung im Schulhaus eine Zeitlang überlassen. Dann war aber ein neuer Schullehrer gekommen. Sie hatte weichen müssen und schließlich in höchster Verzweiflung den Dienst bei dem verbitterten und vom Schicksal gehärteten Bergbauern angenommen. Der aber hatte sie ausgenützt.

Und nun war dieses plötzliche Glück gekommen, daß sie der Professor zur Mitarbeit herangezogen und nun gar nach Wien mitgenommen hatte.

Über Josefas Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln. »So gut is a zu mir gwesen, Oberschwester. So viel gut. I kann's gar net sagen. Des vergiß i eam mei Lebtag net, Oberschwester. Von Früh bis in die Nacht will i arbeiten, daß er sieht, daß i eam dankbar bin. Mein Gott, wann i denk, daß i mithelfen derf bei so aner wunderbaren Arbeit, bei aner Arbeit, die was so vielen Menschen hilft, Jessas, i weiß gar net, wie i das Glück verdien.«

Josefa hob die Hände und legte sie rechts und links an die Wangen, als fürchte sie, daß ihr der Kopf vor Glück zerspringe.

Mit einem leisen Lächeln sah sie zu der gerührten Oberschwester hinüber.

Ein bittender Ausdruck überflog ihr Gesicht. »Net wahr, Oberschwester, Sie werden mir sagen, was ich tun muß, daß er recht zfrieden is mit mir, der Herr Professor? Recht, recht zfrieden.«

Und Mali, die noch vor einer Stunde überlegt hatte, ob sie nicht einen Weg finden könne, die Neue ›unmöglich‹ zu machen, damit Albertine wieder ihren alten Posten antreten könne, die versprach es dem schmalen dunkelhaarigen Mädchen, daß sie sie in dieser Arbeit unterstützen wolle.

»Nun müssen wir aber weitergehen«, drängte sie mit einem entsetzten Blick auf die Uhr. »Ich versäum ja sonst meinen Dienst, und ich hab Ihnen noch nicht einmal ein Viertel vom ganzen Betrieb gezeigt.«

Josefa mochte fühlen, daß sie sich eine neue Freundin gewonnen hatte. Das war nun ein ganz anderer Ton, in dem die Mali sprach. Aus dem trockenen Bericht von früher wurde eine begeisterte Schilderung, aus der der Stolz hervorleuchtete, einem Betrieb anzugehören, der in seiner Art auf der ganzen Welt einzig dastand.

Aus aller Welt kamen, so berichtete Mali, Gelehrte, um sich die Einrichtung anzusehen, die großartigen Versuchsräume, das Laboratorium, die Tierfarm, in der ein ganzer Tiergarten verschiedener Versuchstiere gehalten wurde, die für die Erprobung der verschiedenen Einspritzungen des nun schon weltbekannten Krönerschen Serums nötig waren.

Josefa wäre gerne ein wenig bei den Tieren geblieben, aber Mali trieb zur Eile. Die »Visite« müsse schon vorüber sein, und der Professor werde wahrscheinlich schon im Laboratorium auf sie warten.

Sie solle nur ja recht ruhig und überlegt arbeiten, auch wenn er gelegentlich etwas rasch und hastig verlange. Ein einziger falscher Griff könne für sie und ihn und vielleicht auch für manchen Kranken die höchsten Gefahren bringen.

Die beiden waren während dieser Worte vom Park aus, in dem der kleine Tiergarten lag, wieder in die Halle getreten, und rechts abgeschwenkt.

»Hier haben S' den Schlüssel, Schwester Josefa«, sagte Mali, von ihrem Schlüsselbund einen seltsam geformten Schlüssel herabnehmend. »Das Laboratorium und die Wohnung vom Herrn Professor sind ganz von dem übrigen Bau abgeschlossen. Die Frau Professor und die Hausangestellten in der Wohnung betreten 's Haus durch a besondere Tür, die vom Garten aus zu erreichen ist. Diesen Schlüssel hier haben nur der Herr Professor, ich, der Laboratoriumsdiener und die Hilfsschwester im Laboratorium. Geben S' um Gotts willen acht, daß Sie ihn net verlieren. Ins Laboratorium darf niemand, nie...mand, der nicht vom Herrn Professor in jedem Fall eine besondere Erlaubnis hat.«

Sie zeigte Josefa, wie der eigenartige Schlüssel zu handhaben war. Die mächtige Tür öffnete sich geräuschlos, ein weißleuchtender Gang wurde sichtbar, an dessen einer Seite sich eine Reihe von hohen Fenstern hinzog, von denen der Blick frei auf den herrlichen Park hinausging. Auf der anderen Seite türmten sich zwischen zwei Türen ungeheure Kasten bis zur Decke. Einer davon war geöffnet und gewährte Einblick auf eine Unzahl ganz flacher Laden, von denen jede einzelne hochstellige Ziffern und sonderbare Zeichen trug. Eine hohe Leiter, die oberhalb der Kasten mit einer Rolle auf einer Schiene lief, ermöglichte es einem kleinen weißhaarigen Männchen, das eben im Anstieg begriffen war, bis zu der höchsten Schublade zu gelangen.

Als der kleine, in einen weißen Arbeitsmantel gehüllte Mann die beiden Mädchen eintreten sah, hielt er in seinem Anstieg inne und sah über eine tiefsitzende Brille hinweg mit mißtrauischen Augen herab.

»Das ist Herr Lorenz, Schwester Josefa«, sagte Mali, dem alten Männlein vertraulich zunickend. »Er hält fürn Herrn Professor die vielen Zehntausend von Präparaten in Ordnung. Und das hier«, sie deutete auf Josefa, »ist die neue Gehilfin, Herr Lorenz.«

»Einen Augenblick«, sagte das Männchen.

Er zog eine der Schubladen heraus, kramte eine Zeitlang in dieser, zog dann aus seiner Brusttasche eine Liste hervor und trug mit einem Bleistift, den er mit einer kleinen Kette an der Weste befestigt hatte, ein paar Zeichen oder Nummern ein. Dann schob er die Lade so sorgsam zu, als berge sie die edelsten Kleinode der Welt, und stieg wieder, jeden Tritt zuerst mit dem Fuß ertastend, bedächtig auf den Erdboden herab. Dort angelangt, schob er die Leiter an die Wand.

Jetzt sah Josefa, daß er nicht größer war als sie selbst.

Herr Lorenz schob die Brille auf die Stirne hinauf und sah sie aus zwei stark entzündeten und etwas trüben Augen an. »Mein Name ist Lorenz«, sagte er mit sehr hoher, fast weiblich klingender Stimme. »Freut mich, freut mich. Sind Sie vom Fach, Fräulein?«

Josefa gab Auskunft und erzählte, daß sie dem Professor bereits bei der Anlage von Präparaten geholfen habe.

Herr Lorenz wollte wissen, wieviel Präparate der Herr Professor etwa mitgebracht habe und sagte sachlich: »Es hilft nichts, Oberschwester, wir müssen die neuen Kasten sofort bestellen. In zwei Monaten bin ich fertig mit meinem Platz.« Eine tiefe Sorgenfalte grub sich in das ohnehin schon vom Alter und offenbar mancher Sorge zerknitterte Gesicht. »Zwei Kasten werden wir mindestens brauchen, wenn nicht drei.«

Mali lachte. »Schlafen S' ruhig, Herr Lorenz. Die Kasten werden zeitgerecht kommen.«

»Man kann sich nie zeitig genug versorgen«, brummelte er unmutig. Dann schien er zu fühlen, daß er der künftigen Arbeitskameradin doch wohl noch ein Wort schuldig sei, denn er fügte, ohne sein sorgenvolles Gesicht aufzuheitern, hinzu: »Wenn Sie etwas brauchen oder eine Aufklärung wünschen, ich stehe Ihnen zur Verfügung. Ich bin fünfzehn Jahre hier im Hause und der älteste Mitarbeiter vom Herrn Professor.«

»Fünfzehn Jahre?« wiederholte Josefa nachdenklich und bewundernd.

Nun heiterte sich das Sorgenantlitz doch ein wenig in selbstbewußtem Stolz auf. »Jawohl, Fräulein, vor fünfzehn Jahren, da hat es alles das, das ganze Institut hier, noch nicht gegeben. Das haben wir erst vor sechs Jahren gebaut. Früher waren wir in einem Privathaus nahe den Kliniken untergebracht. Das hat uns aber nicht genügt, und da haben wir uns entschlossen, selbst zu bauen. Zuerst …«

»Das müssens S' der Schwester Josefa einmal ganz ausführlich erzählen, lieber Herr Lorenz.« Mali legte sich lächelnd ins Mittel. »I muß jetzt die Schwester zum Herrn Professor führen, er wird sie schon brauchen.«

Er verzog verdrießlich das Gesicht. »Der Herr Professor ist eben in das Laboratorium gegangen«, knurrte er, warf dann einen mißgünstigen Blick auf die beiden und stieg wieder auf seine Leiter.

Mali lächelte Josefa beruhigend zu. »Fragen S' ihn in der Mittagspause um die Entstehung des Institutes und er ist wieder gut. Er wird's Ihnen noch hundertmal erzählen.« Sie legte plötzlich den Finger auf die Lippen. »Jetzt still, wir kommen ins Laboratorium. Nur eines noch: Die Tür mit dem Milchglas dort führt zur Privatwohnung, aber nicht unmittelbar. Zwischen dieser und einer ähnlichen Tür liegt das Zimmer, in dem Sie heute nacht schon geschlafen haben. Derselbe Schlüssel, den ich Ihnen gegeben habe, sperrt auch diese Tür hier. Vergessen Sie nie, sie abzusperren, auch dann, wenn Sie unzählige Male im Tag hin und hergehen müssen.«

Mali öffnete, auf den Zehenspitzen voranschreitend, mit einer schier feierlichen Gebärde die hohe weiße Tür zum eigentlichen Laboratorium.

Der südseitig gelegene Raum, in den die Vormittagssonne hereinströmte, empfing sie mit einer blendenden Helle, vor der Josefa einen Augenblick die Augen zuzwinken mußte.

Als sie sie wieder öffnete, sah sie den Professor heranschreiten. Er hatte sich von seinem Arbeitsplatz an dem einen der drei von der Decke bis zum Boden reichenden Fenster erhoben und kam nun auf sie zu. Er sah in dem weißen langen Arbeitsmantel womöglich noch größer und schlanker aus als sonst.

»Nun, Sefi«, fragte er, »zurück von der Rundreise?«

Sie nickte mit einem glücklichen Lächeln zu ihm empor.

»Gefällt es dir hier im Institut Kröner?« Seine Augen waren mit dem ihm eigenen, ein wenig überlegenen Zug auf sie gerichtet.

Josefa sah forschend zu ihm auf. Was konnte ihm, dem großen und bedeutenden Mann, an dem Urteil eines armseligen Landmädels liegen? Es war wohl nur eine Frage der Höflichkeit.

Aber der Umstand allein, daß er ihr so freundlich entgegenkam, machte sie froh.

»I bin ganz weg«, sagte sie. »So was Schöns hab i no nia net gsehen.«

»Na also!« lächelte er. »Dann wirst du dich ja bald eingewöhnen.« Er wandte sich an Mali. »Und Sie, Oberschwester, sorgen mir dafür, daß die Schwester Josefa in die Hausordnung der Schwestern eingeführt wird, ihre Rechte und Pflichten erfährt und möglichst bald sich einfügt.«

Mali machte einen bejahenden Knicks und sah sich entlassen.

Josefa stand mit dem Professor allein. Einen Augenblick war es ihr, als müsse sie die freundliche, dicke Mali zurückhalten, als ginge mit ihr ein sorgsamer Schutzengel aus dem Raum.

Sonderbar, dieses Gefühl. Stand doch neben ihr der Professor, ihr Retter aus Zwangsfron und seelischer Not, der ihr einen neuen Lebensinhalt gegeben hatte, gerade in dem Augenblick, als sie an ihrem Leben hatte verzweifeln wollen.

Sie schüttelte kurz den Kopf, als könne sie mit dieser Bewegung sich von dem eigenartigen Gefühl befreien, und richtete die Augen auf den Professor.

Der hatte sich inzwischen wieder gegen das Fenster zu gewendet. »Komm, Sefi«, sagte er. »Wir wollen nun hier unsere Arbeit aus Oberflins fortsetzen. In diesem Fahrkasten«, er schob ein hochbeiniges Gestell mit beiden Händen vor sich ein wenig hin und her, »findest du dein Handwerkzeug!« Er zog eine der zwölf flachen Laden des Gestells hervor. »Hier siehst du die verschiedensten Arten von Pinzetten, Bohrnadeln, Greifern und Spachteln. Jeder Zahnarzt würde mich um diese Sammlung beneiden«, lachte er. »Jedes einzelne Gerät hat eine ganz bestimmte Nummer, besser gesagt, jede einzelne Sorte. Denn du siehst, daß gewöhnlich sechs Stück oder noch mehr von einer Art da sind.« Er stieß die Lade zu und zog eine andere auf. Tatsächlich lagen da wohlgeordnet immer sechs oder noch mehr der feinen, zierlichen Geräte in Reih und Glied ausgerichtet.

»Die Großzahl der Geräte erklärt sich daraus«, fuhr der Professor fort, »daß keines der Geräte nach der Benützung irgendwo niedergelegt werden darf. Die Gifte, mit denen wir zu tun haben, üben zum Teil eine ganz fürchterlich zersetzende Wirkung aus, würden jedes Metall, jede Marmorplatte angreifen und bei einer zufälligen Berührung mit der Haut einer Hand oder eines Armes diese verätzen. Daher kommt jedes Gerät, und wenn ich auch nur einen einzigen, sekundenlangen Handgriff tue, sofort in eine antiseptische Flüssigkeit von größter Wirkungskraft.« Er bückte sich leicht und klappte am Unterteil des Kastens eine kleine Blechkappe hoch, unter der ein kreisrundes Loch sichtbar wurde. »Durch dieses Loch wird jedes benützte Gerät einfach in die antiseptische Flüssigkeit geworfen, die sich in einem Glasbehälter in der Tiefe des Kastens befindet. Hier in der zweiten Lade findest du die Gummihandschuhe. Ein Arbeiten hier im Laboratorium ohne Gummihandschuhe gibt es nicht. Ich selbst trage, wie du siehst, auch solche Handschuhe. Auch sie werden sofort gewechselt, wenn während einer Arbeitszeit zwei verschiedene Gifte drankommen. Das gebrauchte Paar kommt in diesen Korb an der Seite des Kastens«, er drehte den Kasten ein wenig. »Der Laboratoriumsdiener kommt jede Stunde einmal herein und wechselt diesen Korb ebenso wie den Glasbehälter mit der antiseptischen Flüssigkeit, bringt frischgereinigte Handschuhe und einen neuen Behälter mit Reinigungsflüssigkeit.«

»So, Sefi«, schloß der Professor seine Erklärung. »Und nun wollen wir zu arbeiten beginnen. Denke daran, wie ruhig und sicher du mir schon in Oberflins geholfen hast, und denke dir, du stündest noch im Schulzimmer deines Heimatortes, nicht aber in dem großen, unheimlichen Laboratorium der ›Giftbude‹, wie meine lieben, neidigen Kollegen von der Hochschule meine Heilanstalt zu nennen belieben.« Er nahm ein Paar Gummihandschuhe aus der offenen Lade des Fahrkastens und hielt sie Josefa hin. »Anziehen!« befahl er und lachte auf, als er sah, wie Josefas schmale Hand in dem Handschuh förmlich zu schlottern schien. »Für dich muß ich eine neue Nummer von Gummihandschuhen bauen lassen«, scherzte er. »Aber für die ersten Tage muß es auch so gehen.«

Er setzte sich mit raschem Schwung auf den Drehsessel vor seinem Mikroskop und begann zu beobachten.

Josefa trat ehrfürchtig dem vor Sauberkeit blitzenden Fahrkasten gegenüber und zog vorsichtig eine Lade nach der anderen heraus. Einige der Geräte waren ihr schon von Oberflins her vertraut. Bei den anderen las sie mit ernsthaft gerunzelter Stirne die überall genau vermerkten Bezeichnungen und Nummern und versuchte sich diese einzuprägen.

Da war eine Schublade mit feinen Glasplättchen angefüllt, die rechts und links feine farbige Bänder trugen und zierliche, weiße Papierstreifen, auf die wohl Nummern oder Namen eingetragen wurden. Sieh, da lugte ja auch ein zierlich kleines Tintenfaß hervor. Ein Schächtelchen mit feinen Zeichenfedern öffnete sich daneben. Hier lagen die hübschen Glastäfelchen mit den drei Vertiefungen für die Feststellung der Blutgruppen, die sie schon aus Oberflins kannte.

In einer weiteren Lade ruhten die feinen Glasphiolen für die Aufbewahrung des Giftes, auch sie mit verschiedenfarbigen Bändern und Papierstreifen versehen.

Dann schloß sich eine Lade an, in der Wattepfropfen und Gazetampons mit Binden und ganz feinen Leinenbandstreifen eingelegt waren als gelte es, Verwundete nach einer Schlacht zu verbinden. All dies diente wohl für die Versuchstiere.

Josefa fröstelte ein wenig trotz der Wärme, die den von der Sonne durchfluteten Raum erfüllte. Wie schrecklich, daß diese armen Lebewesen leiden mußten, damit andere geheilt werden konnten.

Sie schob die Lade rasch zu und öffnete die nächste.

Eine Unzahl von Fläschchen leuchtete ihr entgegen. Eine Querschrift belehrte sie, daß hier die verschiedenen Färbemittel eingereiht waren, die oft angewendet werden müssen, damit dem menschlichen Auge überhaupt erst die Beobachtung der Präparate möglich wird.

Sie buchstabierte einige der merkwürdigen Namen vor sich hin. Ob sie sich das wohl jemals würde merken können?

Sie schloß auch diese Lade und sah erwartungsvoll auf den Professor.

Keinen Augenblick zu früh.

Denn schon kam ein Befehl. Er betraf ein ihr bereits bekanntes Werkzeug. Aufatmend reichte sie es dem Professor.

Von diesem Augenblick an regnete es Aufträge. Da aber der Professor nahezu regelmäßig die Lade und die Kennziffer des Gerätes mitnannte, so war es ihr möglich, seine Wünsche zu erfüllen. Pinzetten, Glasplättchen, Phiolen reichte sie ihm in rascher Reihenfolge.

Ein leiser Tritt neben ihr ließ sie aufschrecken.

Lorenz, der Laboratoriumsdiener, war fast geräuschlos hereingeglitten. Jetzt beugte er seinen weißen Schädel über die unterste Lade, hob das Gefäß mit der antiseptischen Flüssigkeit heraus und trug es fort. Ein Augenzwinkern sollte Josefa wohl darüber beruhigen, daß er bald wiederkommen werde.

Tatsächlich war er in zwei Minuten wieder da und schob das frischgefüllte Gefäß an seinen Platz. Dann blieb er neben Josefa stehen und machte eine eigenartig schnuppernde Bewegung, wie Rehwild, das im wehenden Winde einen gefahrdrohenden Geruch wittert.

Auch ihr war es, als schwebe jetzt im Raum ein Geruch, den sie bisher nicht wahrgenommen hatte.

Schon hatte sich Lorenz zu den Laden ihres Fahrkastens niedergebeugt, eine davon geöffnet und ein Fläschchen hervorgehoben, aus dem sie vor wenigen Minuten dem Professor ein Tröpfchen auf eines seiner Glasplättchen hatte übertragen müssen.

Das Fläschchen war nicht vollkommen verschlossen.

Herr Lorenz hob es ihr entgegen, richtete seinen Zeigefinger steil auf und sah sie mit gerunzelter Stirne mahnend an.

Kein Laut kam über seine dünnen Altmännerlippen.

Josefa wurde rot und hob die Hände bittend empor, als wollte sie wie ein Kind sagen: Ich will es nicht wieder tun.

Da schüttelte der alte Mann mit einem Lächeln das Haupt und nickte ihr zu. Seine Hand fuhr mit einer leichten Bewegung durch die Luft. »Macht nichts«, sollte das wohl bedeuten. Dann krümmte er den Finger und winkte ihr, mit ihm gegen die Zimmertür zu kommen.

Erst wagte sie nicht, von ihrem Platz zu weichen – der Professor konnte jeden Augenblick einen Wunsch äußern –; als Lorenz aber beharrlich – und, wie es schien, schon ein wenig ungeduldig – winkte, glitt sie zu ihm.

Er wies auf eine Mauervertiefung neben der Eingangstür.

Eine Reihe von Meßgeräten war dort angebracht, darunter ein mächtiges Thermometer.

»Zu heiß hier herinnen!« flüsterte er, auf die hochstehende Säule weisend. Er griff nach ihrer Hand und legte diese auf ein mit Gradeinteilung versehenes Rad. Durch einen sanften Druck zwang er sie, dieses zu drehen.

Ein feines Surren ertönte. »Die Kühlmaschine«, hauchte er ihr ins Ohr. »In drei Minuten haben Sie es hier kühl. Darauf müssen Sie immer achten: die Temperatur hier im Raum muß immer gleich sein.« Er nickte ihr noch einmal zu, dann schloß sich die Tür geräuschlos hinter ihm.

Sie kehrte auf ihren Posten zurück.

Mein Gott, wie hier alles schön und sauber und sinnvoll eingerichtet war.

War es nicht wie im Märchen?

Schon fühlte sie eine unbeschreiblich sanfte Kühle den Raum durchziehen, vor der die ein wenig drückende Schwüle wich.

Sie lehnte den Kopf zurück und überließ sich dem Gefühl glücklich-sanfter Müdigkeit, das sich ihres Körpers bemächtigt hatte.

Wenn sie die Augen offenhielt, dann sah sie durch das Fenster hinaus ins Grüne. Unter den Fenstern senkte sich der Park der Heilanstalt in einem sanften Hang gegen die Straße. Hatte sie je schon in ihrem Leben so unbeschreiblich saftiggrünes Gras gesehen? Wie ein dicker, wolliger Teppich lag es über den Hang gebreitet.

Der Professor saß noch immer unbeweglich. Nur hie und da sah sie, wie er mit der rechten Hand auf den Block zu seiner Rechten etwas hinkritzelte.

Er folgte wohl mit seinem Auge dem rätselvollen Spiel dieser winzigen Tierchen, die jeder Flüssigkeitstropfen enthält, dieser unheimlichen Tierchen, die da imstande sind, den gesündesten Menschen oft in wenigen Stunden zu vernichten, wie das aus den Gesprächen mit Dr. Müller, die sie in Oberflins mit angehört hatte, immer wieder hervorgeklungen war.

Und in diesem seltsam geformten Fläschchen, von dem der Totenschädel herabgrinste, da barg sich nicht der Tod eines einzigen Menschen, da schliefen vielleicht tausend Tode und mehr. Eine ganze Stadt konnte man mit diesem einzigen Fläschchen vergiften; denn der Tropfen, der winzige, kaum sichtbare Tropfen, den sich der Professor auf die Platte getan hatte, der hätte wie er gesagt hatte, gereicht, eine Herde von Rindern zu töten.

Und er ging so ruhig, so sicher damit um.

Sie betrachtete ihn genau, wie er da auf seinem Drehstuhl saß, vornübergebeugt, kampfbereit. Wie mächtig dieser Rücken war, wie stark dieser Nacken! Ach, sie hatte den Professor schon in Oberflins immer bewundert. Freilich noch mehr, wenn er aufstand und ein Lächeln über sein schönes Männerantlitz flog und seine Augen rechts und links von der kühnen Nase aufleuchteten und das Lächeln seine kräftigen weißen Zähne freigab.

Ach ja, er war ein Herr, dem sich wohl dienen ließ, ein Herr, den man bewundern konnte und verehren.

Sie hob die Hände vor die Brust und faltete sie, so gut es in den unförmigen Gummihandschuhen möglich war. Ihre Lippen bewegten sich.

Es war ein Gelöbnis. Das Gelöbnis einer treuen Seele, aufzugehen in dem Dienst einer großen Aufgabe, im Dienst eines großen Mannes.

Auf der schattigen Straße vor dem Fenster unten glitten prachtvolle Wagen abwärts und aufwärts. Manche hielten vor der Toreinfahrt, und Josefa konnte sehen, daß Leute mit Paketen und Blumen die Treppe heraufstiegen, offenbar Besucher der in der Heilanstalt liegenden Kranken. Auch ein riesenhafter Wagen mit einem roten Kreuz kam, aber der Torwart, ein Mann mit einer goldbetreßten Kappe, wies ihn mit großer Handbewegung fort, die wohl andeuten sollte, daß der Eingang für Kranke von der Hinterseite her erfolgte.

Jetzt würde wohl jemand kommen und den Professor holen.

Aber es kam niemand.

Für die Kranken waren wohl die anderen da, die Ärzte und Schwestern der chirurgischen Abteilung, wo den Leuten, wie Mali erzählt hatte, manchmal eine Hand oder ein Arm oder ein ganzes Bein abgenommen werden mußte, wenn keine andere Hoffnung mehr bestand, das Leben zu erhalten.

Das schritt hier alles seinen ruhigen, fast selbstverständlichen Weg. Jeder hatte sein Amt, seine Aufgabe.

Und doch ging wohl alles von diesem Raum aus, in dem sie neben dem Professor stand, wo er der Natur ihre Geheimnisse abluchste und dem Tod seine Schlachten lieferte.

Sie schrak empor.

Der Professor hatte sich aufgerichtet. Er stemmte die in Gummihandschuhen steckenden Fäuste auf die Schenkel. »Ein ganz verteufeltes Gift«, murmelte er mehr für sich als für sie vor sich hin.

Dann sagte er laut: »Tinte, Feder!«

Sie reichte ihm das Verlangte. »Vignette siebzehn mit drei Totenköpfen! Schellack! Zünde den Gasbrenner an, Sefi!«

Das Präparat wurde mit flüssigem Gummi und Schellack allseits gegen die Luft vollkommen abgedichtet.

»Das Register!«

Das Register war ein unförmiges Buch, in dem jedes Präparat eingetragen wurde und aus dem es seine genaue Bezeichnung erhielt. Je nach der Stärke und Gefährlichkeit eines Giftes wurden auch die Farben der Klebezettel bestimmt. Harmlose Gifte erhielten sanfte, gefährliche Gifte grelle, fast abschreckende Farben.

Das eben präparierte Gift wurde mit einem karminroten Klebezettel versehen, der gleich drei Totenköpfe trug.

Der Professor lächelte, als er Josefas ein wenig ängstliches Gesicht sah.

»Es ist ein westindisches Gift, das die Neger auf Haiti in ihrem Wudu-Kult verwenden. Sie haben es wohl von den Rothäuten übernommen. Angeblich entledigen sich die Wudu-Priester mit Hilfe dieses Giftes ihrer Todfeinde. Es wäre hübsch, wenn wir diesen schwarzen Gentlemen das Geschäft verderben könnten. Irgendein seltsamer Vogel, ein Pfefferfresser oder ähnlicher Kerl, hängt noch mit der Sache zusammen. Erinnere mich, daß ich mit dem Tiergarten von Schönbrunn spreche, wo die ihre Pfefferfresser herhaben. Es wäre das Opfer eines solchen Vogels wert, wenn meine Anschauungen halbwegs recht haben. Vor allem wollen wir aber jetzt das Fläschchen auf seinen Inhalt prüfen und in Ordnung bringen.«

Josefa bekam eine Binde über Mund und Nasenlöcher. Sie selbst mußte dem Professor eine ähnliche anlegen.

Dann klappte er einen halbhohen Schrank am Fensterpfeiler auf. Eine Apothekerwaage wurde sichtbar. Daneben ein seltsam geformtes Kästchen, aus dem eine nach oben abgeschlossene Röhre mit einer Ableseskala hervorsah.

Daneben befand sich eine kreisrunde Öffnung, die mit einem feinen Häutchen überspannt war.

Der Professor entnahm einem Kästchen eine besonders sorgfältig gearbeitete Phiole und begann unter allerlei Vorsichtsmaßnahmen das gefährliche Gift aus dem Fläschchen in die Phiole umzufüllen. Das glasklare Gift lief rasch wie Wasser. Trotzdem dauerte die Umfüllung nahezu eine Viertelstunde. Denn der Professor gab die Arbeit nicht auf, bevor er sich überzeugt hatte, daß tatsächlich kein Hauch des Giftes in dem Transportfläschchen mehr enthalten war, in dem das Gift zu ihm gelangt war.

Erst als er befriedigt war, schob er das Fläschchen zur Seite und senkte nunmehr die Phiole in die mit dem Häutchen versehene kreisrunde Öffnung, und zwar so lange, bis der Oberspiegel der Giftflüssigkeit mit einer Marke übereinstimmte, die an dem kreisförmigen Locheingang angebracht war.

Inzwischen hatte sich offenbar unter dem Druck der tief hineingesenkten Phiole eine farbige Flüssigkeit in dem Meßgerät nach oben zu bewegt und war, als die Marke unten einspielte, oben stehengeblieben.

»Dreiunddreißig Kubikzentimeter, zwanzig Kubikmillimeter, fünf Zehntelkubikmillimeter«, las der Professor ab. »Sieh dir das einmal an, mein Kind!« wandte er sich an Josefa.

Josefa bemühte sich und konnte ohne viel Schwierigkeiten dieselbe Ablesung machen.

»Wir müssen von jedem Gift bis auf Zehntel- und Hundertstelkubikmillimeter genau wissen, wieviel wir davon haben«, erklärte der Professor. »Wir geben auch Gift an andere Versuchsanstalten ab, gegen Entgelt oder frei. Jedenfalls darf hier im Haus auch nicht ein Hundertstelkubikmillimeter Gift verlorengehen, ohne daß wir uns darüber Rechenschaft geben können, wohin es gekommen sein mag.

Das Ergebnis kommt hier in das Register, später in eine Kartei, die ich dafür plane; vorderhand bleiben wir noch bei dem veralteten Buchregister. Lorenz schwört auf das Register. Er hängt sehr am alten«, schloß der Professor lächelnd. »Im übrigen ist das Messen und Wägen der Gifte von nun an eine deiner Hauptarbeiten, Sefi. Die ersten Tage machen wir es gemeinsam. In drei Tagen mußt du selbständig sein.«

Sie sah mit einem eifrigen Nicken zu ihm empor.

»Und nun bekommt Lorenz das Präparat zur Verwahrung«, schloß der Professor ab. Er drückte auf einen Taster an der Kante seines Arbeitstisches. Fast im selben Augenblick öffnete sich die Tür und der alte Diener kam herein.

Er schob wichtig die Brille auf die Stirn, verglich dreimal die Nummer im Register mit der auf dem Präparat und trug dieses in den Vorraum, wo Josefa gleich darauf die Leiter auf der Schiene einherrollen hörte.

»Und wir tragen das Gift in den Giftschrank.«

Der Professor holte aus einer Tasche seinen Schlüsselbund hervor und schritt, von Sefi gefolgt, auf einen ungeheuren Panzerschrank zu, der einen ebenfalls ungeheuren Totenkopf als Wahrzeichen trug. Er senkte den Steckschlüssel in einen schmalen Schlitz, der Schrank schien leise aufzuseufzen und öffnete eine fast zwei Meter hohe Panzertür.

»Oh!« Josefa war erschrocken zurückgetreten.

Denn in dem Schrank war, als er sich geöffnet hatte, eine große Anzahl von verschiedenfarbigen Lämpchen aufgeflammt, in deren Schein nun Tausende und aber Tausende von Phiolen sichtbar wurden, die in metallfunkelnden Zangen in vielen Reihen über- und hintereinander standen. »Einen Irrtum gibt es nicht«, lächelte der Professor. »Farbe kommt zu Farbe.«

Er hob die Phiole mit dem flammenden Klebeblatt und senkte sie in eine noch leerstehende Metallzange der Reihe, die von Lämpchen derselben Farbe bestrahlt war. Er deutete auf ein Fach, das innerhalb des Schrankes noch einmal verschlossen schien.

»Da drinnen sind die tropischen Gifte, die sich bei zu geringer Wärme zersetzen. Für die ist eine eigene Wärmevorrichtung eingebaut.«

Josefa sah verwirrt auf die Vielfalt von Gläsern und Lämpchen, Farben und Zahlen, die doch wieder außerordentlich sinnvoll und klar geordnet erschien.

»Dieser Giftschrank ist das größte Gut, zugleich aber auch die größte Gefahr in diesem Haus«, sagte der Professor. »Ich habe schwere Kämpfe ausfechten müssen, bis er mir in dieser Form bewilligt worden ist.«

Er nickte und ließ mit einer weitausholenden Gebärde den mächtigen Türflügel wieder ins Schloß sinken. Geheimnisvoll und ohne Einschnappen und Schleifen fügte sich wieder Metall an Metall. Der Schrank stand still und sah wesenlos vor sich hin.

Von dem Schreibtisch des Professors her klang ein leises Schnarren.

»Besuch kommt, wahrscheinlich die Herren vom Dienst.« Er kehrte, ohne den Schritt zu beschleunigen, zu seinem Arbeitsplatz zurück und ließ den Ruftaster schnarren.

Es waren tatsächlich die drei Ärzte, die um die Mittagsstunde dem Professor ihren Rapport abstatteten. Josefa wurde vorgestellt, aber kaum beachtet. Zwischen den vier Männern schien vollkommenste Sachlichkeit oberstes Gesetz.

Es fiel kein überflüssiges Wort, obwohl viel gesprochen wurde. Denn die Reise des Professors nach Oberflins hatte, wie einer der Herren erklärte, ihre Spur hinterlassen.

Der Wortführer der Herren schien Dr. Pasch zu sein. Ein breitgesichtiger athletisch gebauter Herr, der sich sehr aufrecht hielt. Rücken, Hals und Hinterkopf bildeten eine gerade Linie. Er zeigte ein breites, offenes Gesicht mit etwas groben Zügen.

Neben diesem etwas derben Bauerngesicht hob sich der schmale Friesenschädel des Dr. Pehn wie der eines Schuljungen durch seine Frische ab. Aus dem schmalen Jungenantlitz sahen zwei stahlgraue Augen.

Der dritte, schweigsamste von den drei Herren war Dr. Gasser, der Chirurg. Er war von den vier Männern der einzige beleibte und hatte auf dem runden Körper einen kugelrunden Kopf sitzen, den er gerne auf die linke Schulter legte. Von dort her sah er mit einem ruhigen, freundlichen Lächeln auf die Welt herab.

Er schien ein Fachmann von hohem Rang; Professor Kröner behandelte ihn mit großer Achtung.

Josefa verstand kaum die Hälfte von dem was die Herren verhandelten. Es schwirrte von Zahlen, Formeln und ihr ganz fremden Ausdrücken. Außerdem kam ein Heer von Frauennamen vor, das sich anscheinend auf die verschiedenen Krankensäle bezog. Was hätte es auch sonst bedeuten sollen: »Berta ist überfüllt«, »bei Hilde ist eine Schwester zu wenig«, »Lilly braucht einen Sonnenschutz« usw.?

Es war ein Vergnügen, zu sehen und zuzuhören, wie sich dieses Gespräch abwickelte. Die Herren hatten in fast allen Fällen bereits entschieden, was sie zu tun gedachten. Der Professor sagte nur von Zeit zu Zeit »einverstanden« oder »genehmigt« oder einfach »ja«. Dann machte sich der betreffende Herr einen Strich in seiner Aufschreibung und es kam der nächste Fall zur Sprache. Es war deutlich: die Heilanstalt selbst war ein gesonderter Körper, der für sich arbeitete. Sie besaß nicht die eigentliche Teilnahme des Professors.

Lebhaft wurde das Gespräch erst, als der Professor den Herren über seine neuen Erfahrungen mit den Blutproben in Oberflins berichtete.

Josefa bekam zu tun. Sie mußte die ihr wohlbekannten Präparate, die sie auf einem Tisch zur Seite entdeckt hatte, herbeiholen, die Herren traten einzeln an das Mikroskop und äußerten ihre Meinung. Hier allerdings schienen sie weniger gut beschlagen; denn fast regelmäßig stellte der Professor ihre Aussprüche richtig.

Hier war er der unumschränkte Gebieter eines Wissens, in das die anderen anscheinend nuri wenig Einblick hatten.

Trotzdem sagte Dr. Pasch nach einiger Zeit: »Wenn weitere Versuche dasselbe Ergebnis bringen, so müssen wir unsere ganze Behandlungsweise auf den Kopf stellen, Herr Professor.«

Der nickte mit überlegenem Lächeln: »Richtig, Herr Kollege. Das werden wir wohl müssen. Ich hoffe in acht Tagen so weit zu sein, daß ich den Herren Endgültiges sagen kann.«

»Und dann kommt der Bericht an die Akademie der Wissenschaften«, warf Dr. Pehn ein.

»Jawohl, der kommt.« Professor Kröner reckte sich ein wenig. Seine Haltung bekam etwas Selbstbewußtes. »Auf den Bericht freue ich mich. Verschaffen Sie mir nur, bitte, bis dahin eine Schreibkraft, die sich in unseren Fachausdrücken ein wenig auskennt. Sonst dauert das Ding fünfmal so lang.«

»Ich werde mich bemühen, Herr Professor.«

Der Professor erhob sich und gab jedem der Herren die Hand. Auch Josefa bekam von jedem der Herren ihren Händedruck. Einen Bauernhändedruck, der ihr fast die Knochen zerbrochen hätte, von Dr. Pasch; einen kurzen, kräftigen, aber erträglichen von Dr. Pehn; einen gutmütigen weichen, streichelnden von Dr. Gasser.

Eben als die Herren durch die Tür abtraten, klang ein summender Ton herein.

»Mittagessen, Sefi«, sagte der Professor. »Schau, daß du die Mali findest, daß sie dich einführt. Die Schwestern haben ihren Speisesaal im ersten Stock.«

Josefa empfand eine leise Enttäuschung, schalt sich aber dann selbst töricht.

Natürlich aß der Professor allein bei seiner Frau. Wie hatte sie sich einbilden können, daß sie von ihm eingeladen würde. Sie war eine Angestellte wie Lorenz, wie die Oberschwester Mali und die anderen Schwestern.

So huschte sie denn, nachdem sie unter Lorenzens Aufsicht auf- und zugeschlossen hatte, in den ersten Stock hinauf, wo sie Mali in den Weg lief.

Es war gut, daß diese sie – wohl mit Absicht – an ihre Seite nahm. Denn die anderen Schwestern verhielten sich ihr gegenüber ausgesprochen kühl.

»Nach dem Essen haben S' Zeit, Ihr Zimmer einzurichten«, sagte Mali neben ihr. »Die Sachen von Albertine sind schon weggeschafft. Der Dienst beim Professor beginnt erst um vierzehn Uhr dreißig. Aber pünktlich!«

Josefa nickte. Er hätte auch gleich beginnen können.

Sie war ja so glücklich, so überglücklich.

Und daß das wirklich ihr Zimmer war, das sie mit niemand zu teilen brauchte! Gut, es war schmal. Aber es hatte ein überirdisch großes Fenster mit einem herrlichen Ausblick auf die Stadt.

Sie konnte sich lange Zeit von diesem Bild gar nicht trennen. Dann wandte sie sich ihrem winzigen Köfferchen zu, das ihre armselige Habe enthielt.

Sie packte die dünnen Fähnchen aus und hängte sie in das Ungetüm von Kasten, in dem sie nicht viel mehr Raum einnahmen als ein paar Taschentücher.

In fünf Minuten war sie fertig.

Der schöne, spiegelblanke Waschtisch lockte sie. Sie drehte an allen Hähnen, die er wies, hin und her, und freute sich wie ein Kind am Bach über das Spiel des Wassers. Dann warf sie ihre Hülle ab und wusch sich mit dem herrlich kühlen Wasser.

Ein starkes Lebensgefühl ergriff von ihr Besitz.

Was war das?

War das sie selbst, die sang?

Mein Gott, wie lange, wie endlos lange war es her, daß sie nicht gesungen hatte!

Als der Vater noch gesund war, da hatte sie sogar sehr viel singen müssen. Sie hatte eine kleine, aber reine Lerchenstimme. Für die winzige Kirche von Oberflins hatte das gereicht. Es waren ihre glücklichsten Stunden gewesen, wenn sie bei der Messe gesungen hatte und ihre Stimme von der Wölbung der Kirche wieder zu ihr zurückgeklungen war.

Dann hatte sie auch Violine lernen müssen. Ihr Vater hatte recht gut gespielt, und auch sie hatte es zu einer für das Tiroler Dörfchen bemerkenswerten Fertigkeit gebracht.

Mein Gott, jetzt gingen ihr all die alten Arien aus den Kantaten durch den Kopf, die der Vater mit ihr abendelang geprobt hatte.

Wie hatte sie denn nur geklungen, sie, die schönste aller Arien, die sie mit wahrer Inbrunst gesungen hatte: »Ich hab mich dir ergeben, o Herr der Welten. Nimm hin mein Herz …«

Ob sie das wohl noch konnte?

Sie nahm ihre Kleider wieder auf und warf sie über.

Zwischendurch erhob sie die Stimme. Mein Gott, ja. Sie hatte die Melodie noch rein und klar in Erinnerung. Und ihre Stimme, war die nicht größer und heller geworden in der langen Zeit? Oder war es nur der schöne, helle Raum, in dem es so gut klang?

Mein Gott, wie schön war das, so zu singen!

Sie atmete tief und begann noch einmal: »Ich hab mich dir ergeben, o Herr der Welten. Nimm hin mein Herz …«

*

Frau Professor Kröner, die auf der Gartenterrasse neben ihrem zeitunglesenden Gemahl saß und eine Handarbeit in den Fingern hielt, hob den Kopf.

»Das ist doch sonderbar«, sagte sie.

Er sah zu ihr hinüber. »Was ist geschehen?«

»Hörst du nicht«, sagte sie, erregt aufstehend, »das ist die Arie ›Ich hab mich dir ergeben …‹, die Arie, weißt du, aus der Kantate, in der ich einmal vor vielen Jahren im Konzert gesungen habe …«

Professor Kröner ließ die Zeitung sinken und horchte. »Tatsächlich und gar nicht übel.«

»Wer singt da, Hubert?«

»Keine Ahnung, Liesel.« Er nahm seine Zeitung wieder vor und versenkte sich in die neuesten Nachrichten über die politische Lage.

Die Frau Professor aber war aufgestanden und nach vorne getreten.

Eben kam das Stubenmädchen aus dem Haus, um die Reste der Mittagsmahlzeit abzutragen.

»Wer singt da, Fanny?«

»Die neue Schwester, gnädige Frau, singt in ihrem Zimmer. Schön, net wahr?«

Die Frau Professor ging noch ein paar Schritte vor.

Nun konnte sie auch entnehmen, woher der Gesang kam. Er drang sehr deutlich aus dem offenen Fenster neben ihrer Wohnung.

Es war freilich nur eine kleine und nicht sonderlich geschulte Stimme. Aber mit welchem Gefühl das Mädel sang! Wie kam überhaupt das armselige Dirnlein, gegen das sie, die Frau Professor, eine gewisse Voreingenommenheit nicht unterdrücken konnte, dazu, aus einer Kantate zu singen? Wenn sie irgendwelche Tiroler Volkslieder gesungen hätte, schön.

Aber diese Arie? Und so rein und klar?

Die Frau Professor blieb andächtig stehen und hörte die Arie zu Ende an. Nicht eine Wiederholung schenkte sich das Mädel, folgerichtig sang es das schwierige Stück zu Ende. Und jetzt begann es von neuem. Das war ja aus der Matthäuspassion.

*

Als Professor Kröner die Zeitung weglegte, sah er seine Frau noch immer am Steilhang der Terrasse stehen und zuhören.

Er sprang auf und trat neben sie. »Verehrte Marmorfigur«, sagte er scherzend, »oder regst du dich noch?«

Sie winkte ungeduldig ab.

Aber in diesem Augenblick war der Gesang zu Ende.

»Na, was sagst du jetzt zu meiner Eroberung?« scherzte er. »Die ›Macht der Töne‹ hat dich erst überzeugen müssen, daß die Seferl kein x-beliebiges Dirndl ist, was?«

»Laß die Scherze, Hubert«, sagte sie mit einem leisen Unwillen in der Stimme. »Aber ich habe eine Bitte an dich, Hubert.«

»Bewilligt, bevor ausgesprochen.«

»Ich möchte das Mädel in seinen Freistunden gelegentlich herüberbitten.«

Er nickte lächelnd Gewährung. »Eine Bitte, die sich mit meinem Wunsch trifft, du möchtest dich der Kleinen ein wenig annehmen. Du kannst sie haben, sooft es der Dienst verträgt. Wenn sie will, natürlich.«

»Warum sollte sie nicht wollen, Hubert?«

Er spielte mit der Fußspitze im Sand. »Ich will dir etwas sagen, Liesel. Dieses Mädchen ist das erste weibliche Geschöpf auf dieser Welt, mit dem ich mich nicht recht auskenne.«

Sie sah ihn mit einer ruckartigen Wendung ihres Kopfes von der Seite an. »Wirklich, das erste?«

»Ja«, sagte er unbekümmert und in der Freude am Berichten des Blickes seiner Frau nicht achtend, »Weiber können noch so verrückt sein. Irgendwo läuft es doch immer wieder auf dasselbe hinaus. Dieses Mädel …«, er suchte nach Worten, »dieses Mädel hat etwas in sich, vor dem …«

»Nun?«

»Ich finde nicht den rechten Ausdruck dafür, Liesel. Ich gestehe dir offen, ich bin selbst neugierig, wie sie sich entwickelt. Vielleicht ist sie wirklich nur ein kleines Landmädel, vielleicht …«

»Du findest aber heute schwer deine Ausdrücke, Hubert.«

»Ja, spotte nur, Liesel. Vielleicht wirst du es selbst fühlen. Jedenfalls schicke ich sie dir um fünf Uhr herüber. Da muß ich zur Sitzung in die Stadt. Da kannst du sie dann ›erforschen‹! Inzwischen papa!« Er klopfte ihr die Wange und ging mit seinem federnden, raumholenden Schritt hinaus.

»Das erste weibliche Geschöpf …«, wiederholte Elisabeth Kröner mit einem schneidenden Ton in der Stimme. Ein verächtlicher Zug legte sich um ihre Lippen. »So ein Mann fühlt sich als Gott und weiß nicht einmal, was in seiner nächsten Umgebung vorgeht.«

Als Professor Kröner sein Arbeitszimmer betrat, kam ihm Josefa mit blutrotem Kopf entgegen. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Herr Professor.«

»Warum denn?«

»Weil ich so laut gesungen hab. Das Stubenmädel hat mir erzählt, die Herrschaften sind gestört worden. Ich hab in meiner Freude ganz vergessen, daß i in einer Heilanstalt bin, wo Ruhe sein muß.«

Professor Kröner nahm ihre bittend erhobene Hand mit der seinen gefangen. »Es gibt nichts zu verzeihen, Sefi«, sagte er, »im Gegenteil, meine Frau will mehr von dir hören. Du gehst heute um fünf Uhr zu ihr hinüber. Meine Frau ist eine große Musikantin.«

»Um Gottes willen!« Josefa schlug beide Handflächen an die Wangen.

»Keine Angst, du singst sogar sehr hübsch, mein Kind. Also um fünf Uhr.«

Josefa wollte noch etwas entgegnen, aber er gab ihr schon einen Auftrag und sie mußte um Lorenz laufen.

Dieser Nachmittag verging nicht mehr so ungestört wie der Vormittag. Es schien sich herumgesprochen zu haben, daß Professor Kröner wieder in Wien war. Mehrmals rief der Fernsprecher und Josefa mußte lernen, das für sie im ersten Augenblick unheimliche Gerät zu bedienen und, was noch viel schwerer war, die ungeduldigen Anrufer hinzuhalten, wenn der Professor eben nicht von seinem Beobachtungsgerät wegtreten konnte oder wollte. Ihr wirbelte es im Kopf vor den vielen Titeln, die ihr da entgegenklangen, und ihre Achtung vor dem Mann, für den sie arbeitete, stieg ins Ungemessene. Als sogar plötzlich ein Ferngespräch aus Athen angemeldet wurde – man denke nur: Athen! Viele hunderte Kilometer weit entfernt! –, da zitterte sie vor Aufregung, und um ein Haar hätte sie die Verbindung wirklich verdorben.

Und dabei ging es in einem fort: »Sefi, schreib auf!« »Sefi, notiere!«, »Sefi, merke vor!« Sie kam mit dem Schreiben nicht nach. Ach, wenn sie doch nur die Kurzschrift beherrscht oder gewußt hätte, wie man es begann, sie zu lernen! Bei der ersten Gelegenheit wollte sie in der Stadt drinnen in eine Buchhandlung gehen und sich ein Lehrbuch kaufen. Welche Überraschung für den Professor, wenn sie dann eines Tages plötzlich …

Sie wurde rot vor Freude bei diesem Gedanken.

Und dann kam ihr der Zufall zur Hilfe. Plötzlich verlangte der Professor Verbindung mit einer der großen Buchhandlungen. Er zeigte ihr, wie sie die Nummer im Fernsprechverzeichnis finden konnte, und bestellte dann zwei Werke, die er in der Ärztezeitung angekündigt gelesen hatte.

Es war also möglich, Bücher durch den Fernsprecher zu bestellen?

Wenn sie das auch tat?

Ob er es ihr wohl erlaubte, daß sie nach dem Dienst anrief?

Oder sie wollte doch lieber Mali fragen.

Josefa atmete in all dem Wirrsal von Ereignissen, die stürmend auf sie eindrangen, aus tiefer Brust.

Wie war das schön, im großen Leben der Welt mitzuarbeiten, wenn sie auch nur ein winzig, winzig kleines Rädchen in diesem Getriebe darstellte. Aber dieses Rädchen arbeitete an einer Stelle, von der Großes ausging.

Es schien ihr, als hätte sie erst vor wenigen Minuten zu arbeiten begonnen, als der Professor plötzlich aufbrach. Sie mußte durch den Hausfernsprecher den Wagen bereitstellen lassen, dann gab er ihr noch eine Reihe von Anweisungen, ach, so schnell! Ihre Hand flog beim Schreiben. Mit Mühe rang sie ihm noch ein, zwei Erklärungen ab, was Aufträge bedeuten sollten, die ihr unklar erschienen.

Er gab ihr in seiner raschen Art Antwort. »Kennst du dich aus, Sefi?« fragte er plötzlich, wie aus einem Traum erwachend. »Ich habe vergessen, daß all das für dich doch noch ein bißchen viel ist, mein Kind.«

Sie stand mit dem Vormerkblock und Bleistift vor ihm und lächelte ihn von unten her an.

»Ich werde es schon treffen, Herr Professor, und wenn ich mich nicht auskenne, dann frag ich den Lorenz oder die Oberschwester.«

»Na, dann recht. Und vergiß nicht, meine Frau will, daß du zu ihr hinüberkommst!«

Er war schon an der Tür, da schien er zu fühlen, daß sie noch etwas auf dem Herzen habe.

»Noch eine Frage, Sefi?«

»Keine Frage, Herr Professor, aber eine Bitte.« Ob sie sich in der Buchhandlung ein Buch fernmündlich bestellen dürfe?

»Natürlich!« lachte er. »Warum nicht? Mir scheint, du willst eine Gelehrte werden, Seferl!« Gut gelaunt nickte er ihr zu.

Die Tür hatte sich noch nicht hinter ihm geschlossen, da breitete sie weit die Arme aus. Um ein Haar hätte sie einen Tiroler Jauchzer hell schallend durch den ernsten Raum der Wissenschaft geschickt. Ach, wie war das alles schön und so anders, als sie es bisher gewohnt war.

Sie kicherte, als ihr die Verbindung mit der Buchhandlung nicht gleich gelang.

Dann bestellte sie mit tiefem Stolz ein Lehrbuch über Kurzschrift. »Bitte, legen Sie einen Erlagschein bei!« fügte sie großartig hinzu, wie sie es früher im Auftrag des Professors getan hatte.

Die ferne Stimme versprach, das Buch sofort mit den beiden Werken für den Professor hinauszuschicken. In zwei Stunden sei der Bote da.

Ach, wie das alles in der Großstadt rasch und reibungslos ging!

Der Fernsprecher schellte. Eine tiefe Stimme wollte wissen, ob der Professor erreichbar sei.

Er sei in der Sitzung da und da, gab sie zur Antwort.

»Ausgezeichnet!« sagte die würdige Stimme. »Da treffe ich ihn ja ohnehin. Danke, Fräulein!«

Josefa trug Namen und Anrufzeit ein, wie es ihr der Professor gezeigt hatte.

Sie sah den Vormerkblock mit großen Augen an.

In ihrem ganzen Leben zusammen hatte sie nicht mit so vielen und angesehenen Leuten gesprochen wie an diesem einen einzigen Nachmittag.

Und jetzt sollte sie zur Frau Professor.

Sie preßte die Lippen zusammen. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn sie jetzt auf ihr Zimmer gehen und ein wenig ihre Wäsche hätte in Ordnung bringen können.

Sie hatte in Oberflins keine Möglichkeit gehabt, etwas für sich zu richten.

Und dann … Sie zögerte. Die Frau Professor war wohl eine wunderschöne Frau, aber es war ihr heute morgen ein wenig kalt neben ihr gewesen. Diese große vornehme Dame, die sah wohl auf das arme Landmädel mit Nachsicht herab. Vielleicht machte sie sich über sie lustig, wenn sie ihr vorsang.

Aber was half es. Er hatte es befohlen, und wenn er es befahl, dann … Sie lächelte. Er sollte nicht sagen, daß sie stützig sei!

*

Josefa mußte zuerst mit der Frau Professor Tee trinken und einen merkwürdig süßen, etwas parfümiert riechenden Kuchen essen, der ihr ein wenig widerstand.

Es kam kein rechtes Gespräch zustande, sei es, daß die Frau Professor nicht den rechten Ton fand zu fragen, sei es, daß Josefa, befangen und ein wenig linkisch, ihre Antworten allzu unhöflich kurz gestaltete.

Dann aber sagte die Frau Professor: »Und jetzt wollen wir ein wenig musizieren, Fräulein Josefa.«

Und sie erhob sich und ging voran.

Josefa erschrak förmlich, als sie sich plötzlich hinter der hochgewachsenen Frau klein und armselig einhertrippeln fand. Was hatte diese Frau für einen Gang, wie ebenmäßig und vornehm schien sie über den Boden hinzugleiten!

Sie durchschritten den Josefa bereits bekannten Salon, dann ein Zimmer, das mit Büchern bis an die Decke austapeziert schien. Dann stand sie plötzlich in einem helleuchtenden, weißschimmernden Zimmer, in dem ein schwarzes Ungetüm von Klavier klotzte und in einem Glaskasten eine ganze Reihe von Streichinstrumenten hing, zwischen denen die Metallklappen und Röhren verschiedener Blasgeräte hervorlugten. Es schien die Ausrüstung für ein ganzes, keines Hausorchester.

An den Wänden standen im Viereck zahlreiche schwarze Sessel.

»Kommen Sie zu mir herein!« sagte die Frau Professor. »Ich musiziere am liebsten in meinem eigenen Zimmer.«

An der Schwelle des neuen Raumes stockte Josefa.

Was war das für ein Anblick!

Die Räume, die sie bisher hinter der Frau Professor durchschritten hatte, waren fast ein wenig leer und kahl erschienen, mehr praktischen Erwägungen als der Gemütlichkeit dienend. Nun sah sie sich plötzlich in einem Raum, der dem Eintretenden kaum irgendeine Bewegungsfreiheit zu gewähren schien, so sehr war er angeräumt.

Ein wahres Museum öffnete sich dem Auge.

An den Wänden reihte sieh, dicht aneinandergehängt, Bild an Bild, meist kleineren Umfanges, anscheinend uralte Miniaturen, winzig kleine Genrebilder. Vier Vitrinen mit einer unübersehbaren Menge von kleinen Porzellanfiguren, Tellern, Tassen, Gläsern, Münzen und Krügen füllten die Ecken des Zimmers, das durch ein Klavier – noch ein Klavier? verwunderte sich Josefa – förmlich gesprengt zu werden schien.

Auch auf diesem Klavier herrschte ein Gewirr von Vasen und Bilderrahmen, aus dem vornehm blickende Gesichter ernst und würdevoll Josefa anstarrten.

Das Mädchen hatte bei diesem Anblick einer ihr vollkommen ungewohnten Welt unwillkürlich die Hände vor der Brust zusammengeschlagen und starrte, ein wenig aus der Fassung gebracht, auf diese wirre Vielfalt. Dann richtete sie ihre Augen fragend auf die Frau Professor. Die stand in ihrem grausilbern schimmernden, vornehmen Nachmittagskleid mitten unter ihren Schätzen und sah mit einem leisen Lächeln der Befriedigung, welchen Eindruck diese Welt auf das Mädel machte, das in seiner fernen Tiroler Bauernheimat solch drängendem Reichtum an Kunst und Kleinkunst wohl noch nie gegenübergestanden hatte.

Sie schien plötzlich ein wenig verändert, die Frau Professor. Sie sah, wie sie da am Flügel stand und Josefa erwartungsvoll entgegenblickte, in der Überfülle der Kunstgegenstände selbst wie ein seltener Kunstgegenstand, wie ein edel geformtes Bildnis aus.

Sie lächelte neuerlich.

Mein Gott, ist diese Frau schön! dachte Josefa und starrte die ihr Entgegensehende an, wie sie bisher die etwas pomphaft und plump geschmückten Heiligenfiguren in ihrer Heimatkirche betrachtet hatte.

Es war offensichtlich: Hier fühlte sich diese Frau besonders wohl, das schien ihr Reich. Hier hatte sie offenbar all das zusammengetragen, was ihr lieb und teuer war: Familienerinnerungen, künstlerisches Erbgut.

»Das ist hier meine Welt«, sagte die große Frau mit Betonung. »Gefällt es Ihnen?«

Josefa war aus dem Wundern noch nicht herausgekommen. »So viel Sachen!« flüsterte sie und ließ die Augen staunend über die Vitrinen und bildbehangenen Wände streifen. »So viel schöne Sachen!«

Die unverhohlene Bewunderung des Landkindes schien der Frau Professor zu schmeicheln.

Sie löste sich von dem Klavier, an dem sie in einer – vielleicht ungewollten – Pose gelehnt hatte, und führte Josefa an ihren Schätzen entlang.

Josefa hörte eine Menge Namen von Malern und Bildhauern, von Porzellanfabriken und Kunsthandlungen, die ihr nichts bedeuten konnten. Sie nickte nur zu allem, was ihre Führerin sagte, und flüsterte von Zeit zu Zeit ein »Schön! Wunderschön!« vor sich hin.

Sie erfuhr dabei von der nunmehr gesprächig gewordenen Hausfrau, daß diese aus einem uralten Wiener Patriziergeschlecht stamme, ein Wort, unter dem sich Josefa vorderhand nichts vorzustellen vermochte. Der Urgroßvater Elisabeth Kröners habe gelegentlich mit Schubert Quartett gespielt.

Das war etwas, wofür Josefa Verständnis hatte: »Mein Gott, mit Schubert!«

Sie sah ehrfürchtig das Bild des alten Herrn an, dem dieses unbeschreibliche Glück beschieden gewesen war. Sie bekam ein Notenblatt zu sehen, das Schubert eigenhändig angefertigt und seinem Freund Schernthaner – so hieß auch die Frau Professor mit ihrem Mädchennamen – gewidmet hatte.

Josefa lachte auf. Das war ja ein Lied, das sie selbst schon gesungen hatte.

Die Frau Professor setzte sich an das Klavier und begann die Begleitung zu spielen. Sie hatte einen weichen Anschlag, das Klavier einen wundervoll satten Ton. Josefa wollte zuerst nicht mit der Stimme heraus. Die Frau Professor mußte ermunternd ein zweites und drittes Mal beginnen.

Dann hatte sich Josefa so weit gefaßt, daß sie einsetzen konnte.

Und siehe da, es ging gut. Manchmal lief sie wohl der Frau Professor ein wenig davon, manchmal verharrte sie ein wenig zu lang auf einem Ton, der ihr gerade gefiel, aber sie sang rein, makellos rein und mit Gefühl.

Die Frau Professor hatte eine gute Art, ihr die gemachten Fehler auszustellen. Beim dritten Mal klappte es vorzüglich.

»Heute nachmittag haben Sie Bach gesungen, Josefa«, knüpfte die Frau Professor neuerlich an. »Hier habe ich die Arie herausgesucht. Ich selbst habe einmal in einem Konzert die Altpartie gesungen. Wollen wir es versuchen?«

Josefa fürchtete sich zuerst ein wenig. Aber dann setzte die Frau Professor mit einem vollen, warmen Alt ein, Josefa wußte selbst nicht, wie es kam, daß sie den Mund auftat und einfiel. Die beiden Stimmen paßten zueinander und verschmolzen vortrefflich.

Es war wunderschön.

»Sie sind grundmusikalisch, Josefa«, sagte die Frau Professor, »grundmusikalisch.«

Josefa mußte erzählen.

Als sie davon sprach, daß sie auch Violine gespielt habe, stieß die Frau Professor einen förmlichen Freudenschrei aus.

»Mein Gott, können Sie noch etwas?«

Sie lief – plötzlich lebhaft geworden – ins Nebenzimmer und bedeutete Josefa, sie solle ihr folgen. Sie öffnete die Vitrine und langte eine Geige heraus.

»Versuchen Sie, Josefa, versuchen Siel«

Ehrfürchtig nahm Josefa das schöne, glatte Gerät in die Hand. »Auf so etwas Schönem hab ich noch nie gespielt. Ich kann überhaupt nix mehr«, wehrte sie ab.

Aber dann lockte sie es doch.

Sie hatte über zwei Jahre nicht mehr gespielt und die ersten Töne fielen etwas dünn aus, der Bogen kratzte.

Ach Gott, wie hatte sie sich als Kind geplagt, ihre viel zu kleinen Kinderhände förmlich zerrissen, namentlich die linke Hand unnatürlich gespreizt, um die für sie viel zu großen Griffe zu meistern.

War ihre Hand inzwischen gewachsen, oder war das Instrument so herrlich?

Es ging. Schüchtern und dünn. Aber es ging.

»Sie müssen üben, Josefa!« entschied die Frau Professor. »Sie müssen unbedingt üben. Sie haben eine herrliche Naturbegabung. Wenn Sie ein paar Wochen üben, dann können Sie bei uns hier im Hausorchester mitspielen. Wir brauchen eine Geige wie das liebe Brot. Der Arzt, der sie bisher gespielt hat, ist weggekommen. Wir haben nur eine zweite Geige und die ist mangelhaft besetzt. Sie können die Geige auf Ihr Zimmer nehmen, Josefa, und üben, wenn es Sie freut.«

Josefa drückte das Instrument an die Brust. »Wirklich?« stotterte sie. Sie war überglücklich. Es kam ihr nicht zu Bewußtsein, daß ihre Begabung für die Frau Professor und deren Neigungen ein höchst willkommener Zuwachs war. Sie glaubte in diesem Augenblick, daß ihr die Welt an diesem Tag nur selbstlos Freuden schenken wollte.

Sie mußte schlucken. Etwas klemmte sich ihr im Hals. Ihre Augen wurden feucht.

Erschrocken fragte die Frau Professor nach dem Grund dieser plötzlich aufschimmernden Tränen.

Josefa hatte noch eben Zeit, die Geige auf das mächtige schwarze Klavier zu legen und ihr Taschentüchlein hervorzuzerren.

»Ich bin …«, schluckte sie inzwischen, »ich bin … so … glück … lich.«

Frau Elisabeth erhob sich und trat neben sie.

»Ja, mein Kind«, sagte sie mit ihrer dunklen Stimme, »die Musik ist etwas Beglückendes.«

Aber Josefa schüttelte – sehr zu ihrem Erstaunen – unter Tränen heftig den Kopf.

»Es is net des, gnädige Frau, net des.« Sie suchte rasch die Tränen zu trocknen. »Alles, alles: daß mi der Professor gfunden und erlöst hat … I war ja zgrund gangen bei die Bauern da droben; daß er so lieb zu mir is, daß er mi mitgnommen hat hieher; daß i mitarbeiten darf bei dieser wunderbaren Arbeit … I verdien ja des gar net … dieses Glück.«

Josefa hatte all das hastig und stoßend vor sich hingesprochen und so nicht bemerkt, wie die Frau Professor aus anfänglicher Teilnahme wieder in ihre ursprüngliche Steifheit zurückverfallen war.

Als sie geendet hatte, herrschte eine Zeitlang Schweigen im Raum. Die beiden Frauen standen dicht beieinander in die Bucht des Klaviers gelehnt und sahen vor sich hin, Josefa mit großen glänzenden, noch immer von Tränen erfüllten Augen, die Frau Professor hochaufgerichtet mit einem starren, schier leblosen Ausdruck in dem schönen Antlitz, das in diesem Augenblick wie aus Marmor gemeißelt zu sein schien. Die Noten, die sie noch kurz vorher fast zärtlich in den Händen gehalten hatte, lagen jetzt – achtlos beiseite geschoben – auf der schwarzen Fläche des Klaviers.

»Sie sehen die Welt sehr ideal, liebes Fräulein Josefa«, klang nach einer langen Pause die Stimme der Frau Professor mit einem eigenartig kühlen Klang auf. »Hoffentlich bleiben Ihnen Enttäuschungen erspart.«

»Enttäuschungen?« Josefa wandte sich mit einem Ruck Frau Elisabeth zu. »Warum Enttäuschungen? Schaun S', gnädige Frau, was war i denn, bevor mi der Herr Professor aufklaubt hat? Nix, gar nix. A Kindsmagd und a Stalldirn, die net amol dem Bauern zum Dank g'arbeitet hat. Mein Gott. I hab ja mein Bestes tan, Um drei bin i aufgstanden, um zehn hab i mi niederglegt. Gschuft hab i den ganzen Tag, daß mir 's Kreuz schier abbrochen is darüber. I hab mir denkt: leicht is des a guts Werk, wann i so an blutarmen Bergbauern hilf, daß er net zgrund geht in der Einschicht; daß aus seine Kinder was wird. Aber 's war zviel für mi. Es hat mir fast das Kreuz brochen. Gehn hab i net mehr können und net stehn. Was i da gweint hab, net zum sagen, gnädige Frau. Net, weil i a Angst ghabt hab um mi. Nein, nein. Was bin i? Aber daß i nix leisten kann und derf in dieser Welt, daß i kan andern Menschen helfen kann, daß i der Welt vielleicht noch zur Last fall. Gnädige Frau, des können Sie sich net vorstellen, was des für a furchtbares Gefühl is. Rein zum Sterben war mir da. Und da, an dem Tag, wie i schon glaubt hab, jetzt is aus mit mir und es is besser, i geh noch einmal auf die Rotwandleiten und spring obi in d' Schlucht, weil ja mein Leben eh nix nutz is, da hat mir der liebe Gott den Herrn Professor geschickt. Es is net zviel gsagt: i wär heut net mehr am Leben, wenn er net kumma wär. Bei Gott! Und jetzt, jetzt? Is des vielleicht ka Glück, helfen dürfen bei so an herrlichen Werk? I hab's ja gsehn, wieviel Guts schon in meinem Heimatörtl gschehen is. Gar net zum sagen. Und jetzt gar hier! Wenn i siech, wie die Wagen da unten vorbeifahren, ka Mensch schaut herauf oder rührt si, da möcht i obischrein: nehmts den Hut vom Kopf, wann ihr vorbeifahrts! Denn hier is es vielleicht nötiger wie vor einer Leich, denn hier werden die Leute vor dem Tod gerettet und Wunder geschehen wie in der Heiligen Schrift, wenn einer, der schon auf den Tod liegt, sein Serum kriegt und wieder gsund wird und wieder aufsteht wie der Sohn des Lazarus … wie i's in Oberflins net einmal, nein, drei-, viermal gsehen hab. Und wie i das heut nachmittag überdacht hab, da drin im Laboratorium, da hat's mi gebeutelt förmlich und i hab mi gfragt: wie komm grad i dazu? Wie hab i das verdient, dieses Glück?«

Josefa hatte sich in eine steigende Erregung hineingesprochen. Nie noch in ihrem Leben hatte sie so zusammenhängend, nie noch so aus dem Herzen geredet.

Jetzt brach sie jäh ab und es war still im Raum, der sich mit fortschreitendem Abend allmählich verfinstert hatte. Die mächtigen Äste der Riesenbäume vor den Fenstern hoben sich gespenstisch gegen den mattrosa leuchtenden Abendhimmel ab.

Aus dem Nebenzimmer klang Geräusch. Das Stubenmädchen begann, anscheinend ohne zu ahnen, daß im Musikzimmer die beiden nun stummen Gestalten lehnten, mit einem leichten Schlagerlied auf den Lippen, die Fenster zu schließen und das Zimmer für den Abend vorzubereiten. Der Schalter knipste, durch die offenstehende Tür brach plötzlich Lichtschein herein.

»Mir wär's leid, daß i leb, wenn's das Küssen net gäb …«, trällerte die kecke und tonlose Stimme in leichtfertigem Tonfall.

Knips! Das Licht erlosch. Die beiden am Klavier standen wieder im Dunkel.

»Ich muß jetzt gehen, gnädige Frau!« flüsterte Josefa, indem sie sich zu der neben ihr unbeweglich lehnenden Frau Professor wandte.

Hatte die nicht gehört? Warum regte sie sich nicht?

»Ich muß jetzt gehen, gnädige Frau«, sagte Josefa laut. Sie erschrak vor dem Ton ihrer Stimme.

Die Gestalt neben ihr machte eine Bewegung, die wie ein leises Nicken der Zustimmung aussah.

»Und …«, Josefa zögerte, »... derf i wirklich die schöne Geigen a bisserl mitnehmen zum Üben?«

»Die Geige?« Frau Elisabeth schien mit ihren Gedanken noch in der Ferne zu weilen. »Die Geige? Ach so. Ja, wenn Sie wollen.« Ihre Stimme klang kalt und abweisend.

Josefa hatte schon die Hand nach dem Instrument ausgestreckt. Jetzt zog sie sie betroffen zurück.

»So nehmen Sie sie doch!« stieß die Professorin hervor. »Nehmen Sie sie doch!«

Was war geschehen?

Josefa tastete unsicher nach der Geige. »Gute Nacht, gnädige Frau, und ich dank vielmals für alles.«

Es kam kein Wort zur Antwort. Nur ein kurzes Nicken schien Josefa zu erspähen.

Da drückte sie die Geige an sich und huschte hinaus.

Es war ihr auf einmal unheimlich geworden. Sie atmete erst auf, als das Stubenmädchen auf das Geräusch der sich öffnenden Tür hin das Licht im Vorzimmer aufflammen ließ. Weiß Gott, es war hier alles einfach und nüchtern, aber es atmete sich besser als in dem überladenen Zimmer der Frau Professor. Dort … wie war das nur? … War es nicht ein wenig stickig gewesen?

Josefa nickte dem Stubenmädchen zu und schlüpfte in ihr Zimmer.

Dort schwelte noch der Dunst des heißen Nachmittags.

Sie griff nach dem Hebel und ließ das mächtige Fenster in die Höhe schweben. Von draußen kam etwas kühlere Luft herein. Es war freilich nicht die herrlich gesunde und erfrischende Abendluft, die selbst nach dem heißesten Tag durch das heimatliche Gebirgstal von Oberflins geweht hatte.

Sie warf sich auf die breite Fensterbrüstung.

Tief unten blitzten in unzählbarer Menge die Lichter der Millionenstadt auf. Ein dumpfer, düsterer Streifen, eine Bank von Dunst und Rauch lag quer darüber. Über ihr entzündeten sich am Himmel die ersten Sterne.

Aus einem Landhaus in einiger Entfernung klang gedämpftes Klavierspiel herüber.

Josefa senkte das glühende Gesicht auf die verschränkten Arme nieder.

Was war das für ein Tag gewesen! Und nun dieser seltsame Abend?

Warum war diese stolze, schöne Frau, die während des Musizierens so aufgelebt war, auf einmal wieder so unnahbar gewesen?

Hatte sie, Josefa, irgend etwas gesagt, was sie verletzen konnte? Sie hatte begeistert gesprochen von der schönen menschenfreundlichen Arbeit, an der sie sich, freilich nur als bescheidene Helferin beteiligen durfte.

Hörte diese seltsame Frau das nicht gerne, daß jemand von diesem großen Werk sprach?

Es klopfte an der Tür.

Es war Mali, die Oberschwester. Sie drehte, indem sie eintrat, das Licht an, das hell das Zimmer überflutete.

»Ein Packerl ist für Sie gekommen, Schwester Josefa«, sagte sie. »Ein Buch, scheint mir.« Sie legte das Päckchen auf den Tisch und sah sich in dem weißleuchtenden Raum um. »Eingericht und zfrieden, Schwester Josefa?«

Josefa nickte lächelnd: »Wunderbar ist es da.«

»Und a Violin haben S' aa schon?« wunderte sich Mali.

»Ja, von der Frau Professor.«

»Sehr gut!« Mali setzte sich ohne viel Umstände auf einen der weißen Stühle am lichtüberglänzten Mitteltisch. »Eine hohe Ehre, Schwester Josefa. Eine sehr hohe Ehre, gleich am ersten Tag.« Sie schüttelte den Kopf.

Der Ton ihrer Stimme klang mißbilligend.

Josefa hob aufhorchend den Kopf. »Oberschwester«, begann sie leise, »ich muß Sie etwas fragen. I glaub, i hab drüben an Patzer gmacht. I kenn mi net recht aus. Die Frau Professor war so, so … eigentümlich.«

»So? Ham S' das aa scho gmerkt?« Oberschwester Mali lachte auf. »Hat s' Ihna leicht aa in dem Museum umanand gführt?«

»In welchem Museum?«

»No, in ihrem Boudoir halt, in dem Zimmer, wo sie die viele Kramuri beianand hat?« Oberschwester Mali schien auf einmal in ihrem Fahrwasser zu sein. Sie sprach mit Genuß, aber ein scharfer, mißgünstiger Ton lag in ihrer Stimme.

»Ja«, bestätigte Josefa, »in dem Zimmer waren wir.«

»Nacha werden S' halt aa schon wissen, aus was für an Geschlecht die geborene Schernthaner stammt und daß der Herr Professor Kröner Gott danken muß, daß er sie gefunden hat.«

Josefa riß die Augen auf.

Die Oberschwester lachte mit einem schnippischen Ton auf. »Ja, wissen S', Kinderl, das is so a Gschicht. Aber Sie derfen mi net verraten, daß Sie es von mir ham, verstehn S'?«

Josefa sank mit einem unbehaglichen Kopfschütteln auf ihren Stuhl.

Bisher war alles so schön und edel gewesen. Was jetzt kam, das war nichts Gutes. Das war, sie fühlte es trotz ihrer Unerfahrenheit – das war Tratsch, vielleicht auf Wahrheit beruhend, aber doch Tratsch. So begannen die alten Weiber in Oberflins, wenn sie einen Bauern oder eine Nachbarin ausrichteten. Derselbe Zug des Genusses auf den Lippen, dieselbe Bereitwilligkeit, unaufgefordert draufloszuerzählen.

»Also, die Geschichte is so«, begann die Oberschwester; »genau wissen wir es ja auch net, aber so im Laufe der Zeit ham mer's schon rauskriegt. Also passen S' auf, Schwester Josefa …!«

*

Während die dicke Oberschwester Mali mit gespitzten Lippen und heißen Wangen in immer rascherem Tonfall ihr wirkliches und vermeintliches Wissen über die Verhältnisse im Haus im allgemeinen und das Ehepaar Kröner im besonderen auszukramen begann, wanderte die Frau, von der in dieser Erzählung besonders viel die Rede war, mit großen, unruhigen Schritten in der ausgedehnten Privatwohnung Professor Kröners auf und ab, vom »Museum« durch das Musikzimmer und die Bücherei in den Salon und hinaus auf die Terrasse und zurück, auf und ab, auf und ab, ohne das Licht anzudrehen, ohne auf die Fragen des Stubenmädchens zu achten, das ein-, zweimal erschien, nach den Wünschen der gnädigen Frau zu fragen, und sich wieder kopfschüttelnd in die Wirtschaftsräume zurückzog. Die Arme vor der aufgeregt atmenden Brust gekreuzt, die Augen starr vor sich in die Ferne gerichtet, wanderte sie, den im Weg stehenden Einrichtungsgegenständen mit nachtwandlerischer Sicherheit ausweichend, auf und ab.

Was war geschehen?

Hatte sie nicht doch recht gehabt, als sie schon am Morgen, da dieses fremde Mädchen an ihrem Frühstückstisch erschienen war, ein inneres Gefühl der Abneigung gegenüber der neuen Hausgenossin empfunden hatte?

Wer gab diesem Eindringling ein Recht, ihr eine Predigt zu halten?

Oder war es keine Absicht gewesen, daß sie vor ihr in solchen Tönen das Werk ihres Mannes pries? Dieses Werk, das ihr den Mann geraubt hatte, der nichts mehr kannte als seine Mikroskope, seine Formeln und Sera, der mit der ganzen Welt brieflich verkehrte und ihr von seinem Aufenthalt in Oberflins zwei, ganze zwei inhaltslose Karten geschrieben hatte. Von der Oberschwester, von Dr. Pasch, dem Anstaltsarzt, hatte sie erfahren müssen, was er eigentlich in Oberflins trieb.

Fremde Professoren und Ärzte wünschten ihr Glück zu den Erfolgen ihres Mannes, von denen sie nichts wußte, weil er sich vom frühen Morgen bis in den späten Abend in sein Laboratorium vergrub, mit Tod und Teufel verkehrte und verhandelte und ihr, wenn sie bei Tisch saßen, nur ein paar Worte zuwarf, die sie meist nicht verstand.

Hatte sie das verdient? Wer war dieser berühmte Mann gewesen,, als sie ihn kennengelernt hatte? Ein armer Teufel von Privatdozent, voller Pläne, aber außerstande, seine Pläne ins Werk umzusetzen.

Sie hielt in ihrem Gang inne und schloß die Augen.

Ein leises Fieber durchschüttelte sie. Was waren das für Augenblicke gewesen, als er ihr zum erstenmal gegenübergetreten war, jung, stolz, stattlich. Ein zufälliger Blick in den Spiegel des Salons, in dem sie einander kennengelernt hatten, hatte ihr gezeigt, welch ein wunderbares Paar sie abgeben mußten.

Die ewig tratschende und klatschende Gesellschaft hatte das übrige getan. Es war so rasch gegangen. Sie hatten gleich von vornherein als verlobt gegolten. Es waren Tage eines unerhörten Glücksrausches gewesen. Und kaum sechs Monate später waren sie vor dem Traualtar gestanden.

Sie hatte ihm eine reiche Mitgift in die Ehe gebracht. Er hatte von diesem Augenblick an sorgenfrei leben können. Was er verdiente, steckte er in seine Versuche, er tastete ihr Vermögen nicht an. Aber es war, als ob der Rückhalt, den ihm ihr Vermögen im Ernstfalle bieten konnte, ihm die Flügel wachsen ließ. Seine kühnen Versuche gelangen. Sein erstes Buch war ein wissenschaftlicher Erfolg. Der Staat stellte ihm Mittel zur Verfügung. Er konnte sein erstes Laboratorium einrichten. Die Heilerfolge mit seinem ersten Serum machten ihn reich – und sie arm. Ja, sie wurde in dieser Zeit arm. Denn er schien behext von den Gedanken seiner Theorie. Er begann, wie er es scherzend nannte, seinen Privatfeldzug gegen den Tod.

Neben diesem Gedanken verblaßte alles, alles …

Wenn sie ihm ein Kind geschenkt hätte, vielleicht …

Sie stöhnte auf.

Was war sie ihm jetzt? Er schätzte ihre Schönheit. Er schenkte ihr Schmuck, er ließ sie von den ersten Malern Wiens malen und ihr Bild in den Ausstellungen aufhängen. Sie war ihm …, was war sie ihm noch? Ein schöner Schmuck seines Privatlebens.

Von dem, was ihn wirklich bewegte, wußte sie nichts.

Und da kam dieses Mädel aus dem weltfremden Tiroler Dorf. Die saß und stand stundenlang neben ihm, der leuchteten die Augen, wenn sie von ihm und seiner Arbeit sprach.

Was für ein Recht hatte dieses armselige Dirnlein auf ihn, welches Recht?

Elisabeth preßte plötzlich die Fäuste gegeneinander und schüttelte in wilder Erregung den Kopf.

Im Vorraum ging die Tür. War das nicht …? Ja, das war sein Schritt.

Sie glitt zum Schalter und drehte das Licht auf. Der weiträumige, modern und etwas nüchtern eingerichtete Salon – er war nach seinen Wünschen eingerichtet worden – starrte sie kalt und abweisend an. Sie flüchtete durch die Bücherei und das Musikzimmer in ihr Boudoir.

Hier verbreitete eine matte Lampe nur einen milden Schein. Die Teppiche und Bilder, die Vorhänge und Decken fraßen alle Helligkeit.

Sie saß eine Weile steil aufrecht auf dem Ruhebett, das quer im Zimmer stand.

Dann war sie so weit gefaßt, daß sie dem Stubenmädchen, das die Rückkehr des Herrn Professors meldete, mit ruhiger Stimme antworten konnte, sie komme sofort.

Er begrüßte sie etwas zerstreut aus dem Lehnsessel, in den er sich geworfen hatte, um Zeitung zu lesen.

Sie trat neben ihn.

»Ist die Sitzung interessant gewesen, Hubert?«

»Die Sitzung?« Er sah überrascht auf. »Ach ja. Aber sie hat kaum etwas gebracht, was dich interessieren würde. Lauter wissenschaftlichen Klatsch. Das heißt eines: Doktor Heinrich ist nach Berlin berufen worden.«

»Doktor Heinrich?«

»Ich habe dir doch letzthin von ihm erzählt«, sagte er etwas ungeduldig, »er hat das neue Verfahren für Malariaimpfung entdeckt. Ganz große Sache übrigens.«

»Es ist möglich«, sagte sie. »Ich habe es vergessen.«

Er nickte vor sich hin. »Kolossaler Kerl, der Heinrich. Wird seinen Weg machen.« Er griff wieder nach seiner Zeitung, als er keine Antwort bekam. Plötzlich hielt er inne. »War Sefi da?«

»Ja.«

»Na, und?«

»Wir haben musiziert.«

»Und wie ist es gegangen?«

»Ganz gut.«

»Du bist sehr einsilbig, Liesel.«

»So?«

Er legte die Zeitung beiseite. »Mir scheint, du bist gegen das Mädel voreingenommen, Liesel.«

»Voreingenommen? Die Person ist vorlaut.«

»Vorlaut?« Der Professor sah seine Frau in hellem Erstaunen an. »Vorlaut? Die Josefa? Die im Tag keine zehn Worte redet? Dieses schüchterne Dingerl soll ›vorlaut‹ sein?«

»Ich glaube, du scheinst sie wirklich selbst noch nicht zu kennen, Hubert.«

»Möglich, sehr möglich. Ich habe ja selbst gestanden, daß sie mir in vielem noch ein Rätsel ist. Aber vielleicht bist du so gut und klärst mich ein wenig auf. Vorlaut, sagst du, war sie. Inwiefern denn?«

Frau Elisabeth atmete heftig. »Ich brauche mir von einer wildfremden Person, die noch keinen Tag hier ist, nicht erklären zu lassen …« Sie schwieg und zerrte an ihrem Taschentuch.

»Was erklären lassen?«

Elisabeth schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich will und kann jetzt nicht darüber sprechen.« Sie trat auf die Terrasse hinaus und fuhr sich mit der Rechten die Schläfen entlang, als müsse sie in die Stirn gefallene Haare bändigen. Aber die Stirne war frei, äußerlich!

Professor Kröner hob die Achseln. Er war sonderbare Anschauungen und Auftritte bei seiner Frau gewöhnt. Seiner Meinung nach war es am besten, sich weiter nicht darum zu kümmern. Unbeschäftigte Frauen waren nun einmal so.

Er hatte sich im Anfang ihrer Ehe bemüht, sie in seine Gedankengänge einzuweihen. Aber bei dem ersten Tierversuch hatte sie die Flucht ergriffen. Der Anblick schwärender Wunden verursachte ihr Übelkeit. Sie konnte nichts Häßliches, Widerwärtiges sehen. Von diesem Augenblick an hatte er sie nie mehr genötigt, zuzusehen und war ihr gegenüber nur noch der Kavalier gewesen, der ihre Empfindungen schonte. Oft waren es freilich nur Launen, er spürte es wohl. Aber gibt es Frauen, die gar keine Launen haben, noch dazu unbeschäftigte Frauen?

Er hatte, um sie nach ihren Wünschen zu beschäftigen, das Musikzimmer eingerichtet, ein Hausorchester zusammengestellt. Er gab Gesellschaften, bei denen sich Gelehrte und Künstler trafen.

An solchen Abenden lebte sie auf.

Jetzt war er so lange nicht anwesend gewesen. Vielleicht trug das die Schuld. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Möglich. »Liesel!« rief er mit freundlichem Ton in der Stimme. Sie wandte sich um und trat zu ihm.

»Wann wollen wir unseren nächsten musikalischen Abend haben? Als ich Doktor Streitmann heute in der Sitzung sah, dachte ich sofort daran. Du hast wenig Abwechslung gehabt in der letzten Zeit.«

Sie sah fragend zu ihm herab. Jetzt huschte ein Lächeln über ihr Antlitz. »Vielleicht am Dienstag der nächsten Woche«, sagte sie.

Er zog seinen Taschenkalender hervor und sah nach. »Gut!« meinte er, den Tag anmerkend, »und wen laden wir ein?«

Sie setzte sich neben ihn und begann Namen aufzuzählen.

*

Mali machte eine Pause. »Ja, so is es halt«, seufzte sie nach einiger Zeit auf. »Es is nur a Glück, daß der Professor sich weiter nix drausmacht. Der hat seine Arbeit, und die Frau is halt schön. Des gfreut ihn halt und darauf is er stolz. Und wie!«

Josefa war verstummt.

Sie saß, förmlich zusammengesunken auf ihrem Sessel, der gesprächigen Oberschwester gegenüber und starrte diese aus großen erschrockenen Augen an. Wie doch gleich alles anders aussah, wenn es einem genauer bekannt wurde. War das gut? War es nicht besser, weniger zu wissen und alles bloß so zu sehen, wie es einem selbst gegenübertrat?

Die Oberschwester hatte anscheinend nicht täglich eine Zuhörerin, die so geduldig und stumm ihren Redeschwall über sich ergehen ließ und überdies so wenig von den Verhältnissen mußte.

Schon setzte sie wieder mit gespitzten Lippen an: »Und wissen S', Schwester Josefa, was auch noch dazukommt?«

Josefa wußte es natürlich nicht. Sie richtete sich, schon etwas ermüdet, auf, um der Erzählerin ihre Aufmerksamkeit zu beweisen …

Da klopfte es.

Es war eine Schwester aus dem ersten Stock, die nunmehr die Oberschwester dringend abberief. Soeben sei eine neue Kranke eingeliefert worden. Dr. Pasch benötige sie sofort.

Mali seufzte auf. »Einmal möcht man a bisserl plauschen, aber es geht halt net.« Sie stand nicht allzu rasch auf und sagte, nachdem die Schwester wieder aus dem Türrahmen verschwunden war: »Ich erzähl es Ihna nächstens, Schwester Josefa. Sie werden schaun, Schwester Josefa, sag i Ihna, Sie werden schaun.«

Josefa geleitete sie bis zur Tür, an der sie noch eine Zeit sinnend stehenblieb. Dann machte sie eine müde Bewegung, als wollte sie sagen: »Was kann ich dagegen tun?« und kehrte zum Mitteltisch zurück.

Sie ließ sich auf ihren Sessel nieder und dachte nach: Wie glücklich war sie heute gewesen, als sie in dem herrlich luftigen Raum neben dem Professor hatte arbeiten dürfen! Jetzt hatte sie auf einmal einen bitteren Geschmack im Mund.

Was war geschehen?

Eine geschwätzige Person hatte ihr ihre Ansichten aufgedrängt.

O ja, einiges war sicher richtig beobachtet. Was die Schwester über die Frau Professor gesagt hatte, schien tatsächlich zu stimmen. Josefa verzog das Gesicht, wenn sie an die steinerne Miene der großen Dame dachte, an dieses kühl abweisende Antlitz, als sie voll Begeisterung von ihrer Arbeit und ihrem neuen Lebensglück gesprochen hatte. Wie schön war das Musizieren gewesen, wie ernüchternd das darauffolgende Gespräch!

Josefa griff nach der Geige, die vor ihr auf dem Tische lag. Ach ja! Wie gern wollte sie wieder den schlanken Geigenhals umfassen und die Rundung des Instruments an Hals und Kinn legen.

Sie stand auf und setzte die Geige an. Welch einen herrlichen Ton das Instrument hatte! Was war die armselige Geige, die ihr der Vater um geringes Geld erstanden hatte, demgegenüber gewesen!

Sie spielte einige Läufe, dann ging sie zu einem einfachen Volkslied über, das sie unzählige Male den Schulkindern hatte vorspielen müssen.

Wie süß es auf dieser Geige klang!

Ach, war das herrlich! Wie gerne würde sie allabendlich üben!

Aber wenn sie dann etwas konnte, dann mußte sie ja wohl hinüber zur Frau Professor und in dem Hausorchester mitspielen.

Darauf konnte sie sich nicht freuen. Es war hier alles so unsagbar schön gewesen. Warum mußte ihr diese eigenartige Frau in den Weg treten? Gab es kein reines Glück auf Erden, keine Stunde ohne Bitternis oder Unbehagen?

Eines war sicher. Sie würde nicht oft hinübergehen und jedenfalls nicht ungerufen. Sie wollte es warm ums Herz haben. Dort drüben war ihr kalt geworden. Ob der arme Professor auch etwas von dieser Kälte spürte?

Wohl nicht. Wie er dreingesehen hatte, als sie bei der ersten Begrüßung nahezu sprachlos der ungewohnten Erscheinung der schönen Frau entgegengetreten war! Der Stolz des Besitzers war deutlich auf seinem Gesicht abzulesen gewesen.

Wie gut es ihm stand, wenn er so dreinsah!

Josefa lächelte. Zeit ihres Lebens war ihr noch kein Mensch gegenübergetreten, der ihr auch nur einen annähernd so starken Eindruck gemacht hatte wie dieser Mann. Ihr Vater – und bis zum Auftreten des Professors war ihr Vater ihr einziges geliebtes Vorbild gewesen –, ihr Vater hatte ihr einmal von einem seiner verehrten Lehrer erzählt und damals das Wort geprägt: »Sefi, das war ein Vollmensch.«

Und nun hatte ihr ja das Schicksal das Glück gegönnt, mit einem solchen Vollmenschen gemeinsam zu arbeiten!

Josefa hob die Schultern und schloß die Augen. Wie eine schnurrende Katze das Wohlgefühl wärmender Sonne oder behaglichen Ofenfeuers über den lustvoll gekrümmten »Buckel« hinunterrieseln läßt, so ließ sie das Gefühl dieses Glückes über sich strömen und saß eine ganze Weile in tiefem Sinnen da.

Wie aber würde sie neben diesem Mann – wenn auch nur als seine bescheidene Handlangerin – bestehen? Was war sie, Josefa? Ein Niemand, ein Nichts, ein dummes Bauerndirndl, das ein Zufall an die Seite dieses seltenen Mannes gespielt hatte, ohne Kenntnisse und Wissen, bloß mit gutem Willen ausgestattet.

Konnte ihm das auf die Dauer genügen? Ihm, diesem Mann, aus dem Wissen und Können förmlich hervorsprudelten, bei dem sich Gelehrte aus aller, wirklich aus aller Welt Rat holten, auf dessen Rat hin irgendwo in märchenhafter Ferne Heilanstalten und Schlangenfarmen gegründet wurden und mutige Männer in die Urwälder zogen, um Schlangen zu fangen und die heimtückischen Gifte der Tropenwelt aufzusuchen und ihm zur Erforschung zu senden.

Würde sie ihn trotz aller Demut im Dienste zufriedenstellen? Konnte er nicht aus seinen Hörsälen, aus seinen Versuchsanstalten sich mit einem Griff Dutzende von gelehrten Helfern holen, die schon seine Sprache sprachen, denen die unzähligen Ziffern und Formeln und Benennungen, vor denen sie heute fast schaudernd gestanden hatte, keine Rätsel mehr, sondern vertraute Begriffe bedeuteten? Warum hatte er überhaupt nicht schon solche Gehilfen und Gehilfinnen, warum hatte er sie, gerade sie aus dem Einödtal Tirols sich mitgenommen?

Besaß sie irgend etwas, was ihm bisher noch niemand geboten hatte?

Sie ließ den Kopf sinken, als sie darüber nachdachte. Ach ja, den guten Willen, den hatte sie wohl. Aber das war doch selbstverständlich. Wäre es nicht ein Verbrechen gewesen, jemand keinen guten Willen zu bezeigen, der – und davon war sie überzeugt – in des Wortes wahrer Bedeutung ihr Erlöser war?

Oder war dieser gute Wille vielleicht nicht überall so rasch zu finden? Wie hatte nur damals Dr. Müller zum Professor gesagt? Sie hatte es zufällig durch die halb offenstehende Tür gehört: »Sie wird Ihnen eine treue Helferin sein.«

Ach ja, treu. Was war das für ein herrlicher Gedanke, alle Kraft, alles Sinnen und Trachten hinzugeben für einen Menschen, der an einem so großen Werk tätig war wie der Professor. War das nicht immer ihre Sehnsucht gewesen?

Wenn sich ihr in ihrem Heimatörtel eine wenn auch nur geringe Möglichkeit geboten hätte, alles Sinnen und Trachten für eine schöne Sache – nicht bloß für selbstsüchtige, eigensinnige und neidische Bauern – hinzugeben, wie wäre sie froh und glücklich gewesen!

Und nun war dieser Wunsch in erhöhtem, in einem fast unwahrscheinlich herrlichen Grade in Erfüllung gegangen.

Oh, wie wollte sie dankbar, wie wollte sie treu sein! Was war das für ein Gefühl, das ihr schier die Brust zu zersprengen drohte? Ihr heißer, brennender und versengender Wille, alles, aber auch alles, was sie an Kraft und Wissen besaß, hinzugeben.

Josefa schrak aus ihrem Sinnen auf.

Da saß sie und vertrödelte die Zeit.

Es waren ja wohl gute Vorsätze, die sie gefaßt hatte. Aber sie mußten ja schließlich auch ausgeführt werden. Denn mit dem bloßen guten Willen war nichts getan, wenn er sich nicht in Taten umsetzte.

Arbeit war die Losung. Arbeit für ein schönes und großes Werk. Sie mußte all ihren Willen zusammenfassen, daß sie auch an Wissen und Kenntnissen zunahm. Dann erst konnte sie dem Professor wirklich die Hilfe sein, die er erwartete.

Hier hieß es arbeiten! Der Professor sollte sie auf ihrem Posten finden. Mehr! Der Professor sollte sich wundern, was sie zu leisten imstande war. Sie wollte ihm alles und jedes aus dem Weg räumen, was ihn an seiner eigentlichen Arbeit hinderte. Er sollte sich ganz dem widmen können, was nur er tun konnte. Alles übrige mußte sie für ihn erledigen.

Da lag das Päckchen mit dem Lehrbuch für Kurzschrift.

Mit plötzlich ausbrechender Lebhaftigkeit riß Josefa das Umschlagpapier herunter und schlug das Buch auf.

Einen Augenblick lockte es sie, es ein wenig durchzublättern. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie kramte sich ein Blatt Briefpapier und einen Bleistift hervor.

Es konnte losgehen.

Mit einem glücklichen Lächeln um die Lippen begann sie zu arbeiten.

Trotz allen guten Vorsätzen erkannte Josefa nach wenigen Tagen, daß es der Anspannung aller ihrer Kräfte bedurfte, wenn sie mitkommen wollte. Ihre Achtung für ihre Vorgängerin Albertine, die nach Aussage der Oberschwester als erste den Dienst beim Professor längere Zeit hindurch bewältigt hatte, stieg bedeutend.

Von der Gemütlichkeit des Dienstes, wie sie ihn in Oberflins mitgemacht hatte, war in der Wiener Heilanstalt Professor Kröners nichts zu merken.

Dieser Dienst hatte, genau genommen, nie ein Ende; denn sie mußte sich – das erkannte sie bald – schon stundenlang vor dem Professor im Laboratorium einfinden, um die Rückstände vom Tag vorher aufzuarbeiten. Vielleicht war es eben jetzt besonders arg, weil der Professor nach seiner wochenlangen Abwesenheit eine Überfülle liegengebliebener Arbeit vorgefunden hatte und außerdem noch die Ergebnisse von Oberflins auswerten mußte.

Was für eine unglaubliche und bewunderungswürdige Arbeitskraft entwickelte dieser Mann.

Schon in den Morgenstunden sah ihn Josefa im Garten sitzen und die Berichte durchlesen, die er aus aller Welt, zum Teil auf Bestellung, zum Teil von freiwilligen Mitarbeitern in großen Mengen bekam.

Und wie genau er diese Berichte durchnahm! Aus jedem machte er sich einen Auszug auf ein Blättchen Papier von bestimmter Größe, das sie dann unter dem von ihm verzeichneten Kennwort in die Kartei einzuordnen hatte.

Wurde dieser Mann nie müde? Er saß den Tag über sieben, acht und mehr Stunden am Mikroskop, verbrachte zwei, drei Stunden in den Krankensälen, schloß oft Tierversuche an und kümmerte sich um seine vierbeinigen Helfer. Dann saß er oft zwei, drei und mehr Stunden und sagte Fräulein Krämer, einer jungen Stenotypistin, die seit einigen Tagen in den Abendstunden erschien, Briefe an oder setzte sein Werk über die Giftstoffe fort. Zwischendurch führte er ungezählte Ferngespräche in einem seltsam abgerissenen, schier militärischen Kommandoton. Er schlang sein Mittagessen in verblüffend kurzer Zeit hinab, gönnte sich während der Arbeitszeit überhaupt nie eine Rast und fuhr oft des Abends noch zu Sitzungen und Besprechungen.

Die ganze Zeit über war für Josefa Dienst. Es verging keine Viertelstunde des Tages oder Abends, in der er sie nicht anrief. Selbst wenn seine Schreibkraft da war und seine Ansagen aufnahm, mußte Josefa in der Nähe sein; denn er benötigte nahezu ununterbrochen Bücher aus seiner Bücherei; überprüfte die Angaben über seine Präparate noch und noch einmal, verlangte die verschiedenen Giftstoffe noch zu einer letzten Ansicht und konnte stundenlang Versuche darüber anstellen, ob ein Giftstoff scharlach- oder karminrot genannt werden sollte.

So hatte sie nie eine freie Minute, die Sonntage ausgenommen. Ihr Dienst bestand nun freilich nicht in einer anstrengenden Arbeit, die sie körperlich ermüdet hätte. Nein. Oft hatte sie innerhalb einer Viertelstunde keine andere Aufgabe, als ihm ein Glasplättchen zu reichen. Dann vergingen wieder zehn Minuten, in denen sie tatenlos an ihrem Schrank lehnte oder auf dem Klappstuhl saß. Aber sie hatte nicht die Möglichkeit, in diesen kleinen Zeiträumen irgendeine Arbeit zu beginnen oder fortzusetzen; denn es war seine Gewohnheit, oft Werkzeug stumm zu verlangen, indem er die Hand nach hinten streckte und durch Bewegung der Finger andeutete, was er brauchte: eine Pinzette, ein Röhrchen, einen Bausch Watte.

Das mußte sie erkennen oder besser: erraten.

Als sie im Anfang mehrmals seine heischende Bewegung übersehen hatte, war er ungeduldig geworden.

Seitdem hatte sie sich angewöhnt, ihn ununterbrochen im Auge zu behalten, jede seiner kleinsten Regungen sofort zu verzeichnen und den enträtselten Wunsch zu erfüllen.

Aber eben das war das Anstrengende. Es kostete sie oft eine schier übermenschliche Anstrengung, an Tagen, an denen sie infolge vorhergegangener Nachtarbeit übernächtig war, die Augen offenzuhalten und den Schlaf zu überwinden.

Er merkte es freilich nicht. Er schien der Meinung zu sein, daß jeder Mensch über dieselbe Arbeitskraft verfüge wie er, ebensowenig den Begriff der Müdigkeit kenne wie er. Vermochte er sich gar nicht in die Seele eines anderen einzufühlen und mitzuempfinden, was dieser dachte und fühlte?

Ja, er war wohl auch seltsam.

Oft, wenn Josefa durch das stundenlange Stehen und Warten an seiner Seite sterbensmüde war und schließlich auf dem Klappsessel für Minuten ausruhte, lag ihr Blick auf seinem Rücken, dem starken Nacken, den ruhig auf der Platte beiderseits des Mikroskop ruhenden oder in selbstverständlicher Sicherheit arbeitenden Händen. Er war seinem Werk ergeben, nein, er war von diesem Werk besessen. Ihm schwebte wohl Tag und Nacht sein Ziel vor Augen, dieser Kampf gegen den Tod, den er als Kampfspruch auf sein Panier geschrieben hatte. Vor seinem geistigen Auge deuteten sich neue Entdeckungen an, auf die er wie gebannt hinarbeitete.

Es war bereits mehrere Male vorgekommen, daß die drei Ärzte, die alltäglich zur Berichterstattung um halb zwölf Uhr erschienen, geraume Zeit warten mußten, bis sie Gehör fanden. Denn wenn Professor Kröner mitten in einer Untersuchung war, dann vermochte ihn nichts aus deren Gang zu reißen.

Die drei Herren hatten – offenbar daran gewöhnt – jedesmal geduldig gewartet, bis er seine Untersuchung abgeschlossen hatte, und waren dabei selbstverständlicherweise Zeugen von Josefas stummer Hilfeleistung geworden.

An einem Vormittag war Professor Kröner abberufen worden. Die Hochschule hatte nach ihm verlangt. Das kam jetzt häufiger vor, denn der Beginn des Wintersemesters nahte heran.

Als die drei Herren erschienen, war er noch nicht anwesend. Zwei der Herren kehrten darauf sofort in den ersten Stock zurück. Sie hätten randvoll zu tun, erklärten sie, und wollten keine Minute verlieren. Josefa möge sie rufen lassen, wenn er komme.

Der dritte, Dr. Pasch, blieb zurück.

Er setzte sich auf den Klappstuhl neben dem Arbeitsplatz des Professors und sah eine Weile stumm zu, wie Josefa eine aus Südamerika eingelangte Sendung von Giften abwog und ihren Rauminhalt vermaß.

Nach einiger Zeit stand er auf und reichte ihr ein Werkzeug, das sie benötigte, aber im Augenblick mit den beschäftigten Händen nicht ergreifen konnte.

Sie dankte mit einem leisen Lächeln.

»Ich muß doch auch einmal sehen, wie ich für Ihren Dienst passe«, gab er ebenfalls lächelnd zurück. »Ich glaube, ich hielte ihn auf die Dauer nicht aus.«

Josefa sah erstaunt auf. »... nicht aus?« wiederholte sie, »wieso, Herr Doktor? Sie sind doch a Mann?«

»Jawohl, eben deshalb!«

Seine Stimme klang ruhig und freundlich. Er blieb nun neben ihr stehen und sah ihr bei der Arbeit zu.

Als sie stumm blieb, ihre in nachdenkliche Falten gelegte Stirn aber verriet, daß sie innerlich an dem, was er gesagt hatte, arbeitete, setzte er von sich aus fort. »Es gibt Berufe, Schwester Josefa, für die wir Männer verloren sind, zu denen wir ganz einfach nicht taugen, auf deren Gebiet uns die Frau immer wieder aufs neue schlägt. Gerade auf dem Gebiet der Medizin läßt sich das täglich feststellen.«

Josefa hob, als er schwieg, die Augen von ihrer Arbeit und sah ihn erwartungsvoll an.

Er nahm dies auch richtig als Aufforderung, weiterzusprechen, stützte sich mit dem Ellbogen auf den einen der hochgebauten Versuchstische und setzte fort: »Gerade in unserer Anstalt hier beobachte ich das immer wieder. Wir arbeiten hier nebeneinander, Männer und Frauen, als echte Arbeitskameraden. Da ist der Professor, da sind wir Ärzte, da sind die Schwestern. Wir Ärzte haben gewiß keinen leichten Dienst. Ich weiß das, ich brauche unseren Dienst hier nur mit dem an irgendeiner Klinik zu vergleichen, wo eine ganz beträchtliche Anzahl von Herren eingesetzt wird für das, was wir hier zu dritt leisten müssen und auch tatsächlich leisten. Aber glauben Sie mir, Schwester Josefa, keiner von uns dreien, wir haben darüber schon viele Male gesprochen, könnte sich vorstellen, daß er auf die Dauer – ich betone auf die Dauer – den Dienst, den die Schwestern machen, übernehmen könnte.«

»Warum?« Josefas Stimme klang auf das höchste erstaunt.

»Ich glaube, Schwester Josefa, die Frauen sind ungleich besser dafür geeignet, Dienst zu leisten und Arbeiten zu übernehmen, die von ihnen, genau genommen, die Aufgabe ihres Eigenlebens verlangen, ein Opfer, das wir Männer uns eigentlich so gut wie gar nicht vorstellen können.«

»Es kommt aber doch vor.«

Es war die erste Äußerung Josefas, die über ein bloßes Fragen oder Antworten hinausging.

Dr. Pasch, der während des Sprechens bisher aus dem Fenster gesehen oder Josefas flink arbeitende Hände beobachtet hatte, sah ihr – fast ein wenig überrascht – in die Augen.

»Es mag vorkommen, Schwester Josefa, aber es ist eine ungewöhnliche Seltenheit.«

Sie ließ ihre Hände ruhen und sah nun ihrerseits durch das Fenster in die Ferne. »Denken Sie an den Herrn Professor, Herr Doktor! Ich bin vom Land und bin halt vielleicht noch recht unerfahren, kann sein. Aber wenn ich dem Herrn Professor zusehe … Was hat er eigentlich vom Leben? Sogar am Sonntag sitzt er hier und schaut durch sein Mikroskop.«

Sie sah den neben ihr lehnenden Arzt an. Ihre Augenpaare trafen einander.

Sie erkannte, daß er in ihren Augen zu forschen suchte, aber sie schlug die Lider nicht nieder. Sie hielt ihm stand.

Es machte ihr Freude, dieser stumme Kampf der Augen; sie sah gern in seine blauen Augensterne, in sein, vielleicht ein wenig derb geschnittenes, aber kraftvoll männliches Antlitz.

»Ich gebe zu«, sagte er nach einer kurzen Weile des Schweigens, »daß Ausnahmen vorkommen mögen. Aber glauben Sie, daß unser Professor wirklich ein Beispiel in dem Sinn ist, den ich, den vielleicht wir beide meinen?«

»Warum nicht, Herr Doktor?«

Dr. Pasch sah vor sich auf den Boden und spielte mit der Spitze des rechten Fußes, indem er die Ritzen des Parkettbodens nachzeichnete. Die Antwort schien ihm nicht ganz leicht zu fallen. Es dauerte auch eine ganze Weile, bis er wieder zu sprechen begann. »Ja, sehen Sie, Schwester Josefa. Mit dem Professor ist das wieder eine andere Sache. Der Professor – wie soll ich Ihnen das nur sagen? – ist freilich ganz und gar von dem Gedanken an sein Werk besessen. Wer dies bloß von der Seite aus sieht, wird im ersten Augenblick Ihnen recht geben: daß es in der Tat so aussieht, als ob er sein Leben seinem Werk opfere. Gewiß …«

Er zögerte ein wenig, ehe er weitersprach.

»Ja«, sagte er dann, »Sie sehen mich erwartungsvoll an, Schwester Josefa. Ich aber weiß nicht recht, ob es gut ist, wenn ich weiterspreche. Ich will Ihnen weder die Freude verderben noch irgendein Bild in Ihnen zerstören, das Sie sich geschaffen haben. Aber … Sie scheinen mir ein vernünftiges Mädel zu sein … Sagen Sie einmal selbst: dieses Werk des Herrn Professors Kröner ist doch schließlich und endlich sein Werk. Es ist sein Gedanke, seine Schöpfung, seine Arbeit auch, gewiß, ich gebe es zu. Aber: wenn dieses Werk, dieser Gedanke Früchte trägt, so sind die Früchte sein. Ich denke hier nicht so sehr an den Gewinn an Geld, o nein, obwohl das sicher auch nicht ganz zu verachten ist, ich denke vielmehr an die Ehre, an das wissenschaftliche Ansehen, das ihm in der Welt, wirklich in der ganzen Welt, dafür gezollt wird … Das … ja das … gehört eben dann ihm, ist sein. Er hat dafür seinen Lohn, den Lohn, nach dem er strebt …, glauben Sie nicht auch, Schwester Josefa, daß dieser Lohn ein gewisses Opfer wert ist?«

Er richtete seine großen blauen Augen fragend auf Josefa, die ihm in steigender Erregung zugehört hatte.

Jetzt schüttelte sie den Kopf, als müsse sie etwas Unerträgliches von sich beuteln.

»Herr Doktor«, sagte sie mit leiser, aber darum nicht minder eindringlicher Stimme, »Herr Doktor, wie können Sie das nur sagen? Denken Sie nicht daran, was das für ein, für ein ganz wunderbares Werk is, was der Herr Professor da schafft? Mein Gott, wenn ich so oft schon recht müd bin und am liebsten ins Bett fallen tät, dann reiß i mi zsamm und sag mir: schau, halt durch. Weiß Gott, wie vielen Menschen es einmal hilft, wenn er jetzt seinen Versuch glücklich fertigbringt. Herr Doktor, i hab manchmal förmlich Angst, i könnt was vergessen oder net richtig tun, weil i mir denk, es steht so viel auf dem Spiel. So viel Gesundheit von unzählig vielen Menschen, vielleicht das Leben von soundso vielen …«

Josefa sprach immer eifriger. Eine heiße Röte war in ihrem schmalen Antlitz aufgestiegen und überflammte es. Ihre Augen, in denen sonst nur eine ruhige Frage lag, blitzten förmlich kampflustig auf.

Dr. Pasch richtete sich unwillkürlich auf, kreuzte die Arme übereinander und sah diesem Schauspiel mit steigender Teilnahme zu. Ein leiser spöttischer Zug, der anfangs um seine Mundwinkel gelegen hatte, war längst verschwunden.

»Und da glauben Sie, Herr Doktor«, fuhr Josefa fort, »von unserem Herrn Professor, daß er all das, was er schafft, nur für sich macht? I kann einfach net verstehen, wie jemand so denken kann.«

Sie schüttelte neuerlich den Kopf und wandte sich jäh wieder ihrer Arbeit zu. Fast sah es so aus, als ob sie mit dieser Bewegung andeuten wollte, daß sie ein ihr unerquickliches Gespräch beendet wünschte.

Es trat eine kleine Pause ein, während der Josefa wieder eifrig an ihren Fläschchen und Glaspipetten werkte.

So merkte sie nicht, daß Dr. Pasch sie nunmehr mit einer Art Rührung betrachtete. »Liebe Schwester Josefa«, begann er nach einer geraumen Weile, »ich muß sagen, daß die Art, wie Sie Ihren Dienst auffassen, Ihnen das höchste Zeugnis ausstellt. Es ist in der Welt, in der wir leben und in der es wahrlich nicht allzuviel Selbstlosigkeit und Opfersinn gibt, ein wahrer Genuß, jemand so reden zu hören, wie Sie eben gesprochen haben. Aber …«

»Aber …?« wiederholte Josefa fragend und wandte sich ihm zu.

Er lächelte. »Jawohl, aber …, Schwester Josefa. ›Aber‹, es scheint mir, daß all das, was Sie mir geantwortet haben, eine Bestätigung meiner Anschauung ist, vor allem in dem Sinn, daß ihr Frauen viel eher imstande seid, euch aufzuopfern und selbstlos zu arbeiten als irgendein Mann. Sehen Sie: Sie, liebe Schwester Josefa, was haben Sie«, er betonte das »Sie« sehr nachdrücklich, »was haben Sie als Lohn für Ihre wirklich erstaunlich aufopfernde Arbeit? Gut, Sie bekommen Ihr Gehalt, vielleicht sogar ein recht hübsches. Ich kenne seine Höhe nicht und will sie auch gar nicht wissen; denn es ist für unser jetziges Gespräch auch ziemlich belanglos. Was haben Sie aber darüber hinaus? Ihnen fließt keine Anerkennung zu. Sie sind ein Rädchen in unserem großen Betrieb. Vielleicht sagt der Herr Professor einmal ein nettes Wort der Anerkennung. Das ist alles.«

»Ich brauche nicht mehr«, stieß Josefa hervor.

In Dr. Paschs Augen blitzte es auf, als erleuchte ihn eine plötzliche Erkenntnis.

Sie hatte es nicht bemerkt. Mit starker Betonung setzte sie fort: »I brauch net mehr. Und auch, wenn er nix sagt, so denk i dran, daß i hier bei ein großen und guten Werk mittu und i bin schon zfrieden.«

Dr. Pasch lächelte nicht mehr. Ernst, ja fast ein wenig besorgt, sah er auf das schmale Mädchen, das so tapfer für seine Auffassung eintrat.

»Ich sehe es ein«, sagte er ruhig, »ich darf nicht weiterreden. Ich würde etwas in Ihnen zerstören. Und das will ich nicht.«

»In mir zerstören?« Sie wandte sich ihm voll zu und sah ihn mit großen Augen fragend an.

Er hielt diesem Blick eine kurze Weile stand, dann sah er an ihr vorbei. »Liebe Schwester Josefa«, sagte er leise, »es gibt Menschen, mit denen man reden muß, auf die man einwirken muß, damit sie nicht fehlgehen, und es gibt Menschen, die ihren Weg selbst gehen müssen, die sich nicht belehren lassen, auch nicht belehren lassen wollen, wenn jemand kommt und an ihrem Ideal rüttelt. Die ersten haben meist kein Ideal. Da ist es denn auch kein Unglück, wenn jemand eingreift und ein wenig Vorsehung spielt. Die anderen haben eben ein Ideal. Ideale soll jeder Mensch haben. Diese Ideale anzugreifen, ist ein Verbrechen, auch wenn …«

»Auch wenn?« wiederholte sie.

»Auch wenn diese Ideale vielleicht nur in der Einbildung der Betreffenden bestehen, wobei ich nicht gesagt haben will, daß dieser Fall etwa bei Ihnen zutrifft. Niemand läßt sich lieber belehren als ich. Ich wäre glücklich, wenn Sie mich im Laufe der Zeit belehren wollten. Es würde mich glücklich machen, Schwester Josefa.«

Er schwieg und sah durch das Fenster in die Ferne.

»Sie sind hier nicht glücklich, Herr Doktor?« Josefa stieß diese Worte knapp und hastig hervor.

Er hob die Achseln. »Glücklich? Ich war einmal glücklich, als ich ein junger Student war und mir der Himmel voller Geigen hing. Da war ich glücklich. Vielleicht, weil ich die Welt noch anders sah, als ich sie heute sehe …« Er starrte eine Weile nachdenklich vor sich hin. »Vielleicht haben Sie, Schwester Josefa, mir heute eine Wohltat erwiesen.«

»Ich … Ihnen?« Josefas Stimme klang auf das höchste erstaunt.

»Ja …, Sie … mir, Schwester Josefa. Es tut so wohl, wenn man sieht, daß es doch noch Leute gibt, die an Ideale glauben; an denen kein Zweifel nagt; die ihren Lebensweg geradeaus und ohne Zweifel gehen. Es ist etwas Schönes um die Jugend«, setzte er mit einem bitteren Ton in der Stimme hinzu.

»Sie sind doch selbst noch gar nicht alt«, sagte Josefa.

»So nach der allgemeinen Rechnung nicht, Schwester Josefa. Was sind vierzig Jahre? Ich bin äußerlich gesehen, sicher kein alter Mann. Aber es gibt Erfahrungen auf der Welt, die einen schnell altern lassen, Schwester Josefa, sehr rasch altern lassen. Man wird nicht täglich einen Tag älter, dafür oft an einem einzigen Tag um Jahre. Es hängt natürlich auch davon ab, wie einer das Leben nimmt: als einen Tanz um die Welt oder als Kampf oder als das Tragen einer Last. Die beiden ersten sind sicher glücklich, auch wenn sie gelegentlich Enttäuschungen erleben …«

Er schwieg und starrte mit einem bitteren Ausdruck im Antlitz vor sich hin.

Josefa, die bis dahin unter dem Reden fleißig weitergearbeitet hatte, war, während er die letzten Äußerungen gemacht hatte, in ihren Bewegungen immer langsamer geworden. Jetzt stand sie still und sah ihn besorgt an.

Er fühlte, daß ihr Blick auf ihm ruhte, und rief seine in die Ferne schweifenden Gedanken in die Wirklichkeit zurück.

Wieder trafen einander ihre Augenpaare.

»Sie sind ein braves Mädel, Schwester Josefa«, sagte er mit einem gütigen Ton in der Stimme, »und ein gutes Kindel dazu. Ich freue mich, daß Sie sich hier glücklich fühlen. Eine andere – und wir haben hier schon eine ganze Reihe von solchen Beispielen gehabt –, eine andere würde darüber klagen, daß sie wie eine Klosterschwester eingesperrt leben muß. Das ist viel verlangt von einem jungen Mädel in Ihrem Alter.«

Sie machte eine Bewegung, die etwa andeuten sollte: ich empfinde das nicht so arg.

Er betrachtete sie eine Weile. »Sagen Sie, Schwester Josefa, waren Sie, seit Sie hier sind, schon einmal in der Stadt drinnen?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Sie waren wohl überhaupt noch nicht in Wien?«

»Nein.«

»Und haben Sie nicht Lust, Wien einmal ein wenig anzusehen?«

»O ja. Mei Vaterl hat immer davon gredt. Aber dann is er halt gstorben.«

Dr. Pasch nickte. Dann fragte er: »Würden Sie mir die Freude machen, Schwester Josefa, daß ich Ihnen an einem Sonntag Wien ein wenig zeigen darf?«

Josefa wurde rot vor Freude. »Wann mi der Herr Professor net braucht am Sonntag …«

In seinem Gesicht zuckte es auf. »Er hat kein Recht, Sie auch am Sonntag einzusperren. Jeder Mensch hat Anrecht auf ein paar Stunden Erholung.« Er hatte bei diesen Worten unwillkürlich die Hand geballt.

Josefa erhob bei diesem Ausbruch die Hände abwehrend vor der Brust.

Er sah es und zwang sich wieder zur Ruhe. »Das habe ich nicht sehr schlau gemacht«, meinte er mit einem trüben Lächeln. »Statt Ihnen Lust zu machen, habe ich Sie erschreckt. Jetzt werden Sie vielleicht erst recht nicht kommen wollen.«

»O doch!« sagte sie hastig.

»Dann werden Sie eben den Herrn Professor darauf aufmerksam machen, daß auch Sie einen Sonntag haben, liebe Schwester Josefa«, sagte er. »Oder, wenn Sie etwa Bedenken haben, so kann ja ich …«

»Nein, Herr Doktor! Ich werde es schon selbst …«

»Also nächsten Sonntag, übermorgen?« Er streckte ihr die Hand entgegen.

»Übermorgen«, sagte sie. »Ich werde ihn halt bitten.«

»Bitten?« Er sah einen Augenblick so aus, als ob er wieder losbrechen wolle. Dann sagte er ruhig: »Gut, bitten Sie ihn, wenn Sie wollen.«

Sie gab ihm die Hand und empfing einen festen, herzlichen Händedruck, der ihr wohltat.

Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu und werkte still weiter.

Auch er sprach kein Wort mehr. Er schien, wie sie, seinen Gedanken nachzuhängen.

Sie sah ihn einmal verstohlen von der Seite an. Ob er wohl auch das eben verklungene Gespräch in sich verarbeitete?

Warum war er eigentlich nicht glücklich?

Hatte er wirklich so böse Erfahrungen gemacht, daß er zu so müden Anschauungen gekommen war, wie er sie heute geäußert hatte? Oder war es Neid gegenüber dem Professor, in dessen Diensten er stand und der alles besaß, während er …?

Sie sann, während sie arbeitete, vor sich hin.

Eines war wohl richtig. Alles ging vom Professor aus, alle wichtigen Entscheidungen lagen bei ihm, nichts geschah ohne seine Billigung, zu ihm strömte auch alles wieder zurück. Er war gewissermaßen ein Gott, der über allem stand. Die anderen waren … ja, was waren sie?

Seine Helfer?

Sie stockte in ihrer Arbeit.

Waren die anderen wirklich seine Helfer? Oder waren sie nicht vielmehr doch seine Angestellten?

Wen ließ er eigentlich an seinem engeren Werk teilnehmen?

Genau genommen: niemand.

Gut: sie selbst stand in seiner umittelbaren Nähe. Sie reichte ihm die Geräte und Werkzeuge, die er für seine Arbeit brauchte. Aber was er da eigentlich trieb … vermochte sie das zu sagen?

Es gab da in seiner Arbeit ein Allerheiligstes, in das außer ihm niemand Einblick hatte. Niemand. Auch sie nicht. Sie stand im Vorhof dieser engeren Welt.

Und hatten es die anderen besser?

Nein.

Die drei Ärzte wirkten oben im ersten Stock. Sie gaben Einspritzungen und nahmen Blutproben ab.

Aber sie verarbeiteten die Ergebnisse nicht.

Die Einspritzungen, die sie anforderten, brachte ihnen Lorenz oder schickte sie durch eine Schwester.

Die Blutproben aber kamen herunter und der Professor untersuchte sie, machte seine Präparate, die Lorenz wieder aufhob, und dann schickte er den Herren andere Präparate und Sera und Einspritzungen, die er selbst heraussuchte, ja oft selbst zubereitete.

Josefa nickte unwillkürlich vor sich hin.

Es stimmte: er gab nie eine Antwort, wenn ihn einer der Ärzte um Dinge fragte, die sich auf die Arbeit im Laboratorium bezogen. Er sagte höchstens: »Wird geschehen, Herr Kollege. Sie bekommen morgen das entsprechende Präparat. Genaueres weiß ich selbst noch nicht.«

Es war verständlich, daß die Herren sich ausgeschlossen fühlten, wenn sie so wenig Einblick bekamen.

Hielt sie der Professor absichtlich fern? Oder war es für eine so wichtige wissenschaftliche Arbeit vielleicht unbedingt nötig, daß sie einer allein, ohne Hilfe, vielleicht sogar ohne Zeugen durchführte?

Oder … sie schüttelte den Kopf.

Was war das?

Hatte das, was Dr. Pasch gesagt hatte, doch schon etwas in ihr verändert, ihre Meinung so stark beeinflußt? Sollte es möglich sein, daß der Professor wirklich niemand anderem einen Erfolg gönnte, sondern alles nur für sich ernten wollte?

Ihr sank plötzlich die Hand herab.

Aber sie zwang sich sofort wieder zur Arbeit. Das konnte und durfte sie nicht glauben. Das wäre undankbar gewesen.

Aber der Gedanke hatte sich wie mit einem Widerhaken in ihrer Seele festgesetzt.

*

»Sefi!«

»Herr Professor?«

»Glaubst du, daß du bis morgen abend die Aufstellung für die große Übersichtstafel fertigbringen könntest?«

Es war Samstag nachmittag, als Professor Kröner diese Frage an Josefa richtete. Er tat es, wie meist, vom Mikroskop her, ohne sie anzusehen.

Josefa schloß die Augen.

Seltsam! Vor zwei Tagen hätte sie die Frage, ob sie den Sonntag durcharbeiten wolle, zu einem freudigen »Ja« veranlaßt.

Jetzt spürte sie einen schmerzhaften Riß im Herzen. Sie war außerstande, sofort zu antworten.

»Es sind etwa dreitausend Karteiblätter auszuheben«, setzte er fort. »Zweifellos eine ziemliche Arbeit. Ich könnte ja allenfalls noch Fräulein Krämer zuziehen, die alles gleich in die Maschine schreiben würde. Ob das aber dann die erforderliche Genauigkeit ergibt? Ich müßte dann erst wieder Ziffer für Ziffer vergleichen. Meinst du nicht auch?«

»Ja, Herr Professor«, sagte sie mechanisch. Ihre Stimme hatte keinen Ton und klang heiser. Sie mußte sich räuspern. Was hatte ihr nur plötzlich den Hals verlegt?

»Also, was glaubst du, Sefi? Würdest du allein fertig werden? Überlege es dir und sage es mir, wenn du es dir ausgerechnet hast!«

Sie richtete sich von dem Tischchen, über das sie sich gebeugt hatte, auf. »Und wenn ich nicht fertig werde, Herr Professor? Hat es nicht bis Montag abend Zeit?«

»Eigentlich nein«, sagte er. »Ich habe dem Verleger versprochen, daß ich ihm die Tafel Montag schicke, nur habe ich im ersten Augenblick übersehen, daß die Arbeit so umfangreich ist. Mir wäre es aber trotzdem lieber, wenn wie gesagt …«

Josefa preßte die Hände vor der Brust zusammen. »Ich glaube, ich werde fertig sein.«

»Gut«, nickte er vor sich hin. »Aber die Krämer nehme ich doch dazu. Sie soll gleich die Abschrift besorgen. Auf deine handschriftliche Arbeit – hoffe ich – kann ich mich ja verlassen?«

»Ja, Herr Professor. Ich werde sehr achtgeben.«

Damit war das Gespräch zu Ende. Professor Kröner arbeitete weiter wie immer.

Josefa aber stand unbeweglich an den Karteikasten gelehnt und hielt die Augen geschlossen. Ihre Lippen zitterten leise.

Erst als vom Arbeitstisch des Professors her das Geräusch eines auf die Glasplatte zurückgelegten Metallgerätes herüberklirrte, raffte sie sich auf und trat wieder neben den Professor in der aufmerksam wartenden Stellung, die sie sich im Laufe der Zeit angewöhnt hatte.

Um die gewohnte Mittagsstunde erschienen wie immer die drei Ärzte.

Josefa hatte eben an einem Glaskasten in der Zimmerecke zu tun. Sie sah in dem spiegelnden Glas, wie Dr. Pasch zuerst suchend und enttäuscht umherblickte. Als er sie in der Zimmerecke entdeckte, leuchtete sein offenes Gesicht auf.

Sie machte sich diesmal besonders lange an dem Schrank zu schaffen.

Schließlich richtete sie sich mit einer müden Bewegung auf und kehrte zu ihrem gewohnten Platz zurück.

Die Herren grüßten und sie mußte danken.

In den Augen Dr. Paschs lag eine lächelnde Frage. Die bedeutete wohl nichts anderes als: haben Sie den Professor gebeten?

Und sie hatte es nicht einmal versucht!

Sie zwang sich, den Kopf zu heben und ihn voll anzusehen. Dann schüttelte sie leise den Kopf. Ihre Lippen formten lautlos die Worte: »Es war nicht möglich.«

Er las die unausgesprochenen Laute von ihren Lippen ab.

Sie sah, daß er erschrak. Seine eben noch lächelnden Augen wurden hart.

»Bitte, nicht böse sein!« deutete sie wieder. »Es war nicht möglich.«

Sie sah, wie es in seinem Antlitz arbeitete, wie sich sein Mund verzog. Er ließ seine Augen zwischen ihr und dem Professor hin und her wandern.

Sie hob mit einer hilflosen Gebärde die Schultern.

Er nickte grimmig, wandte sich ab und sah durchs Fenster in den Garten hinaus.

Als die beiden anderen Herren gesprochen hatten, kam er an die Reihe, seinen Bericht zu erstatten.

Der geriet überaus kurz.

Aber es fiel niemand auf. Professor Kröner liebte den Wortreichtum nicht und drängte immer auf knappe, sachliche Berichte.

Als sich die Besprechung ihrem Ende näherte, schlüpfte Josefa aus dem Laboratorium und durch den Vorraum in die Halle hinaus.

Dort wartete sie.

Nach kurzer Zeit kamen die drei Herren. Dr. Pasch ging als letzter. Er ging in sich gekehrt und sah nicht um sich.

Sie mußte ihn dreimal anrufen, ehe er sie hörte.

»Seien Sie nicht bös«, hastete sie. »Es war nicht möglich.«

»Er hat es Ihnen verboten?«

»Nein. Aber es war mir unmöglich, ihn zu bitten. Er braucht eine sehr wichtige Aufstellung bis morgen abend. Da habe ich ihn gar nicht erst gefragt.«

Dr. Pasch nickte. »Und daran, daß andere Menschen auch einmal ein paar Stunden Rast haben wollen, haben müssen«, er sprach mit wachsender Erregung, »daran hat er nicht eine Sekunde gedacht. Sind Sie seine Sklavin? Aber ich gehe jetzt zu ihm … ihm …«

Er stockte. Josefa hatte bittend die Hände gehoben. »Bitte, tun Sie das nicht, bitte!« wiederholte sie eindringlich. »Es wird ein anderes Mal sicher möglich sein.«

»Ich habe erst in drei Wochen wieder einen dienstfreien Sonntag«, murmelte er, durch ihre bittende Gebärde entwaffnet.

»Es tut mir ja so leid«, flüsterte sie.

»Tut es Ihnen wirklich leid?« Er fragte es hastig.

Sie nickte, ohne ihn anzusehen. »Auf Wiedersehen!« hauchte sie leise und glitt an ihm vorbei wieder ins Laboratorium.

Er sah ihr bekümmert nach, dann prägte sich wieder ein Zug der Bitterkeit in sein Antlitz. »Wer sind wir alle?« knurrte er. »Nichts sind wir, Sklaven, Werkzeug. Aber er, er ist der Gott! Ach was, Gott!« schloß er verächtlich ab, wandte sich und sprang mit einem großen zornigen Schwung in den Aufzug. Die Gittertür flog laut schnappend ins Schloß.

*

Früher als sonst an Wochentagen begann Josefa an diesem Sonntag ihre Vorbereitungen im Laboratorium.

Sie fühlte, es würde ein heißer Arbeitstag werden, heiß im Sinne angestrengter Arbeit.

Sie öffnete die mächtigen Fenster und ließ die erfrischende Morgenluft hereinhauchen, die ihr wohlig die Schläfen umstrich.

Die Stadt – so nah und für sie doch so unendlich fern – lag unter einer dichten Wolke von Morgendunst. Nur ein paar Turmspitzen ragten in den goldenen Morgenschein hinein.

Die eine Spitze, die sich höher hob als die anderen, ein gewaltig gereckter Finger, war wohl der Stephansdom.

Wie schön wäre es gewesen, mit Dr. Pasch durch die Straßen zu schlendern, die Kirchen und Paläste anzustaunen.

Er war ein so gelehrter Mann. Er wußte gewiß viel von der Geschichte dieser Bauten zu erzählen. Auch hätte sie ihn gerne manches gefragt.

War sie denn nicht zur Stummheit verurteilt in diesem Laboratorium, in dem stundenlang kein Wort fiel und nur ununterbrochen emsige Arbeit herrschte?

Josefa seufzte ein wenig auf. Dann legte sie für den Professor die großen Übersichten auf, die er für seinen Vortrag benötigte.

Sie selbst rüstete sich, aus den unzähligen Laden des Karteikastens die Karten auszuheben, ein ihr vertrautes Geschäft, das einer großen Selbstüberwindung bedurfte. Oft mußte sie hunderte ausheben, wohl wissend, daß sie sie in der nächsten Viertelstunde wieder werde einreihen müssen, immer von Lorenz argwöhnisch beobachtet, der sie unermüdlich darauf hinwies, welches Unheil entstehen könne, wenn sie auch nur eine einzige Karte an unrichtiger Stelle einreihe. Eine umfassende Forschung könne durch Tage aufgehalten werden, wenn eine »versteckte« Karte unter den vielen Zehntausenden von Blättern gesucht werden müsse.

Heute galt es nicht Hunderte, sondern vielleicht Tausende solcher Karten auszuheben, ihre Aufzeichnungen zusammenzustellen, zusammenzurechnen und zu Übersichten zu vereinigen.

Wehe, wenn ein Fehler unterlief!

»Niemals darf mir jemand auch nur die geringste Unrichtigkeit vorwerfen können«, hatte Professor Kröner schon bei ihrer gemeinsamen Arbeit in Oberflins zu ihr gesagt. »Das kleinste Bedenken gegen die innere Wahrheit meiner Arbeit würden Feinde und Neider sofort auf mein gesamtes Werk übertragen. Mit einem Schlag wäre mein gesamtes Lebenswerk gefährdet.«

Nein, sie durfte hier nicht schuldig werden, wenn etwas geschah, was Unheil schuf, ganz abgesehen von den Gefahren, die irgendein Mißverständnis für die mit dem Krönerschen Serum behandelten Personen mit sich brachte.

Sie vertiefte sich mit Eifer in ihre Arbeit und trug auf dem einen der großen Tische die ausgehobenen Karteiblättchen in der vom Professor angegebenen Art und Weise zu sinngemäß zusammengestellten Stapeln zusammen.

Die Arbeit nahm sie so in Anspruch, daß sie ganz überrascht war, als der Professor erschien.

Wie schnell die Zeit vergangen war!

Er grüßte in seiner gewohnten kurzen Art und beugte sich gleich über den ersten Karteistapel, um zu überprüfen, wie sie seinen Auftrag erfüllt hatte.

Josefa schlug ein wenig das Herz.

Wenn sie einen Fehler gemacht hatte, wenn sich ein Irrtum erwies?

Aber er schien zufrieden.

»Gut«, sagte er nach einigen Minuten genauer Prüfung. »Du hast ja schon ein hübsches Stück Arbeit geleistet. Jetzt könnten wir eigentlich mit der Hauptarbeit beginnen …«

Er sah sich um und wurde sich erst jetzt bewußt, daß Fräulein Krämer noch fehlte.

»War denn das Fräulein noch nicht da?« fragte er, die Augenbrauen hochziehend.

Auch Josefa schrak nun zusammen. Sie hatte ganz ihrer Arbeit gelebt und die Zeit nicht berechnet gehabt.

»Nein«, stammelte sie.

Der Professor schüttelte verdrießlich den Kopf. »Sie ist doch sonst so pünktlich, nicht?«

»Jawohl, Herr Professor.«

Er schritt ungeduldig im Raum auf und nieder.

Eine Viertelstunde verging.

»Ist Fräulein Krämer fernmündlich erreichbar?«

»Nein.«

»Dann soll Prenninger sie holen!«

»Jawohl, Herr Professor.«

Josefa lief hinaus und verständigte Prenninger, den Fahrer des Professors, daß er Fräulein Krämer mit dem Wagen abholen solle.

Dann kehrte sie zurück und arbeitete weiter.

Auch der Professor hatte sich inzwischen an die Arbeit gemacht. Er begann die von Josefa zusammengetragenen Stapel durchzuzählen, ihre Daten zusammenzurechnen.

Darüber verging etwa eine Stunde.

Dann kam Prenninger zurück und meldete, Fräulein Krämer sei heute mit dem Zug um sechs Uhr früh mit ihrem Bräutigam in die Berge gefahren.

Dem Professor war es, als höre er nicht recht.

Er starrte Josefa verständnislos an.

»Kannst du das verstehen, Sefi?«

Josefa senkte den Kopf.

»Kannst du das verstehen?« wiederholte er dringender.

Sie hob den Kopf und sah ihn voll an.

Er runzelte unwillkürlich die Stirne. »Soll das heißen, daß die Krämer nicht kommen wollte, weil heute Sonntag ist? … So sag ein Wort, Sefi!«

Josefa sah ihn noch immer an. Ihre Lippen bewegten sich leicht.

»So sprich doch!«

Josefa erhob sich. »Vielleicht kann ich einen Teil von der Arbeit übernehmen, Herr Professor.«

Professor Kröner bekam einen roten Kopf. »Das heißt also, du hast es gewußt, daß sie nicht kommen wird.«

Josefa trat einen Schritt zurück. »Nein, Herr Professor. Wie die Trude gestern weggegangen ist, hat sie schon a gspaßige Bemerkung gemacht. ›Gute Unterhaltung morgen‹ hat sie gsagt. Aber ich hab halt doch nicht geglaubt, daß sie wirklich nicht kommen wird.«

Professor Kröner stand, beide Hände zu Fäusten geballt, breitbeinig im Raum. Josefa zog sich furchtsam zurück.

So hatte sie den Professor nie gesehen; nie hatte sie geglaubt, daß er so furchtbar sich erzürnen könne. In seiner Haltung beherrschte er sich wohl. Aber in seinen Augen glomm es böse auf, ein Zeichen dafür, wie gewaltig es in seinem Innern kochte.

So stand er spreizbeinig eine Weile und malmte langsam mit den Zähnen gegeneinander. Dann wandte er sich um und ging zu seinem Arbeitstisch.

Aber er arbeitete nicht. Josefa erkannte es deutlich. Das war nicht seine gewohnte Stellung.

Sie sah sich wie hilfesuchend im Zimmer um.

Ihr war unheimlich.

Warum nahm er all dies so schrecklich ernst? Das dumme blonde Ding konnte ihm doch mit ihrer Arbeit nicht so viel bedeuten.

Sie trat leise näher. »Herr Professor, vielleicht weiß die Mali jemand, der für Fräulein Krämer heute …«

Da drehte er sich jäh um. »Es ist mir nicht um die Arbeit dieses … dieses Fräulein Krämer. Aber daß diese … diese … unverschämte Person es wagt, mich bei meiner Arbeit, bei dieser Arbeit einfach sitzen zu lassen, das ist eine … eine Verantwortungslosigkeit, eine … eine … ich finde kein Wort dafür, was das für eine Gemeinheit ist …« Er sprang wieder auf und schritt auf und nieder. Dann blieb er vor Josefa stehen. »Sefi! Du schreibst augenblicklich dieser Person, daß sie hier nichts mehr zu suchen hat. Nichts mehr. Rechne aus, was sie zu bekommen hat, und schick ihr das Geld mit. Ich will sie nicht mehr sehen … Ich will sie nicht mehr sehen. Läuft diese Person mit irgendeinem Niemand in der Welt herum zu ihrem Vergnügen, während hier … hier eine … eine neue Welt entstehen kann. Eine neue Welt! Und das wagt sie, mir aufzuführen, mir …!«

Er lachte grell auf.

Eine bange Pause entstand, während der sich Josefa vorsichtig den Karteistapeln näherte, um ihre Arbeit fortzusetzen, er aber über sie und durch sie hinweg in die Ferne starrte und an der Unterlippe nagte.

Dann schien er zu bemerken, daß sie wieder an der Arbeit war.

»Du hast recht«, sagte er mit etwas heiserer Stimme, »wir müssen arbeiten. Wir müssen heute ohne diese …«, er unterdrückte ein häßliches Wort, »diese Person fertig werden …«

»Vielleicht wollen Sie mir diktieren«, stotterte Josefa verlegen. »Ich kann zwar noch fast gar nichts. Aber wenn es nicht zu schnell geht, so komme ich vielleicht mit.«

Er hörte ihr nur halb zu. Dann nickte er aber. »Wir wollen es versuchen.«

Er nahm seine Aufzeichnungen vor und begann langsam zu sprechen, nicht aus Rücksicht auf Josefas Schreiben, sondern weil er sich selbst nur mühsam in die Gedankengänge von gestern hineinfinden konnte.

Josefa vergaß darüber die vorhergegangene Szene. Ihr Ehrgeiz war mit all seiner Kraft wach geworden. Sie wollte, sie mußte mitkommen.

Sie hatte in den sechs Wochen, die sie hier war, jede freie Minute, all die unfreiwilligen Pausen, die zwischen ihren Handreichungen an den Professor lagen, dazu benutzt, um sich zu üben. Ihre Versuche, heimlich mitzuschreiben, wenn er der Krämer angesagt hatte, waren von Tag zu Tag besser ausgefallen. Hie und da mußte sie wohl noch ein Wort ausschreiben, aber Dutzende andere konnte sie kürzen.

Welch ein Glück, wenn sie mitkäme!

Was er wohl dazu sagen würde?

Sie schrieb drauflos, daß ihr die Finger knackten. In den Pausen, die er zwischen den einzelnen Sätzen einschaltete, um nachzudenken, fügte sie die Wörter ein, die sie in der Eile hatte auslassen müssen.

Es dauerte nicht allzu lange, da hatte sich der Professor wiedergefunden. Die Arbeit ging ihm leichter vonstatten; unmerklich, aber für Josefa doch deutlich spürbar, beschleunigte er das Tempo, reicher flossen wieder die Gedanken.

Josefa glühte vor Freude.

Sie kam recht und schlecht mit. Sie wußte, daß sie viel falsch geschrieben hatte, aber sie wußte, daß sie es nachher würde ausbessern können, denn sie hatte den Klang seiner Worte im Ohr.

Sie hatte ja auch viel von dem, was er sagte, schon bei anderer Gelegenheit von ihm gehört. Sie lebte ja schon in seinen Gedankengängen, sie dachte und – was mehr bedeutete – sie fühlte mit. Sie ahnte gelegentlich, was jetzt kommen würde, und das half ihr, die entsprechenden Zeichen auf das Papier zu bannen.

Wenn es ihr gelang, eine solche Wortfolge, eine Redewendung vorauszuahnen, durchzuckte sie jedesmal ein freudiger Schreck.

Sie war glücklich. Vielleicht war sie noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen.

Der unangenehme, ja erschreckende und ungewohnte Anblick, den der Professor in seinem Zorn geboten hatte, war vergessen. Sie war wieder in den Bann seiner großen Gedanken geraten.

Schon fügte er wieder zwischen die vielen Zahlen, die er anführte, Sätze, die seine Schlußfolgerung ahnen ließen, die atemberaubende Folgerung, daß es vielleicht einmal möglich sein werde, dem Tode alle Opfer abzulisten, die nicht durch Schwäche des Organismus fielen.

Josefa fühlte, wie ihre Hand zu schmerzen begann. Die ungewohnte Arbeit strengte an.

Sie spürte ein leises Zittern in den Knien.

Wie, wenn sie doch nicht durchhielt? Wie schrecklich wäre das!

Aber sie hatte Glück. Eben als sie überlegte, wie sie es dem Professor sagen sollte, daß sie am Ende ihrer Kraft war, stockte er plötzlich.

»Jetzt brauchen wir die Übersichten aus der Kartei«, sagte er. »Ich werde dir helfen. Wenn wir fleißig sind, bringen wir beides fertig, die Zusammenstellung aus der Kartei und den Abschluß des Vortrages.«

Josefa atmete tief auf. Das war Rettung im letzten Augenblick gewesen.

Mit glühendem Eifer machte sie sich an die ihr schon gewohnte Arbeit.

Kein Wort fiel. Stumm, wie in einem verbissenen Wetteifer, arbeiteten sie nebeneinander.

Langsam wuchsen die Stapel auf dem Mitteltisch, langsam schwanden die Vorbereitungszettel, auf denen die Arbeit vorgezeichnet war.

Es wurde deutlich. Sie konnten auch ohne die Hilfe Trude Krämers fertig werden.

Diesmal lud der Professor Josefa zum Mittagessen ein. Ihre Begeisterung für ihre schöne Arbeit behielt sie aber der Frau Professor gegenüber aus irgendeinem gefühlsmäßigen Grund zurück. Sie empfand deutlich den Zwiespalt, der in der Ehe des Professors entstanden war, seit sich dieser ausschließlich auf seine Arbeit eingestellt hatte und darüber selbst seine Ehe zurückstellte.

*

Während des Mittagessens hatte der Professor viel von seiner Verpflichtung gegenüber der Welt und der Menschheit gesprochen; er sei es, der die Bresche zu schlagen habe; er sei ein Fanatiker, und ein solcher Mensch habe keine andere Wahl, als zu siegen oder zu sterben. Er werde siegen! Dieser Vortrag hatte ihn offenbar in so ausgezeichnete Stimmung versetzt, daß er nunmehr in bester Laune den Schluß seines Vortrages für die Akademie der Wissenschaften diktieren konnte.

Josefa kämpfte verzweifelt, das Tempo einzuhalten.

Aber es gelang ihr. War sie auch schon von dem großen Werk »besessen«, wie er es genannt hatte?

Ach ja, es war schön, sich in eine gewaltige Sache einzuleben und an ihrem allmählichen Entstehen teilzunehmen.

Das gab Kraft, unglaublich viel Kraft.

Diese Kraft hielt an, auch als der Tag fortschritt und sich allmählich der Abend mit seinen ersten Schatten bemerkbar machte.

Josefa mußte das Licht einschalten. Immer noch wuchsen die Stapel der Karteikarten an, immer noch legte sie einen der bearbeiteten Bogen nach dem anderen zur Seite.

Immer noch stand der Professor ihr gegenüber und sah mit scharfen Augen die Listen durch, machte sich Vormerkungen und sagte ihr zwischendurch ein paar Sätze an.

Wieder kam Meldung, das Essen warte.

Der Professor hob den Kopf.

»Schluß für heute, Sefi«, sagte er. Dann ließ er den Blick über die geleistete Arbeit, über die Stapel der Blätter, über die ausgebreiteten Listen fliegen.

»Wir sind bereit. Morgen schreibst du, was ich dir diktiert habe, um, und sendest das Manuskript an den Verleger.«

Er lehnte sich an den Glasschrank, vor dem er stand. »Dieser Vortrag wird Aufsehen machen, Sefi. Freilich wird er nicht unwidersprochen bleiben. Aber das ficht mich nicht an. Kampf muß sein. Ich habe noch immer in meinem Leben die Erfahrung gemacht, daß nichts so stärkt wie Kampf. Er fordert die letzten Kräfte heraus, er macht aus trägen Menschen Kämpfer, aus matten Geistern Feuerköpfe. Meine besten Einfälle verdanke ich meinen Gegnern. Wenn ich am Erliegen war und nicht mehr weiter wußte; wenn der andere schon gesiegt zu haben meinte, dann rief ich meine letzten Kräfte auf. Und noch jedesmal kam mir irgendein Gedanke rettend zu Hilfe. Wäre nicht der Tod, ich könnte nicht für das Leben kämpfen. Er ist ein verteufelt schlauer Geselle, aber wir wollen es ihm schwer, verdammt schwer machen. Was, Sefi?«

Josefa nickte lächelnd.

Der Fernsprecher unterbrach schellend ihr Gespräch.

»Wer ist gekommen?« fragte der Professor.

Seine Augen leuchteten auf. »Das ist heute ein seltener Tag. Ja, ich komme schon.«

Im Nu hatte er seinen weißen Arbeitskittel abgeworfen. »Professor Costales, der Leiter der Schlangenfarm in Guatemala«, erklärte er Sefi. »Schnell, gib mir die Zusammenstellung über die westindischen Gifte! Wunderbar! Costales kommt wie gerufen.«

Mit einer raschen Bewegung entriß er Josefa den dargereichten Bogen und stürzte aus dem Raum.

Josefa sah ihm nach. Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, schwand das Lächeln, das bisher auf ihrem Antlitz gelegen hatte.

Mit einemmal fühlte sie – nun, da sie sich allein sah –, daß sie bis an den Rand ihrer Kräfte erschöpft war. Unwillkürlich lehnte sie sich an den Kasten, neben dem sie stand. Ihre Knie zitterten ein wenig. Wie viele Stunden war sie heute gestanden; wie viele Stunden über das Schreibpapier gebeugt gesessen?

Und nun hatte sie ja noch die Umschrift durchzuführen, sonst vergaß sie am Ende bis zum nächsten Morgen all das, was sie in der Hitze des Schreibens bei ihrem Mangel an Übung einfach hatte auslassen müssen.

Ja, das mußte wohl sein.

Wie hatte der Professor gesagt?

»Morgen schreibst du, was ich diktiert habe, um, und sendest das Manuskript an den Verleger!«

Wie leicht er sich das vorstellte.

Ach, und er hatte nicht ein einziges Wort darüber verloren, daß sie inzwischen die Kurzschrift erlernt hatte.

Josefa sank in sich zusammen und legte den müden Kopf auf das zur Umschrift bestimmte Papier.

Nicht ein einziges Wort hatte er gesagt.

Hatte sie sich nicht jedesmal, wenn sie todmüde über den Büchern saß, zur weiteren Arbeit aufgerafft, indem sie sich vorstellte, was er wohl für ein Gesicht machen würde, wenn sie eines Tages stillschweigend eine Arbeit übernahm, die sonst nur eine andere, zum Beispiel diese törichte Trude Krämer, hätte übernehmen können?

Hatte ihr dieser Gedanke nicht wieder Kraft gegeben, doch noch durchzuhalten?

Kein Wort! Kein einziges Wort der Anerkennung, des Dankes!

Sie konnte es trotz aller Beherrschung nicht verhindern, daß ihr die Tränen über die Wangen herabliefen.

Es war schmerzlich, dieses Weinen, und doch eine Wohltat.

Eine Weile ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

Dann richtete sie sich auf und legte das Blatt mit ihren Aufzeichnungen vor sich hin.

Noch ein tiefer Seufzer, ein Atemholen und sie begann zu schreiben.

Mit ihrer schönsten, gleichmäßigsten Schrift.

Sie schonte sich nicht. Sie wußte: sie würde noch viele Stunden schaffen müssen.

Aber es mußte sein. Es mußte.

*

Als Josefa am nächsten Morgen erwachte, lag die Sonne mit vollem Glanz im Zimmer.

Erschrocken wandte sich Josefa zu dem auf dem Nachttischchen stehenden Wecker.

Er zeigte neun Uhr.

Josefa konnte einen Ausruf des Schreckens nicht unterdrücken.

Was war geschehen?

Sie hatte offenbar verschlafen.

Sie hob den Wecker und untersuchte das Stellwerk.

Er war abgelaufen. Der Stellzeiger stand richtig auf sechs Uhr. Sie mußte so tief geschlafen haben, daß sie ihn überhört hatte. Das war entsetzlich. Was würde der Professor sagen!

*

Aber als sie wenige Minuten später das Laboratorium betrat, fand sie es leer.

Der Professor sei noch nicht dagewesen, bestätigte der alte Lorenz.

Das war ein glücklicher Zufall.

So konnte sie ihre Schrift noch einmal durchlesen und allfällige Fehler beseitigen.

In der Nacht war sie es nicht mehr imstande gewesen.

Sie hatte die letzten Seiten halb schlafend geschrieben.

Wie sie in ihr Zimmer gekommen war, konnte sie sich überhaupt nicht entsinnen.

Sie setzte sich zurecht und las.

Ihre Wangen röteten sich. Bei der mühsamen nächtlichen Schreibarbeit war es ihr gar nicht zu Bewußtsein gekommen, was sie geschrieben hatte.

Jetzt kostete sie mit Genuß jedes Wort dieses auch sprachlich und stilistisch glänzenden Vortrages aus.

Ach, wenn sie nur hätte dabei sein können, wenn er vor der großen Versammlung sprach, wenn sich die Augen der vielen berühmten Gelehrten auf ihn richteten.

Sie wußte, er würde in Begeisterung geraten und im Feuer seiner Rede vielleicht noch viel Schöneres und Mitreißenderes sagen, als er ihr da angesagt hatte.

Ob sie ihn wohl bitten durfte, daß er sie mitnahm.

Ob er das als eine Keckheit auffassen und ablehnen würde?

Wahrscheinlich. Was hatte sie, die unscheinbare, kleine Person, unter den großen Männern zu suchen?

Nein, sie würde lieber nicht fragen.

*

Der Professor kam noch immer nicht.

Sie begann, die Karteikarten wieder in die Fächer einzuordnen. Es war elf Uhr, als sie ihn – aber war das wirklich sein Schritt? – kommen hörte.

Sonst kam er immer in einem fast stürmischen Schritt heran, die Tür flog auf, und ehe sie es sich versah, saß er auf seinem Arbeitsplatz. Dann hatte sie oft kaum Zeit, ihm etwas zu melden, eine dringende Frage an ihn zu richten.

Denn schon streckte er die Hand aus und heischte sein Werkzeug.

Heute klang sein Schritt schleppend, die Tür öffnete sich fast bedächtig.

Sie erhob sich und sah ihm entgegen.

Da erschrak sie.

Hatte er nicht geschlafen?

Sein Gesicht sah übernächtig, fast ein wenig grau aus.

Er hatte sich nicht rasiert, und verschiedene Falten im Anzug ließen erkennen, daß dieser die Nacht über nicht abgelegt worden war, keine reinigende und glättende Hand verspürt hatte.

Mit einem seltsam geistesabwesenden Ausdruck durchschritt er das Zimmer, die linke Hand tief in die Hosentasche versenkt und unter den angepreßten linken Arm eine blau eingeschlagene Druckschrift geklemmt, die er nun – an seinem Arbeitsplatz angelangt – zögernd vornahm und mit einem finsteren Ausdruck auf den Tisch breitete.

Dann blieb er, beide Hände mit den Fingerknöcheln auf die Glasplatte des Arbeitstisches stemmend, etwas vornübergebeugt stehen und starrte wortlos auf das Heft nieder, das – wie von einer zauberhaften inneren Kraft bewegt – sich langsam entfaltete und dann geöffnet auf dem Tisch liegenblieb.

Josefa kannte diese Art von Heften.

Sie kamen von Zeit zu Zeit von einem berühmten wissenschaftlichen Verlag an den Professor.

Sie enthielten Facharbeiten medizinischen Inhaltes.

Der Professor blätterte sie gewöhnlich flüchtig durch.

Nur selten nahm er sich einen der Aufsätze, der sich mit seinem engeren Arbeitsgebiet beschäftigte, genauer vor und schrieb seine Bemerkungen und Anweisungen dazu.

Josefa hatte dann die Aufgabe, die unterstrichenen und angemerkten Stellen für die Kartei herauszuziehen und auf zahlreichen Einzelblättern zu vermerken.

Einige Male war es vorgekommen, daß der Professor auf einen solchen Aufsatz hin mit dem Verfasser in Briefwechsel getreten war. Meist aber hatte er in diesen Briefen seine Überlegenheit zu beweisen gesucht.

Das hatte Josefa herausgefühlt.

Das war ihr unangenehm gewesen. Sie konnte sich vorstellen, daß die Empfänger dieser Briefe wohl ein wenig verletzt sein mußten.

Oder waren sie vielleicht sogar noch beglückt, daß sich der berühmte Professor Kröner, der unbestritten erste Fachmann auf dem Gebiet der Giftforschung oder Toxikologie, überhaupt mit ihnen in einen Briefwechsel einließ?

Manche der Antworten ließen diese Anschauung als richtig erscheinen.

Diesmal schien es aber mit dem Heft eine besondere Bewandtnis zu haben.

Wie gebannt starrte der Professor auf die Druckseiten nieder, deren zahlreiche Knitter bewiesen, daß sie schon mehr als einmal gelesen worden waren.

Stehend wendete Professor Kröner die Seiten um und las, ohne seine Stellung zu verändern, weiter.

Josefa wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Ein Ferngespräch rief den Professor nach einiger Zeit von seinem Arbeitsplatz ab.

Er gab – Josefa bemerkte es wohl – dem Anrufenden zerstreute Antworten. Von seiner sonstigen entschiedenen Art war nichts zu spüren. Der Abschluß: Machen Sie, was Sie wollen! widersprach seiner sonstigen selbstherrlichen Weise, in der er seinen Willen als allein gültig durchzusetzen wußte.

Sie benutzte die kurze Zeit seines Gesprächs, um einige Präparate, die noch der Vollendung harrten, auf den Arbeitstisch zu stellen.

Dabei warf sie einen kurzen Blick auf das offenliegende Heft.

Sie las den Titel: »Bericht über die abgeschlossene Darstellung der Toxine …« Es folgten einige Namen von Giften, die Josefa genau kannte, weil sich der Professor seit Wochen – bisher fruchtlos – bemühte, eben diese Toxine oder zumindest einen Teil davon darzustellen.

Nun war es offenbar einem anderen gelungen, diese Gifte »darzustellen«, das heißt in ihrem Wesen zu erforschen und chemisch zu klären.

Warum machte das dem Professor einen so tiefen Eindruck?

War er eifersüchtig?

Sie mußte beiseitetreten, weil der Professor zurückkam und nun seinen Arbeitssessel einnahm.

Aber er begann nicht, die bereitstehenden Präparate zu bearbeiten.

Er zog das Heft wieder mit einer nervösen Bewegung heran und las weiter.

Josefa ließ ihn eine Weile gewähren, dann nahm sie die Blätter, auf die sie am Abend vorher den Vortrag niedergeschrieben hatte, und trat zu ihm.

»Herr Professor, bitte, Ihre Unterschrift! Das Manuskript Ihres Vortrages …« Sie zögerte einen Augenblick. »Es soll doch heute noch zum Verleger.«

»Was?« Er hob plötzlich den Kopf und sah sie mit unruhigen Augen an. »Was ist los?«

Sie wiederholte das Gesagte.

»Ach Gott!« Seine Stimme hatte einen gedehnten und unlustigen Klang. »Der Vortrag! Ja, freilich. Der Vortrag. Gib her!«

Er nahm die Blätter entgegen und ließ die Augen mit einem seltsam verlorenen Ausdruck über die Zeilen hinfliegen.

Warum las er nicht wie sonst mit der bei ihm gewohnten Genauigkeit? Warum nahm er nicht die Füllfeder, um vergessene Satzzeichen und andere kleine Fehler zu verbessern?

Sie sah deutlich, daß er ganze Absätze übersprang und zwischendurch immer wieder einen Blick zu dem Heft der Zeitschrift hinüberwarf.

Dann gab er ihr die Blätter zurück. »Danke«, sagte er in eigenartig müdem Tonfall.

Sie zögerte zuerst, dann übernahm sie die Blätter.

»Aber die Unterschrift, Herr Professor!«

»Ja richtig, die Unterschrift.« Er angelte mechanisch die Füllfeder aus der Brusttasche und setzte seinen Namen unter den Begleitbrief. Dann schob er den Brief zur Seite.

Sie zögerte. »Darf ich … darf ich … jetzt den Vortrag an den Verlag absenden?«

»Ja«, sagte er, »warum nicht?«

Sie sah ihn ängstlich an. »Es könnten doch vielleicht Fehler darinnen sein, Herr Professor. Sie haben nichts ausgebessert.«

»So, habe ich das? Es wird schon recht sein.«

Nun hielt sie die Blätter in den Händen.

Ihre Augen ruhten mit einem fragenden Ausdruck auf seinem Antlitz.

Aber er sah sie nicht an.

Er war schon wieder zu seinem Heft zurückgekehrt.

Da schlich sie aus dem Raum und übergab Lorenz das Manuskript.

»Was hat er denn heute, der Herr Professor?« fragte sie den Alten.

»Ich weiß nicht«, schüttelte der den weißhaarigen Kopf. »Ich weiß nicht. Wenig geschlafen hat er halt. Um vier Uhr hab ich noch Licht in seinem Zimmer gesehen.«

Josefa äußerte ihre Sorge, ob sie wohl das Manuskript werde abschicken dürfen.

Er nickte. »Er liest es ja noch, bevor es endgültig in den Druck geht. Bis dahin lassen Sie ihn halt in Ruh! Vielleicht hat er eine neue Idee. Er ist manchmal ein bißl komisch, der Herr Professor.«

Er trat dicht an Josefa heran. »Wissen S' Fräulein Sefi, die großen Leut haben so ihre Faxen. Manchmal, da reißt es sie sakrisch hin und her. Aber im Grund is nix dahinter. A jeder große Mensch is a bisserl a Narr, da dran muß sich aner gwöhnen, Fräulein Sefi.«

Er nickte ihr beruhigend zu und kletterte seine Leiter empor, wobei er die Nummer des Präparates, das er in der Hand hielt, ununterbrochen wiederholte.

*

Josefa bekam an diesem Tag nichts zu tun.

Sie begann ernstlich zu befürchten, daß der Professor nicht wohl sei. Selbst bei der täglichen Unterredung mit den drei Ärzten hatte er sich nicht vollständig in der Gewalt, war zerstreut und sah oft – sogar während er selbst sprach – nach dem Tisch hinüber, auf dem das Heft lag, das ihn so in seiner gewohnten Sicherheit gestört hatte.

Ob es die Herren merkten?

Dr. Pasch jedenfalls erkannte, daß etwas nicht stimmte. Er hob mehrmals ruckartig den Kopf und sah schließlich mit einem fragenden Ausdruck zu Josefa hinüber.

Als die Unterredung zu Ende war, gab er Josefa ein Zeichen, daß er sie draußen erwarte.

»Dieser Sonntag hat verheerend gewirkt«, knurrte er, als sie ihm in der Halle gegenübertrat. »Sie sehen elend und unausgeschlafen aus, und der Professor ist selbst so fertig, wie ich ihn noch nie gesehen habe, seitdem ich die Ehre habe, dieser Anstalt hier anzugehören.«

*

Am Nachmittag war der Professor plötzlich beinahe wieder der alte.

»Ich fahre für einige Tage fort«, erklärte er, als er nach der Mittagspause in das Laboratorium trat. »Ich denke, daß ich in längstens drei Tagen wieder da bin. Bis dahin ist der Vortrag gesetzt und ich kann die Korrektur lesen. Alles übrige geht seinen gewohnten Gang. Du kennst dich ja schon recht gut aus, Sefi, nicht?«

»I hoff' schon, Herr Professor.«

Er blieb nachdenklich stehen. »Es wäre nur ungeschickt, wenn Rüttgers etwa gerade in diesen Tagen käme. Er fährt ja dann gleich mit der ›Katanga‹ nach Guinea. Aber die ›Katanga‹ dürfte doch wohl nicht vor einer Woche abgehen. Ich glaube, mich zu erinnern, daß sie an einem Freitag fährt, aber ob es schon dieser ist oder der nächste?«

Er ging wieder ein paar Schritte auf und ab.

»Ich denke, es wird doch wohl erst der übernächste Freitag sein«, murmelte er. »Er wird doch wenigstens zehn Tage in Europa bleiben wollen nach den drei Jahren Asien.«

Er blieb wieder stehen. »Sieh nach, wann morgen die Züge nach Innsbruck und Landeck gehen! Jawohl, Sefi«, setzte er hinzu, als sie eine Bewegung der Überraschung machte. »Ich fahre in die Berge, aber nicht um der Berge willen …«

Er brach plötzlich ab und starrte mit finsterer Miene vor sich hin. »Nicht um der Berge willen«, hörte sie ihn dumpf wiederholen.

*

Der Professor reiste mit dem Vormittagsschnellzug ab.

*

Wenn Josefa erwartet hatte, sie werde ungestört arbeiten können, so hatte sie sich allerdings geirrt.

Es kamen im Fernsprecher zahlreiche Anrufe.

Sie mußte Auskunft geben, Fragesteller auf die Rückkehr des Professors vertrösten, Anschriften und Ferndepeschen aufnehmen und dazwischen immer wieder versichern, daß sie wirklich nicht wisse, wohin der Professor gefahren sei; denn die meisten Frager waren durch die Auskunft, Professor Kröner sei in die Berge gefahren, nicht befriedigt.

Um die Zeit, da sonst die drei Ärzte zum Vortrag kamen, rief sie Dr. Pasch im Hausfernsprecher an. Er habe mit ihr zu reden.

Ob er nicht herüberkommen wolle?

Wollen schon, aber das sei nicht gut möglich.

Warum?

Sie solle nur den alten Lorenz fragen. In Abwesenheit des Professors dürfe niemand das Laboratorium betreten, der nicht ständig dort beschäftigt sei.

Aber er sei doch schon einmal in Abwesenheit des Professors dagewesen.

Das sei ein Zufall gewesen. Lorenz habe geglaubt, der Professor sei im Raum. Sie solle keine Umstände machen und in die Halle hinauskommen.

*

Er trat ihr in der Halle mit einem vergnügten Lächeln entgegen. »Sie schau'n ja heut' kreuzfidel drein, Herr Doktor«, sagte Josefa statt einer Begrüßung.

»Bin ich auch heute. Kreuzfidel bin ich.«

»Und warum, wenn i fragen derf?«

Er blitzte sie aus seinen blauen Augen an. »Das sag ich Ihnen erst später.«

Sie mußte lächeln. Seine gute Laune steckte sie an.

»Sie haben heute um fünf Uhr nachmittags frei, Fräulein Josefa.«

»Das habe ich doch immer.«

»Schwindeln Sie nicht! Das steht doch nur auf dem Papier. Sind Sie jemals schon um fünf Uhr aus dem Laboratorium gekommen? Ehrliche Antwort!«

»Nein.«

»Sehen Sie! Sie haben also heute um fünf Uhr frei, wirklich frei!«

»Ja, Herr Doktor.«

»Ich auch. Merken Sie etwas?«

»Nein«, schwindelte sie.

»Ich habe nicht gewußt, daß Sie sich verstellen können, Josefa.«

»Nur zum Spaß.«

»Das will ich hoffen. Also: merken Sie etwas?«

»Vielleicht.«

»Sie gehen heute nachmittag mit mir aus.«

»Es is doch net Sonntag.«

»Nein, Dienstag. Aber es gibt Menschen, die auch an Dienstagen in Wien spazierengehen.«

»Am Abend?«

»Jawohl, am Abend.«

»Oh!«

»Wir gehen, solange es Licht ist, auf der Ringstraße spazieren und dann in ein Theater.«

»Mein Gott!«

»Warum: Mein Gott?«

»Das geht wirklich nicht.«

»Warum nicht?«

»Man wird sich von mir was Schönes denken hier in der Anstalt. Am ersten Tag, an dem der Professor weg ist, läuft sie davon.«

»Wer ist ›man‹?«

»Alle: der Lorenz, die Oberschwester, die Schwestern.«

»Lauter alte Weiber, den Lorenz mit eingeschlossen.«

Sie mußte wieder lachen.

Er nahm es als Zustimmung. »Abgemacht?«

»Ja. Aber ohne Theater.«

»Warum?«

»Ich will das erste Mal nicht später heimkommen. Ein anderes Mal.«

Er sah sie einen Augenblick verstimmt an.

»Bitte!« sagte sie und hob die Hände.

Er drückte sie ihr nieder. »Sie sind ein Prachtmädel«, murmelte er. »Und Sie haben recht. Wir werden es so einrichten, daß Sie um acht Uhr wieder da sind. Also, um fünf Uhr vor der Anstalt beim Tor.«

»Jawohl, Herr Doktor.«

Er nickte ihr freudestrahlend zu und kehrte in den ersten Stock zurück.

Josefa lief ins Laboratorium.

*

»Verzeihen Sie!« sagte Josefa, als sie wenige Minuten nach fünf Uhr atemlos vor das Portal trat, vor dem Dr. Pasch wartend bei seinem Wagen stand. »Ich glaub, i bin a bisserl spät.«

»Zwei Minuten«, stellte er in spaßhaftem Ernst fest, indem er den Arm großartig vorstieß, abwinkelte und auf seine Armbanduhr sah.

Sie lachte. »Um ein Haar und i hätt net kommen können.«

Er runzelte die Stirne. »Warum?«

Sie schlüpfte auf seine einladende Bewegung auf den Sitz neben dem Führersitz. »Die Frau Professor hat mich rufen lassen. Ich soll heute abend mit ihr musizieren.«

»Und?«

»Sie hat zuerst nachmittag wollen. Aber da hab ich gesagt, i möcht mir ein bisserl die Stadt anschaun. Ich kenne sie ja noch nicht.«

Er schüttelte, indem er einschaltete und die Handbremse lockerte, den Kopf. »Es ist kaum zu glauben. Jetzt sind Sie zwei Monate hier und waren noch nicht in Wien?«

»Nein.«

»Schweinerei«, murmelte er.

Sie hatte nicht verstanden. »Wie?« fragte sie.

»Eine Schweinerei ist das«, brach er los.

»Bitte, nicht davon zu reden«, bettelte sie. »I hab mi so gfreut auf die Ausfahrt. Sie waren heut so lustig vormittag.«

Er war bereits angefahren und mußte auf die Straße achten. Er wandte ihr rasch den Kopf zu und sah ihre bittenden Augen. »Gut«, sagte er, »wir wollen das Thema heute streichen. Was wünschen Sie für ein Thema, Schwester Josefa?«

»Sagen Sie einfach ›Josefa‹ oder ›Sefi‹. Ich mag von Ihnen nicht ›Schwester Josefa‹ genannt werden.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß nicht. Heute vormittag haben Sie es auch nicht gesagt.«

»War das nicht keck von mir, allzu vertraulich?«

»So? Hätt i mir's vielleicht verbitten sollen?«

»Vielleicht«, sagte er scherzend.

Sie lachte glücklich auf. »Ich verbitt mir's aber doch nicht, Herr Doktor.«

»Und Sie lassen das ›Herr‹ weg! Einfach ›Doktor‹, verstanden?«

»Derf i?«

»Wenn ich es mir ausbitte?«

»I wer's net treffen.«

»Versuchen Sie es doch!«

»Gut … Doktor.«

Nun lachten sie beide. Dann fuhren sie ein Stück stumm.

»Mein Gott, ist das schön!« Josefas bewundernde Blicke glitten über die Villen und Gärten. »Ist das schon die Ringstraße?«

»Nein, Josefa, noch lange nicht. Aber ich sehe, ich muß Fremdenführer spielen. Also, hören Sie …!«

Dr. Pasch erwies sich für dieses Geschäft als sehr geeignet. Er wußte eine Menge von der Geschichte Wiens und der einzelnen Bezirke.

»Aber Sie sind doch gar kein Wiener«, wandte Josefa ein, als er einmal den Ausdruck »wir Wiener« gebrauchte.

»Nein. Ich bin kein gebürtiger Wiener, Josefa. Aber Wien hat den wunderbaren Zauber, alle Menschen, die in seinen Mauern wohnen einzu›wienern‹. Sie sind oft fanatischere Wiener als die gebürtigen. Das mag vielleicht daran liegen, daß diese Stadt so viel Sinn für die Schönheiten des Lebens hat. Jeder Wiener ist ein Genießer im guten Sinn. Ihn freut das Leben nicht, wenn er es nicht verschönern darf. Viele verstehen das nicht und werfen den Wienern vor, daß sie Phäaken seien, das heißt Menschen, die nur für den Genuß leben. In dem Sinn ist das nicht richtig. Die Wiener arbeiten genau so viel wie andere Menschen, aber sie wollen dafür Schönheit des Lebens für sich und andere.«

»Sie sind also gern hier?«

»Ich bin dieser Stadt verfallen, ihrem zauberhaften Reiz, ihrer Musik, ihrer Kunst, diesem ›Ichweißnichtwas‹, das hier in der Luft liegt.«

Josefa lag bequem zurückgelehnt in dem weichen Sitz. »Bitte, fahren Sie nicht so schnell, Herr Doktor!«

»Doktor!«

»Also gut: Doktor.«

Sie lachte.

Er mäßigte die Fahrschnelligkeit. »Jetzt wollen wir halten und einen Kaffee trinken.«

»Nein!« bat sie erschrocken.

»Warum denn?«

»Nicht aussteigen! Ich kann doch in meinem Kleid nicht in ein Kaffeehaus gehen. Schaun Sie nur, wie vornehm die Damen alle angezogen sind! I müßt mich ja für Sie schämen, daß Sie mit einer so armseligen Maus in a feines Kaffeehaus gehen.«

»Josefa!«

»Schaun S', Doktor, ich bin so glücklich hier im Wagen. Sie wollen mir doch a Freud machen, net? Bleiben wir im Wagen!«

Er kuppelte aus und hielt an.

»Wann i doch so schön bitt«, klagte sie.

»Wir bleiben im Wagen, Josefa«, sagte er. »Aber ich muß hier einen Augenblick aussteigen.«

Er zog die Bremse an und verließ den Wagen. Sie sah ihn in einen Zuckerbäckerladen eintreten. Wenige Minuten später kam er mit einem großen Paket heraus.

»So!« sagte er. »Und jetzt fahren wir zu einem Lokal, wo Sie sogar mit Begeisterung aussteigen werden.«

Er wendete und fuhr mit großer Schnelligkeit die Ringstraße entlang, bog dann ab. Kaum fünf Minuten später waren sie schon im Grünen.

»Das ist der berühmte Prater«, erklärte er. »Sie sehen, Josefa, hier lagern die Leute im Gras; ohne großen Putz. Wollen wir das auch tun?«

Sie nickte.

Sie verließen den Wagen. Er nahm zwei der Sitzpolster und bereitete für Josefa und sich Sitzgelegenheiten. Dann packte er aus.

Josefa wehrte sich ein wenig, aber dann griff sie doch tapfer zu.

»Sie sind ein merkwürdiges Mädel«, sagte er, während sie beide aßen. »Ich hatte mir einen ganz anderen Plan für heute zurechtgelegt. Aber Sie haben eine seltsame Art, Ihren Willen durchzusetzen.«

Josefa sah ihn erschrocken an.

»I will aber net zwider sein, Doktor.«

»Das sind Sie auch nicht. Ich kann auch nicht sagen, daß Sie eigensinnig wären.« Er drehte sich in halb liegender Stellung zu ihr um. »Sehen Sie mir einmal in die Augen, Josefa!«

Sie tat ihm den Willen, und er forschte in ihren ruhigen braunen Augensternen.

»Nein«, sagte er. »Sie sind nicht eigensinnig. Sie haben ganz einfach recht mit Ihren Wünschen. Ihre Wünsche sind vernünftig. Wieviel müssen Sie schon mitgemacht haben in Ihrem Leben, daß Sie in dem Alter schon so vernünftig sind! Erzählen Sie mir doch ein bißchen von Ihrer Heimat. Ich kenne das Tal von Oberflins ein wenig, aber nur bis Gatters. Gibt es oberhalb auch noch so satte Weiden?«

Sie zögerte ein wenig.

Aber er fragte so geschickt, daß sie schließlich ihr Lebensschicksal darstellte.

Er hörte ernst zu. Sein Blick ruhte dabei auf ihrem Gesicht, während sie weit in die vom Herbst tiefbraun und rot gefärbte Baumwelt des Praters hinaussah.

»Jetzt werden Sie verstehen, warum i dem Herrn Professor so dankbar bin«, schloß sie ihren Bericht. »Ohne ihn läg i halt heut schon tief in der Schlucht.«

Sie schauderte und schloß die Augen.

Er streckte die Hand aus, um eine ihrer kleinen Hände, die sie auf den Knien ruhen ließ, zu fassen. Aber er tat es dann doch nicht. Einen bedauernden Ausdruck, der ihm auf den Lippen lag, unterdrückte er. Er kam ihm zu gewöhnlich vor.

Es tat ihr wohl, daß er schwieg.

»I bin so glücklich heut, Doktor«, sagte sie dann. » So glücklich.«

»Das freut mich«, sagte er einfach.

»Und jetzt müssen Sie mir von Ihrem Leben erzählen«, sagte sie, die Augen auf ihn richtend.

»Muß ich das?«

»I bitt schön darum.«

Er lächelte. Wenn er lächelte, wurden seine etwas groben Züge eigenartig liebenswürdig. Er hatte gesunde Zähne, die zwischen den Lippen hervorblitzten, und seine Augen konnten aufleuchten, wenn ihn etwas freute. Und er war heute froh.

»Ich bin, wie Sie wissen, auch vom Land«, sagte er. »Mein Vater hat es sich sauer werden lassen, daß ich Medizin studieren konnte, und meine Geschwister können es mir bis heute nicht verzeihen, daß sie um meinetwillen haben zurückstehen müssen, obwohl ich es schon mit Zinseszinsen zurückgezahlt habe, was sie damals entbehren mußten.

Ich bin Arzt aus Begeisterung. Es war kein bloßes Brotstudium. Ich bin auch nicht etwa aus Barmherzigkeit Arzt geworden. Nein. Ich bin nicht sentimental. Aber ich halte es für meine Pflicht, an einem Werk mitzutun, das der Menschheit hilft. Und das kann der Arzt, wenn er ein richtiger Arzt ist.

Ich habe mich dann der Bakteriologie zugewendet. Ich habe dabei einige Arbeiten durchgeführt, die nicht gerade etwas grundlegend Neues brachten, aber immerhin von einigem Wert waren.

Ich war damals maßlos glücklich. Ich hielt mich in dieser Zeit für einen Weltverbesserer. Damals erschien die erste große Arbeit von Professor Kröner. Ich war halb verrückt vor Begeisterung, als ich sie las. Am nächsten Tag war ich bei ihm und fragte, ob er nicht einen Mitarbeiter brauche. Er ließ sich meine Schriften geben und bestellte mich drei Tage später zu sich …«

Dr. Pasch machte eine Pause, während der er einige der trockenen Herbstgräser zwischen den Fingern durchgleiten und dann wieder zurückschnellen ließ.

»Er sagte«, fuhr er fort, »meine Arbeiten zeugten von einem ernsten Willen und entschiedener Begabung. Mir fehle aber noch die klinische Erfahrung. Es sei wichtig, daß ich erst einmal ein paar Jahre praktische Erfahrungen sammle. Dann würde ich mit um so mehr Erfolg meine Studien und Forschungen fortsetzen können.«

Dr. Pasch schaltete wieder eine Pause ein.

»Das klang ausgezeichnet und ich war Feuer und Flamme. Als er mir sogar anbot, ich könne diese Erfahrungen in seiner Anstalt, die damals neu gegründet war, sammeln, glaubte ich mich im siebenten Himmel …«

Dr. Pasch schwieg und sah in die Ferne.

»Warum reden Sie denn nicht weiter?« fragte Josefa schüchtern, als er keine Miene machte, die Erzählung wiederaufzunehmen …

»Es ist nichts mehr zu erzählen«, versetzte Dr. Pasch. »Seit vier Jahren ›sammle ich praktische Erfahrungen‹, nichts als das. Gar nichts anderes als das. Jeden leisesten Versuch, an seinen eigentlichen Arbeiten teilzunehmen, vereitelt er mit irgendwelchen Ausflüchten. Ich bin lahmgelegt, vollständig lahmgelegt … eine Marionette, die er am Draht zieht und zappeln läßt …«

»Und warum bleiben Sie dann eigentlich?« fragte Josefa leise.

»Weil ich einen Vertrag mit ihm geschlossen habe, einen hundsgemeinen Vertrag, dessen Gemeinheit ich erst nach zwei Jahren erkannte. Kein Rechtsanwalt kann mir helfen. Ich muß meine zehn Jahre bei ihm abdienen. Dann bin ich erledigt, zu alt, um wirklich Neues zu schaffen. Ich könnte ihm vielleicht davonlaufen, aber es hülfe mir ja nichts. In keinem Laboratorium nähme man mich, ohne bei ihm rückzufragen, und was er dann schriebe, das kann ich mir denken. Er ist ja der berühmte, anerkannte Gelehrte, der ›König‹ der Toxikologie, vor ihm liegt alles auf dem Bauch …«

Dr. Pasch sprang plötzlich auf und ging ein paar Schritte in die Wiese hinein.

Dort stand er eine Weile in einer etwas krampfigen Haltung, als müsse er gegen eine innere Gewalt ankämpfen.

Dann wandte er sich um und kam wieder auf Josefa zu.

Sie sah ihn mit einem entsetzten Ausdruck an.

»Josefa«, sagte er mit einem eigenartig sanften Ton in der Stimme, »Kinderl! Ich weiß selbst nicht, wie es gekommen ist. Sie hätten mich vielleicht nicht fragen sollen und ich … ich hätte vor allem überhaupt nicht beginnen dürfen zu erzählen … Vielleicht habe ich Ihnen die Freude verdorben und vielleicht noch viel Ärgeres angerichtet …, aber ich kann nicht anders«, er schrie plötzlich laut. »Ich kann nicht anders, nein, nein.«

Er warf sich neben Josefa ins Gras. »Essen wir den Kuchen zu Ende, Josefa«, sagte er. »Es wird schon kühl. Wir müssen wieder einsteigen und weiterfahren. Wann sollen Sie denn bei der Frau Professor antreten?«

»Um acht Uhr«, sagte Josefa tonlos.

»Dann haben wir noch Zeit genug«, sagte er. Er nahm das letzte Stück Kuchen auf und hob es gegen ihren Mund. »Bitte«, sagte er.

Sie öffnete gehorsam den Mund und ließ sich füttern. Als sie mit ihrer rechten Hand eine Stütze suchte, kam diese auf Doktor Paschs kräftige Hand zu liegen.

Josefa zuckte ein klein wenig zusammen. Aber sie ließ die Hand auf der seinen ruhen.

Sie sah, wie sich seine düsteren Züge erhellten. »Schmeckt's?« fragte er und ein Lächeln brach durch die Wolke des Unmuts über seinem Antlitz.

Sie nickte, außerstande, mit vollem Munde zu antworten.

»Und jetzt wollen wir aufbrechen!«

Er sorgte für sie, wie eine Mutter für ihr Kind. Sie mußte ihr Jäckchen anziehen; er kurbelte das Fenster hoch und dann fuhren sie los.

Die Sonne brannte über den Häusern der Stadt ein dunkelrotes Feuerwerk ab. Metallisch rotgolden leuchtende Wolken lagen wie lohende Schwerter quer im seidigen Himmel.

Sie fuhren stumm über die glatte Straße hin.

Dann bog der Wagen ab und die Lichthelle der Großstadtstraßen überfiel sie.

Josefa ließ den neuen Anblick in einer eigenartigen Stimmung von wohligem Träumen und sanftem Rausch über sich ergehen.

Bei einer Bewegung des Wagens fühlte sie Dr. Paschs Arm an dem ihren.

Sie blieb unbeweglich sitzen und ließ die ungewollte Verbindung bestehen.

Es strömte so warm und wohlig von ihm zu ihr herüber.

»Leben Sie wohl, Josefa.« Dr. Pasch streckte ihr seine mächtige Hand entgegen.

»I dank auch recht schön«, flüsterte sie, ihm ihre Hand zu einem langen und festen Händedruck überlassend. »Sie waren so viel nett zu mir, Herr Doktor.«

»Doktor!« verbesserte er lächelnd.

Sie sah lächelnd zu ihm auf. Ein Gefühl ruhiger Sicherheit überströmte sie. Sie wußte: sie hatte einen Freund gewonnen.

*

Das Abendessen mit der Frau Professor verlief nicht gerade wortreich.

Josefa gab auf höfliche Fragen ebenso höfliche Auskunft.

Aber ein rechtes Gespräch kam nicht zustande. Sie stammten wohl doch aus zu verschiedenen Lebenskreisen. Das aber, was sie hätte verbinden können, die Arbeit – sei es eigene oder die des Professors –, das Thema wagte Josefa nicht zu berühren.

Sie fürchtete sich ein wenig vor dieser vornehmen und anscheinend so kalten Frau.

Sie waren eigentlich beide erleichtert, als das Abendessen vorüber war und sie sich der Musik widmen konnten.

Josefa hatte auf Wunsch der Frau Professor ihre Geige mitgebracht.

Sie spielten zuerst ein paar leichtere Sachen, die Josefa mühelos bewältigte.

»Wollen wir nicht etwas Größeres versuchen?« fragte Frau Elisabeth.

»I trau mi net recht«, wandte Josefa ein.

Die Frau Professor wandte ihr das Antlitz zu. »Warum sind Sie auf dem Gebiet der Musik so zaghaft? Im Leben stehen Sie fest auf beiden Beinen und leisten Arbeit wie ein Mann. Warum also nicht auch hier?«

Josefa senkte den Kopf. »Musik is so was Schönes, gnädige Frau. Daran möcht i halt nix verderben. I denk mir dann halt, wann das der Komponist hören tät, er wär bös auf mi, daß i sein Werk so verhunz.«

Nun lächelte die Frau Professor. »Das ist sehr feinfühlig gedacht, Fräulein Josefa. Aber Sie dürfen es ruhig wagen, Sie sind nur ungeübt, haben aber ein sehr sicheres musikalisches Gefühl. Sie sind entschieden begabt. Manche andere würden mit Ihrer Begabung auf die Akademie gehen. Kommen Sie nur!«

Sie nahm Beethovens »Frühlingssonate« vor.

Im Anfang war Josefa etwas unsicher. Als sie aber die Herrlichkeit des Werkes gefangennahm, wurde sie kühner und kühner, schmiegte sich der Partnerin an, die mit großer Sicherheit spielte, und ließ, als der entzückende Vogelruf ertönte, ihre Geige jubeln.

Dann waren sie früher, als es ihr lieb war, zu Ende.

Sie senkte die Geige und atmete beglückt auf. Es war ihr heiß geworden. Sie legte das Instrument auf den Tisch zur Seite und ordnete sich, verträumt vor sich hinblickend, ein wenig das in Unordnung geratene Haar.

Dann wandte sie sich wieder der Frau Professor zu – und erschrak.

Die saß still und unbeweglich, sah stumm vor sich hin: über ihre Wangen liefen langsam Tränen herab.

Josefa preßte die Hände vor der Brust zusammen. Sie wußte nicht: sollte sie fragen, sollte sie helfen und trösten, wie es in ihrer Natur lag, oder war es besser, sie sah nichts und schwieg?

Diese vornehm kalt Abweisende, diese Frau, die sonst die Kühle und Unnahbarkeit selbst war …, die weinte?

Josefa hatte schon viel Tränen rinnen sehen und viel – oft sogar überflüssiges Mitleid empfunden.

Aber noch nie war ihr der Schmerzensausbruch eines anderen Wesens so … so unheimlich vorgekommen wie hier diese wortlosen Tränen.

In ihrer Ratlosigkeit setzte sie sich geräuschlos auf einen der Polsterstühle und senkte den Kopf. Es hätte nicht viel gefehlt, sie hätte auch geweint. Aber nicht aus Mitleid, nein, um sich Luft zu schaffen von all den Gefühlen der Freude und Dankbarkeit, die sie heute erfüllten. Wie schön war dieser Nachmittag gewesen, wie unsagbar beglückend die Musik, das herrliche Werk Beethovens! Sie bebte vor innerer Erregung. Sie mußte die Hände zwischen den Knien fest gegeneinander pressen, um dieser Erregung Herrin zu werden.

*

So saßen die beiden eine Weile still.

Dann hob die Frau Professor die Hände und trocknete mit ihrem spitzenbesetzten Taschentuch die Tränen.

»Ich kann dieses Werk nicht spielen«, sagte sie, »ohne daß es mich bis ins Tiefste aufrührt. Und trotzdem kann ich der Versuchung nicht widerstehen, es immer und immer wieder zu spielen. Wenn Sie einmal älter sein werden, mein Kind, dann werden Sie es verstehen. Den jüngeren Menschen, so auch mich, als ich ein junges Ding war, erfüllt es mit Jubel, den älteren mit einer unsagbar süßen Wehmut.«

Was sollte Josefa darauf sagen? Sie suchte nach einem Wort der Zustimmung. Aber ihr kam alles, was sie sagen wollte, albern und gewöhnlich vor.

So schwieg sie.

Und das war das Richtige.

Denn plötzlich begann die Frau Professor wieder zu sprechen.

»Sagen Sie, Fräulein Josefa, hat sich in den letzten Tagen etwas Besonderes ereignet?«

Sie richtete die großen dunklen Augen voll auf Josefa.

Das Mädchen hatte bisher noch nie empfunden, wie schön diese Frau eigentlich war. Diese hohe weiße Stirne, diese regelmäßige Nase, dieser wunderbar volle und doch schlanke Hals, diese herrlichen, mit Meisterschaft geordneten Haare und diese tiefdunklen großen fragenden Augen!

Sie mußte sich sammeln, um sich zu einer Beantwortung der Frage zu zwingen.

»Etwas Besonderes, gnädige Frau? Nein.«

Der fragende Ausdruck in den Augen Elisabeths verstärkte sich. »Vielleicht verstehen Sie mich nicht recht, mein Kind. Ich meine keine großen äußeren Ereignisse. Ich meine …«, sie zögerte ein wenig, »es ist etwas anderes.« Sie sah eine Weile stumm vor sich auf den Boden. Dann hob sie plötzlich den Kopf und sah Josefa wieder voll an. »Haben Sie meinen Mann in den letzten zwei Tagen beobachtet?«

Josefa nickte. »Ja, gnädige Frau! Er war ganz anders als sonst.«

»Und wissen Sie den Grund?«

»Genau nicht, gnädige Frau. Aber ich glaube, es war eine wissenschaftliche Nachricht, die ihn so verändert hat. Es is da das neue Heft einer Zeitschrift kommen, die der Herr Professor ständig liest. Sonst blättert er einfach und legt das Heft wieder weg. Diesmal hat er das Heft vielleicht zehnmal durchstudiert und war ganz geistesabwesend.«

»Und hat nach seiner Art kein Wort gesagt.«

»Kein Sterbenswörtel. Er is nur dagsessen und hat dreingschaut, förmlich zum Fürchten, und hat immer wieder das Heft gnommen und is dann weggangen, ich glaube hierher …«

»Und hat hier natürlich nichts gesagt.« Frau Elisabeth richtete sich plötzlich steil auf. »Er sagt überhaupt nichts, gar nichts, gar nichts …«, preßte sie hervor.

Für einen Augenblick hatte sie die Haltung verloren, war nicht mehr die vornehme, unnahbare Dame, sondern ein sorgenvolles Weib, das mit fragenden Augen die dunkle Zukunft zu erforschen suchte.

»Es ist manchmal so … so eigenartig, fast ein wenig unheimlich. Ich habe dann immer Angst, es geschieht was …«, murmelte sie.

Josefa atmete tief. Jetzt tat ihr diese Frau leid. Hinter der Maske der Kälte lebte also doch wohl auch ein tieferes Gefühl in ihr. Hatte es schließlich nicht auch die Art, wie sie Musik betrieb, bewiesen? Vielleicht litt diese Frau unter schwerem Leid, trat nur der Welt gegenüber so abweisend auf?

»Sie wissen also auch nichts?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Und was das für ein Aufsatz war …?« forschte Frau Elisabeth weiter.

»I weiß net, gnädige Frau.«

»Aber Sie müssen doch wissen, was für eine Zeitschrift es war und welches Heft.«

»Das weiß ich, gnädige Frau.« Josefa nannte den Namen der Zeitschrift und die Nummer des Heftes.

Die Frau Professor schloß vorübergehend die Augen. Dann nickte sie. »Wollen wir nicht noch etwas spielen?«

»Gern, gnädige Frau, wenn es Ihnen Freud macht.«

Die Frau Professor stutzte. »Wenn es mir Freude macht? Macht es Ihnen keine?«

»O ja, gnädige Frau, sogar eine sehr große. Ich wollte … ich hab wollen …« Josefa wurde verlegen, denn die Frau Professor sah wieder stumm und kühl drein wie sonst immer. »Ich mach halt gern jemand a Freud«, fügte sie zögernd hinzu.

Was wohl der nachdenkliche Blick bedeuten mochte, mit dem die Frau Professor sie nun betrachtete?

Sie spielten noch einige kleinere Stücke, meist heiterer Natur.

Dann gab es noch eine Tasse Tee und ein wenig wortreiches Abschiedsgespräch.

Josefa bedankte sich und kehrte in ihr Zimmer zurück.

So schön es drüben gewesen war, sie atmete doch auf, als sie ihren freundlichen Raum mit den weißen Möbeln und dem reinlichen Bett betrat. Er hatte für sie schon etwas Heimatliches gewonnen.

*

Der Professor blieb fern, ohne irgendeine Nachricht von sich zu geben.

Josefa hatte dadurch zum Teil viel, zum Teil wenig zu tun. Viel deshalb, weil sie eine Reihe von Dingen erledigen mußte, die – wie sie genau wußte – unbedingt nötig waren, die sie aber ohne die entscheidenden Worte des Professors nur nach mehrmaligem genauem Überlegen durchzuführen wagte. Aus einem sicheren inneren Trieb heraus vermied sie es, Dr. Pasch um Rat zu bitten. Der Professor hatte es nie gern gesehen, wenn irgend etwas, was nicht den Heilbetrieb der Krankenabteilung anbelangte, sondern seine eigene wissenschaftliche Arbeit, irgend jemand außerhalb des Laboratoriums mitgeteilt wurde.

Dr. Pasch hatte es ja selbst ausgesprochen. Auf diesem Gebiet vertrug der Professor kein Dreinreden, ja nicht einmal das Mitarbeiten eines anderen.

Auch die vielen Fernrufe machten ihr zu schaffen.

Dafür gehörte aber der Abend ihr.

Sie wunderte sich über ihre eigene Kühnheit. Sie fuhr jeden Abend nach fünf Uhr in die Stadt hinab und wanderte mit einem hübsch gebundenen Führer in der Hand durch die Straßen und über die weiten Plätze.

Sie genoß die Herrlichkeiten der Stadt in vollen Zügen.

Freilich fühlte sie sich ein klein wenig schuldbewußt und rief regelmäßig mehrmals in der Heilanstalt an, ob der Herr Professor inzwischen vielleicht gekommen sei. Sie atmete glücklich auf, wenn die Antwort »nein« lautete. Es war doch schön, Freiheit zu genießen.

Um so weniger schwer würde sie es nehmen, wenn nach der Rückkehr des Professors der Dienst desto schärfer wieder einsetzte.

Am vierten Tag gab sie dem Drängen Dr. Paschs nach und ließ sich ins Theater führen.

Sie war nie im Theater gewesen. Was sie sah, übertraf ihre kühnsten Erwartungen und veranlaßte sie zu einer Reihe naiver Fragen, die Dr. Pasch mit einem nachsichtigen, gutmütigen Lächeln beantwortete. Sie ging mit den Geschehnissen auf der Bühne mit wie ein Kind und konnte auch einen erschrockenen Ausruf nicht unterdrücken, als die Bühne plötzlich anfing, sich zu drehen. Sie war entsetzt über ihr eigenes Benehmen, starrte aber im nächsten Augenblick wieder wie gebannt auf die Bühne, auf der sich ein Raimundsches Zauberstück, das der Doktor mit feinem Takt als erstes für sie ausgewählt hatte, abrollte.

Dr. Pasch war gerührt, mit welcher Herzlichkeit sie sich bei ihm bedankte. Als sie dann im Wagen wieder heimfuhren, sagte sie plötzlich: »I hab nie glaubt, daß die Welt so schön sein kann.«

Er nickte. Auch er war glücklich.

Er gestand es sich in diesem Augenblick zum hundertsten Male ein. Er hatte an das stille Kind sein Herz verloren.

Und er begann Pläne zu schmieden, wie er sie und sich aus der Krönerschen Sklaverei erretten könne.

Am fünften Tag meldete Lorenz, Herr Rüttgers sei da und sehr unglücklich darüber, daß der Herr Professor nicht zu sprechen sei.

Josefa erschrak. Auf die Unterredung mit Rüttgers hatte der Professor schon immer großen Wert gelegt. Sie versorgte mit Hilfe von Lorenz das Gift, das sie eben eingewogen, mit aller Genauigkeit, dann lief sie in die Halle hinaus, wo sie, in einem Klubsessel versunken, einen schmächtigen, kleinen Herrn sitzen fand, dessen lederne Gesichtsfarbe und schmale Augen fast den Eindruck eines Nichteuropäers erweckten.

Er stellte sich in einem mäßig geläufigen Deutsch vor und fragte, wann der Professor zurückkomme.

»Ich weiß es nicht, Herr Rüttgers.«

»Ich fahre Freitag mit eine Ship nach Guinea und von dort nach dem Kongobecken. Ich muß der Ship reichen.«

Josefa überlegte: »Wie lange können Sie in Wien bleiben?«

»Noch morgen.«

»Bitte, kommen Sie morgen wieder.«

»Telegraphieren Sie, telephonieren Sie! Er wird sehr unglücklich sein«, drängte der Weltreisende.

»Wenn i net weiß, wohin! Er ist ganz geheimnisvoll weggefahren.«

»Gut. Ich komme wieder morgen.«

*

Am nächsten Morgen war er wieder da. Mit ihm ein kaffeebrauner Diener, der ihm eine Blechkiste von sonderbarer Walzenform nachtrug.

»Ich kann nicht länger warten«, erklärte der dürre Mann, in dessen Augen eine ewige Unruhe irrlichterte. »Ich muß reichen der Ship. Sie sind seine Sekretärin?«

»Seine Laborantin. Ja.«

»Wissen Sie, wie man aufhebt Gift?«

»Ja, Herr Rüttgers.«

»Gut, dann gebe ich Ihnen meine Sammlung für den Professor und diktiere Ihnen darüber, was ich weiß.«

Josefa nickte voll Eifer. Sie brachte nach Lorenz' Rat den berühmten Mann in das Empfangszimmer der Krankenabteilung und holte dann Papier, Bleistift und einige Gestelle für Eprouvetten, wie er es wünschte.

Er öffnete mit Hilfe des zähnebleckenden Dieners die walzenförmige Blechkiste, die mit Watte ringsum ausgepolstert war, und hob aus ihr mit wichtiger Miene eine weitere Blechschachtel heraus.

»Hier sind die Gift, der ich habe versprochen zu bringen mit der Herr Professor«, radebrechte er.

»Ich werde Ihnen zu jeder Gift diktieren, was ich weiß. Aber Sie müssen versprechen, daß niemand das liest außer Sie und der Herr Professor, daß Sie vernichten der Papier, wenn der Herr Professor weiß, was das ist. Wenn das Papier geht Verlust, dann großes Unglück möglich. Auf Reise ich immer geschlafen mit Kiste neben mir, und wenn ich nicht war in Kabine, meine Diener saß dort als Wache.«

Josefa nickte aufgeregt. Welche Verantwortung jetzt auf ihr lastete! Sie wollte alle Kraft aufbieten, diese Aufgabe zu lösen.

»Bitte, schreiben Sie, Fräulein: Gift römisch sechsundzwanzig a. S. K. M., genannt ›Luri‹ von die Eingeborenen auf der Insel Sumbawa. Es ist nur in die Hand von Priestern. Es hat gekostet viel Arbeit und den Tod von einem Mann, bis ich es habe. Es ist nicht sehr stark, wirkt aber in größere Menge tödlich.«

Er hob ein Fläschchen von winziger Größe aus dem Wattelager und stellte es vorsichtig auf den Tisch.

Josefa fröstelte ein wenig, so gewohnt sie den Umgang mit den gefährlichen Fläschchen war.

»Der, der das Gift bekommt, weiß nichts tagelang, oft Wochen. Dann verliert er Gefühl in die Fingerspitzen, verliert Gedächtnis und hört schlecht. Er sterben langsam nach ein bis zwei Jahren. Schrecklicher Tod mit viele Qualen. Ich stellen es wieder zurück in meine Kassette. Ich lasse sie ganz da. So auf Tisch ist mir zu unsicher.«

Er stellte das Fläschchen wieder sorgfältig in die Watte zurück.

»Nummer zwei. Gift römisch siebenundzwanzig a. H. F. M. Dieser Gift …«

In diesem Augenblick flog die Tür auf.

»Rüttgers!«

»Oh, Herr Professor!«

Erleichtert atmete Josefa auf. Das war Glück, daß der Professor eben noch gekommen war. Und wie frisch und vergnügt er aussah! Ganz so, wie sie ihn in Oberflins gesehen hatte, wenn ihm ein neuer Erfolg beschieden gewesen war.

»Ich habe eben wollen der Fräulein hier geben der Gifte«, begann der Holländer.

Aber der Professor unterbrach ihn auf französisch und gab Josefa den Auftrag, den Diener mit der Walze hinter ihm und Herrn Rüttgers ins Laboratorium zu führen.

Das war nun natürlich eine andere Art von Übergabe. Herr Rüttgers, der bisher recht unmutig gewesen war, begann zu lachen, der Diener, der etwas Französisch verstehen mußte, zeigte seine weißen Zähne und rollte seine dunklen Augen. Josefa mußte den Giftschrank aufsperren und zählen, wieviel Platz vorhanden war, und dann begann der Professor systematisch mit der Übernahme der Gifte.

Er fing mit den leichten Giften an, um die Abteilung mit den tropischen Giften erst dann zu öffnen, wenn sich die Luft im Laboratorium etwas erwärmt haben würde. Lorenz schaltete die Heizung ein und es entstand binnen einer Viertelstunde eine Wärme, die sich der braune Diener mit Wohlgefallen über den Körper rieseln ließ. Hinter dem Rücken seines Herrn machte er Lorenz Zeichen, die offenbar bedeuten sollten, daß er noch etwas zugeben möge.

Aber Lorenz wollte nicht verstehen.

»Papier, Bleistift!« befahl der Professor. Josefa riß von ihrem Block das Geschriebene ab und gab ihm den Block.

Dann sah sie zu, wie Gift um Gift übernommen wurde, und beteiligte sich an den zahlreichen Vorsichtsmaßregeln, die der Professor anwandte, um Gefahren zu vermeiden.

Der Professor war anscheinend in ausgezeichneter Laune. Die beiden Herren verstanden einander glänzend, einer schien vom anderen viel zu lernen. Denn nicht nur der Professor schrieb Seite um Seite auf seinem Block voll, sondern auch der Reisende machte sich Aufschreibungen.

Nach etwa vierstündiger Arbeit war das Werk geschehen.

Feierlich wurden die Gifte in den Schrank geschlossen.

»Jetzt gibt es Arbeit an der Waage, Sefi«, nickte der Professor frohgelaunt.

Ob er wohl irgendeinen Erfolg zu verzeichnen hatte?

Die alte schöne Zeit von Oberflins wurde in Josefa wach.

Ach, wenn er nur immer so geblieben wäre! Um wieviel schöner wäre das gewesen!

Sie versprach dem Professor, gleich am nächsten Morgen die Gifte zu wägen und in die Kartei einzutragen. Lorenz sollte ihr beistehen. Es sei gut, wenn er dabei sei.

Vielleicht werde er persönlich mithelfen, meinte der Professor.

Dann entführte er seinen berühmten Gast in die Privatwohnung. Der braune Diener bekam Lorenz als Begleiter und verschwand grinsend, in der Aussicht auf ein gutes Essen.

Josefa war wieder allein.

Als sie aufräumte, schwebte ein Blatt Papier zu Boden. Sie hob es auf und erschrak. Jetzt hatte sie tatsächlich das Papier mit den wichtigen Aufzeichnungen liegenlassen. Mit schlechtem Gewissen ging sie zum Gasbrenner und hielt es darüber.

Sie fühlte sich erleichtert, als es in Asche zerfallen war.

Es mußten doch schreckliche Leute sein in den fernen Erdteilen, die solch grausame Mittel erfanden, um Nebenbuhler oder Feinde aus dem Weg zu räumen.

Dann stellte sie mit leiser Wehmut fest, daß der gestrige Theaterbesuch mit Dr. Pasch für lange Zeit das letzte Erlebnis außerhalb der Anstalt sein mochte, und ging ein wenig müde und traurig zu Bett.

*

»Ein prachtvoller Mensch, dieser Rüttgers«, sagte der Professor am nächsten Vormittag. »Solche Menschen sind nicht mit Gold zu bezahlen. Aus reinem wissenschaftlichem Eifer stürzt er sich in die tollsten Gefahren. Was er gestern erzählt hat, war hörenswert. Was für Schliche nötig sind, bis einer eines von den geheimnisvollen Giften in die Hände bekommt! Sogar als Frau hat er sich einmal verkleidet. Er spricht übrigens mehrere Mundarten der Inseln zwischen Asien und Australien geläufig, jedenfalls besser als deutsch. Und nun wollen wir weiter an das Wägen gehen.«

Das wurde ein mühsames Geschäft. Oft verging mehr als eine Stunde, bis ein Fläschchen vollständig geleert und vernichtet war. Lorenz mußte immer neue Handschuhe hereinbringen.

Als der Professor nach Ablauf des Vormittags merkte, daß seine beiden Gehilfen die Arbeit einwandfrei beherrschten, wandte er sich seinen während der Abwesenheit aufgelaufenen Briefschaften zu.

Josefa und Lorenz arbeiteten weiter.

Die tropischen Gifte aus Pflanzensäften waren die letzten.

Vorsichtig tauchte Josefa das gefährliche Gift, das Rüttgers »Luri« genannt hatte, in die Meßöffnung. Auf der anderen Seite stieg die rote Flüssigkeit. Josefa las ab: 4,8 ccm enthielt das Fläschchen. Sie nahm das Verzeichnis und trug die laufende Nummer des Giftes ein.

Sie lächelte. Es war die Ziffer ihres Geburtstages. Mein Gott! Vor nun bald zweiundzwanzig Jahren war sie in Oberflins geboren worden. Am vierten August.

In diesem Augenblick hielt sie fast erschrocken inne. Was hatte sie da geschrieben? 4.8? Der Dezimalpunkt saß etwas tief. Es las sich wie ein Datum. Wie »vierter August«. Welch ein lächerlicher Zufall!

Sie winkte Lorenz herbei und zeigte ihm die Ziffer, indem sie ihn aufklärte.

Auch er schüttelte verwundert den Kopf, hielt aber dann den Finger vor den Mund. Der Professor war über die Störung unruhig geworden und las, wie er es in solchen Fällen zu tun pflegte, halblaut vor sich hin. Das hieß: Ruhe!

Josefa war über den Zufall in Laune geraten.

Es ging heute überhaupt alles so glatt und reibungslos vonstatten.

War es nicht herrlich, daß der Professor wieder der alte war?

Ob er nicht vielleicht doch überarbeitet und dadurch gereizt gewesen war?

Vielleicht war seine Fahrt nur ein Ausspannen gewesen. Vielleicht hatte er sich erholen wollen und keine Anschrift angegeben, damit ihn nicht doch vielleicht eine Drahtnachricht oder ein Fernruf erreichte.

Jawohl, das war des Rätsels Lösung. Schade, daß sie nicht früher auf diesen Gedanken gekommen war. Sie hätte auch die Frau Professor beruhigen können.

Aber was machte das schließlich jetzt aus?

Es war ja wieder alles gut.

*

Sie schlief so gut in dieser Nacht, daß sie sich beinahe verschlafen hätte.

Als sie in letzter Minute zu ihrem Dienst antrat, fand sie zu ihrer Überraschung den Professor schon im Laboratorium.

Ihre Entschuldigung wehrte er lächelnd ab, während er mit einem Meterstab den Raum kreuz und quer vermaß.

Sie sah ihm einen Augenblick verständnislos zu.

»Ach so«, lächelte er, als er aufblickend ihre erstaunten Augen sah. »Du wunderst dich. Ja, Sefi. Unsere geheiligte Ordnung hier bekommt in der nächsten Zeit einen Stoß. Vom Fünfzehnten des Monats an arbeiten wir zu dritt in diesem Raum.«

»Zu dritt?« wunderte sich Josefa. »Soll Lorenz? …«

»Nein, Sefi. Lorenz bleibt, wo er ist. Aber ich habe für die nächste Zeit einen … einen Assistenten für meine Arbeit aufgenommen. Der wird hier arbeiten. Im übrigen bitte ich dich, vorderhand niemand etwas darüber zu sagen.«

Der Professor kniete nieder und vermaß auf dem Boden den Abstand zweier Kasten.

Josefa fühlte einen freudigen Schreck. Würde am Ende Doktor Pasch? …

Aber nein. Der Professor hatte ja ausdrücklich gesagt »aufgenommen«. Das war also ein neuer Herr, der jetzt kam.

Warum nahm der Professor eigentlich nicht Dr. Pasch?

Wie wäre das schön gewesen, wenn er im selben Raum gearbeitet hätte!

Worte hätten sie zwar nicht viele wechseln können, das verbot ja die Rücksicht auf den Professor; aber ein Blick wäre hie und da hinüber und herüber geflogen, ein Blick lächelnden Einverständnisses, und sie hätte sich nicht mehr so unendlich einsam gefühlt.

Aber daran war ja natürlich nicht zu denken.

Josefas gute Laune war bei diesem Gedankengang wieder verflogen.

Stumm arbeitete sie weiter und suchte sich auszumalen, was für ein Mann wohl der neue Assistent sein werde.

*

Was der Professor unternahm, das besorgte er in jeder Hinsicht gründlich. Das Laboratorium wurde fast vollständig umgestaltet.

Die Gifte, die Rüttgers mitgebracht hatte, brachten eine weitere Unsumme an Arbeit.

Mit Feuereifer hatte sich der Professor sofort an ihre Untersuchung gemacht.

Bis in die tiefe Nacht hing er am Mikroskop, um die Reagenz verschiedenen Tierblutes auf Beimischungen dieser Gifte zu beobachten.

Den zweiten Sonntag nach seiner Rückkehr bat sich Josefa nach schweren Gewissensbissen frei.

Aber er legte ihr zu ihrem freudigen Erstaunen keinerlei Hindernisse in den Weg.

»Bereite mir nur alles für die Arbeit vor«, sagte er mit einem gewährenden Kopfnicken, »ich komme schon einen halben Tag allein durch.«

Hätte er Bedenken geäußert und ihr die Erlaubnis nur mühsam gegeben, sie wäre leichteren Herzens weggegangen, als sie es an diesem Sonntag tat.

Sie kam sich ein wenig fahnenflüchtig vor, als sie an Doktor Paschs Seite in den Wienerwald hinausfuhr.

Sie äußerte das auch gegenüber Dr. Pasch.

Der aber ereiferte sich darob nicht wenig.

Josefa ließ die Strafpredigt mit einem Gefühl wollüstigen Behagens über sich ergehen. Es war schön, wenn sich jemand so freundschaftlich um einen annahm, jemand, der keine eigennützigen Zwecke damit verband, außer dem, daß er gern einem anderen eine Freude machen wollte.

Sie fuhren auf den sanft geschwungenen Höhen des Wienerwaldes dahin. Die Bäume prangten zum Teil noch in reichen herbstlichen Farben, zum Teil reckten sie ihre Äste schon grau und laublos in die Luft.

»In Oberflins liegt vielleicht schon der Schnee bis herunter ins Tal«, sagte Josefa träumerisch.

»Haben Sie Sehnsucht nach der Heimat, Josefa?«

»I weiß net recht. A bisserl schon. Es warn a paar recht liebe Leut dort, an die i gern denk. Und halt die Berge! Es war a harte Arbeit oben in den Bergen. Aber schön war's halt doch auch.«

»Eigentlich hat Sie die Heimat doch schmählich genug mißhandelt«, meinte Dr. Pasch. »Nach dem, was Sie mir so nach und nach erzählt haben, dürften Sie wenig Grund haben, den Leuten von Oberflins nachzutrauern.«

»Sie sind halt net anders, Doktor«, gab sie nachdenklich zurück. »Das Gebirg macht die Leut hart. Vielleicht wissen sie gar nicht, daß es etwas anderes gibt, daß einer auch anders sein kann als hart und rauh. Vielleicht möcht ein anderer Schlag gar net taugen auf dem harten Boden dort oben. Die Berg kennen keine Rücksicht auf die Menschen, und so verlernen die es halt auch mit der Zeit.«

»Sie sind aber doch auch ein Kind dieses Berglandes und sind anders.«

»Nein, Doktor« – Josefa schüttelte den Kopf –, »mein Vater war zwar schon von dort. Aber meine Mutter nicht. Die war aus dem Flachland. Und schließlich, ich hab ja auch net ganz hingehört. Es hätt net viel gfehlt und i wär dran zgrund gegangen, daß i net hinpaß.«

Sie fuhren eine Weile stumm dahin.

Dann öffnete sich von einer Anhöhe ein weiter Blick ins Donautal und das weite Becken von Tulln. An einem Punkt mit prächtiger Aussicht stand ein großes Gasthaus.

Dr. Pasch hielt und sie nahmen auf der Terrasse Platz, die – wohl weil noch die Mittagszeit nicht gekommen war – wenig besetzt war.

»Die frische Luft tut so gut«, sagte Josefa dankbar. »Die geht mir wohl ein bisserl ab. In Oberflins hat immer so herrliche Luft geweht. Besonders am Abend. Hier ist es immer ein bisserl schwül.«

Sie wandte ihr Gesicht dem leise fächelnden Wind entgegen und sog die Luft mit froher Begierde ein.

Dr. Pasch strahlte. Daß sie so froh war, machte ihn glücklich.

Er bestellte freigebig und nötigte sie, zuzugreifen.

Sie gab nach anfänglichem Sträuben nach und aß mit Genuß. Der Rotwein, der in der Sonne verlockend funkelte, munterte sie auf. Sie begann zu plaudern. Von der Heimat, von ihrem Vater, von ihrer Arbeit im Laboratorium, von Lorenz und seiner köstlichen Eigenart und Genauigkeit.

Er hörte in ruhigem Behagen zu.

Sie stockte plötzlich. Wußte er davon, daß ein neuer Herr, ein Assistent, kommen sollte, auf einen Posten, nach dem er sich sehnte?

Vielleicht wußte er wirklich noch nichts. Denn Lorenz war verschwiegen wie ein Grab und die Besprechungen mit den Herren hatte der Professor ja in der letzten Zeit nicht im Laboratorium abgehalten.

Sie wurde plötzlich stumm.

Oder hatte das vielleicht auch noch den Grund gehabt, daß der Professor die ganze Sache verheimlichen wollte, vor Dr. Pasch verheimlichen wollte?

»Warum sind Sie plötzlich so still, Josefa?« wandte sich Dr. Pasch ihr zu.

Sie gab eine etwas verwirrte Entschuldigung.

»Man muß die Feste feiern, wie sie fallen«, lächelte er. »Für mich ist heute ein kleines Fest. Ich habe auch nur selten Gelegenheit, die Freiheit in so netter Gesellschaft zu genießen.«

»Sind Sie auch so allein?« fragte Josefa mit aufkeimendem Mitleid.

»Ich war immer allein, Josefa. Ich weiß nicht, wie es kam. Immer, wenn ich mir einen lieben Freund erworben hatte, wurde er mir entrissen, im Krieg und auch im Frieden. Auch mit anderen Menschen ist es mir so gegangen. Ich habe schließlich verzichtet und mich ganz von der Welt zurückgezogen. Es war nicht immer leicht, aber ich habe mich jetzt daran gewöhnt. Es erspart Enttäuschungen.«

Er sah nachdenklich in sein Glas, hob es, trank einen kleinen Schluck und nickte ihr dann zu. »Aber wir wollen heute nicht sentimental sein, Josefa. Genießen wir den schönen Sonntag.«

Er hielt ihr das Glas entgegen und zwang sie dadurch, mit ihm anzustoßen.

Sie sah ihm während des Trinkens in die Augen.

Ach, er hatte wohl auch schon viel erlebt. Vielleicht war ihm eine liebe Verwandte gestorben, hatte er auf eine bereits angebahnte Verbindung verzichten müssen. Seine Worte schienen etwas Derartiges angedeutet zu haben.

Und dann war die große berufliche Enttäuschung gekommen, dieser unglückselige Vertrag mit Professor Kröner, der ihn um die Früchte seines Schaffens brachte, ihn lähmte.

Hatte er etwas von ihren Gedanken erraten?

Plötzlich begann er vom Professor zu sprechen. »Unser Professor hat in der letzten Zeit Konkurrenz bekommen, wissen Sie das schon, Josefa?«

»Nein, Doktor.«

»Eine sehr wichtige Angelegenheit übrigens für ihn und die ganze Sache der Blutbahnen. Ein ganz junger Arzt, von dem ich zumindest bisher noch nie etwas gehört habe, hat eine Reihe von Untersuchungen angestellt, die verblüffende Erfolge aufzuweisen haben. Bisher war unser Professor auf diesem Gebiet so ziemlich der einzige. Nicht der einzige, der sich mit dem Gebiet befaßte, sondern der einzige, der wirkliche Erfolge aufzuweisen hatte. Nun hat dieser junge Arzt, sei es, daß er auf dem vom Professor eingeschlagenen Weg weitergeschritten ist, sei es, daß er ganz neue Möglichkeiten gefunden hat, Ergebnisse erzielt, die geradezu erstaunlich sind und an denen auch der Professor nicht vorübergehen kann, so unübertrefflich und einzigartig er sich auch auf diesem Gebiet fühlen mag.«

Gefesselt hatte sich Josefa vorgebeugt, während er sprach. »Woher wissen Sie das alles, Doktor?«

»Woher ich das weiß? Auf einem sehr normalen Weg habe ich es erfahren. Der Betreffende hat einen umfänglichen Aufsatz darüber geschrieben und in der medizinischen Wochenschrift veröffentlicht. Sie kennen doch unsere blauen Hefte, nicht? Im Heft fünfundvierzig stand der Aufsatz.«

»Im Heft fünfundvierzig?«

»Ja, Josefa. Warum wundert Sie das so?«

»Ich … ich fragte nur.«

Josefa sank in ihren Sessel zurück. Das Heft fünfundvierzig war das Heft, das in jenen Tagen auf dem Tisch gelegen hatte, das Heft, auf das der Professor damals immer wieder zurückgegriffen hatte.

Dr. Pasch sah verwundert auf Josefa. Was hatte das Mädchen plötzlich?

Sie fühlte, daß er sich wunderte. »Verzeihen Sie«, sagte sie, indem sie sich wieder aufrichtete. »Aber es ist ein so merkwürdiges Zusammentreffen. Ich glaube, es war das Heft fünfundvierzig, das der Professor immer und immer wieder durchgelesen hat. Die anderen Hefte fliegt er immer nur a so durch. Aber des hat er auf seinem Tisch liegen ghabt und immer noch einmal durchgschaut und … und …«

»Ja, Josefa?«

»Ja …, er war dann an Tag lang so … so merkwürdig …, so verändert, alle andere Arbeit hat a stehen lassen und dann … dann …«

»Nun?«

»Dann is a plötzlich weggfahren …«

Sie sah verwundert auf. Dr. Pasch hatte einen leisen Pfiff zwischen den Zähnen hervorgestoßen.

»Dann ist er also verreist?« wiederholte er fragend.

»Ja.«

»Na, das muß ihn ja ganz mächtig gepackt haben.«

Er lächelte. Aber dieses Lächeln hatte nichts von dem gutmütigen Lächeln an sich, das er sonst zeigte. Es gefiel Josefa nicht ganz. Es hatte etwas Schadenfrohes, Höhnisches an sich, das sie beunruhigte.

»Und was hat sich dann ereignet?« fragte er weiter.

»Dann? … Dann? … Nichts!« sagte Josefa rasch. Sie wußte, daß sie nicht ganz die Wahrheit sprach. Aber wenn sie von der Umstellung im Laboratorium erzählte, so übertrat sie ein Verbot des Professors. Schuldig wollte sie nicht werden. Und wer weiß, ob das überhaupt mit der eben besprochenen Angelegenheit zusammenhing.

»So, so?« sagte Dr. Pasch leise. Noch immer lag dieses Lächeln um seine Lippen. »Das ist freilich ein Einbruch in sein geheiligtes Jagdgebiet«, setzte er dann fort. »Das vertragen die großen Herren nicht gut. Hehe. Ich bin neugierig, wie sich das weiter entwickeln wird. Sehr neugierig.«

Er verstummte und sah vor sich hin.

Josefa rückte auf ihrem Sessel hin und her. Ihr war auf einmal unbehaglich geworden. Sie hätte Dr. Pasch gar nicht zugetraut, daß er so hämisch und schadenfroh sein konnte … Wie tief mußte ihn das Vorgehen des Professors getroffen haben, daß er jetzt diesen geradezu haßerfüllten Ausdruck bekam.

Es tat Josefa leid, daß sie ihn so sehen mußte. So war er ihr fremd.

Sie hatte ihn bisher nur mit einem lieben, nachsichtigen Lächeln auf den Lippen gekannt. Der bittere Zug, den er gelegentlich trug, hatte nicht Haß gezeigt, sondern nur Entsagung und mühseligen Verzicht.

Ihr war auf einmal die Freude an dem Aufenthalt vergangen. »Wollen wir nicht weiterfahren?« fragte sie.

Er war mit seinen Gedanken ganz bei dem Thema, das ihn so sehr erfüllte. So fuhr er ein wenig verwirrt auf, sah sie zuerst verständnislos an und sagte dann: »Gewiß, gewiß. Fahren wir weiter. Fahren wir.«

Es begann leise zu regnen.

»Schade«, meinte er. »Ich wäre noch gerne weitergefahren. Aber ohne Beleuchtung ist das alles nur halb so schön. Kehren wir um?«

»Ja«, sagte sie fest.

Er nahm die Straße hinab ins Tal.

Der Regen verstärkte sich, wurde zum Guß.

Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als heimzukehren.

Josefa war es lieber.

Sie war verstimmt und sehnte sich nach der Ruhe ihres Zimmers.

Auch er schien nicht befriedigt.

»Ich habe Ihnen heute die Laune verdorben, Josefa«, sagte er, als er vor der Heilanstalt anhielt. »Seien Sie mir nicht böse! Es gibt Dinge, die einen Menschen so tief berühren, daß er über sie nicht hinwegkommen kann. Ich will Sie nicht weiter damit behelligen. Es war ein Pech, daß wir auf die Sache zu sprechen kamen. Ein anderes Mal will ich brav sein und nichts vom Dienst reden.«

Nun lächelte er wieder wie sonst, wenn er mit ihr sprach.

Das versöhnte sie wieder. So konnte sie ihm mit einem aufrichtigen Lächeln für die Ausfahrt danken und versprechen, an einem der nächsten Sonntage das heute Versäumte bei besserem Wetter nachzuholen.

*

Die Umstellung im Laboratorium war vollendet. An dem zweiten Fenster prankte ein blitzblanker Arbeitstisch. Josefa hatte zwischen den beiden Tischen ein »Gehäuse« erhalten, das mit allen erdenklichen mechanischen Hilfsmitteln ausgestattet war. Josefa fühlte ein rechtes Vergnügen, die blanken Laden aufzuziehen und wieder zu schließen und die Taster und Hebel in Bewegung zu setzen, die ihr jede Anstrengung erleichterten.

So konnte es ihr gelingen, zwei Vorgesetzte – und mochten beide solche Arbeitstiere sein, wie Professor Kröner eines war – zufriedenzustellen.

Wer würde nun der zweite sein?

*

An einem Novembervormittag glaubte Josefa an dem Professor eine besondere Unruhe festzustellen. Er war früher als gewöhnlich im Laboratorium erschienen, hatte – was er sonst im allgemeinen nicht tat – über Unordnung geklagt, die im Grunde genommen gar nicht bestand, und war dann bei seiner Arbeit merkwürdig zerstreut.

Er sah minutenlang nicht durch das Mikroskop, sondern durch das Fenster, vor dem ein sanfter Flockentanz den endgültigen Hereinbruch des Winters bewies, und zwischendurch auffallend oft nach der Uhr.

Dann erschien Lorenz und brachte eine Besucherkarte.

»Führen Sie den Herrn Doktor herein«, sagte der Professor aufstehend.

Er reckte seine Gestalt und ging dann langsam gegen den Eingang.

Die Tür öffnete sich und Lorenz ließ einen mittelgroßen Herrn eintreten, der sich ein klein wenig gebückt hielt und für den ersten Augenblick keine besonderen Kennzeichen aufwies als eine schwarz eingefaßte Hornbrille, die auf einer leicht gebogenen fleischigen Nase saß.

»Willkommen, Herr DoktorI« sagte der Professor mit einer etwas heiser klingenden Stimme.

Der fremde Herr verneigte sich linkisch und sah dann mit einem kurzsichtig zwinkernden Blick über den Raum.

Der Professor lud den Fremden mit einer Handbewegung ein, weiterzugehen. »Das ist Fräulein Josefa Kronlachner, meine und von nun an auch Ihre Hilfskraft. Das hier ist Doktor Santifaller, mein neuer Assistent.«

Josefa hatte sich erhoben und bekam eine runde Hand zu fassen, an der ihr die Kürze der Finger unwillkürlich auffiel. Der fremde Herr drückte dessenungeachtet ihre schmale Hand kräftig und sagte mit unverkennbar tirolerischem Tonfall: »Mein Name ist Santifaller.«

»Unsere Sefi ist auch eine Tirolerin«, bemerkte der Professor lächelnd.

»Oh, das is fein.« Dr. Santifaller verneigte sich unbeholfen und sah Josefa mit einem gutmütigen Lächeln an.

»Hier, Herr Kollege, habe ich Ihnen einen Arbeitstisch nach meinen Erfahrungen einrichten lassen. Sie sagen mir dann, was Sie vielleicht noch brauchen. Es kann sein, daß Sie noch persönliche Wünsche haben. Jeder arbeitet anders.«

Der Tiroler Doktor hob die Hand. »I bin net verwöhnt, Herr Professor, 's wird schon recht sein. Ouh, is des a wunderbares Mikroskop!« Begeistert trat er an das mächtige Gerät heran und musterte die umständliche Anlage.

»Es ist ein Spezialmodell, das ich für mich in zwei Stücken habe anfertigen lassen.«

»Ouh, da wird's a Freud sein, z' arbeiten.« Der Doktor fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen.

Josefa mußte lächeln. Die frische, ungekünstelte Art des Doktor gefiel ihr. Das war ein durchaus natürlicher Mensch. Jede Bewegung seines etwas bäurisch stämmigen Körpers verriet, daß es sich bei ihm um keinen gewandten Stadtmenschen handelte.

Inzwischen hatte der Professor seinen neuen Mitarbeiter zu seinem eigenen Arbeitstisch geführt. Im nächsten Augenblick hatten sich die beiden Herren in ein fachliches Gespräch verstrickt, dem Josefa zwar nicht völlig zu folgen vermochte, dem sie aber immerhin anmerkte, daß es zwischen Partnern geführt wurde, die einander etwas zu sagen wußten. Es war nicht die einseitige Belehrung, wie sie der Professor sonst gegenüber seinen Ärzten und den meisten seiner Besucher übte, sondern eine Wechselrede, die bald von dem einen, bald von dem anderen neuen Antrieb erhielt.

Josefa folgte dem Gespräch gespannt.

Da stand der Professor, groß, stattlich, eine mächtige Erscheinung, selbstbewußt, ein Mann, der jedem, der ihn kennenlernte, zweifellos einen tiefen Eindruck hinterlassen mußte, ein Mann, der auf dem Feld der Wissenschaft schon so manchen Sieg errungen hatte und ein Recht haben mochte, darauf stolz zu sein.

Und ihm gegenüber stand der äußerlich gewiß unansehnliche Doktor aus den Tiroler Bergen, etwas kurzsichtig, vornübergeneigt, in seinem einfachen Janker.

Kein Zweifel, wem von den beiden die Augen zuerst zuflogen.

Ob wohl der neue Doktor der gewaltigen Persönlichkeit des Professors gegenüber sich durchsetzen würde?

Vielleicht war er in wenigen Tagen oder Wochen auch nur ein Arbeitstier im Laboratorium Kröner und tanzte nach des Professors Pfeife.

Josefa erschrak.

Daß sie so denken konnte! Hatte sie Dr. Pasch schon so angesteckt, daß sie sich in derartige Gedankengänge verirren konnte?

Sie schalt sich selbst deswegen.

Dann hörte sie wieder zu.

Es heimelte sie an, wie Dr. Santifaller sprach. Es waren die Laute ihrer Heimat, die ihr so wohlvertraute Mundart. Sie genoß mit Behagen jedes Wort, das er sprach.

Sie bemerkte wohlgefällig, daß er sich in dem Kampf der Meinungen nicht unterkriegen ließ. Soviel verstand Josefa von dem wissenschaftlichen Gespräch, daß sie erkennen konnte, er verteidige seine Stellung und seine Ansichten mit Festigkeit.

Sie wurde aber auch gewahr, daß der Professor immer nervöser wurde.

Sie kannte ihn nun schon so weit; er vertrug keine Widerrede. Sie reizte ihn, machte ihn unruhig. Irgendwie suchte er sich durchzusetzen. Mit der Gewalt seiner Persönlichkeit gelang es ihm auch meist.

Aber der kleine Tiroler Doktor schien aus zähem Holz.

»Möglich kann es schon sein«, hörte sie ihn immer wieder sagen, »aber es kann auch sein, daß es einen zweiten Weg gibt … Is des nicht ein Ding, wie etwas erreicht wird, wenn es nur überhaupt erreicht wird?«

»Glauben Sie nicht, daß die Einheitlichkeit der Forschung leidet, wenn man auf verschiedenen Wegen vorwärts schreitet?« gab der Professor zurück.

»Das is auch möglich. Aber es is anderseits wieder ein Vorteil, wenn verschiedene Wege eingeschlagen werden, weil unwillkürlich andere Erfahrungen gemacht werden. Was der eine auf seinem Weg übersieht, das findet der andere.«

Der Professor lachte kurz auf. »Ich sehe, wir kommen so zu keiner Einigung, Herr Kollege. Schließlich hat auch der rein theoretische Streit keinen Wert. Wir werden beide arbeiten, jeder, wie er es kann. Und dann werden wir sehen, inwieweit wir gemeinsam vorgehen können. Arbeiten wollen wir auf jeden Fall, was das Zeug hält, nicht wahr?«

»Das ist auch meine Absicht«, nickte der Tiroler Doktor. Er schien von dem Gespräch in keiner Weise erregt. Er blieb gleichmütig wie bisher.

»Und nun wollen wir rasch einen Besuch bei meiner Frau machen«, sagte der Professor.

Die beiden Herren verließen den Raum, Dr. Santifaller nicht, ohne Josefa eine seiner kurzen, komischen Verbeugungen gemacht zu haben.

Kaum hatten sie den Bereich des Laboratoriums verlassen – Josefa hatte eben das Zufallen der äußeren Tür gehört –, da kam Lorenz hereingeschossen.

Sie hatte den vorsichtigen, ernsten alten Mann noch nie so lebendig gesehen.

»Fräulein Josefa! Jetzt geht die Welt unter«, keuchte er und sah sie aus seinen etwas entzündeten Augen ganz entgeistert an. »Das is der neue Assistent?«

»Ich glaube wohl, Herr Lorenz. Der Professor hat ihn so vorgestellt.«

Der Alte setzte sich vor Aufregung zuerst fast neben und dann mit Anstrengung auf den Stuhl Josefa gegenüber. »Daß der Herr Professor überhaupt wen reinläßt in sein Laboratorium!«

Josefa lächelte. »Das wundert mi net, Herr Lorenz. Wozu hätt er sonst den zweiten Arbeitstisch herrichten lassen?«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich hab immer noch geglaubt, der Professor macht einen Witz. Er und ein zweiter in dem Laboratorium! Daß er des tut! I komm aus mein Verwundern net heraus. I weiß auch net, ob das guttut. Der Herr Professor is einer, der keinen anderen neben sich vertragt, Fräulein Josefa. Verstehn S' mi recht?«

Josefa nickte.

»I kann mi net gfreun darüber«, murmelte Lorenz und rieb sich aufgeregt das magere Kinn. »Wann ihn der neue Herr nur net stört. Bei einer solchen Arbeit is es besser, einer macht's. Zwei«, er schüttelte den Kopf, »zwei sind net gut nebeneinander.«

»Der Herr Professor wird es sich doch wohl überlegt haben«, suchte Josefa den aufgeregten Alten zu beruhigen.

Aber der ließ sich nicht besänftigen. »I sag, was i mir denk.« Er fuchtelte mit beiden Händen in der Luft. »Des is nix Guts. Nix Guts.«

Er versenkte die Hände tief in die Taschen seines Laboratoriumsmantels und ging, immer noch den weißen Kopf schüttelnd, aus dem Raum.

*

Etwa eine halbe Stunde später kehrten die beiden Herren zurück.

»Nun, Sefi, sagte der Professor, sie leise auf die Schulter klopfend, »jetzt mußt du zeigen, ob du zwei Männern zugleich helfen kannst.«

Josefa erhob sich und wollte eben versichern, daß sie ihr Bestes tun wolle.

Aber der neue Tiroler Doktor nahm vor ihr das Wort. »I weiß gar net, ob i das Fräulein viel in Anspruch nehmen werd. I bin gwohnt, ganz allein zu arbeiten.«

Der Professor lachte. »Mag sein. Aber meine Sefi wird Ihnen bald Geschmack beibringen an sinnvoller Hilfe.« Er wandte sich wieder Josefa zu. »Sefi, zeig, was du kannst! Und übrigens: jetzt wird es ernst mit der Hausmusik. Der Doktor spielt Cello. Das Trio ist also fertig. Morgen abend erster Versuch. Ich werde Ihnen ein gutes Cello verschaffen, Doktor.«

Dr. Santifaller fiel wieder mit dem Oberkörper nach vorn und murmelte: »Vergelt's Gott, Herr Professor.« Dann zwinkerte er Josefa zu. »Sie dürfen Ihna net viel erwarten, Fräulein! I kann nix mehr.«

Er lachte gutmütig und folgte dann dem Professor an den Arbeitsplatz.

Professor Kröner erklärte, woran er eben arbeite, und erteilte ihm den Auftrag, eine Teiluntersuchung zu übernehmen.

Dr. Santifaller stellte einige Fragen, dann rückte er sich auf seinem neuen Arbeitsplatz zurecht.

Josefa trat ihm zur Seite und zeigte ihm, wo sich die für die Arbeit nötigen Geräte befanden. Auch der Professor hörte aufmerksam zu, lächelte und sagte:

»Im übrigen versteht sich meine Sefi auf die Zeichensprache. Sie brauchen nur mit der Hand anzudeuten, was für ein Gerät Sie brauchen. Sie haben es in der nächsten Sekunde in der Hand.«

»Ouh«, sagte der Tiroler Doktor.

Josefa reichte ihm die Pinzette für das erste Präparat. Doktor Santifaller ergriff sie gehorsam und schob das Präparat unter das Glas. Dann hob er die Brille auf die Stirn, stellte das Okular auf seine Sehschärfe ein und beugte sich darüber.

Auch der Professor hatte sich zu seiner Arbeit gesetzt.

Die Arbeit zu dritt begann.

*

Etwa um elf Uhr griff der Professor zum Hausfernsprecher und gab der Zentrale den Auftrag, die drei Herren zur Mittagsbesprechung wieder in das Laboratorium einzuladen. Er legte ab und arbeitete weiter.

Josefa hatte das Gefühl, als senke sich unter ihr der Stuhl.

Jetzt, jetzt würde Dr. Pasch eintreten, würde den neuen Assistenten sehen, hören, daß er neu angestellt sei …

Sie fühlte, nein, sie wußte: sein erster empörter Blick würde sie suchen und sie anklagen, warum sie ihm denn nichts gesagt habe, warum sie … sie, die er ins Vertrauen gezogen hatte, ihm gegenüber …

Nein, das durfte nicht geschehen. Sie mußte ihn vorher sprechen. Mußte.

Jetzt war das keine Übertretung des Verbotes mehr.

Sie war jetzt mit den Gepflogenheiten des Hauses schon so weit vertraut, daß sie unter einem Vorwand das Laboratorium für ein paar Minuten verlassen konnte. Von der Halle aus rief sie Dr. Pasch an. Er solle für einen Augenblick herunterkommen.

Ihre Stimme mochte wohl sehr aufgeregt klingen. Er sagte sofort zu und erschien eine halbe Minute später im Eilschritt auf der Treppe.

Josefa schloß die Augen, als müsse sie im nächsten Augenblick in einen Abgrund springen.

Unbewußt fing sie es recht geschickt an. »Sie dürfen niemand sagen, daß ich mit Ihnen darüber gesprochen habe, Herr Doktor …«

»Worüber, Josefa? Wie sehen Sie denn aus?«

»Das ist jetzt gleichgültig. Der Professor hat einen neuen Assistenten aufgenommen.«

»So? Das ist doch nichts Besonderes. Wir können Hilfe brauchen.«

»Nicht für die Heilanstalt …«

»Nicht für die Heilanstalt …?« Dr. Pasch sah sie verständnislos an. »Ja, wofür denn dann eigentlich?«

Sie sah ihn starr an.

Er sah fragend auf sie nieder. Sie erkannte, daß er mühsam um Verständnis rang.

Plötzlich stieß er den Unterkiefer vor und duckte sich, als wolle er im nächsten Augenblick wie ein Raubtier auf seine Beute springen.

»Doch nicht … am Ende … für das … Laboratorium?«

Sie stand und senkte den Kopf.

Dann fühlte sie, wie er sie mit beiden Händen unsanft an den Oberarmen packte. »Josefa«, keuchte er, »Josefa! Das ist nicht wahr.«

Sie entwand sich ihm sanft. »Es ist schon so, Doktor.«

»Josefa, das darf nicht wahr sein. Reden Sie doch, Josefa!«

»Er ist schon unten.«

»Er ist schon da?«

Sie nickte, fast ein wenig schuldbewußt – erschien es ihr selbst.

»Das ist … das ist …« Ihm erstarben die Worte im Mund …

Er stand und starrte sie an, als sähe er irgendein grauenvolles Bild vor sich.

Sie trat ängstlich vor ihm hin. Sie war erschrocken über die furchtbare Aufregung, in die ihn die Nachricht versetzt hatte.

Wenn er nur nicht in dieser Erregung etwas tat, etwas, das für ihn und vielleicht auch für sie verderblich war. Sie hatte ihn warnen wollen, damit er nicht im ersten Augenblick einen falschen Weg einschlug.

»Doktor! Sie dürfen sich nicht so aufregen. Sie bringen sich in Gefahr.«

»Jetzt ist mir alles gleich.«

Er schien entschlossen, irgend etwas Fürchterliches zu tun.

»Ich gehe sofort zu ihm.« Er wandte sich dem Laboratorium zu.

»Um Gottes willen!« Sie hängte sich an seinen Arm und zwang ihn dadurch, stehenzubleiben. »Wollen Sie mich auch um meine Stellung bringen? Er darf es ja nicht wissen, daß ich es Ihnen gesagt habe. Ich habe es Ihnen doch nur mitgeteilt, damit Sie es sich überlegen, wie Sie sich verhalten, wenn er Ihnen plötzlich die Eröffnung macht. Ruhe, Ruhe! Sie müssen ruhig sein, Doktor!«

Sie hob die bittenden Hände gegen ihn.

Diese Bewegung brachte ihn wieder zu sich. »Ja, natürlich. Sie müssen geschont werden, Josefa, natürlich. Ich werde es mir überlegen, jaja.« Er fuhr sich durch die Haare und dann mit dem Zeigefinger zwischen Hals und Kragen durch. »Es ist zum Rasendwerden, ich werde verrückt. Das zu tun. Mir das zu tun. Ich … ich …«

Plötzlich fiel er in einen der in der Halle stehenden Klubsessel.

Sie stand verzweifelt neben ihm. »Herr Doktor! Herr Doktor!«

Er hörte sie nicht.

Die Ankunftsglocke schrillte durch den Raum. Irgendein neuer Leidender wurde gebracht. Der helle Ton weckte ihn aus seiner Erstarrung.

»Sind S' gscheit, Doktor!« hauchte Josefa. Sie fuhr ihm über den Arm. »Und i muß jetzt gehn. Sonst merkt er was.«

Er nickte. Vielleicht war er ruhiger geworden.

Sie löste sich von ihm und schlüpfte mit leisen Schritten ins Laboratorium zurück.

Gott sei Dank. Die beiden Herren saßen unbewegt wie früher.

Als sie auf ihren Platz glitt, streckte der Professor seine heischende Hand aus.

Sie reichte ihm die verlangte Eprouvette. Aber sie fühlte, daß ihre Hand zitterte.

Wenn nur schon die Mittagsstunde vorüber gewesen wäre!

*

Um die gewohnte Zeit erschienen die drei Herren. Dr. Pasch als letzter.

Sein Gesicht zeugte von grimmiger Entschlossenheit, schien aber im ersten Augenblick beherrscht. Aber es veränderte sich urplötzlich, als er die Umstellung im Raum gewahr wurde.

In seinen Augen flackerte es auf.

Dr. Santifaller war, vom Professor aufgefordert, aufgestanden und stand nun den drei Herren unbeholfen gegenüber.

Professor Kröner stellte vor. In einem gewollt gleichgültigen Ton, wie es Josefa schien.

»Die Herren werden den Namen Santifaller zweifellos schon aus der Veröffentlichung in der Wochenschrift kennen und mit mir eines Sinnes sein, daß es für unsere Heilanstalt viel bedeutet, Herrn Doktor Santifaller als Mitarbeiter gewonnen zu haben. Ich kann Ihnen verraten: es war nicht ganz leicht, ihn zu überreden, seine Einsamkeit aufzugeben und hierherzukommen. Aber nun ist er doch da. Er wird nicht in den eigentlichen Betrieb der Heilanstalt eingeschaltet, sondern arbeitet – seinem Wunsche entsprechend – wie bisher, gewissermaßen als Privatgelehrter, mit den reicheren Hilfsmitteln unserer Anstalt. Ich bitte die Herren, Platz zu nehmen.« Der Professor deutete auf die Sessel, die Josefa im gewohnten Kreis aufgestellt hatte. »Sie, Herr Doktor«, wandte er sich an Dr. Santifaller, »sind selbstverständlich nicht verpflichtet, an unserer Besprechung teilzunehmen. Ich glaube aber, daß es Ihnen vielleicht anregend sein wird, zu hören, wie sich das, was das Laboratorium schafft, in die Praxis umsetzen läßt.«

Dr. Santifaller fiel mit dem Oberkörper nach vorn und nahm Platz.

Josefa hatte während dieser Unterredung und der darauffolgenden Besprechung nur für Dr. Pasch Augen.

Sie erkannte es deutlich. Er beherrschte sich mit geradezu übermenschlicher Gewalt.

Der Vormerkblock, den er wie immer bei diesen Besprechungen in den Händen hielt, zitterte auffällig.

Ob Professor Kröner das auch wahrnahm?

Sie sah nach dem Professor hinüber. Der sprach wie immer in seiner bestimmten geschäftsmäßigen Art, rasch, eindringlich. Seine Augen glitten von Antlitz zu Antlitz.

Jetzt hafteten sie – oder täuschte sie sich? – für einen Augenblick auf dem Vormerkblock Dr. Paschs. Josefa war es, als husche – gedankenschnell wieder verflogen – ein verächtlicher Zug über sein Antlitz. Einen winzigen Augenblick hatte er in seinem Redefluß gestockt. Jetzt sprach er weiter, sein Blick war weitergewandert, haftete auf dem Antlitz Dr. Pehns, der sich zustimmend verneigte.

Sie sah wieder nach Dr. Pasch hinüber. Der hatte seine Augen fest auf den neuen Doktor gerichtet. Forschend, fragend und zugleich mit einem grimmigen Ausdruck.

Haßte er den Eindringling, der doch, genau besehen, kein Eindringling war?

Hatte nicht der Professor selbst gesagt, daß es ihm schwergefallen sei, Dr. Santifaller zu gewinnen?

Nein, dieser Dr. Santifaller sah nicht so aus, als ob er sich kriegerisch eindrängen wollte. Er hockte – fast ein wenig verschüchtert – auf seinem Sessel und ließ seine gutmütigen Augen mit dem ihm eigenen kurzsichtigen Blinzeln von einem der Sprechenden zum anderen wandern.

Nein, dieser Mann war kein Eindringling.

Wenn jemand die Schuld trug, daß er nun da war …

Aber nein, was hieß: »Schuld trug«?

Konnte der Professor nicht schließlich und endlich tun, was er wollte? Er konnte doch einen Mann gewinnen, der ihm half, einen Mann, dessen Eintritt in die Heilanstalt für diese, wie er selbst sagte, einen großen Gewinn bedeuten mußte. Sicher hatte er das Recht dazu.

Daß Dr. Pasch darüber unglücklich war, das … das war eine tragische Verkettung von Umständen, das war …, ja vielleicht war es vom Professor nicht schön gewesen, daß er Dr. Pasch in diesen Vertrag genommen hatte …

Josefa fühlte, daß sich ihre Gedanken verwirrten.

Es war nur gut, daß Dr. Pasch nicht gleich losgebrochen war. Dieser erleichternde Gedanke beruhigte Josefa wieder so weit, daß sie mit Verständnis den Besprechungen zu folgen vermochte.

Als Dr. Pasch zu Worte kam, zuckte sie wohl wieder ein wenig zusammen. Wie klangen seine Worte hart, wie schwang in ihnen der Groll, vielleicht sogar der Haß mit, auch wenn es sich um rein Sachliches handelte.

Aber der Professor schien nichts zu merken.

Er blieb geschäftlich kurz wie immer.

Dann war die Besprechung vorüber.

Dr. Gasser, der älteste der drei Herren, wandte sich an Doktor Santifaller: »Wollen Sie gleich mit uns zum Mittagessen kommen? Wir gehen von hier immer gleich …«

Er verstummte, denn der Professor hatte eine abwehrende Bewegung gemacht.

»Doktor Santifaller wird die erste Zeit bei mir speisen«, sagte der Professor. »In einer Woche etwa nimmt er dann an Ihrer Runde teil.«

Der Professor brach jäh ab.

Im Raum war ein merkwürdiger Laut zu hören gewesen, wie ein dumpfes Niesen. Welcher der Herren mochte ihn ausgestoßen haben?

Josefa wußte es.

Die drei Herren verneigten sich, Dr. Pasch kaum merklich, und gingen.

»Ich fürchte, Ihre heimischen Gerichte werden Ihnen bei mir abgehen«, sagte Professor Kröner, indem er zum Waschtisch schritt. »Meine Frau zieht eine mehr französische Kost vor. Ich hoffe, Sie werden sie nicht verschmähen.«

Dr. Santifaller lächelte abwehrend, »'s Essen ischt mir ganz einerlei, Herr Professor. Bei mir z' Haus hab i oft nix weiter gessen wia a Stück Brot und a Stückerl Kas. Grad daß der Hunger vergeht. Ischt auch vielleicht das gesündeste.«

»Da haben Sie recht«, nickte der Professor. »Die einfachste Nahrung ist immer die bekömmlichste. Aber bringen Sie das einer Frau bei! Sie sind Junggeselle, da haben Sie in der Hinsicht noch keine Erfahrung. Aber jetzt: Aufbruch. Es ist zwar heute früher als sonst, aber gleichwohl …«

Er lachte wieder und lud Dr. Santifaller mit einer Handbewegung ein, vorauszugehen.

Der machte einen komischen Hopser, setzte sich in Bewegung und wollte durch die Tür verschwinden. Dort drehte er sich plötzlich um und machte Josefa eine Verbeugung.

Sie nickte zurück.

Wie nett das von ihm war! Er tat das jetzt schon zum zweitenmal. Für ihn war sie nicht eine Maschine oder niedrige Hilfskraft. Selbst die Ärzte – Dr. Pasch ausgenommen – vergaßen zumeist zu grüßen.

Sie hatte es nie übelgenommen, weil sie sah, daß die Herren meist mit ihren Gedanken beschäftigt waren.

Aber um so mehr gefiel es ihr, daß der neue Herr ihrer nicht vergaß.

Vielleicht brachte seine Anwesenheit etwas Neues, einen neuen Zug in die Einsamkeit des Laboratoriums.

Es war oft reichlich eintönig gewesen in diesem stillen Raum.

Wenn nur Dr. Pasch …, der arme Dr. Pasch … nicht zu sehr unter diesem Ereignis litt.

Josefa beschloß, in Hinkunft recht nett zu ihm zu sein.

*

Inzwischen war der Professor mit seinem Gast in die Privatwohnung hinübergegangen.

»Darf ich Sie bitten, hier Platz zu nehmen und mich für eine Sekunde zu entschuldigen?«

Er drückte den Doktor in einen der bequemen Lehnstühle des Empfangszimmers, schob ihm das Tischchen mit den Zeitungen und Zeitschriften an die Seite und verließ den Raum.

Frau Elisabeth war erstaunt, ihren Mann zu dieser ungewohnten Stunde bei sich eintreten zu sehen.

»Oh, du machst dich schön für unseren Gast«, sagte er mit einem leichten Scherz.

»Keine Besonderheit«, gab sie ruhig zurück, indem sie, vor ihrem Spiegel sitzend, die gleichmäßige Linie ihrer Haare mit dem Kamm regelte. »Ich mache das jeden Tag.«

»Eine Schmeichelei für mich?«

»Wenn du es so auffaßt …« Sie lächelte nicht, sondern setzte mit ruhigen Bewegungen ihre Tätigkeit fort.

Er trat dicht neben ihr an das Fenster und sah auf die jetzt schon laublose Kastanienallee hinab. »Ich habe eine Bitte an dich, Liesel.«

»Ja?«

»Dieser Doktor Santifaller – du wirst es schon bemerkt haben – ist ein – wie soll ich mich ausdrücken? – ein rechter Naturmensch, unbeholfen über die Maßen, ein Bär mit einem Wort. Dabei haben wir in ihm ohne Zweifel einen bedeutenden Gelehrten zu sehen.«

»Also ein großer Gewinn für deine Anstalt?«

Sie neigte sich bei dieser Bemerkung, die mehr eine Frage als eine Feststellung bedeutete, ein wenig vor, als müsse sie im Spiegel, in dem sie sich beobachtete, genauer zusehen, wie er sich auf diese Äußerung hin verhielt.

Er stand spreizbeinig vor dem Fenster, wie ein Kapitän auf sturmbewegter See. Seine Hände spielten in den Hosentaschen mit Schlüsselbund und Federmesser.

»Gewiß«, sagte er, ohne seine Haltung im mindesten zu ändern. »Ein ganz großer Gewinn. Ein Gewinn, der sich überhaupt nicht abschätzen läßt.«

»Du bist also sehr froh?«

»Außerordentlich.«

»Und deine Bitte?«

»Ja so!« Er drehte sich plötzlich um und sah seine Frau voll an. »Ich möchte dich bitten, daß du diesen Bären tanzen lehrst.«

»Tanzen lehrst?« Ihre Augen waren auf dem Umweg über den Spiegel groß und erschrocken fragend auf ihn gerichtet.

Er lachte mit einem überlegenen, gönnerhaften Ton in der Stimme auf. »Du mußt es nur richtig verstehen, Liesel. Mir liegt daran, sogar sehr, daß aus diesem – sagen wir – Dörfler ein leidlich gewandter Gesellschaftsmensch wird. Er hat sich bisher bis über die Ohren in seine wissenschaftlichen Arbeiten vergraben und ist der Welt gegenüber fremd. Das hat ihm, solange er Privatgelehrter in seinem Tiroler Nest war, weiter nicht geschadet. Hier in der Großstadt ist das ein beträchtliches Hindernis für sein Fortkommen, für seinen Aufstieg.«

»Ich bin aufs äußerste verwundert, Hubert, daß du dich in solchem Maß für diesen Herrn einsetzt.«

Er warf ihr einen unruhigen Blick zu.

»Ich finde das sehr natürlich.«

»Du bist doch sonst nicht gerade krankhaft menschenfreundlich.«

»Gewiß nicht. Weil es die meisten Menschen auch gar nicht verdienen. Es ist aber, um dich zu beruhigen, nicht bloße Menschenfreundlichkeit, die mich in diesem Fall bewegt. Es ist sogar ein gut Teil Eigensucht dabei.«

»So?«

»Jawohl, Doktor Santifaller wird mich des öfteren vertreten müssen, wenn ich zum Beispiel verreise. Es liegt mir daran, daß er dies in den Formen tut, die unseren Anschauungen entsprechen. Kurz, ich will nicht bloß einen wissenschaftlichen, sondern auch einen gesellschaftlichen Vertreter haben, verstehst du?«

»Und meine Rolle?«

»Nimm dich seiner ein wenig an!«

»Wir haben doch ohnehin schon gemeinsame Musikabende verabredet.«

Der Professor nickte. »Ich war dir von Herzen für deinen Vorschlag dankbar. Aber das genügt nicht. Ich habe schon manchen guten Musiker gesehen, der trotzdem ein Bauer geblieben ist. Es handelt sich um mehr. Ich möchte ihn als unseren Hausgenossen behandelt wissen. Er soll sich bei uns wie zu Hause fühlen.«

»Vielleicht auch noch hier wohnen?«

»Es wäre mir am liebsten.«

Er hatte sich bei diesen Worten jäh herumgedreht und sah ihr in die Augen.

Sie hielt seinem Blick eine kurze Weile stand; dann sah sie unschlüssig auf ihre Hände herab, die mit dem in ihrem Schoß liegenden Kamm spielten.

»Wenn du es durchaus wünschst …«

»Wenigstens für den Anfang, Liesel. Wir haben doch das Gästezimmer ständig frei.«

»Und in der Anstalt hast du kein Zimmer frei?«

»Das ist nicht das Richtige. Dann kann er ebensogut in irgendeinem Hotel draußen wohnen. Ich will ihm doch die Bequemlichkeit und Ruhe schaffen, die er braucht, um seine Arbeiten fortsetzen zu können.«

»Ich sagte dir schon, wenn du es durchaus wünschst …«

»Er ist dir unangenehm?«

»Nicht im mindesten, Hubert. Aber einen neuen Hausgenossen aufzunehmen, ist eine Angelegenheit, die nicht über das Knie gebrochen werden kann.«

»Dann überlege es dir.«

Frau Elisabeth erhob sich.

»Ich verstehe dich nicht, Hubert. Du bist doch sonst nicht so vorsichtig und rücksichtsvoll. Warum sagst du nicht einfach, er muß hier wohnen? Warum willst du mir die Verantwortung dafür aufladen, indem du es von meiner Zustimmung abhängig machst?«

»Von der Seite habe ich die Sache noch nicht angesehen.«

»Du bist selbst unentschieden, Hubert. Ganz gegen deine sonstige Art.«

Er hob den Kopf und sah sie durch blinzelnde Wimpern an. »Du bist heute so sonderbar, Liesel.«

»Ich nicht …, du!«

Sie sah ihn fest an.

Da wich er ihrem Blick aus und lachte ärgerlich auf. »Da bist du sehr im Irrtum, mein Kind. Sehr! Ich bin um kein Haar anders als sonst. Du weißt, daß ich alles, aber auch alles tue, um die große Sache weiterzubringen. Was habe ich diesem Gedanken nicht schon alles aufgeopfert!«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn, die Lippen zusammenpressend.

Er sah sie einen Augenblick verwundert an, dann setzte er fort: »Und darum will ich, daß dieser Mann hier ein wahres Heim findet. Warum siehst du mich so an, Liesel?«

»Wollen wir nicht hinübergehen?«

Er nickte. »Gern. Er ist nämlich schon drüben im Empfangszimmer.«

*

Als Dr. Santifaller hinter sich das Geräusch der aufgehenden Tür hörte, sprang er so hastig auf, daß er beinahe das vor ihm stehende Tischchen umgeworfen hätte. Tief beugte er sich zum Handkuß über Frau Elisabeths schmale Finger.

Sie suchte sie ihm mit sanfter Gewalt wieder zu entziehen. Mit einem leisen Lächeln sah sie in sein gutmütiges Gesicht, auf dem sich deutlich die Bewunderung spiegelte, die er über die Schönheit dieser Frau empfand.

»Mein Gott, gnädige Frau«, sagte er, »i weiß net, wia i dazue kumm, daß i da hier bei Ihnen essen derf. I bin gar net anzogen darnach.«

»Das ist auch nicht nötig, Herr Doktor. Sie dürfen sich bei uns keinen Zwang antun.«

Sie nötigte den Unbeholfenen, noch einmal Platz zu nehmen, setzte sich ihm gegenüber und begann ihn auszufragen, wie ihm die Arbeit im Laboratorium behage und was er für andere Pläne für seinen Aufenthalt in Wien habe.

Der Professor beteiligte sich nicht an diesem Gespräch. Er stand ein paar Schritte weit abseits und hatte die Tageszeitung aufgenommen, in der er anscheinend suchend blätterte.

In Wirklichkeit behielt er aber die beiden im Auge.

Ein Lächeln der Befriedigung zeichnete sich auf seinem Antlitz ab.

Es war deutlich, daß dieser weltfremde Mensch dem Zauber der Schönheit Elisabeths vollkommen erlegen war. Er mochte wohl in seiner Heimat und in der kleinen Universitätsstadt, in der er sich die Doktorwürde geholt hatte, wenig mit Frauen umgegangen sein, jedenfalls aber nicht mit einem Geschöpf von so untadeliger und klassischer Schönheit wie Frau Elisabeth. Kein Wunder, daß der Gast schon bei der ersten Vorstellung aus einem sprachlosen Anstarren kaum herausgefunden hatte. Auch jetzt sprach hauptsächlich Frau Elisabeth, während der Doktor seine Antworten nur mühsam stotterte.

Was den Professor aber am meisten befriedigte, war der Umstand, daß seine kühle Frau, die gegenüber männlicher Bewunderung, wie er es nannte, geradezu »abgehärtet« war und für Schmeicheleien höchstens ein überlegenes Lächeln übrig hatte, daß diese Frau an dieser kindlichen Bewunderung Gefallen fand.

Sie war schon bei der ersten kurzen Aussprache mehr aus sich herausgegangen, als sie es sonst zu tun pflegte, und hatte – zu seiner eigenen Verwunderung – die Namensgleichheit Santifallers mit einem ihr bekannten Musiker sofort aufgegriffen und gefragt, ob er ein Instrument beherrsche.

Seine Antwort, er sei Cellist, hatte ihr sogar einen kleinen Jubelruf entlockt und die Einladung zum gemeinsamen Musizieren nach sich gezogen.

Darauf hatte der Professor gebaut, als er vorhin seine Bitte ausgesprochen hatte. Sonst – das wußte er – hätte er bei ihr zwar gehorsame Einwilligung, aber einen tiefen inneren Widerstand zu erwarten gehabt.

Das wollte er aber in diesem, gerade in diesem Fall vermeiden.

Um so erfreulicher war es, daß die beiden offensichtlich aneinander Gefallen fanden.

Mit Behagen verfolgte er, wie sich der Doktor im Laufe des Gesprächs immer zutraulicher gab, von seinem bisherigen Leben zu erzählen begann und dazwischen immer wieder versicherte, für ihn sei der plötzliche Wandel in seinem Schicksal ein kaum zu fassendes Glück. Bisher habe er schwer mit materieller Not zu ringen gehabt. Er sei Wissenschaftler mit Leib und Seele, aber leider praktisch wenig begabt. Er habe bisher noch nie vermocht, aus seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen irgendeinen greifbaren Gewinn zu ziehen. Gewöhnlich sei es so gewesen, daß andere ihm dann den Gewinn vor der Nase weggeschnappt hätten.

Nun aber habe das großzügige Angebot des Professors, in seinem reichausgestatteten Laboratorium zu arbeiten, alle kühnen Erwartungen seines Lebens übertroffen.

An dieser Stelle mischte sich der Professor ins Gespräch. Santifaller solle sich ja nicht zu viel erwarten. Auch er, der Professor, habe viele Rückschläge erlitten, und die würden auch für ihn, Dr. Santifaller, nicht ausbleiben. Auch möge er nicht glauben, daß er, der Professor, all dies ihm zu Gefallen gemacht habe. Was es gelte, das sei, die Wissenschaft zu bereichern und einen entscheidenden Schritt gegen den Tod zu tun, der sich durch allerlei Gifte in gesunde Körper schleiche und dort Verheerungen anrichte, wo sie bei der sonstigen Haltung und Gesundheit der betreffenden Person gar nicht zu erwarten seien.

Dr. Santifaller hörte andächtig zu.

Er wisse, entgegnete er dann bescheiden, daß seine Person keine Hilfe zu erwarten habe und daß es dem Herrn Professor um seine große Sache zu tun sei. Aber gerade das habe in ihm den Entschluß möglich gemacht, seine stille Arbeitsstube zu verlassen. Auch ihm schwebe dasselbe erhabene Ziel vor Augen, und er werde dem Herrn Professor ewig dankbar sein, daß er ihm ermögliche, mitzuarbeiten. Daß ihn aber die liebenswürdige Haltung des Professors und vor allem der gnädigen Frau überrasche und ganz besonders glücklich mache, das dürfe er doch wohl bemerken. Das sei ihm von allem das Unerwartetste gewesen.

»Keine Ursache«, sagte der Professor fast ein wenig schroff. Dann teilte er seinem Gast mit, daß er ihm die Gastfreundschaft in seiner Privatwohnung anbiete.

Hier aber zeigte sich der junge Arzt ablehnend. Das könne und wolle er nicht annehmen. Er habe sich schon am Vormittag bei einer Verwandten eingemietet, die, wie er bereits vorher gewußt hatte, Zimmer vermiete. Die Betreffende sei eine sehr arme Frau und über seine Ankunft so beglückt gewesen, daß er es, selbst wenn er es sonst wollte, nicht über das Herz brächte, sie zu enttäuschen.

Der Professor zuckte die Achseln. »Ich kann Ihnen nicht befehlen, hier zu wohnen, Herr Kollege. Es wäre mir nur eine Freude gewesen, Sie hier immer in der Nähe zu haben. Im übrigen sind Sie immer gern gesehen, nicht wahr, Elisabeth?«

»Sie werden kommen, so oft es Ihnen Freude macht oder es Ihnen Bedürfnis ist, Doktor Santifaller«, sagte die Frau Professor mit einem feinen Lächeln. »Und damit Sie von dieser Einladung ungescheut Gebrauch machen, verspreche ich Ihnen, daß ich es immer aufrichtig sagen werde, wenn es mir einmal nicht paßt. Dann wissen Sie wenigstens, daß Sie die anderen Male gerne gesehen sind.«

»Das ist ein guter Vorschlag.« Dr. Santifaller klatschte sich mit beiden flachen Händen auf die Oberschenkel, daß es hallte. »Sie müssen wissen, gnädige Frau, ich bin kein Gesellschaftsmensch. I kenn mi net aus. 's kunnt leicht amol sein, daß i Ihnen auf die Nerven geh. Nachher schicken S' mi einfach fort. I nimm's net übel. So is der Santifaller net.«

Er lachte und sah die Hausfrau mit gemütlichem Lachen an.

Das Mädchen meldete, es sei angerichtet.

*

Als Josefa am Tag nach der Ankunft Dr. Santifallers das Laboratorium betrat, fand sie den jungen Arzt bereits dort vor.

»Entschuldigen S', Fräulein«, sagte er etwas verlegen. »I bin halt ein Frühaufsteher. Schlecht gschlafen hab i heut auch, so das erstemal in der großen Stadt, und da bin i halt herausgfahren. Aber wenn's Ihnen net recht is, i kumm schon später auch.«

Josefa empfand bei dieser netten und ungekünstelten Art des Doktors ein wohliges Behagen. Sie entgegnete, daß sie ihm keine Vorschriften zu machen habe, sondern daß er ja jetzt doch gewissermaßen auch ihr Chef sei. Er solle es nur sagen: wenn er früher zu arbeiten beginnen wolle, dann werde eben sie auch …

»Um Gottes willen«, wehrte er, mit beiden Händen fuchtelnd, ab. »Wegen meiner dürfen S' net ausm Betterl springen.« Er sah sie ernst und forschend an. »Sagen S' überhaupt, Fräulein, is de Arbeit hier net a bisserl stark für Ihna?«

Sie schüttelte stumm den Kopf. Vielleicht wäre sie bös gewesen, wenn irgend jemand anderer an ihrer Arbeitskraft gezweifelt hätte. Aber diese Augen, diese gutmütigen, kurzsichtigen Augen sehen so vertrauenerweckend aus, daß sie ihm nicht gram sein konnte. »I halt's scho aus«, sagte sie kurz.

»Wird's jeden Tag so spät wie gestern?« erkundigte er sich, während er mit seinen kurzen Fingern sein Arbeitsgerät ordnete.

»Meist noch später, Herr Doktor.«

»Sie haben mir gestern abend so erbarmt, Fräulein. Kaum die Augen haben S' offenhalten können, Kinderl. Wenn jemand so jung is, muß er schlafen, viel schlafen.«

»Ich bin doch kein Fatschenkind mehr.« Jetzt war sie doch ein wenig ärgerlich.

Er sah sie erschrocken an. »Sind S' net harb, Fräulein«, sagte er. »Is gut gmeint. Aber i will nix mehr davon reden, wann S' Ihna kränken. Wir sind doch Landsleut, net?«

Er hatte in einem so bekümmerten Ton gesprochen, daß sie ihn freundlich anlächeln mußte.

Im Nu war ein Gespräch über die Heimat im Gange.

Es stellte sich heraus, daß Dr. Santifaller eigentlich ein Südtiroler war. Aber seine Familie war nach dem Norden übergesiedelt. Er selbst hatte seine Studien in Innsbruck begonnen und vollendet. Dann war er in seine neue Heimat zurückgekehrt. Seine Absicht, dort eine Praxis zu eröffnen, hatte er noch nicht ausgeführt; denn eine wissenschaftliche Arbeit, dieselbe, deren Ergebnisse er in der Wochenschrift veröffentlicht hatte, war ihm so am Herzen gelegen, daß er sie trotz allen Entbehrungen vorher hatte vollenden wollen.

Das war gut gewesen und hatte sich gelohnt. Auf diese Weise hatte ihn der Professor kennengelernt und hierherholen können. Hätte er schon eine Praxis gehabt, so wäre es ihm noch schwerer gefallen, sich von der Heimat zu lösen.

»I wär auch net gangen. Aber wie der Herr Professor mir vorgstellt hat, daß es meine Pflicht is, alles, aber auch alles zu tun, daß ich meine Studien in der Hinsicht fortsetz und mit mehr Hilfsmitteln arbeit, da hab ich mich halt entschlossen und hab den Vertrag unterzeichnet.«

Josefa hob den Kopf. »Einen Vertrag haben S' unterzeichnet, Herr Doktor?«

»Ja«, nickte er. »I hab zwar gmeint, i brauch kein Vertrag. Aber der Herr Professor hat gsagt, das ghört sich so. Nachher gibt es keine Mißverständnisse und keiner kann dem andern etwas vorwerfen. Und so hab i halt unterschrieben. Es is ja eh nur a Formalität.«

Josefa, die eben eine Lade mit Geräten in ihren Arbeitsschrank schob, hielt unwillkürlich inne. Wie hatte doch Dr. Pasch einmal gesagt: »Daß ich mich durch den Vertrag habe fangen lassen!« Und er hatte dazu verzweifelt geseufzt.

Und jetzt hatte Dr. Santifaller, dieser gerade und etwas täppische Mensch, auch einen Vertrag unterschreiben müssen?

Josefa schüttelte den Kopf. Was war das? Ihr war auf einmal unbehaglich zumute und der Doktor, der ihr gegenüber mit seligem Gesicht die prächtige Ausstattung seines Arbeitsbesteckes musterte, tat ihr auf einmal leid.

»Mein Gott! Is des an anders Arbeiten«, lachte er zu ihr herüber. »Das is ja wunderbar. Wann i denk, wie i mi hab plagen müssen. Ka rechtes Werkzeug, kane Glaseln! Und all das Zeug sündteuer. Mein Gott, wo wär i schon mit meiner Arbeit, wann i des alls ghabt hätt.« Ein bitterer Unterton klang aus seiner Rede. »Es is halt a Unglück, wann a Mensch so notig auf die Welt kummt wie unseraner …« Er bemerkte, daß Josefa ihn mitleidig ansah, und nickte ihr beruhigend zu. »Jetzt is des alls vorüber, Fräulein Josefa. Jetzt bin ich der glücklichste Mensch von der Welt, meiner Seel.« Er nahm behaglich vor dem Mikroskop Platz und streichelte das mächtige Gerät wie ein lebendes Wesen. »Jetzt werd ich arbeiten, daß alles kracht, Fräulein, arbeiten, daß alls, was i bisher gmacht hab, nix is dagegen. Jawohl.«

Er schob seine Brille auf die Stirne hinauf und senkte seine Augen über das Mikroskop.

Josefa hatte ihm lächelnd zugehört. Jetzt rollte sie das Tischchen mit dem Werkzeug an den Fensterpfeiler, wo sie seit dem gestrigen Tag ihren Arbeitsplatz hatte, und legte die Geräte auf, die der Doktor nach ihrer Voraussicht brauchen mußte.

Wenige Sekunden später löste er sein Auge vom Mikroskop und tastete nach einem Werkzeug.

Sie erriet sofort, was er brauchte, und hielt ihm das Glasplättchen entgegen.

»Sie dürfen mi net so verwöhnen, Fräulein«, wehrte er ab.

»Soll ich untätig sitzen?« gab sie zurück. »Ich bin ja dafür da.«

Er wandte sich ihr zu und sah sie an. »Mein Gott!« sagte er, »so ein großer Mann arbeitet halt ganz anders. Da geht die Arbeit vorwärts. Na ja, in Gottes Namen, wenn es schon Ihr Dienst is, nachher brauch i glei a Pinzetterl.«

Sie reichte ihm das Gewünschte.

»Jetzt bin i a großer Mann«, lachte er. »Mein Gott, die Welt draht sie halt gschwind, soviel gschwind. Amol is aner oben, amol unten. Wer oben bleibt, dem is gholfen. Schaun mer halt, daß mer oben bleiben.«

*

Es war ein sehr nettes und angenehmes Arbeiten mit Doktor Santifaller.

Josefa fühlte ein nie gekanntes Behagen.

Sie hatte auch bisher immer gern gearbeitet. Nie war ihr die Arbeit lästig oder erdrückend vorgekommen. Aber daß sie sich auf die Arbeit wie ein Kind gefreut hatte, das war auch nie vorgekommen.

Wenn sie jetzt in den frühen Morgenstunden aus dem Bett sprang, dann sang sie vor sich hin. Sie lebte im Vorgefühl der gemeinsamen Arbeit.

Die Stunden, Tage, Wochen und jetzt schon Monate neben Professor Kröner waren zum Teil sehr anregend und abwechslungsreich gewesen, aber der Dienst war stumm vor sich gegangen. Wie selten, wie unerhört selten war es vorgekommen, daß der Professor auch nur ein Wort gesprochen hatte, das über das rein Dienstliche hinausging. Was er gesprochen hatte, war fast immer Frage oder Befehl gewesen.

Wie oft hatte sich Josefa nach einem kleinen Gespräch, nach einem einzigen Wort der Anerkennung, der Aufmunterung gesehnt, wie es ihr der Professor in den Tagen der gemeinsamen Arbeit in Oberflins gelegentlich hatte zuteil werden lassen. Sie hatte meist vergebens gewartet.

Wie war das bei Dr. Santifaller anders! Er nützte jede Gelegenheit, um ihr oder Lorenz ein gutes Wort zu sagen, einen kleinen, gutmütigen Scherz einzuflechten. Schon seine morgendliche Begrüßung war erfrischend, und wenn sie aus nichts anderem bestand als aus der Frage: »Gut geschlafen, Fräulein Seferl?« oder aus einem kleinen Scherz, wenn er mit seinem weißen Laboratoriumsmantel in Kampf geriet und sie ihm lachend half, die Ärmellöcher, an denen seine fahrige Hand immer wieder vorbeistieß, aufzufinden.

Wenn der Professor auftauchte, ging zwar alles wieder seinen gewohnten Gang, nur mit dem Unterschied, daß sich die beiden Herren oft viertelstundenlang über eine wissenschaftliche Frage unterhielten.

Es ereignete sich dabei immer aufs neue, daß der Doktor dem Professor bei solch geistigen Kämpfen tapfer Widerstand leistete und durchaus nicht gesonnen war, einen Standpunkt, den er einmal als richtig erkannt hatte, aufzugeben.

*

Es war merkwürdig, wie es Dr. Santifaller verstand, die Laune der Frau Professor zu heben. Das hatte sich schon beim ersten Kammermusikabend gezeigt. Sie hörte ihm mit sichtlichem Vergnügen zu und hatte dabei eine seltsame Art, den Mund leise zu öffnen. Dann leuchteten ihre wunderbar gepflegten Zähne hell auf und gaben dem regelmäßigen Gesicht noch einen besonderen Ausdruck rassiger Schönheit, den Dr. Santifaller mit Behagen genoß.

Dann hatten sie eine Weile in den Noten geblättert und sich für eines der Trios entschieden.

Josefa hatte sehr zaghaft begonnen. Aber als sie merkte, mit welcher Sicherheit die Frau Professor ihren Part beherrschte, und als dann neben ihr der dunkle Ton des Cellos erklang, ebenfalls bestimmt und musikalisch vorgetragen, da packte sie der Ehrgeiz. Hatten die ersten Töne ihrer Geige ein wenig zitternd und schüchtern geklungen, so strich sie jetzt mächtig aus. Die Geige gab einen vollen und satten Ton her, das im Anfang zögernde Tempo wurde flotter und flotter, ach, es war ein göttliches Gefühl. Die Töne brausten durch den Raum, das Klavier gab eine wundervolle Grundlage, die Begleitung des Cellos hielt vollen Widerpart, die Geige sang über allem.

War sie eine Künstlerin geworden? Ach nein, das nicht.

Aber das Können der beiden andern hatte sie mitgerissen. Sie kam mit.

Es war eigentlich schade, daß das Trio so rasch zu Ende gespielt war.

»Na«, sagte Dr. Santifaller, als sie die Hände senkten, »das is ja für das erste Zusammenspielen ganz ausgezeichnet gegangen. Daß die gnädige Frau eine große Musikerin is, das hab i mir ja gleich denkt, aber daß unsere Seferl so tapfer mitspielt und so an warmen Ton hat, das is mir neu, und das gfreut mi recht sehr.«

Auch die Frau Professor hatte genickt und gesagt, sie finde, daß Josefa inzwischen sehr viel zugelernt habe. Es sei ein deutlicher Fortschritt zu merken.

Sie hatten dann gleich wieder weitergespielt. Trio auf Trio, und hatten darüber vergessen, wo sie waren, und daß die Zeit mit Riesenschritten vorüberstürmte.

Sie erwachten erst, als der Professor, der aus dem Nebenraum zuhörte, im Türrahmen auftauchte und fragte, ob es den Herrschaften bekannt sei, daß Mitternacht vorüber sei.

Ach ja, es war ein herrlicher Abend gewesen. »Viel zu kurz!« hatten sie alle gemeint und gleich einen zweiten und dritten Kammermusikabend verabredet.

Wie die Frau Professor aufgelebt war!

Josefa erkannte sie nicht wieder. Alle Kühle und Starrheit war von ihr gewichen. Ja, sie lachte sogar einmal laut auf, als Dr. Santifaller einen seiner etwas derben, aber harmlosen Mundartausdrücke gebrauchte.

Am zufriedensten aber schien der Herr Professor zu sein.

*

Josefa traute ihren Augen nicht, daß diese Frau so herzlich sprechen, so freundlich blicken konnte. Dieser Dr. Santifaller konnte wirklich hexen. Das heißt, es war keine Hexerei. Hatte er nicht auch ihr tief ans Herz gegriffen? Ach Gott, was mußte er für ein guter Mensch sein! Welches Glück, daß er in die Heilanstalt gekommen war, welches Glück!

Dieses Gefühl blieb ihr auch in den folgenden Tagen. Ihr war es immer, als ging die Sonne erst richtig auf, wenn der Doktor eintrat. Sie sorgte sich, wenn er sich verspätete, weil sie befürchtete, daß er bei seiner Kurzsichtigkeit auf der Straße einen Unfall erleiden könne, und sie war selig, wenn er dann durch den Vorraum getappt kam und mit Lorenz ein paar freundliche Worte wechselte.

Er war wieder da. Das war gut. Das war herrlich!

Freilich bedeutete es für sie eine bittere Enttäuschung, daß Dr. Pasch seit dem Eintritt Dr. Santifallers ihr gegenüber auffallend kühl geworden war.

Mein Gott, warum?

Was hatte sie ihm getan? Sie konnte doch nichts dafür, Sie hatte einen Befehl oder, besser gesagt, ein Verbot des Professors eingehalten. Hätte sie tratschen sollen?

Es war ihr schrecklich zu wissen, daß ihr jemand grollte. Noch nie in ihrem Leben hatte ihr jemand ernsthaft gegrollt. Sie mußte den Grund erfahren, warum er nun so zurückhaltend war.

So schlich sie eines Tages während der Ärztebesprechung hinaus und rief ihn, als er nach der Beratung durch die Halle schritt, an.

Er schien ihr so fremd, als er ihr in einer merkwürdig unbehaglichen Stellung gegenüberstand.

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Herr Doktor.« Sie konnte nicht anders, sie mußte die vertraute Anrede wieder durch die förmliche ersetzen.

»Bitte.«

Früher hätte er bestimmt nicht einfach »bitte« gesagt, sondern »aber gern, Josefa«.

»Warum sind Sie auf einmal so bös mit mir?« Sie hob den Kopf und sah ihn mit einem ängstlich flehenden Blick an.

Er wich ihr aus.

»Seit ein paar Tagen schaun Sie weg, wenn ich Sie anschau, und geben mir kein Zeichen mehr wie früher. Und früher waren Sie doch so lieb und nett zu mir.«

»War ich das?«

Wie seine Worte bitter klangen.

»Ja, Sie waren so nett und ich … ich weiß nicht …, ich hab … ich hab doch nichts getan, oder hab ich was getan?« Sie sah ihn wieder aus großen, bittenden Augen fragend an und hob leicht die Hände vor die Brust.

Er sah zur Seite und auf den Boden. »Nein«, sagte er schließlich, »Sie haben nichts getan, was … was … Ach Gott …« Er hob mit einer gequälten Gebärde die Achseln und ließ sie wieder sinken. »Ich kann eben nicht aus meiner Haut heraus. Kommen Sie«, setzte er hastig hinzu, als fürchte er, daß sie jemand belausche. »Kommen Sie!« Er ging ihr voraus in den einen Seitengang.

Ihr war seine unruhige Art unbehaglich und so folgte sie ihm nur zögernd.

»Sehn Sie, Josefa«, murmelte er, vor sich auf das Muster des Gangläufers blickend, »jetzt geht das Spiel wieder weiter, dieses entsetzliche, niederträchtige Spiel.«

Sie hob den Kopf und sah ihn fragend an.

»Ach Gott«, keuchte er, »ich habe es Ihnen ja erzählt. Warum hat er mich hier in die Heilanstalt hereingenommen? Um mich lahmzulegen, um mich vor die Alltagskarre zu spannen, bis ich wie ein alter abgetriebener Droschkengaul den vorgeschriebenen Trott laufe und Gott danke, wenn ich zu Mittag meinen Futtersack vorgebunden bekomme. Warum hat er nicht mich in das Laboratorium berufen? Weil er nicht will, daß ich etwas leiste, daß ich mehr leiste, als es ihm gerade recht ist, nicht um einen Hauch mehr. Bis ich an der hinabgewürgten Wut eines Tages ersticke oder etwas Gräßliches tue.«

»Aber Herr Doktor!«

»Lassen Sie mich, Josefa. Lassen Sie mich! Ich muß davon reden. Und warum hat er jetzt diesen Doktor Santifaller ins Laboratorium geholt? Wohl aus demselben Grund, wenn ich es auch noch nicht ganz durchschaue. Der muß wohl auch an die Kette gelegt werden, damit er nicht wieder Artikel veröffentlicht, die der alleinseligmachenden Theorie des göttlichen Herrn Professors in die Quere gehen. Wohin laufen Sie, Josefa?«

Josefa hatte sich umgewendet und war der Glastür zugeeilt, durch die sie eben in den Raum getreten waren.

Sie blieb stehen und wandte ihm ihr Antlitz zu. Ihre Augen sahen ihn zornig an. »Ich darf Ihnen nicht zuhören, wenn Sie so sprechen. Sie sind ungerecht.«

»Wollte Gott, ich wär's.«

»Sie sind beleidigt und jetzt schieben Sie alle Schuld auf andere Menschen.«

Er lachte gequält auf. »Ich glaube, ich habe Grund genug, ›beleidigt‹ zu sein. Wissen Sie nicht, daß ein Mann arbeiten können muß, muß, ja muß, wenn er nicht zugrunde gehen will?«

»Deswegen dürfen Sie aber nicht so furchtbare Dinge sagen.« Sie hatte die Klinke der Türe wieder losgelassen und stand ihm ernst gegenüber.

»Josefa«, murmelte er halblaut. »In der Verzweiflung entwischt einem vielleicht ein Wort zu viel.«

»Der Herr Professor tut so viel Guts«, sagte sie leise, »gar net zum glauben wieviel Guts. I hab's in meiner Heimat gsehen. So einen Menschen dürfen S' net anschaun wie irgendeinen andern.«

Über sein Gesicht legte sich wieder ein bitterer Zug. »Jaja, so ist es. Der große Mann darf tun, was ihm beliebt, er darf … er darf … Aber das darf ich wieder nicht sagen, weil Sie mir sonst davonlaufen. Ach, Josefa, seit ich in das Laboratorium eingetreten bin und den zweiten Arbeitstisch dort gesehen hab, den Tisch, nach dem ich mich mein ganzes Leben gesehnt habe, seitdem bin ich, bin ich ein ganz anderer Mensch geworden. Ich kann nicht mehr schlafen. Es ist ja, es ist ja … so … so … niederträchtig …«

»Aber, Herr Doktor!«

Er warf den Kopf hoch. Sie schrak vor seinem Blick zurück. Seine Augen funkelten.

»Sehn Sie«, keuchte er, »Sie können mir nicht einmal sagen oder den Rat geben: gehen Sie hin, Doktor, arbeiten Sie und beweisen Sie ihm, was Sie für ein Kerl sind. Das können Sie nicht sagen. Denn ich darf ja gar nicht arbeiten. Ich bin ihm ja verschrieben. Er wahrt sich ja ausdrücklich das Recht, meine Arbeit zu leiten. Und wenn ich zu ihm komme und in ihn dringe, dann weist er ja auf dieses verdammte Papier hin und sagt: es sei seine Sache, zu entscheiden, wann ich reif sei für solche Arbeiten …, es ist teuflisch. Einfach … teuflisch. Und unter dem Wisch steht meine Unterschrift, die ich ihm noch gerne gegeben habe, ich Esel, ich dreidoppelter Esel in meiner Leichtgläubigkeit, in meinem Glauben an den großen Mann, an den ›Retter der Menschheit‹, an den großen ›Kämpfer gegen den Tod‹, der doch nichts anderes ist als … Josefa! …«

Dr. Pasch sah sich in dem Gang allein. Die Glastür klappte noch einmal unschlüssig hin und her und stand dann still.

Dr. Pasch fuhr sich über die Stirn. Was war das? War er wirklich allein? Oder war es ein Traum gewesen, daß noch vor einer Minute, nein, vor ein paar Sekunden das brave kleine Ding da vor ihm gestanden hatte, das er so gern hatte, diese kleine Josefa, die sich so tapfer hielt …

Ach Gott! Die war natürlich auch dem Professor verfallen mit Haut und Haaren.

Er verstand es ja so gut, die Menschen hineinzulegen und für sich auszunützen, bis sie nichts mehr waren als willenloses Werkzeug.

»Herr Doktor!« sagte da neben ihm eine Stimme.

»Ja?« Er fuhr erschrocken aus seinem Sinnen auf.

Es war Mali, die Oberschwester.

»Auf Lilly, die Dame hat schon wieder einundvierzig Grad Fieber.«

»Einundvierzig Grad? Ich komme.« Er nickte und ging neben der redseligen Oberschwester, die ihm von ihrem Schrecken über diese plötzliche Steigerung des Fiebers erzählte, in den ersten Stock hinauf.

»Wohin gehn S' denn, Herr Doktor?« fragte Mali erstaunt, als er den Gang hinunterschritt.

»Wohin?« Er starrte sie an. »Ach so. Die Dame liegt ja auf Lilly.«

Er kehrte um und trat in das Krankenzimmer ein.

Mali blieb kopfschüttelnd stehen. »Den hat's«, murmelte sie. »Der ist selbst net mehr ganz beinand und muß doch Arzt sein. Komisch ist die Welt.« Sie drehte sich um, sah dabei im Wandspiegel, daß ihre Haube schief saß, rückte sie zurecht, lächelte sich ein wenig süßlich zu und ging dann nach »Henriette«.

*

Josefa war in großer Aufregung ins Laboratorium zurückgekehrt.

Die Art, wie sich Dr. Pasch ausgedrückt hatte, hatte sie im tiefsten empört. Vielleicht benahm sich der Professor ihm gegenüber nicht ganz richtig, aber das gab ihm doch wieder nicht das Recht, so … so … schrecklich zu sprechen.

Konnte sie, Josefa, überhaupt hier unterscheiden, wer von den beiden recht hatte? Vielleicht war Dr. Pasch doch kein solcher Gelehrter, wie er für die Forschungen nötig war, die der Professor anstellte. Denn wenn er Dr. Santifaller in sein Laboratorium nahm, dann hätte er ja auch Dr. Pasch hereinnehmen können, wenn er es für nötig erachtet hätte. Vielleicht war Dr. Pasch wirklich in der Heilanstalt besser am Platz. Mein Gott, wie sollte sie das entscheiden? Es war schrecklich, daß die Menschen einander so wenig verstanden oder verstehen wollten und einander so viel unnützes Leid antaten. Vielleicht hätte sich mit einer Aussprache alles aus dem Wege schaffen lassen, was die zwei Männer trennte. Vielleicht war es überhaupt ein Mißverständnis.

Ja, das mußte es sein.

Josefa atmete auf. Ein Mißverständnis. Jawohl.

Und jetzt war Dr. Pasch eben tief gekränkt, weil statt seiner Dr. Santifaller ins Laboratorium gekommen war, und das hatte ihm diese schrecklichen Äußerungen entschlüpfen lassen.

Ob wohl Dr. Santifaller in einer ähnlichen Lage auch dergleichen Dinge gesagt hätte?

Sie ließ die Hände sinken und sah nach ihm hinüber.

Nein. Der hätte das nicht getan.

Sie begann sich plötzlich darüber zu wundern, daß sie früher so gern mit Dr. Pasch geplaudert hatte.

Wenn sie die beiden Männer miteinander verglich, wie rasch verblaßte da das sonst so männliche und kräftige Antlitz Doktor Paschs vor dem gutmütigen Gesicht Santifallers.

War es nicht so, daß der eine immer nur an sich dachte und der andere nur an sein Werk und wie er anderen helfen konnte?

»Josefa!«

Die Stimme des Professors jagte Josefa aus ihren Träumen auf.

Sie bemerkte mit Schrecken, daß der Professor, offenbar schon einige Zeit, die Hand, nach einem Werkzeug verlangend, ausstreckte.

Sie tat mit blutrotem Kopf ihre Pflicht und drückte ihm die Phiole in die Hand.

Es war das erstemal, seit sie im Laboratorium Dienst tat, daß sie einen seiner stummen Wünsche übersehen hatte.

Wo war sie nur mit ihren Gedanken gewesen?

Es wäre ihr lieber gewesen, der Professor hätte ihr ein scharfes Wort gesagt.

Aber der arbeitete schon wieder, über sein Beobachtungsgerät gebeugt.

Was er jetzt wohl über sie dachte? Daß sie ein zerfahrenes Ding sei.

Es gab sehr viel zu tun in diesen Tagen; denn die große Sitzung in der Akademie der Wissenschaften, in der Professor Kröner über seine Arbeiten sprechen sollte, stand unmittelbar bevor. Die Druckbogen waren bereits aus der Druckerei eingelaufen. Josefa staunte, wie sich das, was sie in gedrängter Zeit zu Papier gebracht hatte, nun gedruckt, prächtig ausnahm. Erst jetzt fühlte sie die ganze Größe dessen, was der Professor der Akademie, nein, der ganzen Welt, zu sagen und zu geben hatte. Sie war stolz, dabei mitgeholfen zu haben.

Und sie sollte nicht dabei sein, wenn er vor den vielen berühmten Männern sprach? Sie sollte nicht sehen, was diese bei seinen Worten für Mienen zeigten? Sie, die nun seit Monaten als seine engste Mitarbeiterin in sein Denken und Arbeiten einen tieferen Einblick hatte als irgend jemand sonst auf der Welt!

Das schmerzte. Aber es machte sie auch nachdenklich. Geschah ihr jetzt nicht dasselbe, wie es der Frau Professor, genau genommen, alltäglich geschah? War die nicht ausgeschlossen von allem, was ihren Mann wirklich bewegte?

Sie, Josefa, war plötzlich eifersüchtig auf alle die Männer, die die Rede des Professors hören konnten. Die Frau Professor aber, wußte sie überhaupt, was in dem Haus, in dem sie lebte, vorging?

Mit einemmal sah sie das Schicksal dieser Frau anders, mit freundlicheren Augen.

Vielleicht war auch der Umstand daran schuld, daß sich ihr die Frau Professor seit der Anwesenheit Dr. Santifallers liebenswürdiger zeigte als früher.

Josefa bat ihr insgeheim viel ab.

Aber ihr eigener Schmerz: ausgeschlossen zu sein, wurde dadurch nicht gemindert.

Denn sie wagte es nicht, den Professor zu fragen, ob sie nicht vielleicht mit dürfe.

Aber vielleicht würde ihr Dr. Santifaller helfen. Denn der, das hatte sie einem Gespräch der beiden Herren entnommen, würde die Sitzung besuchen. Ihn zu bitten, fiel ihr nicht schwer.

*

Dr. Santifaller war selbstverständlich bereit, ihr zu helfen.

Er konnte auch tatsächlich den Professor bewegen, an diesem Ehrentag Josefa mitzunehmen. Auch die Notwendigkeit, daß seine Gattin beim Vortrag anwesend sei, machte Santifaller dem Professor geschickt klar.

Und dann war der große Tag da.

Josefa zitterte vor Erregung.

Sie begriff nicht, daß der Professor an diesem Tag wie gewöhnlich in der Früh im Laboratorium arbeitete und sich um nichts anders benahm als an den übrigen Tagen.

Dr. Santifaller neckte sie gutmütig; denn sie war so zerfahren, daß sie nur mit Mühe ihren Dienst versehen konnte. Sie sah jede Minute mehrere Male auf die Uhr und zupfte zwischendurch immer wieder an ihrem neuen Kleidchen, das sie sich für diesen Zweck unter Beihilfe der Oberschwester Mali, die eine Schneiderin zu ihren Bekannten zählte, hatte arbeiten lassen.

Dr. Santifaller meinte, er hätte gar nicht geglaubt, daß sie so eitel sein könne.

In Wirklichkeit war es aber nur die allgemeine Erregung, die sie so unruhig machte.

Um die elfte Stunde fuhr der große Privatwagen des Professors vor, die Frau Professor nahm, in einen kostbaren Pelz gehüllt, auf dem einen, der Professor neben ihr auf dem zweiten Rücksitz Platz. Dr. Santifaller und Josefa saßen auf den beiden Vordersitzen. Neben dem Fahrer hatte noch Dr. Gasser Platz genommen. Dr. Pehn und Dr. Pasch kamen mit dem Wagen Doktor Paschs nach.

Alle zeigten in ihrem Gehaben eine gewisse freudige Stimmung.

Bloß Dr. Pasch schien – so kam es wenigstens Josefa vor – an dieser Fahrt keinen Gefallen zu finden. Verdrossen grüßte er, beachtete sie kaum und wandte sich sofort seinem Wagen zu, wo er ärgerlich zu hantieren begann: der Anlasser wollte nicht gleich gehorchen; denn es war bitterkalt an diesem Dezembertag.

*

Ach, was war das für ein prachtvoller Saal, in dem die Sitzung stattfand. Über mächtige teppichbelegte Treppen wanderten die Gäste aufwärts, durch ungeheure Flügeltüren traten sie in einen wundervoll gewölbten Raum, der von sanftem Lampenschein durchflutet war.

In weitem, vornehmen Halbrund schwangen sich die Reihen der gepolsterten Stühle hin, auf denen meist ältere Herren in schwarzem Anzug und dazwischen gelegentlich Damen in großem Putz Platz genommen hatten.

Die Frau Professor wurde sofort von einer Gruppe älterer Herren in Empfang genommen und auf einen Ehrenplatz in der ersten Reihe geleitet. Dr. Santifaller und Josefa nahmen bescheiden in der letzten Reihe der Polstersitze Platz.

Josefa bedauerte, nicht mehr als zwei Augen zu besitzen. Mit allen Sinnen nahm sie diese ihr so wunderbar neue und eindrucksvolle Welt in sich auf, das leise Sprechen der Gelehrten und sonstigen Persönlichkeiten von Ansehen, das geräuschlose Hinundhergleiten der befrackten Diener, die den Gästen die Ehrenkarten abnahmen.

Es war nur schade, daß weder sie noch Dr. Santifaller die Persönlichkeiten kannten.

Der sonst so launige Arzt fühlte sich in der neuen Welt in seinem einfachen Rock ein wenig gedrückt und sah, ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen heiteren Wesen, eher ein wenig furchtsam um sich.

Dann aber wurden sie auf ein Gespräch aufmerksam, das zwei Herren, offenbar Schriftleiter größerer Zeitungen, hinter ihnen führten. Sie wußten ausgezeichnet Bescheid und deuteten auf verschiedene eintretende Gäste, so daß Josefas Neugierde auch in dieser Hinsicht ein wenig befriedigt wurde.

Der Anfang der Sitzung selbst war hingegen für Josefa eine Enttäuschung. Der alte, hochbetagte Herr, der als Präsident der Akademie die Sitzung begann, sprach sehr lang, sehr eintönig und sehr wenig verständlich.

Er hatte, so stellte Josefa für sich fest, offenbar keine Ahnung, von welcher Bedeutung dieser Tag war. Ganz geschäftlich las er von einem Bogen Papier einen Rechenschaftsbericht ab, der keinen Menschen zu fesseln schien; denn die meisten der Anwesenden sahen inzwischen die Stuckornamente der Wände, die Schnitzereien des Präsidentenstuhles und des darüber sich ausbreitenden hölzernen Baldachins oder die einzelnen Köpfe der Versammlung an.

Ein müder, förmlicher Beifall folgte.

Und nun betrat nach einer kurzen, wiederum sehr geschäftlich klingenden Ankündigung Professor Kröner die Kanzel.

Josefa fühlte plötzlich eine leise Berührung.

Dr. Santifaller hatte seine Hand auf ihren Arm gelegt: »Was is denn, Fräulein Seferl? Sie zittern ja.«

Josefa nickte ihm flüchtig zu. »I bin a so aufgregt«, flüsterte sie ihm zu.

Ach ja, das war nun freilich etwas anderes, als all das Vorhergegangene.

Schon das Bild, das der kraftstrotzende, stattliche Professor auf der Kanzel bot, wirkte wie saftiges Leben neben dem dürren Greis, der vorhin gesprochen hatte und nun noch neben dem Redner auf der erhöhten Estrade saß.

Josefa fühlte sich glücklich. Was war doch der Professor für ein eindrucksvoller Mann! Sie war stolz, daß sie neben ihm hatte arbeiten dürfen und so etwas war wie seine Sekretärin, die sein Vertrauen genoß.

Und wie seine Stimme klang! Was hatte das dünne und heisere Gerede des alten Herrn bedeutet? Es war in dem weiten Raum schier ohne Widerhall verschwebt. Die klangvolle Stimme des Professors aber füllte den Raum. Sie hörte sich satt an, diese Stimme, vielleicht ein wenig hart und befehlend.

Aber eben das machte offenbar Eindruck. Denn jetzt … jetzt sah Josefa alle Köpfe erhoben. Alle Augen hingen gespannt an den Lippen des Vortragenden. Niemand wendete mehr den Kopf, niemand sah umher.

Es war deutlich, daß der Professor die feierliche Versammlung mit wenigen Sätzen in seinen Bann geschlagen hatte.

Zum drittenmal vernahm Josefa den Inhalt der Rede. Sie hatte sie in Kurzschrift aufgenommen, sie gelesen. Nun hörte sie sie, ohne aufgeregt auf das Mitkommen achten zu müssen, als genießende Zuhörerin an.

Und wieder, wie beim Lesen, konnte sie sich des Staunens nicht erwehren.

Erst jetzt erkannte sie die ganze Bedeutung und Größe des Inhalts. Die Betonung, mit der der Professor sprach, die Kraft, mit der er auf das Wichtige hinwies, machte ihr mit einem Male – schier blitzartig – klar, worauf es ankam.

Ob wohl die anderen es auch so spürten wie sie?

Sie riß sich fast mit Gewalt von dem Bild des Sprechenden los und warf einen Blick in die Runde. Die Versammlung saß unbeweglich still und lauschte im Banne einer großen Persönlichkeit und einer von ihr vertretenen überraschenden Tatsache.

»Ich spreche freilich nur eine Binsenwahrheit aus«, sagte der Professor eben, »wenn ich darauf hinweise, daß das uns umgebende Leben nichts ist als ein ununterbrochener ungeheurer Kampf. Mit seiner Geburt wird der Mensch in diesen seit Anbeginn der Welt tobenden Kampf hineingestellt und er findet erst Frieden, wenn ihn die sechs Bretter umschließen oder die Flamme verzehrt. Es ist das Los jedes Lebewesens, kämpfen zu müssen. Selbst die stille, anscheinend so harmlose Pflanze ist eine zähe Kämpferin. Auch sie kämpft um Licht und Luft, um den begnadenden Strahl der Sonne, um den freien Wind, den ihr eine Nachbarin verstellen will.

Wilder und verwegener wird der Kampf bei den Tieren der uns umgebenden Welt. Eines lebt von der Vernichtung des anderen, eines sucht, um sein Leben retten zu können, das Verderben des anderen herbeizuführen.

Der Mensch aber hat es verstanden, sich in diesem Kampf so zu stellen, daß er in den Kampf der Kräfte dieser Welt führend eingreifen kann. Er sucht zu regeln, die Kräfte zu verteilen. Er hat sich in des Wortes eigentlicher Bedeutung zum Herrn dieser Erde gemacht.

Aber auch er ist nur ein Wesen von Fleisch und Blut, kein Gott. Auch er unterliegt den ewigen ungeschriebenen, aber darum nicht minder wirksamen Gesetzen des Weltalls. Auch er muß kämpfen, auch er hat den Kampf ums Dasein durchzufechten gegen eine Welt von Feinden.

Zivilisation und Kultur haben dabei den Menschen vielfach von den gesunden Grundlagen einfachen, natürlichen Lebens weggeführt. Der Mensch hat sich der Natur entfremdet, er lebt nach Gesetzen, die er gegeben hat, und die nicht immer denen der Natur entsprechen. Er ist, jeder einzelne für sich, schwächer geworden, als es vielleicht unsere Ururureltern und -ahnen gewesen waren, die im ewigen Kampf gegen die Kräfte der Natur die eigenen Kräfte gestählt haben.

Und darüber hinaus hat eine überfeinerte Genußsucht den Menschen an verschiedene Gifte gewöhnt, die die Kraft seines Körpers unterhöhlen, ihn empfindlich machen und empfänglich für allerlei Angriffe, die sein ärgster Feind, der Tod, auf ihn unternimmt.

Sie alle wissen, wie stark und wie oft sich die Anschauungen der Ärzte im Laufe der Jahrhunderte, ja selbst im Laufe weniger Jahrzehnte schon gewandelt haben.

Wir empfinden es peinlich, daß sich oft Anschauungen in verblüffend kurzer Zeit in ihr genaues Gegenteil verwandelt haben, sehen, daß jüngere Geschlechter ihren Vorfahren das, was deren Stolz war, als Verbrechen vorwerfen. Wir sehen, daß erfahrene und bedeutende Ärzte oft mit einem kräftigen Ruck viel alten Ballast von den Schultern werfen und sich einer neuen, einfachen Behandlungsweise zuwenden, die – weil sie der Natur wieder zu ihren Rechten verhilft – auch Aussicht auf Erfolg gibt.

Gestehen wir es offen: wir haben die Wissenschaft unserer Urahnen lange Zeit überlegen belächelt und uns über manchen alten ›Bader‹ lustig gemacht, der es versuchte, die Heilungsuchenden mit seinen Kräutern wieder gesund zu machen. Wir sind selbstherrlich in den Körper des Kranken eingedrungen, haben ihn geöffnet, lebenswichtige Teile herausgenommen und eingesetzt und waren stolz auf diese unsere Kunst. Nicht immer mit Recht.

Das Messer ist nicht immer das geeignete Werkzeug, um eine ungünstige Entwicklung abzuschneiden. Wir müssen trauernd zugeben, daß unzählige Menschen dem Messer des Arztes zum Opfer gefallen sind, Menschen, die, wenn die Ärzte schon so weit gewesen wären, wie wir es heute sind, ihren Lieben erhalten geblieben wären.

Das Messer des Chirurgen in allen Ehren. Der Chirurg vollbringt Wunder über Wunder. Aus dem pochenden Herzen entfernt er darin eingedrungene Fremdkörper. Er überpflanzt wichtige Teilorgane von gesunden Menschen auf kranke. Er ist oft der Retter in letzter Not.

Aber – und darum dreht es sich vor allem – der Arzt ist nicht nur dazu da, den Kranken zu heilen. Der Arzt – das machen wir uns immer noch nicht klar genug – ist vor allem dazu da, das Auftreten von Krankheiten zu verhindern. In dieser Hinsicht ist noch immer nicht alles geschehen, was geschehen könnte.

Freilich lassen sich so manche Krankheiten nicht leicht erkennen. Sie fressen sich oft in den Leib des Menschen ein, ohne daß dieser eine Ahnung davon hat. Er trägt vielleicht den Tod in sich herum und lacht noch und scherzt und bietet nach außen hin das Bild eines kerngesunden Menschen.

Diese Tragik des menschlichen Daseins hat den Ärzten schon viel Sorge gemacht. Das Gebot der vorbeugenden Überwachung und allenfalls Behandlung hat sich mit dringender Stimme erhoben. Auch hierin haben wir es schon weit gebracht. Wir durchleuchten den Körper des Menschen mit den uns dienstbar gewordenen Strahlen, wir entdecken das in ihm schwärende Unheil und können daraufhin rechtzeitig unsere Gegenmaßnahmen ergreifen.

Trotzdem ist uns aber vieles bis heute ein Rätsel geblieben.

Ich habe es nun unternommen, einen neuen Vorstoß in das Reich dieser Geheimnisse zu versuchen. Ich kann es heute selbst nicht mehr sagen, ob es zufällige Entdeckung, Ahnungsvermögen oder verstandesmäßige Überlegung war, was mich veranlaßte, meine Tätigkeit auf einem Sondergebiet zu entfalten, das bisher zwar nicht vernachlässigt worden ist, auf dem aber noch verhältnismäßig wenig entscheidende Schritte getan worden sind.

Ich wandte mich ausschließlich und unter Verzicht auf jede andere Tätigkeit der Untersuchung des menschlichen Blutes zu. Ich darf Ihnen heute verraten: es war eine entbehrungsreiche Zeit, in der ich mich bemühte, auf diesem Gebiet zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Ich will Sie nunmehr diesen Weg führen …«

Der Professor machte eine kleine Pause, trank aus dem neben ihm stehenden Glas einen Schluck Wasser und begann nun den Werdegang seiner Erkenntnisse in allen Einzelheiten zu schildern. Die Hunderttausende von Versuchen, die er angestellt hatte, die zahlreichen Mißerfolge, die Stunden der Verzweiflung und dann wieder die Stunden, in denen er neuen Mut gefaßt hatte, um ein anscheinend völlig aussichtsloses Unternehmen doch wieder aufzunehmen.

»Ich habe an die Richtigkeit meiner Idee mit Fanatismus geglaubt. Dieser Fanatismus hat mir die Kraft gegeben, durchzuhalten. Dieser Grundgedanke war: jeder Kraft auf dieser Welt steht eine Gegenkraft gegenüber. Wie jedem Oben ein Unten, jedem Vorne ein Hinten, jedem Gestern ein Morgen gegenübersteht, wie heiß und kalt, schwarz und weiß Gegensätze darstellen, so muß es auch bei jeder Krankheit, bei jedem Zustand des Menschen eine Gegenkraft geben, die der ersten Widerpart zu leisten imstande ist.

Dies mußte mich schließlich zu der Erkenntnis führen, daß die allgemein bekannte Kenntnis von Gift und Gegengift bis in die letzten Folgerungen durchdacht zu werden hatte.

Das Blut, das die Adern des Menschen durchpulst, ist, wie schon ein Großer gesagt hat, ›ein ganz besondrer Saft‹, über dessen Vielfalt selbst wir Fachleute immer neu erstaunen. Seine Zusammensetzung, seine Antwort auf verschiedene Reizungen gibt uns immer neue Rätsel auf, die wir nur durch ständig fortgesetzte Forschung allmählich zu lösen vermögen.

Ich habe dieser Arbeit, diesen Erkenntnissen mein bisheriges Leben geopfert. Ich habe Tag und Nacht in des Wortes eigentlicher Bedeutung gearbeitet und gekämpft. Ich habe mit dem Blut eines einzigen Tieres oder Menschen nicht hunderte, sondern tausende Versuche gemacht, mich nicht abschrecken lassen, bis die letzte Möglichkeit erschöpft war.

Ich fühle mich heute belohnt. Mein Grundgedanke, daß jede Kraft eine Gegenkraft und tatsächlich jedes Gift sein Gegengift im Raum dieser Welt findet, ist nicht mehr ein Glaube, sondern eine durch unzählige Tatsachen bewiesene Gewißheit. Schritt für Schritt habe ich ein Gift nach dem anderen entlarvt, das Gegengift gezüchtet oder gesucht und nicht nachgelassen, bis ich es gefunden habe.

Oft habe ich es nach wenigen Versuchen gefunden. Die Chemie hat mir den Weg dazu gewiesen; oft aber hat es Monate gebraucht, bis es mir gelungen ist, das betreffende Teilrätsel zu lösen. Aber bei dieser Arbeit ist in mir eine zweite Erkenntnis wach geworden, nämlich die, daß es nur eine Frage der Zeit sein kann, daß wir ein solches Teilrätsel lösen. Es gibt kein Gift, das wir nicht schließlich und endlich doch durch ein Gegengift, bezwingen. Ja ich wage zu behaupten, daß die Zeit nicht mehr fern ist, in der wir jeden verderblichen oder gefährlichen Stoff aus dem Körper vertreiben können. Ja, es wird uns darüber hinaus gelingen, die guten Säfte des Körpers so zu stärken, daß Krankheitserreger sich vergeblich bemühen werden, Angriffsmöglichkeiten zu finden.

Lassen Sie mich Ihnen einmal eine Reihe von überraschenden Erfolgen, die mit Hilfe meiner Sera in meiner Heilanstalt erzielt worden sind, berichten.«

Der Professor nahm die von Josefa in wochenlanger mühsamer Arbeit zusammengestellten Übersichten zur Hand und begann sie zu verlesen.

Es war eine schier endlose Reihe von Ziffern.

Aber bei der Zuhörerschaft schien keine Langeweile aufzukommen.

Josefa sah, wie sich da und dort einer der Zuhörer aufrichtete und mit noch größerer Aufmerksamkeit den Kopf hob.

Hie und da sah sie ein Kopfschütteln. Aber es war kein Kopfschütteln des Zweifels oder des Unglaubens, sondern nur eines der Verblüffung und des Erstaunens.

»Nur einmal«, Professor Kröner erhob die Stimme, »war ich vorübergehend versucht, die Waffen zu strecken. Ein Leidender, der von einem geheimnisvollen Giftstoff durchseucht zu sein schien, einem der vielen unheimlichen Gifte, wie sie namentlich in den Tropen so häufig sind, schien rettungslos dem Tode verfallen. Als ich den fünfhundertsten Versuch erfolglos angestellt hatte, begann ich zu ermüden. Fünfhundert Versuche hatten mir mehrere Wochen Zeit geraubt.

Ich habe damals eine Nacht hindurch keinen Schlaf gefunden.

In dieser Nacht hatte ich eine Art Vision. Mir war es, als träte der Tod an mein Bett und spräche zu mir: ›Du wirst vergeblich versuchen, mein Reich zu schmälern. Jeder Mensch ist mir verfallen, das ist so von Ewigkeit her und wird in Ewigkeit so sein.‹

Da richtete ich mich in meinem Bett auf.

Alle Kampfgeister waren in mir wach geworden. ›Ja‹, gab ich zur Antwort. ›Wohl ist dir jeder Mensch zuletzt verfallen. Aber erst, wenn seine Kräfte erschöpft sind, wenn seine Lebensuhr abgelaufen ist. Ob er früher sterben muß, als dieser Verbrauch es unumgänglich nötig macht, das sollst nicht mehr du bestimmen, gieriger Tod. Ich entreiße dir deine Opfer, die du vorzeitig forderst, ich wage das Spiel gegen dich, ich nehme den Kampf an. Ich danke dir, daß du mich gehemmt hast; denn dadurch hast du mich stärker gemacht, als ich je war. Nun soll er erst recht anheben, der Kampf zwischen gesundem Leben und dürrem Tod. Auf dem Brettspiel des Lebens will ich mit dir das königliche Spiel wagen. Jawohl, ich wage es und rufe dir zu: Schach dem Tode!«

Durch die Versammlung ging eine starke Bewegung.

Die letzten Worte hatte der Professor mit stärkerer Stimme in den Saal gerufen. Sie klangen von den Wänden wider.

War es Zufall oder bildete Josefa es sich ein, als ob plötzlich alle Zuhörer weit zurückgelehnt in ihren Sessel säßen? Wie der Ruf einer gewaltigen Posaune war der kühne Ausspruch des Arztes von der Kanzel herabgeklungen, wie ein Sturmstoß war es durch den Saal geweht, als ströme von der Höhe der Kanzel die Kraft einer ungeheuren Naturgewalt gegen die Sitzreihen heran.

Aber schon hatte der Professor wieder weitergesprochen: »Jawohl: ›Schach dem Tode!‹, das rief ich in jener Nacht und das ist mein Wahlspruch gewesen seither. Denn als ich nach dieser Nacht, trotz Schlaflosigkeit neu gestärkt, mich erhob und in mein Laboratorium ging, da rückte ich mich auf meinem Arbeitsplatz zurecht und begann den fünfhundertundersten Versuch.

Noch dreihundertundsiebenunddreißig Versuche folgten …«

Wieder ging eine starke Bewegung durch die Zuhörerschaft.

»Der achthundertundsiebenunddreißigste Versuch brachte das erhoffte Ergebnis. Ich beschleunigte die Arbeit aufs höchste; denn der Kranke schien dem Tode unmittelbar nahe. Dann war das Serum gebrauchsfertig, meine Mitarbeiter wandten es in vorsichtigen Mengen an.«

Der Professor machte eine Pause.

Atemlose Stille lag über dem Raum.

»Herr Wilhelm Grailer ist nicht gestorben«, fuhr der Professor mit erhobener Stimme fort. »Er weilt auch nicht mehr in meiner Heilanstalt, sondern sieht in einem Genesungsheim besseren Tagen entgegen.«

»Bravo«, sagte unfern von Josefa eine laute Stimme.

Das war das Zeichen für allgemeinen Beifall. Die Spannung, die bisher über dem Saal gelegen war, löste sich in einem stürmischen Händeklatschen.

Professor Kröner stand aufrecht. Ein kaum merkliches Kopfnicken zeigte seinen Dank für diese plötzliche Kundgebung. Seine Augen blitzten.

»Von diesem Tag an«, fuhr er bei eintretender Stille fort, »schien jeder Bann gebrochen. Sei es, daß das Schicksal mir günstig oder ein begnadeter Zufall im Spiel war, sei es, daß ich durch die bis dahin durchgeführten Versuche in der Wahl meiner Anordnungen einen gewissen Vorteil erhascht hatte, jedenfalls: von diesem Tag an ging es in einer kaum zu schildernden Weise aufwärts. Die Zahl der benötigten Versuche wurde immer geringer, die Zahl der Heilerfolge steigerte sich.

Der Tod, der sich bis dahin in meiner Heilanstalt so manches Opfer geholt hatte, wurde ein immer seltenerer Gast. Denn über dem Tor meiner Heilanstalt, vor allem aber über der Tür meines Laboratorium steht unsichtbar geschrieben: ›Schach dem Tode!‹

Ich wage es heute an dieser feierlichen Stätte auszusprechen: wir gehen mit Riesenschritten einer Zeit entgegen, in der der Tod viel von seinen Schrecknissen verliert. Es kommt die Zeit, wo jeder Mensch, so wie er heute zum Haarschneider geht, alle vier Wochen einmal zur Blutuntersuchung schreiten wird. Sobald die Untersuchung ergibt, daß sich irgendein Gift in die Blutbahn eingeschlichen; daß das Blut irgendeine bisher nicht feststellbare Veränderung erlitten hat, werden die von mir mit Erfolg angewendeten Reagenzmethoden begonnen. Ich hoffe, in absehbarer Zeit so weit zu sein, daß es für jede überhaupt denkbare Veränderung eine Reagenzmethode gibt, so daß mit großer Sicherheit festgestellt werden kann, welches Gegengift, welches chemische Präparat der Kranke erhält, welches Serum ihm eingespritzt werden kann.

Dann bricht ein herrliches, neues Zeitalter an. Der Kranke, der sich mit inneren Krankheiten durch Jahre abschleppt, wird einer bösen Vergangenheit angehören, an die niemand mehr wird denken wollen. Vor uns wird eine leuchtende, gesunde Zukunft liegen.

In jeder Stadt aber wird sich ein Krankenhaus erheben, in dem tagtäglich Hunderte und Tausende von Menschen ihre Blutproben abnehmen lassen, sich selbst und ihren Kindern zum Segen und so zum Segen der ganzen Menschheit, die ihre Todesangst vor Seuchen verlieren wird.

Wenn es aber einmal so weit sein wird, und ich hoffe, daß ich das selbst noch erleben werde, dann soll über jedem Tor dieser Krankenhäuser mein Wahlspruch prangen: ›Schach dem Tode!‹«

Der Professor klappte ruckartig seine Vortragsmappe zusammen, die er bei seinem bis auf die Übersichtsverlesung frei gehaltenen Vortrag kaum benützt hatte, wandte sich kurz dem Präsidenten zu, der sein Beifallsklatschen für eine Sekunde unterbrach, um ihm die Hand zu schütteln, und lief dann mehr als er ging die Stufen zur Estrade hinab.

Der Beifall rauschte durch den Saal. Nahezu alle Anwesenden hatten sich erhoben und klatschten dem Professor Beifall, der sich noch einmal ruckartig gegen die Versammlung verneigte und dann mit einer raschen Wendung auf seinem Sitz in der ersten Reihe Platz nahm.

Der Beifall setzte erst aus, als sich der Präsident der Versammlung neuerlich erhob.

Es war seltsam. Derselbe Mann, der vor dem Vortrag Professor Kröners müde, lustlos und langweilig gesprochen hatte, dem gab die den Saal durchwehende Stimmung auf einmal Worte, die warm und anregend klangen.

»Wir haben eine Stunde erlebt«, rief er in den Saal hinein, »die uns ewig in Erinnerung bleiben wird. Es war, als wenn das Schicksal selbst an die Pforten dieses ehrwürdigen Saales gepocht hätte, um zu sagen: tut mir auf, denn die Welt soll anders werden.«

Der alte Herr wandte sich in der Richtung, in der Professor Kröner saß.

»Lieber Herr Kollege. Ich bin nicht ein unmittelbarer Fachkollege; wir gehören verschiedenen Wissensgruppen an. Aber auch als Laie habe ich gefühlt, daß Sie uns etwas ganz Großes gesagt und der Welt etwas ganz Großes geschenkt haben. Wir sind stolz darauf, Sie in unserer Mitte zu wissen. Fahren Sie fort in Ihrem großen Werk, das wir Ihnen von Herzen und neidlos gönnen. Sind wir doch alle, zumindest unsere Kinder und Kindeskinder, Nutznießer dieser neuen Erkenntnis, die den bösen Traum von Krankheit und Tod von uns scheuchen soll. Ich bin glücklich, daß ich alter Mann diese Stunde noch miterleben durfte. Wenn ich auch leider zu jener Gruppe gehöre, für die der Schlachtruf ›Schach dem Tode!‹ keine Gültigkeit haben kann, weil die von der Natur mitgegebenen Kräfte endgültig verbraucht sind, so bin ich doch unsagbar glücklich.

Seit ich in diesem Raum die Ehre habe, den Sitzungen unseres Verbandes vorzusitzen, habe ich eine solche Stunde wie die heutige nicht erlebt.

Wir danken Ihnen, Herr Professor Kröner, wir danken Ihnen … Wie soll ich es nur sagen: wir danken Ihnen im Namen aller Kranken, ja auch im Namen der Gesunden, die krank werden könnten, wir danken ihnen …, es ist nicht zuviel gesagt …, wir danken Ihnen im Namen der Menschheit.«

Mit vorgestreckter Hand stieg der alte Herr die Treppe hinab.

Brausender Beifall erhob sich noch einmal, als die beiden Männer, Hand in Hand stehend, sich gegen die Versammlung zu verneigten.

»Seferl! Aber Fräulein Seferl!«

Dr. Santifaller beugte sich zu Josefa hinab, die auf ihrem Sitz kauerte und weinte. Vielleicht war es die Übermüdung, die Überarbeitung in den vielen Wochen angestrengtester Arbeit, die ihr die Kraft nahm, dem Tränenstrom zu widerstehen, der sich unaufhaltsam über ihre Wangen ergoß.

»Seferl! Fräulein Seferl!«

Da hob sie ihr kindliches Gesicht ihm entgegen und preßte mühsam hervor: »I bin ja so … glü... glühü... glühücklich, Herr Doktor.«

Sie machte fast gar keine Anstalten, den Tränenstrom zu bändigen. Sie ließ ihm freien Lauf und lächelte vor sich hin.

Gerührt und ergriffen sah Dr. Santifaller auf sie nieder.

»Bist a seelenguats Madel«, flüsterte er vor sich hin.

Sie verstand die Worte nicht, aber sie mochte fühlen, daß er etwas Gutes gesagt hatte. Sie sah empor und blickte ihn mit einem Blick tiefen Vertrauens an. »Is des net a Glück, daß wir an dem Werk mitarbeiten derfen?« fragte sie leise.

»Ja«, sagte er und sah zum Professor hinüber. Aber in seinem Blick lag nicht reine Freude. Er war etwas nachdenklich, dieser Blick. Es lag fast ein wenig Sorge in ihm.

Josefa fing diesen Blick auf.

Auf ihre übergroße Erregung fiel plötzlich ein Schatten.

Sie fühlte, daß er innerlich nicht ganz mit dem einverstanden war, was er gehört hatte.

Sie hatte erwartet, daß er in seiner freundlichen, behaglichen Weise nicken und etwa sagen würde: »Teifi, des hot er sakrisch guet gmacht.« Was war es nun, das ihn so nachdenklich, ja sorgenvoll dreinsehen ließ? Neidete er dem Professor, daß er diesen Erfolg errungen hatte? Das war doch sonst nicht seine Art.

Allmählich war es ihr und Dr. Santifaller gelungen, durch das Gedränge der Versammlungsteilnehmer etwas näher an den Kreis heranzukommen, der sich um Professor Kröner und seine Frau gebildet hatte. Sie blieben beide in geringer Entfernung bescheiden stehen und sahen zu, wie sich Professor Kröner in seiner gewandt-weltmännischen Art der Schwierigkeit entzog, die gleichzeitig auf ihn einstürmenden Fragen zu beantworten, Glückwünsche entgegenzunehmen und sachliche Auskünfte zu geben.

Auch die Frau Professor hatte unzählige Hände zu drücken. Verschiedentlich wurden ihr, wie einer Königin, Herren aus dem Kreis vorgestellt.

Sie hatte eine ruhige, vornehme Art, sich in diesem Kreis zu bewegen. Ein freundliches, aber zurückhaltendes Lächeln lag auf ihren Zügen, den schönen Kopf hielt sie frei und aufrecht, wandte ihn in sanften Bewegungen nach den Fragern und Glückwünschern und ließ von Zeit zu Zeit die gleichmäßigen Reihen ihrer Zähne sehen.

Josefa sah diesem für sie seltenen gesellschaftlichen Treiben neugierig zu. Sie bemerkte dabei kaum, daß die hin und her drängenden Gäste sie inzwischen von Dr. Santifaller getrennt hatten, der offenbar ausgewichen war und jetzt, wie sie erschrocken feststellte, ziemlich weit entfernt von ihr stand.

Sie versuchte ihm durch Zeichen bekanntzugeben, daß sie nicht imstande sei, zu ihm vorzudringen.

Aber er achtete nicht auf sie.

Sie bemerkte, daß er wie gebannt auf einen bestimmten Punkt starrte, mit einem merkwürdig leidenschaftlichen Blick, wie sie ihn an ihm noch nie gesehen hatte. Die Lippen hatte er aufeinandergepreßt, als habe er Mühe, sich zu beherrschen.

Wohin sah er nur?

Zum Professor hinüber, der heute seinen großen Tag hatte? War es doch der Neid, der ihn übermächtig erfaßt hatte?

Nein. Nach dem Professor sah er nicht. Der stand in einer anderen Richtung.

Dr. Santifallers Blick aber war auf den zweiten, kleineren Kreis gerichtet, der sich um die Frau Professor gebildet hatte.

Jetzt eben wandte sich die Frau Professor von einem der Gelehrten zu einem anderen. Zwischendurch flog ihr Blick über den Kreis der sie Umdrängenden hinaus. Ein wärmeres, freundliches Lächeln, als sie bisher gezeigt hatte, lag plötzlich über ihrem Gesicht und sie nickte …

Wem nickte sie zu?

In dieser Richtung stand …, ja, da stand außerhalb des Kreises in dem schon ziemlich geleerten Saal nur noch Dr. Santifaller.

Und eben dieser Dr. Santifaller veränderte in demselben Augenblick ebenfalls seinen Gesichtsausdruck. Auch er lächelte. Die Spannung wich aus seinem Antlitz, die Lippen öffneten sich. Auch er richtete sich auf und machte eine seiner ungeschickten Verbeugungen in der Richtung gegen die Frau Professor hin.

Als er sich aufrichtete, strahlte er über das ganze Gesicht.

Josefa fühlte einen Stich im Herzen. Es war, als benähme ihr plötzlich eine geheimnisvolle Gewalt den Atem. Sie griff unwillkürlich nach der Lehne des ihr zunächststehenden Armsessels. Für einen Augenblick schloß sie die Augen.

Dann mußte sie wieder zu Dr. Santifaller hinübersehen. Er stand jetzt mit einem seltsamen, selig verklärten Ausdruck im Gesicht, hatte die Arme vor der Brust übereinandergekreuzt und wiegte sich von den Fersen auf die Fußspitzen und zurück.

Jetzt wendete er plötzlich den Kopf, bemerkte Josefa und winkte ihr lebhaft zu.

Aber sie hatte keine rechte Freude daran. Sie folgte zwar seinem einladenden Winken und drängte sich zwischen den beiden Kreisen sprechender Leute zu ihm durch. Aber sie fühlte auf einmal ein leises Frösteln.

Er fragte sie etwas.

Sie gab ihm eine gleichmütige Antwort.

Dann blieben sie stumm nebeneinander stehen, bis sich endlich Bewegung in den beiden festgeschlossenen Kreisen zeigte.

Der Professor löste sich und kam auf sie zu.

»Wo ist meine Frau? Ach, da drüben! Gut. Ja, Herr Kollege, ich muß Sie heute bitten, mit Sefi allein heimzufahren und mir dann den Wagen wieder in die Stadt zu schicken. Ich habe mich mit dem Herrn Präsidenten und ein paar Kollegen zu einem gemeinsamen Mittagessen verabredet. Meine Frau muß auch daran teilnehmen.«

Schon hatte er die beiden wieder verlassen, um seiner Frau die Nachricht mitzuteilen.

»Alsdern gehn mer«, sagte Dr. Santifaller. »Was halten S' davon, Fräulein Seferl, wenn wir bei dem schönen Wetter zu Fuß heimgingen und dem Professor gleich den Wagen dalasserten? Han?«

Vor wenigen Minuten hätte sie noch voll Begeisterung zugestimmt.

Es ärgerte sie, daß ihr »ja« so trocken, fast ein wenig ärgerlich klang.

Aber er merkte das nicht.

Er machte dem Professor Mitteilung, verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung von dessen Frau und kam dann auf Josefa zu.

»Der Professor is einverstanden. Wir gehen jetzt hier wo essen; denn i hab an Mordshunger, und nachher gehn mer a Stückerl z' Fuß und den Rest fahrn mer mit der Straßenbahn.«

Er war sichtlich in bester Laune.

Er beschaffte die Kleider aus der Ablage, half ihr in ihren Mantel und faßte sie dann leicht unter. So schritten sie die teppichbelegten Stufen hinab.

»A wunderbar schöner und a vornehmer Saal«, sagte er aufatmend, als sie auf der Straße standen. »Aber so recht wohl kann mir da drin net werden.« Er lachte gemütlich auf. »Jetzt gehn mer in a ganz einfachs Gasthaus essen, was, Fräulein Seferl. Wo man a guts Bier kriegt und anständig zum essen.«

Nun war er wieder der behaglich-gemütliche Dr. Santifaller. Seine gute Laune riß sie unwillkürlich mit.

Sie überwand ein leises Widerstreben, das ihr anfänglich riet, heimzukehren, und nickte Gewährung.

So strichen sie denn durch die Straßen, bis sie zu einem Gasthaus kamen, das zwar äußerlich unansehnlich, aber dicht besetzt war.

»Die Leut wissen schon, wo's was Guts gibt«, lachte Dr. Santifaller. »Kummen S', Fräulein Seferl, quetsch mer uns da eini.«

Sie hatten Glück. Eben stand an einem winzigen Tisch in einer Fensternische ein Paar auf.

Sie kamen glücklich anderen Platzsuchenden zuvor, ließen sich, stolz über den Sieg im Wettlauf, an dem winzigen Tischchen nieder.

*

Josefa und Dr. Santifaller waren nach dem gemeinsamen Mittagessen zu Fuß den weiten Weg zur Heilanstalt heimgekommen.

Josefa hatte sich gefreut, dem jungen Arzt etwas von den Kenntnissen, die sie auf den Fahrten mit Dr. Pasch gesammelt hatte, zu vermitteln. Er sah aufmerksam um sich und genoß die Schönheiten der Stadt, die sie im Vorbeigehen bewunderten.

»'s is eigentlich merkwürdig«, sagte er versonnen, »wie eins doch die Kultur spürt, die sich hier im Laufe von Jahrhunderten ausgebildet hat. I bin noch net lang da, aber i gspür's schon, i komm net mehr so rasch von Wien weg. Sie hat an merkwürdigen Zauber, die Stadt.«

Er schritt eine Weile stumm neben Josefa her. Dann begann er mit einem seltsam eindringlichen Ton aufs neue zu sprechen. »Gleich wia i nach Wien kommen bin, hab i's gmerkt. Schon wie ich das erstemal bei der Frau Professor in der Privatwohnung drüben war und sie mir ihr Zimmer zeigt hat. Die andere Wohnung is ja auch schön, aber halt doch nur ganz modern. Aber in ihrem Zimmer, so angräumt es is, so redt ein doch aus jeder Einzelheit die alte Kultur an. Diese klan Bilderln, diese Rahmen, das alte Porzellan! Ganz wunderbar. Na, und dann die Frau Professor selbst. Wie i die Frau zum erstenmal gsehen hab, da hab i zu mir gsagt: Santifaller, jetzt sigst zum erstenmal, was Kultur is.«

In seiner Begeisterung merkte er nicht, daß Josefa stumm neben ihm hertrabte und kein Wort erwiderte.

»Finden S' net aa, Fräulein Josefa?« suchte er plötzlich ihre Zustimmung herauszufordern.

Es kostete sie Mühe, eine Antwort zu finden. »Jaja, alte Kultur«, preßte sie zwischen den Lippen hervor.

Es fiel ihm weiter nicht auf, wie kurz und mühsam ihre Antwort ausgefallen war.

»Und so was an Schönheit«, schwärmte er weiter, »so was an Schönheit! Wie sie heut ausgschaut hat in dem noblen Kleid, meiner Seel, wie eine Königin, wie eine Königin. Da fehlt nix.« Er nickte vor sich hin.

»Nur daß sie halt net recht zfrieden is«, setzte er nach einer kurzen Pause sein Selbstgespräch fort. »I glaub, der Professor versteht's net, sie für seine Arbeit zu interessieren. Eigentlich schade, recht schade. Er ist halt ganz eingsponnen in seine Arbeit. Ganz und gar. Aber heut hat sie halt doch auch a Freud ghabt bei dem Erfolg.«

Er schwieg und ging in Gedanken weiter.

Josefa schritt neben ihm her und sah starr vor sich hin. Ihr tat es seltsam weh, daß er so sprach.

Warum eigentlich?

Er hatte doch recht. Was er sagte, stimmte. Sie hatte es selbst oft überdacht und war derselben Meinung gewesen. Warum nahm sie es dem guten Dr. Santifaller übel?

Sie sah ihn im Weiterschreiten von der Seite an.

Was war er doch eigentlich für ein lieber Mensch! Wie schön und ernst er immer von der Aufgabe des Arztes und von der Demut sprach, die für solch ein Werk nötig sei! Wie lieb und gut hatte er sie umsorgt.

So sorgte wohl ein guter Bruder für seine jüngere Schwester.

Wie wohl das tat, wenn jemand an einen dachte!

Seit ihr Vater gestorben war, hatte sich niemand mehr mit solcher Wärme um sie gekümmert, auch nicht Dr. Pasch, der sich in der letzten Zeit so ganz von ihr zurückgezogen hatte.

Ach ja, sie war ja doch trotz allem allein. Denn dieser liebe, gute Mensch, bei dem sie sich so wohlig warm fühlte, der half ihr wohl und war sorgsam um sie bemüht, aber … Ja was denn »aber«? Was bedeutete sie ihm? Da ging er neben ihr, für die er aus angeborener Herzensgüte freundlich gesorgt hatte; aber sein Sinnen und Denken, das jagte nach anderen Bildern. In seinen Gedanken herrschte die große, schöne und vornehme Frau, die Frau Professor. Die hatte es ihm wohl angetan mit ihrer Schönheit, mit ihrer vornehmen Ruhe, mit ihrer alten Kultur.

Wie sie heute zu ihm herübergelächelt hatte!

Nie hatte Josefa sie vorher so lächeln gesehen. Das hatte wohl seine Wärme verursacht. Es gefiel ihr wohl, daß der einfache junge Arzt sie so ansah wie eine Göttin; daß er sie bewunderte und vergötterte.

Ein bitteres Gefühl stieg in Josefa auf. Ein ähnliches Gefühl hatte sie gespürt, wenn sie gesehen hatte, wie die Ärzte die hübsche Trude Krämer anlächelten, die mit ihrer natürlichen Schönheit gleich alle Blicke auf sich gezogen hatte. Damals war aber dieses Gefühl nicht so schneidend durch ihr Herz gefahren wie heute.

Ach, was hätte sie darum gegeben, wenn Dr. Santifaller sie, Josefa, so angesehen hätte. Ach ja, er lächelte ihr täglich öfter zu, aber dann zeigten seine Augen einen anderen Blick. Wenn er sie, Josefa, ansah, dann tat er es so, wie er wohl ein nettes, wohlerzogenes Hündchen anlächeln mochte, wenn er ihm über das Fell strich.

Sie war und blieb eben das bescheidene kleine Landmädel, das ein jeder vielleicht gern duldete, aber das er nur so lange beachtete, als keine andere, Schönere, Vornehmere, keine Frau »mit Kultur« neben ihr stand.

Wie das weh tat!

Sie hörte gar nicht mehr zu, wie er weitersprach. Ach Gott, er sprach ja noch immer von »ihr« und verlangte von Josefa, daß sie zuhörte. Wußte er überhaupt noch, daß sie neben ihm herlief? Und morgen, da war ja wieder »Hausmusik«. Da mußte sie ja auch mit hinüber weil die Frau Professor sie als Dritte für das Trio brauchte.

Sie freute sich gar nicht mehr auf diesen Abend, jetzt, wo ihr ein einziger Blick und Gegenblick eine ganze Fülle von Geschehen eröffnet hatte.

Sie war schließlich froh, als sie die Heilanstalt erreichten.

In dem Augenblick, da sie sie betraten, hielt hinter ihnen ein Kraftwagen. Es war der des Dr. Pasch, der seine beiden Kollegen mitbrachte.

Höfliche Grüße flogen hin und her, Dr. Pehn und Dr. Gasser nahmen Dr. Santifaller zwischen sich und betraten das Gebäude, während Josefa bei Dr. Pasch noch ein wenig stehenblieb.

»Was ist mit Ihnen, Herr Doktor?« fragte sie schüchtern, während er den Wagen abschloß und die Schlüssel in seiner Tasche versorgte, »ich sehe Sie ja gar nicht mehr …«

Er sah sie mit einer ruckartigen Wendung des Kopfes an. »Oh! Fällt es Ihnen doch auf? Das ist ja wunderbar, Fräulein Kronlachner.«

Sie trat einen Schritt zurück, um besser zu ihm emporsehen zu können.

»Aber, Herr Doktor«, klagte sie. »Was haben Sie denn? Und warum sagen Sie mir auf einmal ›Fräulein Kronlachner‹?«

»Sie haben mir eben auch wieder ›Herr‹ Doktor gesagt«, gab er scharf zurück.

Sie wußte nicht, wie es kam. Aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ja, aber was ist denn geschehen? Was habe ich Ihnen denn getan?«

»Mein Gott, ›getan‹? ›Getan‹ haben Sie mir nichts. Man muß ja auch nicht immer etwas ›tun‹, um einen anderen etwas fühlen zu lassen. Es kann ja auch genügen, wenn man nichts ›tut‹. Meinen Sie nicht auch?«

Sie hatten durch das Parktor den Garten betreten und stiegen nun die Treppen zur Heilanstalt empor.

Dr. Pasch blieb stehen und wandte sich ihr zu.

Sie erkannte, daß er schlecht aussah und tief erregt war.

»Aber, Herr Doktor!« bat sie.

»Lassen Sie«, unterbrach er sie hart. »Ich hatte geglaubt, in Ihnen eine Kameradin in diesem Gefängnis zu finden. Es hat ja auch ein paar Wochen lang so ausgesehen. Dann aber …, ach was, Sie wissen es ja ohnehin. Was soll ich da lang herumreden.«

Nun wurde es Josefa aber trotz all ihrer Bescheidenheit zu bunt.

Mit einem Schlag waren ihre Tränen versiegt. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor«, sagte sie tapfer. »Sie sind ungerecht. Sie waren bös auf mich, weil ich Ihnen etwas nicht verraten habe, was mir der Herr Professor verboten hat, zu verraten. Was kann ich dafür? Warum machen Sie mir das Leben schwer? Ich habe es doch auch nicht leicht.«

Er hatte die Oberlippe eingezogen und nagte mit den Zähnen an ihr. »So«, sagte er dann mit einem höhnischen Ton. »Sind Sie auch schon so weit? Haben Sie auch schon erkannt, was diese ›Heilanstalt‹ in Wirklichkeit ist? Eine ›Straf‹anstalt für jeden, der in ihr arbeiten muß, ein Tempel der Ichsucht, in dem sich ein Hoherpriester selbst vergötzt, ohne sich darum zu kümmern, was um ihn herum geschieht. Hat er Sie jetzt auch schon so weit, was?«

Josefa drehte sich um. »Ich bitte Sie, Herr Doktor, sprechen Sie nicht so, um Gottes willen nicht so. Sie schaun alles ganz von sich aus an. Es is doch net a so.« Sie verfiel wieder in ihre Mundart, wie immer, wenn sie erregt war.

»Es ist aber doch ›a so‹«, äffte er in seinem Zorn ihre Redeweise nach.

Josefa sah ihn, wie von einem Schlag getroffen, eine Sekunde lang starr an, dann wandte sie sich um und ging gegen den Eingang zu.

Das war so plötzlich geschehen, daß es ihn vollkommen überraschte. »Josefa«, rief er, ihr nacheilend, »Josefa! Bitte, bleiben Sie da!«

Er vertrat ihr vorauseilend den Weg.

»Lassen S' mich.« Sie suchte an ihm vorbei ins Haus zu kommen.

Nun sah er, daß ihr die Augen wieder voll Tränen standen.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Josefa«, sagte er, plötzlich in einem anderen Tonfall. »Ich habe Sie ja nicht kränken wollen. Das habe ich nicht wollen. Ich bin nur so verbittert, so ganz und gar aus meinem Geleise, daß ich oft selbst nicht weiß, was ich tu. Bitte, bleiben Sie, laufen Sie mir nicht davon. Sie versäumen ja nichts. Es ist … es ist ja ohnehin der Professor noch nicht da …«

Sie war stehengeblieben, da sie an ihm nicht vorbeikonnte, und trocknete sich jetzt die Augen.

»Alles verdirbt mir den heutigen Tag«, klagte sie.

»Den heutigen Tag«, wiederholte er bitter, »den großen Triumph der Wissenschaft. Ach, Josefa. Bitte, kommen Sie noch ein paar Schritte mit mir!«

Sie zögerte, aber dann schloß sie sich ihm doch an.

»Josefa, Sie müssen mich verstehen. Begreifen Sie denn nicht, was das für mich bedeuten mußte, daß plötzlich ein Assistent aufgenommen wird, der sich dorthin setzt, wo ich seit Jahren zu arbeiten strebe. Ein anderer darf dort arbeiten, ich darf nicht. Ich darf überhaupt nicht arbeiten. Ich bin zur Untätigkeit verdammt und muß zusehen, wie das Unheil seinen Lauf nimmt und kann nicht helfen.«

»Was für ein Unheil?« Josefa blieb stehen und hob die Schultern. Ahnte sie, was nun kommen mußte?

Er nahm seinen weichen Filzhut ab und drehte ihn unschlüssig in der Hand. »Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen darüber sprechen soll, Josefa.«

Er fuhr sich über die Stirne, als sei ihm trotz der frischen Winterluft der Schweiß aufgestiegen. »Mein Gott, Josefa. Sie werden es vielleicht im Anfang wieder ablehnen. Sie müssen mir versprechen, daß Sie ruhig zuhören und nicht gleich wieder davonlaufen!«

»Gut. Ich will's versuchen.«

Er spielte mit der einen Fußspitze im Schnee. Dann sah er auf. »Haben Sie sich schon einmal überlegt, Josefa, warum der Herr Doktor Santifaller hierher ins Institut berufen worden ist?«

»Da war doch nix zu überlegen. Er hat den Aufsatz geschrieben, und da hat ihn der Professor geholt, weil er hier besser arbeiten kann als da irgendwo in Tirol.«

Dr. Pasch lachte auf, ein jähes, schrilles, unangenehmes Lachen. »Das sagt der Professor. So stellt er es der Welt gegenüber dar. Es schaut auch beinahe so aus.«

»Es schaut net bloß so aus. Es ist so.« Josefa war wieder zornig geworden.

»Ach Gott!« Dr. Pasch schlug mit der flachen Hand in die Luft. »Dieser Doktor Santifaller ist wahrscheinlich zu seinem Unglück ein guter Kerl, der nichts merkt. Ich sage Ihnen, Josefa, dieser Doktor Santifaller wird hier genau so ersticken wie ich. Eine Zeitlang wird er Widerstand leisten, dann wird ihn der Professor mit seiner brutalen Art immer mehr in den Hintergrund schieben. Dann wird es eines Tages heißen: ›Herr Kollege, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Versuche für ein paar Tage unterbrechen wollten, ich brauche Ihre Mitwirkung bei meinen Versuchen.‹

Dann wird dieser gutmütige Mensch – denn er sieht mir ganz so aus, als ob er das wäre – bereitwillig ›ja‹ sagen und ›Vergelt's Gott‹ womöglich, daß er helfen darf. Und damit ist es aus mit seiner eigenen Forschung.

Warum läßt er ihn denn nicht aus den Augen? Warum darf denn der Doktor Santifaller nicht mit uns mittagessen, warum hält er ihn denn mit allen Mitteln von uns fern? Weil er weiß, daß wir dieses System längst durchschaut haben, und weil er fürchtet, wir könnten ihm den Mann aufklären und dadurch abspenstig machen.

Glauben Sie mir, Josefa, in alldem liegt ein System, ein fein ausgedachtes System, das nur dem einen Zweck dienen soll, ihn allein als den einzigen Schöpfer einer neuen Ordnung erscheinen zu lassen. Es darf außer ihm niemand auf diesem Gebiet Erfolg haben, niemand, niemand. Verstehen Sie das? Darum muß ich hier seelisch zugrunde gehen, darum mußte er diesen Doktor Santifaller in seinen Käfig sperren. Ach Gott! Es ist ja so widerlich, so häßlich. Ich ersticke fast daran.«

Dr. Pasch ballte die Hände vor sich, so daß der Hut, den er in der einen hielt, hin und her flatterte: »Und die Menschheit? Die Menschheit, für die er all das angeblich macht, die ist ihm schnuppe. Das System, das Doktor Santifaller vorgeschlagen hat, ist bestimmt ebenso aussichtsreich wie das des Professors. Aber ich weiß nicht, ob er wirklich daran wird weiterarbeiten dürfen. Denn es könnte dann doch vielleicht eines Tages heißen, daß es nicht von ihm, sondern von Santifaller stammt. Und das, das muß er verhüten. Darüber können ruhig Hunderte, Tausende, Millionen von Menschen zugrunde gehen, das ist ihm so gleichgültig wie mir, daß ein Storch einen Froschteich entvölkert.

Und sehen Sie, wenn ein Mensch das alles weiß, wie ich es weiß und es förmlich vor den eigenen Augen sich abspielen sieht, und kann es nicht verhindern und muß noch zusehen, wie die Leute den Urheber des ganzen Unheils feiern wie einen Gott, der er nicht ist, dann, dann, Josefa, dann ist einem das Leben nicht mehr lebenswert, dann möchte man am liebsten Schluß machen …«

»Aber, Herr Doktor!«

Doch Dr. Pasch war jetzt in eine so tiefe Erregung hineingeraten, daß er nicht hörte und sah, was sich um ihn herum begab. »Ich hasse ihn, ich hasse ihn wie nichts auf Erden, Josefa.«

»Um Gottes willen, Herr Doktor!«

Josefa hatte den Arzt unwillkürlich am Arm ergriffen. Die innere Erschütterung beutelte ihn mit solcher Kraft, daß er niederzustürzen drohte.

»Kommen Sie, Herr Doktor! Fassen Sie sich!«

Der große und stattliche Mann ließ sich von ihr willenlos zur nächsten Bank führen, auf die er schwer atmend niedersank. »Ich danke Ihnen, Josefa« sagte er nach einiger Zeit leise. »Es hat mich heute übermannt. Seien Sie mir nicht bös, daß ich Ihnen dieses traurige Schauspiel biete. Aber ich mußte einmal mit einem Menschen darüber reden.« Er ließ den Kopf sinken und suchte sich mit geschlossenen Augen eine Weile zu erholen. Als er die Augen wieder öffnete, nickte er Josefa, die entsetzt und besorgt vor ihm stand, beruhigend zu. »Es ist schon besser, Josefa. Es geht schon wieder.«

»Sie müssen sich Urlaub nehmen, Herr Doktor. Sie sind mit den Nerven ganz herunten.«

Er nickte. »Ja, das wäre vielleicht das Richtige. Aber wenn ich keine Arbeit habe, überfallen mich die Gedanken noch viel ärger.«

Er deutete mit kraftlos erhobenem Arm auf das Gebäude der Heilanstalt.

»Heilanstalt«, höhnte er. »Heilanstalt nennt sich das.«

»Herr Doktor, Sie müssen jetzt an etwas anderes denken.«

»Ja, da haben Sie recht, Josefa.« Er stand auf und holte Atem. »Verzeihen Sie mir, Josefa, wenn ich vielleicht gegen Sie ungerecht gewesen bin. Aber wenn man einmal in so eine Stimmung gerät, dann … dann weiß man meist nicht recht, was man tut. An was anderes denken …« Er sah vor sich auf den Boden. »Ich habe ein paar Wochen, schöne, herrliche Wochen, hindurch an etwas anderes gedacht. Auch damit ist es jetzt vorbei.«

Er hob jäh den Kopf und sah Josefa an. »Es waren so schöne Stunden, die wir gemeinsam verbracht haben, Josefa. Ist das für immer vorüber?«

Er griff nach ihrer Hand, die sie ihm unschlüssig überließ.

»Ich weiß«, sagte er bitter, als eine Antwort ausblieb. »Ich weiß, ich bin, so wie ich jetzt bin, ein schlechter, ein unangenehmer Gesellschafter. Ich habe heute alles getan, um Sie noch weiter von mir zu entfernen, als Sie mir ohnehin schon stehen. Ich will Sie auch nicht drängen, das nicht. Leben Sie wohl, Josefa!«

Er drückte ihre noch immer gefangengehaltene Hand und ließ sie dann fallen.

»Leben Sie wohl, Josefa.«

Als sie den Kopf hob, sah sie ihn schon durch die Tür des Hauses schreiten.

Sie blickte um sich, als müsse sie bei der sie umgebenden Natur Hilfe suchen gegen das, was heute auf sie eingestürmt war.

Wie war sie heute zwischen Glück und Bestürzung, zwischen freudigem Jubel und Ernüchterung, zwischen Sicherheit und Zweifel, zwischen Sorge, Entsetzen, Haß und Neid, Anklage und seelischen Verwirrungen hin und her geschleudert worden!

In welch gräßlicher Verstrickung der Gedanken befand sie sich! Was war das für eine grausame Welt, in der sich derlei Dinge ereignen konnten, was waren das für Menschen, die einander solche Dinge zumuten konnten!

Wie war ihr das Bild des Professors, zum Gott erhoben und zum Teufel erniedrigt, vor Augen gestellt worden. Was war nun das Rechte, was sollte, was durfte, ja mußte sie glauben?

Sollte sie an den Mann glauben, der kühn und frei wie ein Sieger heute hoch auf der Tribüne des Saales gestanden hatte, dessen Worte wie Fanfaren über die Köpfe einer andächtig lauschenden Versammlung hingeflogen waren, der wie ein Kriegsgott einem mächtigen Gegner einen titanischen Kampf angesagt hatte. Oder sollte sie an den listig-verschlagenen Mann glauben, der in seinen Netzen fing, was seine Kreise störte, der bedenkenlos mit dem Schicksal Unzähliger spielte, wenn seine Ichsucht verletzt wurde?

Josefa fühlte ein leises Frösteln. Auf einmal war ihr tief in der Seele kalt. Sie schüttelte die Schultern, als müsse sie etwas von sich werfen, was kalt, häßlich und ekelerregend auf ihr lastete. Noch einen Blick warf sie in die Runde.

Dann floh sie in das Haus und in ihr Zimmer.

Sie kleidete sich um. Aber ihre Erregung nahm nicht ab. Sie griff zur Geige und versuchte, für den morgigen Tag zu üben. Aber die Notenköpfe wirbelten vor ihren Augen durcheinander und bildeten Kränze um zwei Köpfe, die einander zulächelten: Dr. Santifaller und die Frau Professor. Sie legte die Geige zur Seite und nahm ihr Kurzschriftbüchlein vor. Aber ihre Hände zitterten.

Sollte sie lesen? Sie versuchte es vergeblich.

Sie warf die Hefte und Bücher zur Seite und sah sich um. War das noch das liebe, schöne, reine Zimmer, in das sie so beglückt eingezogen war? War es nicht vielleicht doch ein Kerker, in dem auch sie gefangen war, wo sie zusehen mußte, wie um sie herum sich schreckliche Dinge vorbereiteten?

Wie schön hatte der Tag begonnen, wie häßlich, nein, wie schrecklich hatte er sich fortgesetzt.

Wie glücklich war sie noch gestern gewesen bei ihrer Arbeit im Laboratorium.

Sie seufzte sehnsüchtig auf.

Im Laboratorium!

Ja, die Arbeit! Die Arbeit mußte sie aus dieser seelischen Verstrickung retten.

Sie verschloß ihr Zimmer und ging ins Laboratorium.

Dr. Santifaller saß an seinem Arbeitstisch und war so in sein Schaffen vertieft, daß er es gar nicht wahrnahm, daß sie eingetreten war und an ihrem Tischchen zu arbeiten begann.

Der Professor war nicht da.

Josefa empfand dies dankbar.

In der durch kein Geräusch unterbrochenen Stille des Laboratoriums begannen sich bei der gewohnten Arbeit die Wogen der Erregung in ihrer Brust allmählich zu glätten.

Mit Feuereifer ging sie an das Werk, das wegen seiner Genauigkeit und Empfindlichkeit größte Aufmerksamkeit erheischte.

Sie übersah dabei, wie rasch die Sonne in den Winterabend versank. Sie drehte mechanisch das Licht für sich und Doktor Santifaller an, glitt unhörbar zwischen den Karteikasten und ihrem Arbeitstisch hin und wider.

Die Berge von Karteikarten wurden niedriger und niedriger. Sie freute sich, daß sie am nächsten Morgen ihre Arbeit beginnen konnte, ohne auf unüberwindliche Widerstände zu stoßen.

Sie vergaß darüber fast, daß dicht neben ihr ein Mensch arbeitete.

Von dem Tisch Dr. Santifallers klang kaum ein Laut, kaum ein Geräusch zu ihr herüber.

War er eingeschlafen?

Sie trat seitwärts näher und betrachtete ihn aufmerksam.

Nein, er schlief nicht. Sein Gesicht verriet sogar größte Angespanntheit. Seine Arme lagen nicht wie sonst ruhig mit breit umgelagerten Ellbogen auf der Glasplatte seines Tisches, seine Hände waren vielmehr mit rechtwinklig abgebogenen Fingern beiderseits aufgestützt, die Ellbogen gehoben, als wolle er im nächsten Augenblick aufspringen und bedürfe dazu der Stütze seiner Arme. Auch seine Beine waren unter den Sessel gezogen, bereit zum Aufspringen.

War es Einbildung oder atmete er wirklich rascher als sonst?

Was sah er da wohl in dem Präparat, das er unter das Mikroskop geschoben hatte?

Sie löste sich wieder leise von dem Anblick und kehrte zu ihrer Arbeit zurück.

So oft sie aber in den nächsten Viertelstunden zu ihm hinüberblickte, so oft sah sie ihn in derselben Stellung verharrend, vornübergebeugt, regungslos, und doch anscheinend erregt atmend.

Sie wunderte sich, daß er es in dieser wenig bequemen Stellung so lange aushielt.

Plötzlich – sie überlegte, müde geworden, ob sie nicht doch jetzt schon ihre Arbeit einstellen und schlafen gehen sollte – hörte sie seinen Stuhl knarren und sah, hinunterblickend, daß er sich in einer seltsam wohlig erschlafften Haltung in seinen Sessel zurückgelehnt hatte.

Um seine Lippen spielte ein förmlich entrücktes Lächeln.

Sie trat neben ihn. »Wollen S' net Schluß machen für heute, Herr Doktor?« fragte sie leise.

Er wandte ihr langsam den Kopf zu und sah sie mit einem eigenartig seligen Ausdruck in den Zügen an. »Schluß machen?« fragte er leise. »Naa! Naa! Des is ja a Anfang, a ganz wunderbarer Anfang.«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Mein Gott«, murmelte er, »das wär ja des, was i gsucht hab. Des wär's ja. Des. Des!«

Er schnellte nach vorne und sah wieder eine Weile durch das Mikroskop.

Seine Lippen bewegten sich, und Josefa vernahm ein undeutliches Murmeln, dessen Bedeutung sie aber nicht verstand.

Sie hatte sich, den einen Ellbogen auf die Fensterbank stützend, ihm gegenüber an das Fenster gelehnt.

Nach einer geraumen Zeit löste er sich von seinem Gerät.

Erst jetzt schien er sie zu erkennen. »Seferl!« sagte er mit einem weichen Ton in der Stimme. »Fräulein Seferl! Etwas Wunderbares. Etwas ganz Wunderbares! Kommen S' her! Kommen S'!«

Er zog sie, sich zur Seite biegend, heran und deutete auf das Mikroskop.

»Schaun Sie sich amol des Präparat an. Aber ganz genau. So, als ob Sie Ihr ganzes Leben net mehr vergessen dürften, was S' gesehen haben, so, als ob Sie's aus dem Kopf nachzeichnen müßten. Na, na. Setzen S' Ihna nur ordentlich her, ganz ordentlich.«

Sie tat ihm den Willen.

Sie sah ein kreisrundes Bild, auf dem sich eine Unzahl von verschieden geformten und verschieden gefärbten Körpern drängte.

Sie folgte seiner Anweisung und suchte das Bild in ihrem Gedächtnis festzuhalten. Sie schloß, wie sie es beim Professor und bei ihm oft beobachtet hatte, mehrmals die Augen, suchte sich das Bild zu vergegenwärtigen und verglich dann, die Augen öffnend, das Bild wieder mit ihrem Erinnerungsbild.

Dr. Santifaller stand geduldig neben ihr.

Endlich richtete sie sich auf und sah ihn an.

»Ham S' es Ihna gmerkt?« fragte er.

»I glaub schon«, flüsterte sie.

Er entfernte das Präparat aus dem Sehfeld und schob ein anderes an seine Stelle.

»Jetzt schaun S' Ihna des an!«

Sie tat es.

Sie hatte den Eindruck, ein ähnliches Bild zu sehen, vor allem schien ihr die Zahl der verschiedenen farbigen Körper jeweils die gleiche zu sein. Aber die Körper selbst waren verändert. Sie zeigten eine andere Form.

Als sie aufblickte, sah sie, wie er sie erwartungsvoll anstarrte.

»No?« fragte er.

Sie schilderte ihm ihren Eindruck. Seine Miene hellte sich immer mehr und mehr auf. Schließlich nickte er so heftig mit dem Kopf, daß sein ganzer Körper mitzunicken schien.

»Stimmt«, rief er, »stimmt, Fräulein Seferl. Tadellos beobachtet.«

Er drehte sich plötzlich um und lief ein paar Schritte im Laboratorium hin und her.

Als er zurückkehrte, legte er Sefi seine runde Hand auf die Schulter. »Seferl«, sagte er leise, »Fräulein Seferl, des is was ganz Großes. Ganz was Großes. Merken S' Ihna des.«

Er erkannte an ihrem fragenden Gesichtsausdruck, daß sie die Aufklärung erwartete.

Er schob sie ohne viel Umstände von dem Sitz weg und nahm wieder selbst Platz. Dann zog er sie mit dem linken Arm so dicht an sich heran, daß sie sich an ihn anlehnen mußte.

Auf einem Blatt Papier begann er mit der rechten Hand aufgeregt zu zeichnen, so aufgeregt, daß sie das Papier, das unter seinen raschen Strichen hin und her geschoben wurde, festhalten mußte.

»Schaun S', Fräulein Seferl«, sagte er, »Sie wissen, i hab letzte Woche an neuen Versuch begonnen. I hab Blut von drei gesunden und von einem kranken Kaninchen mit einem Mittel versetzt, daß es net gerinnen kann. Außerdem hab ich allen vier Präparaten ein bestimmtes Salz beigemengt. 's war halt so eine Idee von mir. Salz, des werden S' vielleicht noch aus der Schule wissen, kristallisiert, wenn es aus der Auflösung in die feste Form übergeht. Alle vier Präparate haben sich also, ganz wie i mir's gwunschen hab, kristallisiert. Drei sind einander gleich, ganz gleich. Die Blutkörper haben dieselbe Form. Das vierte aber, das vom Blut des erkrankten Kaninchens, zeigt andere Formen.«

Er zog von der Seite eine Reihe anderer Präparate heran. »Vor drei Tagen waren alle vier Kaninchen gesund. Da haben sich die Präparate voneinander nicht unterschieden, net im geringsten unterschieden. Jetzt aber, seitdem ich das eine Kaninchen infiziert hab mit einem Gift, und zwar mit einem mittelschwachen Gift, zeigt das Blut andere Formen, ohne daß sich die eine oder die andere Art der Blutkörperchen vermehrt hätte. Das Blut nimmt also auch ohne Vermehrung von weißen Blutkörperchen eine Abwehrstellung ein. Seferl! Das ist von ungeheurer Bedeutung. Eine ganz genaue Art der Untersuchung kann beginnen. Himmel, Herrgott, bin i froh. A so froh.«

Er ließ sie plötzlich los, sprang auf und klatschte in die Hände.

Er sah ihren bewundernden, aber doch nicht klaren Gesichtsausdruck und lachte auf. »Ja freilich, Fräulein Seferl, für einen Laien, und, Sie entschuldigen schon, das san S' halt doch, wenn S' aa arbeiten tan hier im Laboratorium, aber für an Laien sagt das net viel oder vielleicht gar nix. Aber Sie werden schaun, was der Herr Professor für Augen machen wird. Des kann bei richtiger Auswertung Wege führen, Wege …«, er suchte nach Worten, »die uns neue Gebiete eröffnen, und kann manche alte Theorie über rote und weiße Blutkörperchen über den Haufen schmeißen.«

Er ging, den Kopf schüttelnd, im Laboratorium auf und ab.

»Durch an Zufall bin i draufkumma, Fräulein Seferl. Durch an bloßen Zufall! Eigentlich durch a Schlamperei – na, net von Ihna –«, wehrte er ab, »a Schlamperei von mir. Da war halt in dem einen Schalerl noch a bissel a Salzwasser drin und a Tröpferl Blut is dazukumma. Und wie i am nächsten Tag des anschau, is das Salz kristallisiert, und das Blut natürlich war aa dabei. Hab i mir halt denkt, schaust dir des amol im Mikroskop an. Und des hat mi dann auf die Idee bracht. A so a Zufall, a merkwürdiger.«

Er nahm auf Josefas Stuhl Platz und sah sie versonnen an. »Mein Gott, vielleicht kumm i jetzt über den toten Punkt weg. I häng nämlich seit ein paar Tagen mit meiner Arbeit. I kumm net weiter. Jetzt, jetzt glaub i, jetzt is a entscheidender Fortschritt da.«

Er sprang wieder auf. »Fräulein Seferl«, sagte er, »jetzt hätt i a Bitt. So an Augenblick muß a Mensch ausnützen. Wollen S' mir heut noch a bisserl helfen?«

Er sah sie aus seinen guten Augen bittend an.

Da nickte sie lächelnd und sagte ja.

In dieser Nacht brannte im Laboratorium der Heilanstalt Kröner bis drei Uhr morgens das Licht.

Dann sank Josefa todmüde und doch überglücklich ins Bett.

Dr. Santifaller hatte sich in einem zufällig freien Krankenzimmer zu kurzer Ruhe gelegt.

Auch er schlief mit einem glücklichen Lächeln ein.

Die nächtliche Arbeit hatte reiche Früchte getragen.

Ein entscheidender Vorstoß in ein bisher verschlossenes Rätselland war gelungen.

Als Josefa am nächsten Morgen unausgeschlafen und ein wenig hastig in letzter Minute das Laboratorium betrat, fand sie den Professor und Lorenz über die zahlreichen Präparate gebeugt, die Dr. Santifaller mit ihrer Hilfe noch in der Nacht angefertigt und auf den Arbeitstisch ausgebreitet hatte.

Lorenz war eben dabei, zu beteuern, er wisse von diesen Präparaten nichts.

Der Professor sah stirnrunzelnd auf die langen Reihen der Präparate hinab.

»Was sind das für Präparate, Sefi?«

Josefa fühlte aus dem Ton, in dem er fragte, heraus, daß ein Gewitter in der Luft lag.

Sie erschrak.

War etwas geschehen, was nicht hätte sein sollen?

Wahrheitsgetreu berichtete sie, daß Dr. Santifaller am Vortag eine Entdeckung gemacht und sie gebeten habe, ihm zu helfen. Bei dieser Arbeit seien die Präparate entstanden.

Der Professor hörte zu, ohne sie anzusehen.

»Mir fällt nur auf«, sagte er, als sie geendet hatte, »daß dem Herrn Doktor Santifaller diese Entdeckung zu einer Zeit gelingt, in der ich nicht anwesend bin.«

»Es war ein Zufall, Herr Professor.«

»Ein Zufall, so? Woher weißt denn du das?«

»Doktor Santifaller hat's mir gsagt, Herr Professor.«

»Und was hast du bei diesem ›Zufall‹ zu tun gehabt?«

Er sah sie mit einem strengen Blick an.

»Er hat mich gebeten, ob ich nicht helfen will.«

»So.«

»Jawohl, Herr Professor.«

Er sah sie prüfend an. »Na schön! Der Erfolg ist jedenfalls, daß du übernächtig und verschlafen dreinschaust, gerade heute, wo ich dich notwendig brauche.«

»Herr Professor, i werd gwiß …«

»Schon gut!« Er winkte ab. »Jedenfalls merke dir, daß du in erster Linie meine Laborantin bist. Sonderunternehmungen werden ohne meine Zustimmung nicht begonnen. Verstanden?«

»Aber ich …«

»Ich will nichts weiter hören.« Er machte eine Handbewegung, als schneide er in der Luft mit einem Messer etwas durch. »Die Präparate verschwinden jetzt.«

»Sie sind aber noch nicht ganz trocken«, wagte Josefa schüchtern einzuwenden.

»Mach, was du willst, ich brauche Platz.«

»Jawohl, Herr Professor.«

In diesem Augenblick trat Dr. Santifaller ein.

Er schien, trotz der Kürze seiner Nachtruhe, ausgeschlafen und bester Laune.

»Herr Professor«, rief er im Eintreten, »heut werden S' schaun. Heut hab i was Wunderbares für Sie. Heut nacht«, er begann, ohne jemand von den Anwesenden anzublicken, einige seiner Präparate aus den Reihen herauszunehmen und auszuheben, »heut nacht hab i Glück ghabt. Kommen S' amol hierher und schaun S' Ihna des an!«

Josefa atmete auf.

Sie war aus ihrer peinlichen Lage befreit. Denn tatsächlich folgte der Professor Dr. Santifaller zu seinem Mikroskop und sah noch immer mit düsterer Stirne, aber doch aufmerksam Dr. Santifaller zu, wie dieser das erste Präparat unter das Beobachtungsgerät schob.

»Jetzt passen S' amol auf«, begann Santifaller, indem er seine Brille auf die Stirne hinaufschob und dem Professor schmunzelnd zunickte.

Da Josefa am Abend vorher mitgearbeitet hatte, konnte sie den Erklärungen, die Dr. Santifaller nun gab, folgen, obwohl diese stark mit Fachausdrücken durchsetzt waren.

Auf den Zehenspitzen wanderte sie im Laboratorium umher, um kein Wort zu überhören, während sie einen Teil der Tische für die Arbeit des Professors frei machte.

Zwischendurch warf sie immer wieder einen Blick auf den Professor, der noch immer mit unbeweglicher Miene und ernster Stirn zuhörte.

Jetzt beugte er sich über Dr. Santifallers Mikroskop.

Josefa hielt den Atem an.

Das war der entscheidende Augenblick.

Sie blieb – einen Ständer mit Glasphiolen an die Brust drückend – unbeweglich stehen und heftete ihre Augen unverwandt auf den Professor.

Was würde nun geschehen?

Minuten vergingen. Der Professor saß unbeweglich.

Dr. Santifaller schob das zweite Präparat unter das Objektiv.

Und neuerlich vergingen Minuten.

Und immer noch stand Josefa regungslos, während Doktor Santifaller mit erwartungsvollem Lächeln, die Brille hoch auf die Stirne geschoben, auf den Professor niedersah.

Auf einmal schob Josefa den Kopf vor.

Täuschte sie sich?

Sah der Professor – so unbewegt er auch die ganze Zeit über gesessen hatte – überhaupt noch durch das Mikroskop? Nein!

Josefas Antlitz bekam einen sorgenvollen Ausdruck. Sie beugte sich weiter vor, dann schob sie sich in spähender Haltung allmählich näher.

Und dann zuckte sie zurück, als hätte sie einen Schlag erhalten.

Es war deutlich: der Professor sah nicht mehr durch das Mikroskop. Seine Augen wanderten am Okular vorüber und auf dem Glas der Tischplatte umher, mit einem unruhig suchenden Ausdruck, wie sie ihn noch nie an ihm bemerkt hatte.

Schließlich blieb dieser unstete Blick starr auf einem nichtssagenden Fleck der Tischplatte haften.

Lorenz kam in seiner lautlosen Weise hereingeglitten und brachte Werkzeug für Josefa.

Mit erstauntem Blick musterte er die Gruppe der drei unbewegten Personen. Auf einen Wink Josefas versorgte er das Gerät kopfschüttelnd und verschwand wieder.

Endlich – nach einer Zeitspanne, die Josefa unermeßlich lang erschienen war – hob der Professor den Kopf.

Aber nicht mit der ihm sonst eigenen raschen, fast ein wenig gebieterischen und selbstherrlichen Bewegung, sondern langsam, als müsse er eine auf seinem Haupt ruhende Last emporstemmen.

Auch Dr. Santifaller war inzwischen ein wenig unruhig geworden.

»No, was sagen S' dazu, Herr Professor, was sagen S' dazu?« Er ließ durch ein kleines Stirnrunzeln die Brille von der Stirne wieder auf den Nasenrücken herabgleiten und sah den Professor erwartungsvoll an.

»Sehr bemerkenswert«, sagte der mit etwas schwerer Zunge, und ohne den Doktor anzusehen. »Sehr bemerkenswert in der Tat.« Er machte eine kleine Pause. »Über die praktische Verwertung allerdings kann ich mir kein Bild machen.«

Das war nun Wasser auf Dr. Santifallers Mühle.

Eifrig begann er aufs neue zu erklären: er sei im Gegenteil tief davon überzeugt, daß sich auf diesem Weg eine Reihe von Rätseln lösen ließen, mit denen die Wissenschaft bisher noch nichts hatte anfangen können. Er für sein Teil glaube, daß sich mit Hilfe dieser neuen Erkenntnis ganze Gruppen von Giften gewisser Zusammengehörigkeit würde entlarven lassen.

Dr. Santifaller sprach gegen seine Gewohnheit rasch. Er übersprudelte sich förmlich. Die Begeisterung über den neuen Erfolg hatte dem sonst so schwerfälligen Mann die Zunge gelockert.

Josefa erschien das, was er sagte, trotz den vielen Fachausdrücken, außerordentlich einleuchtend.

Der Professor hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und sah, während Dr. Santifaller auf ihn einsprach, durchs Fenster auf die Hügelhänge und die unterhalb sich ausbreitende Stadt.

Mit der Feststellung, daß er für seinen Teil von der Sache vollkommen überzeugt sei, brach Dr. Santifaller etwas plötzlich seinen Vortrag ab.

Nun mußte der Professor doch etwas sagen, zustimmen oder seine Bedenken äußern.

Nichts von dem geschah.

Der Professor nickte mit dem Kopf und ging langsam und versonnen, fast wie ein Traumwandler, zu seinem eigenen Arbeitsplatz hinüber.

Dort ließ er sich nieder und begann seine Geräte zu ordnen.

Dr. Santifaller warf einen fragenden Blick auf Josefa.

Die zuckte die Achseln. Sie bemerkte, daß sie noch immer den Ständer mit dem Glaszeug in den Händen hielt und setzte ihn nunmehr vorsichtig auf den für ihn bestimmten Platz. Dann ließ sie sich halb unbewußt auf ihrem Arbeitsplatz nieder und begann das von Lorenz gebrachte Werkzeug einzuräumen.

Sie wußte nicht, was sie tat.

Sie kämpfte gegen ein seltsames Gefühl, das ihr den Hals zuschnürte. Ihr war zumute, als begebe sich in ihrer Nähe etwas Unheimliches, von dem nichts Gutes zu erwarten war.

Sie warf einen Seitenblick auf Dr. Santifaller.

Der stand etwas vorgebeugt und sah mit einem Ausdruck fassungsloser Verblüffung zum Professor hinüber. Sein Unterkiefer war ihm herabgesunken, so daß ihm der Mund halb offenstand.

Er bot in dieser Haltung ein Bild, das ein wenig ins Lächerliche hinüberspielte.

Aber Josefa empfand es nicht als lächerlich.

Dr. Santifaller tat ihr leid.

Warum sprach der Professor nicht ein einziges Wort der Anerkennung, keines des Zweifels oder der Ablehnung? Warum ging er stillschweigend zur Tagesordnung über und arbeitete, als ob nichts geschehen wäre?

Oder war es am Ende doch nicht ganz so?

Ihrem, durch die Gewohnheit geschärften Auge entging es nicht: das war nicht die gewohnte Stellung, in der der Professor zu arbeiten pflegte. Er saß in einer anderen Haltung, schien kleiner als sonst. Arbeitete er überhaupt?

Nach der Feststellung, die Josefa vor wenigen Minuten gemacht hatte, schien es ihr zweifelhaft.

Und als sie durch Minuten und Minuten, schließlich eine ganze Viertelstunde hindurch keinen Befehl bekam, keine Hand sich heischend ausstreckte, da wußte sie: der Professor arbeitete nicht.

Das konnte wohl auch ein gutes Zeichen sein, ein Zeichen dafür, daß er das, was er gehört hatte, sich innerlich zurechtlegte und, wie er sich selbst gelegentlich auszudrücken pflegte, verdaute. Das wäre ja schließlich auch ganz natürlich gewesen.

Aber es war seltsam. Josefa glaubte nicht daran, konnte nicht daran glauben.

Sie sah sich hilfesuchend im Raum um.

Dr. Santifaller saß nun auch wieder an seinem gewohnten Platz.

Aber auch er schien nicht zu arbeiten.

Josefa fühlte ein unerklärliches Frösteln.

Sie huschte zu den Schalthebeln hinüber und stellte den Hebel auf wärmer. Das Umlegen des Hebels gab einen harten, metallenen Laut, der unangenehm an den Wänden des Laboratoriums widerhallte.

Der ganze Raum erschien Josefa mit einem Schlag ungemütlich, fremd und abweisend. Die kalten Glaskasten, die hellen, blinkenden und ebenfalls kalt wirkenden metallenen Geräte, die weißen Lampen, die riesigen Glasfenster über den zwei an den Mikroskopen arbeitenden Gestalten, die – war es Zufall? – einander deutlich halb den Rücken zuwandten.

Selbst die Sonne, die durch die Fenster hereinsah, schien fremd und grell.

Was war in diesen ihr sonst so vertrauten Raum getreten, daß er ihr so abweisend erschien?

Sie besann sich.

Schon einmal hatte sie ein ähnliches Gefühl beschlichen.

Wann war das gewesen?

Ja, das war damals gewesen, als das geheimnisvolle Heft auf dem Tisch gelegen und der Professor sich so seltsam gebärdet hatte, am Tag, bevor er dann plötzlich verreist war, verreist …

Josefa erschrak. Er hatte damals Dr. Santifaller mitgebracht.

Und in dieser Zeitschrift war der Aufsatz Dr. Santifallers enthalten gewesen!

Josefa griff sich mit einer jähen Bewegung ans Herz.

Es war ihr, als sähe sie das haßverzerrte, leidenschaftliche Antlitz Dr. Paschs vor sich, den etwas in den Winkeln herabgezogenen Mund, der Worte sprach, die sie nicht hatte hören wollen.

Sie lehnte sich ein wenig zurück, so daß ihr Haupt an die Mauer zu liegen kam.

Wenn Dr. Pasch recht gehabt hätte?

Josefa ließ den Blick zu Dr. Santifaller hinübergleiten. Tiefes Mitleid überkam sie.

Der einfache, arglose Mann hatte natürlich keine Ahnung. Er lebte nur für seine selbstlos geleistete Arbeit, dachte, wie sie es so schön und warm aus seinen Worten herausgefühlt hatte, an nichts anderes, als zu helfen, Segen zu schaffen.

Für sich selbst beanspruchte dieser Mann nichts.

Das war ihr klar.

Und auf der anderen Seite, da saß der Professor, der auf dem Gebiet der Wissenschaft Sieggewohnte, der für sich das Ansehen eines Königs beanspruchte, eines Königs, der sich berechtigt fühlte, alles in seinen Dienst zu stellen, was seinen Zwecken diente.

Waren diese Zwecke so selbstlos wie die Dr. Santifallers?

Als Josefa in ihren Gedankengängen so weit gekommen war, da war es ihr, als begänne eine unsichtbare Kraft zu wirken, eine Kraft, die mit einer wohlig empfundenen Macht ihren Arbeitsplatz geheimnisvoll zu verrücken begann, so daß sie immer näher zu Dr. Santifaller hingeschoben ward, während sie sich von dem Arbeitsplatz des Professors immer weiter entfernte.

Und es war ihr, als müsse sie die Arme ausbreiten und sich helfend und schützend vor diesen Mann stellen, der in all seiner täppischen Unbehilflichkeit doch eine so wundervolle Wärme ausstrahlte.

Sie schrak aus diesem Traum plötzlich auf.

Wie? Was war geschehen?

Nichts weiter.

Eine Bewegung an ihrer Seite hatte sie erweckt. Mechanisch nahm sie das in Frage kommende Gerät und schob es in die heischend hingehaltene Hand des Professors.

Das so süß empfundene Gefühl der Wärme war verschwunden.

Wie hatte der Professor nur heute früh gesagt? »Jedenfalls merke dir, daß du in erster Linie meine Laborantin bist.«

Ach ja, das war nun einmal so.

Sie ließ langsam den Kopf sinken und saß den nun folgenden Vormittag über in einer halb unbeteiligten Haltung an ihrem Tischchen.

*

Als die Mittagsstunde kam, erledigte der Professor die Besprechungen mit den drei Anstaltsärzten in der gewohnten Weise.

Dann gingen er und Dr. Santifaller wortlos zum Essen in die Privatwohnung des Professors.

Als sie zurückkamen, war der Professor sichtlich besserer Laune.

»Heute abend, Sefi«, rief er beim Eintreten, »gibt es Musik. Nicht vergessen!« Er nickte ihr zu. »Haben Sie gesehen, Herr Kollege, wie meine Frau auflebt, wenn von Musik die Rede ist, was? Sie haben keine Ahnung, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mich in dieser Hinsicht unterstützen. Ich freue mich auf den heutigen Abend.«

Josefa atmete auf. Ein Bann schien gebrochen.

Der Professor arbeitete an diesem Nachmittag ganz besonders flink. Josefa hatte alle Hände voll zu tun, um seinen Anforderungen gerecht zu werden.

Es schien ihr hingegen, als ob Dr. Santifaller nicht recht vom Fleck käme.

Aber das war wohl der Rückschlag nach der anstrengenden Arbeit in der vorhergegangenen Nacht.

*

Beim Musizieren spürte sie, daß diese Nacht auch an ihrer Kraft gezehrt hatte. Namentlich im Anfang drohten ihr die Lider zuzufallen.

Aber dann riß sie die herrliche Musik Mozarts mit. Nicht minder auch das meisterhafte Spiel der Frau Professor, die ihr Klavier hervorragend beherrschte und das Tempo vorlegte.

Wie diese Frau spielen konnte, wie leidenschaftlich sie sich der Musik ergab, wie sich ihre Wangen röteten, wie sie den beiden anderen den Takt angab und sie als stillschweigend anerkannte Führerin mitriß!

Es war freilich begreiflich, dachte Josefa während des Spielens, daß ein Mann für diese Frau, schon um des schönen Bildes willen, das sie bot, in rasender Leidenschaft entbrannte. Mußte nicht jeder Mann den Professor beneiden, der sich dieses Besitzes erfreuen durfte und ihn – so kam es wenigstens Josefa vor – nicht nach Gebühr schätzte?

Auch jetzt saß er, während sie in Tönen schwelgten abseits in einem bequemen Lehnsessel und blätterte in Zeitschriften.

Lockte es ihn denn nicht, zu sehen, wie seine Frau bei besonders schwierigen und ebenso bei besonders melodienreichen Stellen lächelte und die Reihen ihrer schönen weißen Zähne sehen ließ?

Sah er denn nicht, daß sie dann …

In diesem Augenblick griff Josefa bei einem Lauf daneben.

Das war ihr bishin noch nicht zugestoßen. Ihre beiden Partner sahen einen Augenblick zu ihr hinüber.

Verwirrt spielte sie weiter.

Sie hatte nicht ohne Grund danebengegriffen. Wieder war es der jähe Schmerz gewesen, wie am Tag vorher nach dem Vortrag des Professors in der Akademie.

Die schöne Frau hatte nicht ihrem Mann zugelächelt, sondern dem in derselben Richtung sitzenden Dr. Santifaller. Es war wieder dieses feine und glückliche Lächeln stillen Einverständnisses gewesen.

Und jetzt wieder trafen sich die Blicke der beiden und sagten einander: Wir wollen über diesen falschen Griff unserer Partnerin kein Wort verlieren, weiterspielen, als ob nichts geschehen wäre!

Und so spielten sie denn weiter, die Frau Professor schwelgend in dem Genuß des Spiels, der Doktor, der seine Verstimmung vom Vormittag über das merkwürdige Gebaren des Professors während der Musik vorübergehend vergessen hatte, und Josefa, der in dieser Minute die Erkenntnis geworden war, daß sie den Schmerz über das Einverständnis der beiden Mitspielenden deshalb empfand, weil sie liebte.

Ja, es war kein Zweifel! Sie liebte den Doktor. Der Schmerz, der sie so jäh gepackt hatte, war der Gram darüber, daß dieser Mann an ihr vorüber nach einer anderen sah, mit der freilich sie, das arme, einfache und nichtssagende Mädel vom Land keinen Wettstreit aufnehmen konnte.

Mein Gott! Was spielte sie da eigentlich? Ihre Blicke umkrampften die Notenköpfe, ihre Finger fuhren mechanisch die Saiten auf und nieder, ihre rechte Hand ließ den Bogen streichen und tanzen, wie es die Notenschrift verlangte.

Aus ihrer Geige stiegen süß und schmelzend die Töne empor.

War es möglich, daß sie selbst es war, die da spielte?

Ach Gott, ja.

Und doch war es, als ob da eine spielte, die noch glücklich und sorgenlos war in dem gleichmäßig ernsten Dienst, den sie in der Anstalt tat.

Aber die wirkliche Josefa trug einen zehrenden Schmerz in der Brust.

Die bisher lebhafte Weise ging in ein sanftes, langsames Adagio über. Die Melodie, die bisher vom Klavier getragen gewesen war, wechselte zur Geige hinüber.

Josefa atmete schwer. Es war ihr, als müsse sie den Druck, der ihr Herz umschloß, durch Arme und Hände auf die Geige ableiten.

Noch nie hatte sie so stark, so ausdrucksvoll gespielt. Eine Kraft, die aus ihrem Herzen herausquoll, griff in die Saiten, führte den Bogen.

Noch ein paar Takte, in denen das Cello kräftig untermalte. Der Satz war zu Ende.

*

»Aber Schwester Josefa«, rief die Frau Professor lebhaft, »Sie haben ja ganz ausgezeichnet gespielt.«

Verwirrt senkte Josefa den Kopf. »Patzt hab i«, murmelte sie.

»Ach, macht nichts. Wenn Sie nachher immer so spielen, wie Sie jetzt zum Schluß gespielt haben, dann dürfen Sie in jedem Satz dreimal patzen«, lachte die Frau Professor.

Sie hatte sich auf dem Klaviersessel herumgedreht und sah Josefa vergnügt an.

Aber dann wurde sie aufmerksam.

»Was ist denn, Schwester Josefa? Sie weinen ja?«

»Es ist … nichts …«, würgte Josefa mühsam hervor. »Es ist nichts. Spielen wir weiter, weiter. Bitte!«

Sie sah, daß auch Dr. Santifaller bestürzt und teilnahmsvoll sich über sie neigte.

»Spielen, bitte, spielen!«

Dr. Santifaller und die Frau Professor wechselten wieder einen Blick, dann ging das Spiel weiter.

Aber es wurde nichts mehr daraus. So gut Josefa den vorhergehenden Satz mit seiner ernsten, nachdenklichen Weise gespielt hatte, so wenig wollte ihr der nun folgende mit seiner sonnigen Heiterkeit gelingen. Sie griff wieder und wieder daneben, ließ Takte aus und dann kam es plötzlich.

»Ich kann nicht«, schrie sie auf.

Im nächsten Augenblick hatte sie die Geige auf den Sessel gelegt und war, ehe die anderen sie aufhalten konnten, geflohen … durch den Salon, das Vorzimmer, in dem sie die Hausgehilfin erstaunt ansah, hinaus auf den Gang und in ihr Zimmer.

Dort warf sie sich über das Bett in Kleidern und Schuhen, so wie sie war. Und weinte.

*

Die drei Zurückbleibenden sahen einander verständnislos an.

»Was hat die Schwester?« fragte die Frau Professor, von einem der beiden Männer zum anderen sehend.

Der Professor zuckte die Achseln.

»I weiß net«, murmelte der junge Arzt, der noch immer die Tür, durch die Josefa verschwunden war, ansah, als habe sie das flüchtende Mädchen nur irrtümlich verschluckt und müsse es im nächsten Augenblick wieder herausgeben.

»Ich habe den Eindruck«, sagte die Frau Professor, »daß das Mädel überarbeitet ist.«

Sie sah ihren Mann in leiser Kampfbereitschaft an.

Wider Erwarten wies er sie nicht ab. Er schloß für einen Augenblick die Lider. Dann sagte er langsam: »Möglich. Es dürfte denn doch über ihre Kräfte gehen, gleich zwei Herren zu dienen.«

Dr. Santifaller hob erschrocken die Hände. »Aber, bitt schön, Herr Professor. I brauch die Schwester Josefa gar net. Grad gestern, daß sie mir gholfen hat, wie i halt so in mei'm Fieber drin war. I kann sonst scho ganz gut allein arbeiten. Es geht a bisserl langsamer, aber 's geht.«

Der Professor hatte aufmerksam zugehört und nickte jetzt.

»Bei einer vernünftigen Arbeitseinteilung läßt sich viel erreichen. Wir müssen, lieber Herr Kollege, meinem Gefühl nach überhaupt unsere Bestrebungen mehr vereinfachen.«

Dr. Santifaller verbeugte sich dienstbereit.

»Ich wollte Ihnen schon lange vorschlagen, daß wir nicht so sehr nebeneinander als vielmehr miteinander arbeiten. Ich glaube, wir könnten unsere Erfolge beschleunigen. Es ist zwar in unserem Vertrag nicht vorgesehen, aber ich glaube, es kann nur nützlich sein, wenn wir alles gleich mit vier Augen ansehen und uns nicht erst dann zusammenfinden, wenn vielleicht wertvolle Zeit verstrichen ist, in der der andere bei einigem Einblick schon hätte brauchbare Ratschläge geben können.«

»Gewiß, Herr Professor.«

»Ich bin, wie ich ja gestern im Vortrag gesagt habe, einem vorläufigen Ziel nahe. Wie wäre es, lieber Kollege, wenn Sie mir in der nächsten Zeit hülfen, dieses Ziel vollständig zu erreichen?«

Dr. Santifaller machte wieder eine Verbeugung, aber sie fiel hilflos und unentschlossen aus.

»Dafür will ich Ihnen, sobald ich mit meiner Arbeit fertig bin, ebenso wie Sie mir zur Seite stehen, um Ihre Gedanken durch Versuche zu bekräftigen und Ihr Ziel zu erreichen.«

Es entstand eine kleine Pause.

Dr. Santifaller, der, noch das Cello zwischen seinen Knien haltend, ein wenig unbequem auf seinem Stuhl hockte, war durch den plötzlichen Überfall mit diesem Vorschlag aus dem Geleise geworfen. Er suchte nach einer Antwort.

»Ich denke, das ist doch ein loyaler Vorschlag«, ergänzte der Professor. »Ich glaube, daß es Ihnen nur recht sein kann, wenn ich mich Ihnen mit meiner immerhin langjährigen Erfahrung für Ihre Versuche zur Verfügung stelle, die ich besonders seit Ihrer heutigen Entdeckung hoch einschätze.«

»Gewiß, Herr Professor, das ist … so … so außergewöhnlich.«

»Ich habe es auch bisher noch niemand angeboten außer Ihnen, lieber Herr Kollege.«

»Jawohl, gewiß, i versteh schon, Herr Professor. I, i weiß nur net recht, ob i …«, Dr. Santifaller suchte verzweifelt nach Worten, »ob i des Angebot annehmen soll.«

»Sie dürfen es ruhig.« Der Professor stand bei diesen Worten auf und trat dicht an Dr. Santifaller heran. »Wir arbeiten doch schließlich für eine gemeinsame Sache. Sie können das Angebot ruhig annehmen. Sie verdienen es. Seit heute besonders.«

»I … i … i …«, stammelte Dr. Santifaller.

Aber dann hatte er, er wußte selbst nicht wie, auf einmal die Hand des Professors in der seinen.

»Abgemacht«, rief der Professor fröhlich. »Und diese Vereinigung zu gemeinsamer Arbeit, die wollen wir jetzt mit einem Glas guten Weines feiern. Liesel, laß uns eine Flasche vom besten Alten holen!«

Damit hatte er Dr. Santifaller, indem er ihn unter die Achsel faßte, gezwungen, aufzustehen und führte ihn zum Speisezimmer hinüber.

Die Frau Professor, die während des Gespräches unbeachtet beiseite gesessen hatte, erhob sich gehorsam und ging, die Haare aus der Stirne streichend, zum Taster, um das Stubenmädchen herbeizuläuten.

Die vorhergegangenen Auftritte hatten sie aus der geliebten Musikwelt herausgerissen.

Was war das nur mit dem Mädchen gewesen? Ach ja. Das Kind war überarbeitet.

Und jetzt, was hatte dieses merkwürdige Gespräch zu bedeuten gehabt?

Was war in ihren Mann gefahren, daß er, der sonst so Unnahbare, sich auf einmal in dieser freundschaftlichen Art dem Doktor zur Verfügung gestellt hatte? Das war im höchsten Grad ungewöhnlich.

Wie überrascht der junge Doktor gewesen war!

Sie lächelte. Er mußte doch ein ganz außergewöhnlicher Mensch sein, wenn ihr Mann soviel Wesens aus ihm machte. Hatte sie ihr Gefühl also nicht getäuscht? Wenn ihr Mann jemand wirklich anerkannte, dann bedeutete das sehr viel.

Sie atmete tief auf.

Dann horchte sie nach dem Nebenzimmer hinüber, wo die beiden Herren miteinander sprachen.

Sie bemühte sich zu vernehmen, was sie sprachen.

Es war hauptsächlich die Stimme des Professors zu hören.

Sie achtete kaum darauf, was er sagte.

Aber jetzt war des Doktors Stimme zu hören. Über ihr Antlitz huschte ein glückliches Lächeln. Wie unbeholfen, wie stockend er sprach! Ach ja. Sie mußte ihn doch wohl ein wenig in die Schule nehmen, daß er auch in seiner Redeweise, in seiner Haltung und seinem Benehmen die Ansprüche erfüllte, die bald einmal die Welt an ihn stellen würde. Hier hatte ihr Mann tatsächlich recht.

Sie hatte im Anfang ein wenig Mißtrauen empfunden, als ihr Mann ihr den jungen Doktor so warm »zur Dressur«, wie er sich in seiner etwas gewalttätigen Form ausdrückte, empfohlen hatte. Sie hatte mit einem inneren Widerstreben Gewährung seiner Bitte versprochen.

Aber mit der Zeit war ihr der junge Arzt immer lieber geworden.

Sie las aus seinen Augen unbegrenzte Bewunderung, die ihr schmeichelte, und eine Wärme, die auch sie durchflutete. Sie empfand Ungeduld von einer Mahlzeit zur anderen. Sie suchte während des Essens seine Augen, sie gestaltete den Speisezettel ein wenig um und war glücklich, daß er es bemerkte und ihr in seiner tolpatschigen Art dankte.

Wie war das schön! Sie tat etwas mit Freude und erwarb dafür Dank.

Wie lange war es her, daß ihr dieser nicht zuteil geworden war, von langweiligen und öden Schmeicheleien in der Gesellschaft abgesehen, deren fragwürdigen Wert sie zur Genüge kannte.

Hier kam der Dank aus einem einfachen, warmen Herzen, einem Herzen, das – sie fühlte es – ihr von Tag zu Tag lebhafter entgegenschlug.

»Nun, Liesel, wo bleibt der Wein?«

Die Stimme ihres Mannes klang aus dem Nebenzimmer.

Sie erwachte aus ihrer sanften Träumerei. »Ja, Hubert«, rief sie.

Sie trat selbst in den Gang hinaus, um dem Mädchen Anweisung zu geben.

Als sie in das Zimmer zurückkehren wollte, bemerkte sie das dünne Mäntelchen Josefas, das neben dem Platz ihres Mannes in der Kleiderablage hing.

Ach ja! Josefa! Sie mußte sich doch wohl ein wenig kümmern, was mit dem Mädchen los war. Sie öffnete die Tür, die in das Treppenhaus führte. Die Tür zum Laboratorium war verschlossen. Der Zeiger stand auf »geschlossen«.

Josefa mußte also wohl in ihrem Zimmer sein. Sie trat an die Tür und horchte.

Eine Zeitlang vernahm sie nichts. Dann war es ihr, als höre sie leises Weinen.

Sie klopfte. Ein-, zwei-, dreimal.

Dann öffnete sie entschlossen und trat ein.

Josefa lag über das Bett hingeworfen, den Kopf in die Kissen vergraben.

Ihr Weinen war mehr zu sehen als zu hören. Die schmalen Schultern zuckten. Hie und da wurde ein leiser Laut hörbar.

Die Frau Professor zog einen Sessel heran und ließ sich an dem Bett nieder.

»Schwester Josefa«, sagte sie leise. Dann strich sie behutsam über des Mädchens Schulter. Mein Gott, wie mager, wie dürftig sich dieser Körper anfühlte. Wie dünn waren diese Arme!

»Schwester Josefa!« Sie rüttelte die Liegende.

Langsam raffte sich Josefa aus ihrer Verzweiflungsstellung auf, strich sich die ins Gesicht gesunkenen Haare zurecht und suchte aus den verweinten Augen klar um sich zu blicken.

»Wer is's denn?« hauchte sie.

In demselben Augenblick erkannte sie die Frau Professor.

»Sie?« In dem erschrockenen Ausruf lag Furcht, Ablehnung.

Das Mädchen schlug beide Hände vor das Kinn, so daß ihre Fingerspitzen vor die Lippen zu liegen kamen, starrte ihren Besuch sekundenlang an; dann warf sie sich wieder herum und wühlte ihren Kopf in die Kissen.

Die Frau Professor saß lautlos.

War das Mädchen nicht bei Sinnen? Hatte sie überhaupt erkannt, wer bei ihr war? Dieses »Sie« hatte ja geradezu feindlich, entsetzt und schrill geklungen.

Mit einem Ausdruck, in dem sich Ratlosigkeit und Verstimmung spiegelten, erhob sich die Frau Professor und verließ leise wieder das Zimmer.

*

Als Dr. Santifaller sich empfohlen hatte, fühlte er eine beklemmende Niedergeschlagenheit.

Es war ihm heiß und kalt zugleich.

Was hatte das alles zu bedeuten gehabt? Dieser plötzliche Wechsel in der Stimmung des Professors, diese eisige Zurückhaltung am Vormittag, diese überraschenden Freundschaftsbeweise am Abend.

Große Herren haben ihre Launen. Es ist nicht ganz leicht, ständig neben ihnen zu leben.

Gut, es hatte etwas für sich, daß sie beide, der Professor und er, nicht nebeneinander, sondern miteinander arbeiten sollten. Aber … Dr. Santifaller schüttelte den Kopf.

Etwas stimmte in dieser Rechnung nicht.

Seine einfache, anständige Natur wehrte sich gegen den Verdacht, der in ihm aufstieg …

Am nächsten Morgen begann Josefa ihren Dienst in der gewohnten Weise.

Als der Professor eintrat und sie mit einem »Na, Josefa, wieder auf dem Damm?« ansprach, konnte sie schon wieder ganz tapfer nicken.

»Jetzt kommen einige ruhigere Wochen«, sagte der Professor, »da kannst auch du es dir etwas bequemer einrichten.«

»Aber das will i ja gar net«, wehrte sie sich. »I bin ja gar net überarbeitet. Das war gestern bloß so, so dumm. I weiß selbst net, was das war. Das hängt ja gar net mit der Arbeit zsamm.« Sie sah, während sie sprach, an ihrem Laboratoriumsmantel herab, mit dessen Knöpfen sie spielte.

»Na, dann ist es recht«, sagte der Professor, klopfte ihr leicht auf die Schulter und ging an seine Arbeit.

Dr. Santifaller trat ein.

Josefa erkannte sofort, daß er nicht in der gewohnten Verfassung war. Er sah unausgeschlafen und übernächtig aus. Sein Morgengruß verklang müde im Raum.

Er war eben auf Josefa zugegangen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, als ihn der Professor anrief.

»Also, Herr Kollege, haben Sie die Güte, zu mir zu kommen, daß wir besprechen können, wie wir unsere gemeinsame Arbeit einteilen.«

Dr. Santifaller blieb nichts anderes übrig, als Josefa kurz zuzunicken und seiner Aufforderung zu folgen.

»Ich habe«, begann der Professor sofort, »wie Sie ja wissen, in den letzten Wochen hauptsächlich für meinen Vortrag in der Akademie der Wissenschaften gearbeitet. Heute kehre ich nun zu meiner gewohnten Arbeit zurück, und zwar zu den Giften, die ich, wie Sie wissen, in der Klasse M zusammenfasse. Es wäre nun vielleicht am besten, wenn wir die Arbeit so verteilten …«

Josefa horchte auf.

Was bedeutete das? Seit wann arbeiteten die beiden Herren gemeinsam?

Bis jetzt hatte jeder für sich seine Wege verfolgt, höchstens daß sie sich gelegentlich ein wenig über das, was der andere tat, unterrichteten. Und heute?

Ja, würde denn Dr. Santifaller seine Entdeckung der kristallisierten Blutproben nicht weiterverfolgen?

Sie lauschte aufmerksam hinüber.

Nein. Es war nicht davon die Rede. Im Gegenteil, der Professor wies tatsächlich dem Doktor eine, wie Josefa erkannte, untergeordnete Arbeit zu, eine Art von Voruntersuchung, die dieser, auch das war deutlich erkennbar, lustlos annahm.

Ja, um Gottes willen, was sollte das bedeuten?

Josefa fühlte, wie ihr die Hände – sie putzte eben einige leicht staubig gewordene Geräte – wie gelähmt in den Schoß sanken.

Wie kam es nur, daß sie jetzt auf einmal an Dr. Pasch denken mußte?

Hatte … hatte am Ende doch Dr. Pasch mit seinen furchtbaren Anschuldigungen recht?

War dieses Haus tatsächlich ein Gefängnis für ihn und für diesen Dr. Santifaller, der sich vermessen hatte, in das Arbeitsgebiet des Professors einzudringen?

Und sie, sie, Josefa Kronlachner, sie lebte mitten in diesem grausamen Geschehen, sie mußte zusehen, wie neben ihr, keine zwei Meter von ihrem Arbeitsplatz, sich ein tragisches Geschick erbarmungslos vollzog!

Das war furchtbar. Das war … das war unerträglich.

Was war das überhaupt in diesem Haus?

Wie rein, wie herrlich klar und sauber war ihr dieses Gebäude erschienen als sie im Spätsommer eingezogen war.

Wie frei, wie glücklich hatte sie die ersten Wochen hier geatmet, gearbeitet!

Dann war es ganz leise und unheimlich auf sie zugekrochen, all das, was ihr jetzt den Sinn verwirrte.

Gab es denn keinen Fleck auf dieser Erde, wo reines Glück herrschte, wo sich Menschen vertrugen, wo sie es versuchten, die Welt zu verbessern, reicher, glücklicher, schöner und segenspendender zu machen?

Da war dieses seltsam dumpfe Verhältnis des Professors zu seiner Frau, die an ihm vorbeilebte; da war der maßlose Tratsch der Schwestern, um den sie sich freilich kaum kümmerte, seitdem sie infolge der Tageseinteilung des Professors ihr Mittagessen immer später als die anderen und daher allein einnahm; da war Dr. Pasch mit seinem tiefen Haß gegen den Professor, den sie zuerst voll Abscheu verurteilt hatte und den sie nunmehr von Tag zu Tag mehr begriff.

Aber all das hatte noch nicht in diesen Raum hereingegriffen, war an ihr vorbeigestrichen.

Jetzt war das Unheil auch hier in den Raum eingedrungen. Es vergiftete diesen Raum, eben diesen Raum, in dem der Kampf gegen die sichtbaren Gifte, die die Menschenkörper verseuchten, aufgenommen worden war.

Sie waren furchtbar diese Gifte, die der düstere Schrank mit dem Totenkopfzeichen barg.

Ach, sie hatte im Laufe der Zeit alle die Beschreibungen gelesen, wie diese Gifte wirkten, sie hatte aus den Berichten der drei Ärzte herausgehört, wie es den Menschen erging, die von diesen Keimen des Todes, diesen Gesandten einer höllischen Macht, ergriffen waren; von den Gliedern, die den Menschen abfaulten, von den Organen, die im Menschenkörper, vom Gift zerfressen, dahinschwanden, von Blinden und Tauben, von Gelähmten, von Menschen, die Hungers starben, weil der verseuchte Körper keine Nahrung mehr annehmen konnte.

Gegen diese Gifte kämpfte der Professor.

Hatte er nicht – erst zwei Tage war es her – kühn in den Saal hinausgerufen, daß er hoffe, die Welt von der Pest der Gifte zu befreien, und war ihm nicht darüber heller Jubel entgegengeklungen?

Was geschah aber mit den schleichenden Giften, die in der Seele des Menschen fraßen, die tief in den Herzen nisteten und dort Verheerung über Verheerung anrichteten?

Fraß nicht in der Seele der Frau, die da im Seitenflügel wohnte, ein dumpfes Feuer, das sie verzehrte, weil sie sich vereinsamt fühlte und am Leben ihres Mannes nicht teilnehmen konnte? Hatte sich nicht in der Seele eben dieser Frau gerade jetzt ein anderes, nicht minder gefährliches Feuer entzündet?

Verzehrte sich nicht dieser Dr. Pasch in einem vielleicht berechtigten, aber furchtbaren Haß?

Warum geschah nichts, um dieses Gift zu bekämpfen, dieses Gift, das die Seelen zerstören und vernichten mußte, wenn es Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr weiter wütete?

Warum nahm es niemand auf, gegen dieses Gift anzukämpfen?

Zerstörte dieses Gift nicht vielleicht große Gedanken, verhinderte es nicht vielleicht gewaltige Entdeckungen?

Was half es, wenn hier in diesem Haus die herrlichsten Siege gegen die körperlichen Gifte erfochten wurden, wenn sich seelisches Gift hier einfraß und alle im Keim stehenden Erfolge von vornherein unmöglich machte?

Josefa spürte einen tief an ihr Herz greifenden, krampfartigen Schmerz.

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf.

Wie sollte das werden? Wie würde sich von nun an ihr Leben hier gestalten?

Im Himmel hatte sie sich hier gefühlt und nun wurde sie in die Hölle gestoßen.

Wie sollte sie hier weiterleben, wie sollte sie hier frei atmen können, wenn jeder ihrer Blicke Gestalten traf, die alles, was sie bedrückte, Minute für Minute wieder erweckten?

Wie hatte sie sich diesem Mann, der hier der Herr war, dankbar und verpflichtet gefühlt! Wie selig war sie in diesem Raum gewesen! Er war – so hatte sie einmal geglaubt – eine Art Heiligtum. Von hier gingen Segen und Gesundheit aus, von hier sollte ein ganz großer Gedanke seinen Ausgang nehmen, von hier aus sollte ein schier göttlicher Funke in die Welt hinausspringen und eine reine, schöne Flamme entzünden.

Und nun?

Jetzt schwelte hier ein dumpf glosender Brand, unrein, häßlich und gefährlich.

Und sie, das selbst hilfsbedürftige, einfache Mädel, sie mußte mitten darin leben.

Sie neigte ihren Kopf tief über ihr Werkzeug.

Sie konnte nicht weinen. Aber in ihrem Innern fühlte sie eine trostlose Leere und einen wütenden Schmerz.

Wie hatte die gute Frau Dr. Müller in Oberflins gesagt?

»Du weißt nicht, Sefi, in welche Verhältnisse du kommst und in was für Ereignisse du verstrickt wirst.«

Sie hatte es nicht mit diesen Worten gesagt, sondern in der tirolischen Mundart, die Sefi verständlicher war als jede hochtrabende Ansprache in Hochdeutsch.

Hatte sie nun also recht gehabt, als sie Josefa abgeraten hatte, nach Wien zu gehen?

Josefa vermochte nicht, den Kopf aus seiner gesenkten Haltung zu erheben.

Mechanisch, schier unwillig erfüllte sie an diesem Vormittag ihre Pflicht.

Er wollte kein Ende nehmen, dieser unglückliche Tag.

*

Josefa vermochte in der darauffolgenden Nacht nicht zu schlafen.

Lebhafter noch als bei Tag überfielen sie die Gedanken in der stillen, lautlosen Nacht.

Sie warf sich auf ihrem Bett hin und her und legte sich immer wieder aufs neue die Frage vor, ob sie, die in das gefährliche, fürchterliche Spiel Einblick hatte, ob sie das Recht oder nicht vielleicht sogar die Pflicht hatte, einzugreifen.

Sollte sie Dr. Santifaller aufmerksam machen, daß ihm ein ähnliches Schicksal drohte wie Dr. Pasch?

Hatte sie ein Recht dazu?

Sie war Angestellte des Professors, seine persönliche Laborantin. Er hatte eben dies am Tag vorher unmißverständlich betont. Sie war ihm überdies zu tiefstem Dank verpflichtet. Wenn sie nun etwas tat, was seinen Plänen zuwider war, dann verging sie sich gegen ihre Pflicht, dann trieb sie ihm gegenüber Hochverrat.

Das durfte nicht sein. Sie hatte sich geschworen, daß sie ihm als ihrem Retter nie die Treue brechen wollte, und sie war nicht so geartet, daß sie einen solchen Schwur zu brechen gedachte.

Und wenn nun das Schicksal seinen Lauf nahm? Wenn das Unheil, das sich hier anbahnte, größere, schrecklichere Formen annahm, wenn durch Neid und Eifersucht ein großes Werk, eine wertvolle Entdeckung hintertrieben wurde, die für das Wohl der gesamten Menschheit Bedeutung hatte, dann mußte sie sich dereinst den Vorwurf machen, daß sie das nicht verhindert hatte.

Aber verhinderte sie es denn, wenn sie Dr. Santifaller aufmerksam machte?

War er denn blind?

Vielleicht erkannte er selbst das Netz, das ihm über Haupt und Glieder fliegen sollte.

Vielleicht wehrte er es noch rechtzeitig ab.

Vielleicht … Josefa preßte im Liegen die Hände vor der Brust zusammen – vielleicht enthielt sein Vertrag keine so schreckliche Stelle wie der des Dr. Pasch, daß er für ewig ausgeliefert war. Dann konnte er ja weggehen, anderswohin, wo er zwar nicht die reichen Hilfsmittel eines so herrlichen Laboratoriums zur Verfügung hatte, aber wo er doch wenigstens seelisch ungehindert zu arbeiten vermochte.

Wenn er wegging …

Ach Gott! Josefa legte den Kopf zur Seite. Es wurde ihr, wenn das überhaupt noch möglich war, noch trauriger zumute. Doktor Santifaller sollte weggehen?

Sie würde nicht mehr sein gutmütiges Lachen hören, nicht mehr sehen, wie er sich die Brille auf die Stirne schob und zwinkernd ein Präparat betrachtete.

Wer würde dann noch ein gutes Wort zu ihr sagen, wer ihr zunicken, wenn es etwas gab, worüber sich ein Blick des Einverständnisses tauschen ließ.

Er hatte ihr Sonne gebracht und jetzt griff die Finsternis nach ihm und suchte ihn in ihr düsteres Reich zu ziehen.

Josefa starrte schlaflos gegen die Decke ihres Zimmers.

Aber nein, das durfte kein Hindernis sein.

Ihretwegen durfte er nicht mit all seinen schönen Plänen hier verkommen, wo sie ihm neidig mißgönnt wurden.

Denn schließlich ging es doch bei ihm, viel mehr noch als beim Professor, um das Gefühl, etwas zu schaffen, was unendlichen Segen bringen konnte.

Das durfte, das konnte sich ein Dr. Santifaller nicht verbieten, nicht zerstören lassen. Nein, das durfte und konnte er nicht.

Sie fühlte sich plötzlich etwas ruhiger.

Es konnte gar nicht anders sein. Dr. Santifaller mußte, wenn er es schon nicht heute erkannt hatte, über kurz oder lang begreifen, was hier gespielt wurde. Er mußte es erkennen, darüber bestand nicht der mindeste Zweifel.

Und wenn er es erkannt hatte, dann …, das wußte sie …, dann würde er gehen.

Das Herz zog sich ihr schmerzlich zusammen.

Aber das mußte so sein.

Es war für ihn und seine Sache besser.

Eine plötzliche heiße Wallung stieg in ihr auf.

Es war ja noch aus einem zweiten Grunde gut, wenn er ging. Natürlich! Am Ende verliebte er sich doch noch unglücklich in die ihm unerreichbare Frau.

Das gab dann noch größeres Unheil.

Nein, es war besser, er ging.

Sie fühlte, wie ihr leise Tränen aus den Augenwinkeln traten und über die Wangen und den Hals gegen die Brust hinabliefen. Aber die quälende Erregung wich.

In dieser Stimmung, gemischt aus wehem Verzicht, liebevollem Gedenken, dumpfer Angst vor der kommenden Entwicklung und sanfter Hoffnung, es werde doch noch eine Hilfe in der Not erscheinen, schlummerte sie ein.

*

Es schien Josefa, daß Dr. Santifaller von dieser Zeit an ohne Lust arbeitete.

Hatte er im Anfang seiner Arbeit im Laboratorium oft mit dem Professor gestritten und seine Ansicht mit Eifer verteidigt, so nahm er jetzt die Aufträge des Professors mit einer Art dumpfer Ergebenheit entgegen und saß dann in einer gegenüber der früheren Zeit gleichgültigen Haltung auf seinem Sitz.

Er schien auch fast vergessen zu haben, daß Josefa neben ihm arbeitete.

Das frühere frohe Zunicken kam nicht mehr vor, sein fröhliches Auflachen war nicht mehr zu hören.

Wenn er einen Teil seiner Arbeit fertig hatte, trug er ihn stumm zu dem anderen Material, meldete höchstens dem Professor mit einem kurzen Zuruf, was inzwischen erledigt worden sei, dann kehrte er auf seinen Platz zurück.

Wenn früher die drei Ärzte zum Bericht gekommen waren, hatte er immer aufmerksam zugehört.

Jetzt wandte er sich, außer zum Gruß, kaum um und setzte seine Arbeit fort.

In dieser Zeit bat Dr. Pasch Josefa, wieder einmal mit ihm auszugehen. Sie hatte – nach kurzem Zögern – zugesagt. Als sie dann in einer behaglichen Ecke eines Kaffeehauses saßen, war sie nahe daran gewesen, sich Dr. Pasch anzuvertrauen. Aber sein abgründiger Haß gegen den Professor verschloß ihr den Mund. Ihr innerer Zwiespalt wurde darum nur noch schwerer zu ertragen.

Sie war froh, als sie wieder daheim war.

Plötzlich horchte sie auf.

Was wob da seltsam in der Luft? Klang da nicht Musik?

Sie hob sich auf die Zehenspitzen, als ob sie dann besser hören könne.

Zweifellos, das war Klavierspiel und …, sollte das möglich sein? … das war der tiefe, sanfte und seelenvolle Ton eines Cellos.

Natürlich! Sie kannte das Stück. Es war das Air von Bach.

Wer spielte da? Wer … spielte … da?

Sie wandte sich um und flog zur Tür.

Aber schon mit der Klinke in der Hand besann sie sich. Sie konnte doch unmöglich in die Wohnung des Professors eindringen und fragen.

Es war Wahnsinn! Lächerlich!

Sie stand eine Weile, aber sie konnte ihre Unruhe nicht bemeistern. Das Spiel klang immer deutlicher. Natürlich! Das Zimmer der Frau Professor schloß ja unmittelbar an ihr zwischen Privatwohnung und Laboratorium eingeklemmtes Stübchen.

Und sie sollte hier sitzen und das Spiel anhören und …

Aber es mußte ja gar nicht Dr. Santifaller sein, der da drüben spielte. Schon oft hatte sie ähnlich musizieren gehört.

Die Frau Professor hatte doch einen großen Bekanntenkreis. Dr. Santifaller war sicher nicht der einzige Cellist, den sie kannte. Diese schöne Frau lockte gewiß noch andere in ihren Bann und ließ sich anschmachten von jedem Mannsbild, diese Verführerin, die so tat, als ob sie aus Marmor sei und kalt bis an das Herz hinan und in Wirklichkeit …

»Ich hasse sie«, schrie Josefa in ihr stilles Zimmer hinein. »Ich hasse … hasse … hasse … hasse … sie …« Sie ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte sie gegen die trennende Wand.

Dann erschrak sie.

Was hatte hier so gehallt?

Das war ihre eigene Stimme gewesen.

Nein. Sie mußte fort, fort aus diesem Raum, in den das Singen des dunklen Instruments, der dumpfe Takt des Klaviers so deutlich herüberklangen.

Das hielt … nein, das hielt sie nicht aus.

Sie kramte den Schlüssel zum Laboratorium aus ihrem Täschchen hervor, verschloß ihr Zimmer und ging ins Laboratorium hinüber.

Der alte Lorenz war noch bei der Arbeit und nickte ihr von seinem Arbeitstisch vertraulich zu.

Sie wechselte ein paar Worte mit ihm.

Es schien ihr eine Erlösung, von den quälenden Gedanken, für wenige Sekunden wenigstens, freizukommen.

Dann klinkte sie die Tür zum Laboratorium auf.

Und blieb fassungslos stehen.

Das Laboratorium war hell erleuchtet.

An seinem Arbeitstisch saß der Professor und arbeitete, wie er es oft bis in die Nacht tat.

Ihr Blick flog zum Arbeitstisch Dr. Santifallers hinüber.

Das Mikroskop war nicht zugedeckt, Bleistift und Notizbuch lagen unordentlich daneben.

War … war Dr. Santifaller noch im Haus?

Sie trat zögernd näher.

»Ah, du bist da«, sagte der Professor, als er, sich umblickend, ihrer gewahr wurde. »Ich dachte, du wolltest heute abend frei haben?«

»Ich war nur ein … ein wenig fort«, stotterte Josefa.

»Es ist mir angenehm, daß du da bist«, fuhr der Professor fort. »Ich brauche die Präparate M von 731 bis 743. Kannst du sie mir geben oder willst du …?«

»Nein«, sagte sie hastig. »Ich suche sie schon heraus.«

Sie trat an den Kasten. Aber ihre Finger zitterten.

Plötzlich fuhr es ihr heraus. »Der Tisch vom Herrn Doktor ist nicht aufgeräumt.«

»Ja«, gab der Professor ruhig zurück. »Er kommt noch einmal herüber. Er ist nur ein wenig mit meiner Frau üben gegangen. Hast du die Präparate schon?«

»Sofort, Herr Professor, sofort.«

Josefa holte die Präparate hervor. Sie wußte nicht wie sie es tat. Ob es wohl auch die richtigen Nummern waren?

Es war ihr vollkommen gleichgültig.

Sie sah nur ein lächelndes Frauenantlitz mit zwei Reihen herrlicher weißer Zähne.

Ein Gefühl, siedendheiß und trocken, stieg in ihr auf, schnürte ihr die Kehle und krampfte ihr die Hände zusammen.

Sie hatte es ihr ganzes Leben bisher noch nie verspürt. Erst vor wenigen Minuten in ihrem Zimmer und jetzt.

Es war Haß.

Sie stöhnte auf.

Der Professor drehte sich um. »Was ist los, Sefi?«

»Nichts, Herr Professor.«

Sie stellte ihm das Kästchen mit den Präparaten auf den Tisch.

*

Josefa tat in der nun folgenden Zeit ihren Dienst wie eine Maschine, die, zu bestimmter Zeit eingeschaltet, läuft, bis sie wieder ausgeschaltet wird.

Dr. Pasch hatte sich nach ihrem Befinden erkundigt. Sie hatte ihm eine gleichgültige Antwort gegeben.

Der Professor arbeitete wie eh und je.

Dr. Santifaller aber würgte an den Voruntersuchungen, die ihm der Professor aufgehalst hatte.

Er hatte seine frühere Munterkeit vollständig verloren, war fahrig und knurrig, gab kaum Antwort, wenn sie ihn fragte, und begann nachmittags gewöhnlich unruhig zu werden.

Um fünf Uhr ging er nahezu regelmäßig in die Privatwohnung hinüber, um mit der Frau Professor zu üben.

Der Professor schien das gerne zu sehen, denn er ermunterte ihn dazu. »Selbstverständlich, Herr Kollege. Ich freue mich, daß meine Frau nun endlich wieder ihre Musik richtig ausüben kann.« Er selbst fuhr in die Vorlesungen oder blieb am Mikroskop bis spät in die Nacht hinein, nur durch das Abendessen unterbrochen, sitzen.

Dr. Santifaller kam manchmal vor, manchmal erst lange nach dem Abendessen zurück, sah dann auch wohl noch ein wenig durch sein Gerät, räumte aber meist bald zusammen und verschwand mit einem kurzen, fast ein wenig scheuen Gruß.

Hatte nur Josefa den Eindruck oder vermied er es wirklich, sie anzusehen?

So kam es, daß Josefa in den frühen Abendstunden viel allein im Laboratorium war, denn der Professor las viermal in der Woche von sechs bis acht Uhr.

Josefa fürchtete diese Stunden des Alleinseins.

Es kam vor, daß sie zum alten Lorenz hinaus flüchtete und sich von ihm zum hundertsten Male die Geschichte der Heilanstalt Kröner erzählen ließ.

Vor wenigen Tagen noch hätte sie das Lob des Alten, das er bei dieser Gelegenheit Josefa freigebig spendete, mit einem warmen Behagen genossen. O ja. Es wäre ihr eine schöne Bestätigung dafür gewesen, daß sie richtig gearbeitet hatte.

In ihrer augenblicklichen Stimmung aber traf sie eben dieses Lob wie ein Stich; denn es stimmte nicht mehr. Sie war nicht mehr mit Liebe bei der Arbeit. Ach ja, für die Sache selbst hätte sie gerne gearbeitet. Aber sie konnte nicht mehr für die beiden Männer mit Liebe arbeiten, von denen der eine alles, was um ihn herum war, unbarmherzig seiner Selbstsucht opferte, und der andere …

Ach Gott, ja. Den anderen, den liebte sie ja. Aber eben, weil sie ihn liebte, weil sie sah, daß er hintergangen wurde, konnte sie nicht mehr so arbeiten wie früher. Alles war schief und verbogen. Alles krankte an dieser furchtbaren Erkenntnis, daß hier etwas geschah, was unmöglich gut sein konnte; krankte daran, daß sie sich einer Sache verschworen hatte, die an sich gut und edel war, aber in Händen lag, die mit ihr willkürlich spielten, sie für sich selbst ausnützten.

Ach, es war alles Verwirrung, Verstrickung der Gefühle. Liebte sie denn Dr. Santifaller oder haßte sie ihn? Vielleicht konnte er nichts dafür. Warum riß er sich nicht heraus aus diesem Wirrsal? Ach, wie hätte sie ihn geliebt, wenn er eines Tages aufgetrumpft hätte: er lasse sich nicht von seinem Weg abdrängen, er gehe fort, allein seinen Weg zu suchen.

Ach, wie wäre das schön gewesen!

Vielleicht tat er es doch noch einmal?

Und sie selbst? Tat sie noch recht? War sie noch treu und verläßlich?

Und kein Mensch gab ihr einen Rat, konnte ihr einen Rat geben!

Sie mußte sich mutterseelenallein durchfechten durch diese Kümmernis.

Und wann würde die enden?

Wenn sie wegging?

Wohin? Wohin sollte sie gehen mit dem Bettelbetrag, den sie sich bis jetzt erspart hatte?

Oder hatte sie vielleicht die Aufgabe, hierzubleiben und Wache zu halten, daß das Werk gefördert wurde, allem zum Trotz?

Wie, wenn es das Schicksal wollte, daß sie, die kleine unscheinbare Josefa Kronlachner, die Wächterin wurde eines großen, heiligen Werkes gegen alle die Mächte, die da drohend sich emporreckten?

Als Josefa diesen Gedanken dachte, da fuhr es ihr siedendheiß durch die Glieder, aber nicht mehr verzehrend und trocken, daß sie hätte meinen müssen, daran zu verbrennen, sondern erwärmend, beseligend.

Sie stand allein in dem großen, weiten Laboratorium.

Es hatte sie die letzten Tage hindurch feindlich, kalt, abweisend angesehen: ein Gefängnis, wie Dr. Pasch es auch genannt hatte.

In diesem Augenblick war es anders. Es war ihr, als leuchte es glasheller als sonst, als rufe sie das Gefunkel der Geräte.

Und es war ihr auf einmal nicht mehr, als sei sie allein.

Rückten nicht alle die Tische und Kasten plötzlich vertraulich näher, tickte die Uhr nicht lauter, ging nicht auf einmal ein warmer Luftzug durch den sonst fröstelnden Raum? Es war ihr, als riefe sie eine Stimme:

Josefa! Josefa, deine große Stunde ist gekommen.

Eine große, heilige Sache ruft dich. Traue deinem Herzen, deinem sicheren Gefühl!

Wer rief sie da in dem lautlos ruhigen Raum?

Vielleicht waren es die Stimmen all der unendlich vielen, die hilflos und krank lagen und Heilung herbeisehnten, die ihnen von hier kommen konnte, von hier, wo ein großes Werk geboren wurde und ein zweites im Keim erstickt zu werden drohte.

Durfte das geschehen?

Nein. Das durfte nicht sein. Das durfte um keinen Preis der Welt geschehen.

Josefa falzte die Finger ihrer Hände ineinander, daß sie knackten.

Das Bild ihres Vaters stieg vor ihr auf mit starker, lebendiger Kraft.

»Vatti, was sagst du mir?«

Und ihr war es, als nicke ihr das Bild des abgezehrten, müden Greises, als den sie den Vater in der Erinnerung trug, freundlich zu, als sage es: Josefa, mein Kind, bleibe dir treu, dann bist du auf dem richtigen Weg.

Sie atmete tief auf.

Nein. Es war wahr. Sie war nicht mehr allein. Ein großer, mächtiger Gedanke kämpfte mit ihr.

Sie reckte ihre kleine Gestalt.

War dieses Laboratorium nicht auch ihr Reich? Hatte sie nicht das Recht, hier zu schaffen?

Wenn es eine Gerechtigkeit auf Erden gab, so hatte der zu herrschen, der das Rechte tat. Sie wollte jedem, wenn er das Rechte tat, helfen.

Und wenn er nicht das Rechte tat?

Wo war ihr Schwur geblieben, treu und gehorsam zu sein?

Sie schüttelte den Kopf. Treu und gehorsam wollte sie sein, o ja. Aber der großen, heiligen Sache.

Sie preßte die Lippen fest aufeinander. Ihre Augen blitzten.

Sie war bereit. Es konnte losgehen. Sie wollte den Kampf aufnehmen, was da kommen mochte.

Es war ihr, als wüchsen ihr plötzlich Kräfte.

Mit Feldherrnblick sah sie über ihr Reich.

Und runzelte die Stirne.

Es war manches nicht in Ordnung; nicht so in Ordnung, wie es noch vor wenigen Tagen gewesen war, da sie noch mit Liebe und Sorgfalt hier gewerkt hatte.

Wie hatte es nur kommen können, daß sie sich so vergessen hatte?

Verwirrung war in ihr gewesen, wilde, verzweifelte Verwirrung. Jetzt sah sie klar.

Das gab Kraft, unsäglich viel Kraft.

Mit flinken Schritten war sie beim Platz des Professors und brachte ihn in Ordnung, legte das Werkzeug besser griffbereit, putzte das Okular und wischte den feinen Staub, der sich da und dort in einem Winkel des umständlich gebauten Gerätes angesetzt hatte.

Dann machte sie sich am Arbeitstisch des Dr. Santifaller zu schaffen. Da lag seine zweite Brille. Sie hob sie und sah durch. Sie war schmutzig. Sie wischte sie sorgfältig rein, spitzte ihm die Bleistifte und legte auch hier das Werkzeug bereit.

Neben dem Mikroskop lag ein Blatt Papier. Sie ließ den Blick flüchtig darüber streifen und hielt inne.

Was stand da?

Durfte sie das lesen?

Wohl! Es konnte ja kein Privatgeheimnis sein.

»Wenn es gelingt, die morphologischen Veränderungen des Blutes im Verhältnis zu den auf ihre Umformung wirkenden Kräften, vor allem Krankheitsträgern, zu erklären, ergeben sich für die Krankheitsdiagnose bisher ungeahnte Möglichkeiten. Mehr als irgendein anderes Verfahren …«

Sie las mit klopfendem Herzen weiter.

Ja, da stand, stand es ganz deutlich. Hier war die Lösung von zahllosen Rätseln gegeben … war gegeben … wenn …? Ja, wenn weitergearbeitet wurde.

Warum war alles das, was der Doktor da mit seiner bockigen Schrift niedergeschrieben hatte, wieder durchgestrichen mit einem merkwürdig zittrigen Strich?

Sie legte nachsinnend das Blatt wieder an die alte Stelle.

Wo waren denn nur die Präparate, die sie gemeinsam mit ihm in jener glücklichen Arbeitsnacht angefertigt hatte?

Sie zog die Lade auf und durchsuchte die Präparate.

Gott sei Dank. Sie waren in Ordnung, obwohl sie sie damals auf des Professors Geheiß noch halbfeucht hatte wegräumen müssen. Wie gut, daß sie so schonend mit ihnen umgegangen war.

Sie wollte die Lade schon wieder in den Kasten zurückschieben.

Da hielt sie neuerlich inne.

Das war wertvolles, wertvollstes Material.

Und nicht verzeichnet, nicht in der Kartei verarbeitet, ohne Beschriftung.

Jetzt wußte sie noch, was alles bedeutete. Würde sie es noch in einigen Wochen wissen, wenn Dr. Santifaller doch vielleicht die Möglichkeit hatte, zu seiner Arbeit zurückzukehren?

Sie holte leere Karteikarten, Tinte und Feder und begann zu schreiben.

In die Unterteilung, wo sonst immer breit und mächtig das Zeichen Professor Kröners eingesetzt worden war: Prof. Dr. H. Kr. = Professor Dr. Hubert Kröner, setzte sie selbstherrlich? Dr. C. S.

Das sollte heißen: Dr. Candidus Santifaller.

Aber welche Nummer sollte sie einsetzen?

Wenn sie das fortlaufende große Verzeichnis nahm, wo alle Präparate eingetragen wurden, so bemerkte es der Professor bereits morgen; denn er sah das Verzeichnis nahezu jeden Tag durch.

Aber es lag ja da noch ein Haufen Blätter, die darauf warteten, in dieses Buch eingefügt zu werden.

Warum sollte sie nicht aus einigen dieser Blätter ein neues Buch formen und eine eigene Übersicht über die Versuche Doktor Santifallers führen?

Sie richtete sich entschlossen auf, band einige der Blätter mit dem hiefür bestimmten Faden zusammen und formte ein neues Heft.

»Untersuchungen über morphologische Änderungen kristallisierten Blutes. Dr. C. S.« malte sie darauf.

Dann trug sie, mit »eins« beginnend, die Nummern der Präparate ein, die Salze, die damals verwendet wurden und – aus ihrem sicheren und dienstbaren Gedächtnis – alle Bemerkungen, die Dr. Santifaller bei der Bearbeitung gemacht hatte.

Sie fühlte sich unsagbar glücklich bei dieser Arbeit.

Einmal fiel ihr dabei wieder die Bemerkung des Professors ein: »Merke dir, daß du in erster Linie meine Laborantin bist.«

Sie zuckte die Achseln. Was sie in ihrer Freizeit trieb, konnte dem Professor gleich sein. Wenn nur seine Arbeit getan war. Und hatte sie die nicht getan?

Gewiß! Also konnte sie beruhigt sein.

Mitten während ihrer Arbeit hörte sie Dr. Santifaller kommen.

Als sie seinen Schritt im Gang hörte, war ihre erste Regung, die Lade zuzustoßen und zu machen, als ob nichts geschehen wäre.

Aber wozu Heimlichkeiten, wenn sie doch entschlossen war zu kämpfen?

So blieb sie bei ihrer Arbeit.

Er trat ein und trug – wie immer, wenn er von drüben kam – einen Zug seliger Versonnenheit. Sie sah es in dem ihr gegenüber hängenden Spiegel deutlich.

Wie jetzt immer, strich er an ihr vorüber, ohne sie zu bemerken, setzte sich an sein Mikroskop und sah hinein.

Er schien aber nicht zu arbeiten.

Josefa fühlte, wie wieder der Zorn in ihr die Oberhand gewann. Sie hatte Lust, die Lade mit den Präparaten mit aller Kraft in den Kasten zu stoßen, daß alle Präparate in Trümmer gingen.

Aber sie tat es doch nicht, sondern werkte weiter.

War er blind? Wollte er blind sein?

Das ging nicht so weiter. Sie wollte ihn sehend machen.

»Herr Doktor«, rief sie ihn lauter, als es sonst ihre Art war, an.

»Ja?« Er wandte sich auf seinem Drehstuhl um und sah sie geistesabwesend an.

»Haben Sie beim Präparat ›vier‹ einfache oder zusammengesetzte Salzlösung verwendet?«

»Bei welchem Präparat vier?« Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Sie klärte ihn auf, welches Präparat in Frage kam.

Er hob, immer erstaunter, den Kopf immer höher. »Ja, wieso kommen Sie darauf, Fräulein Seferl, wieso?«

Er stand auf und trat neben sie.

Sie sah nicht auf. »Wir können doch unmöglich Ihre Präparate noch weiter unbeschrieben und unversorgt liegen lassen, Herr Doktor.«

»Ach, Gott.«

Er war neben sie getreten und nahm eines der Präparate auf, hielt es gegen die Lampe.

»Sie sind tadellos erhalten, die Präparate«, fügte sie beruhigend ein.

»So. San s' gut erhalten? Wirklich?« Ein Seufzer lag in seiner Stimme.

»Sie haben mir noch keine Antwort auf meine Frage gegeben«, sagte sie, zäh ihr Vorhaben verfolgend.

»Ja so.« Er gab ihr die von ihr ohnehin erwartete Auskunft über die Zusammensetzung der Salze.

»Mein Gott«, sagte er dann mit einem traurigen Ton in der Stimme. »Daß Sie sich noch darum kümmern.«

»Natürlich«, sagte sie mit erkünstelter Selbstverständlichkeit. »Wir werden doch so wichtige Dinge net verderben lassen. Das war doch a Verbrechen.«

»Freilich wär's eines«, murmelte er, starr vor sich hinblickend. »Freilich wär's a Verbrechen.«

Er verließ sie, kehrte zu seinem Arbeitsplatz zurück, setzte sich nieder und faßte seinen Kopf, die Ellbogen auf die Knie stützend, zwischen die Hände.

Josefa war ihm mit den Augen gefolgt. Sie fühlte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, um ihn emporzureißen und auf den von ihm verlassenen Weg zurückzuführen.

»Und wann werden wir weiterarbeiten?« fragte sie, bemüht, in möglichst harmlosem Tone zu sprechen.

»Weiterarbeiten, daran weiterarbeiten?« Ein Schimmer der Hoffnung glitt über sein Antlitz.

Sie sah es, schob die Lade in den Kasten zurück und trat ihm näher.

In diesem Augenblick fuhr sie erschrocken zurück.

Er hatte plötzlich mit aller Wucht die flachen Hände auf seine Knie niederfallen lassen. »I derf ja net«, brüllte er auf. »I derf ja net. I muß ja da ›Voruntersuchungen‹ machen.« Ein unsäglich bitterer Ton lag in diesem Wort »Voruntersuchungen«. »I hab ja gar ka Zeit mehr dafür«, setzte er mutlos fort.

»Keine Zeit?« Josefa hatte eine der aufklappbaren Schnallen einer Tischlade ergriffen und bewegte sie langsam auf und nieder. »Keine Zeit, Herr Doktor?«

Er hob den Kopf und sah sie an.

Sie merkte es, daß er sie ansah. Es kostete sie nun doch einige Überwindung, Mut zu fassen, aber sie sah ihn nun auch voll an, als sie antwortete: »Für die Musik haben Sie ja doch auch Zeit, Herr Doktor.«

»Für die Musik?« Er sank ein wenig in sich zusammen. Dann schüttelte er den Kopf. »Des is doch jetzt das anzige, was i hab, des bisserl Musik.« Sein Antlitz wies wieder den verklärten Zug auf, den sie nun schon so gut an ihm kannte.

Sie fühlte ein heißes Verlangen sich umzudrehen und wegzulaufen. Aber sie bezwang sich.

»Und wer leidet schließlich darunter, wenn Ihre Entdeckung unausgenützt bleibt«, sagte sie, »doch nur unschuldige, kranke Menschen, die sehnsüchtig auf Heilung warten.« Ihre Stimme hatte einen scharfen Klang bekommen. Sie wunderte sich selbst darüber. Sie kannte sich selbst nicht, so wie sie sich jetzt gab.

Sie erkannte aber gleichzeitig, daß eben dieser ungewohnt scharfe Ton ihn aufmerken ließ.

Sie war geschickt genug, das sofort auszunützen. »Mein Gott«, sagte sie gleichgültig, aber nicht ohne Schärfe, »es sind ja doch nur Menschen, die Sie nicht kennen. Was tut's, wann da und dort a Unbekannts stirbt.«

Nun hob er den Kopf und sah sie mit steigender Verwunderung an.

»Was? Wie?« stotterte er. »Was sagen S' da, Fräulein Sefi?«

Sie ersah ihren Vorteil. »I sag, was i mir denk, Herr Doktor. Daß es a Schand is, wann Sie so a herrliche Sach, wie Sie sie angfangt haben, so einfach stehenlassen, mir nix, dir nix, als wann's a Spielerei war, net a Sach, bei der's um Leben und Tod geht.«

Er fuhr sich über die Stirne dann nahm er die Brille ab und sah Josefa an, als habe er sie noch nie gesehen.

»Aber, Fräulein Seferl, i … i … i … muß doch jetzt dem Professor …«

Nun hatte sie ihn dort, wo sie ihn haben wollte. »Kann er Ihnen verbieten, daß Sie für Ihre Sache arbeiten? Steht das am End im Vertrag mit'n Professor?«

Er schüttelte den Kopf. »Im Vertrag net. Naa. Im Vertrag net.«

»Da haben S' also noch a Glück ghabt«, sagte Josefa aufatmend.

Er wurde noch um einen Grad aufmerksamer. »Warum?« fragte er.

Sie schloß sekundenlang die Augen. Sie überlegte blitzschnell, was sie sagen, was sie verschweigen durfte.

»Warum?« fragte er neuerlich dringender.

»Weil Sie so in Ihrer Freizeit a freier Mann san, der tun kann, was er will.«

Er senkte den Kopf und fuhr mit den Fingern der Rechten langsam an seinem Kinn hin und her. »A freier Mann?« Er hob plötzlich den Kopf und sah Josefa mit einem verstörten Blick an. »I war a freier Mann. I war aner. Jetzt bin i's net mehr. Na«, er schrie es förmlich, »i bin's net mehr.«

Josefa sah sich unbehaglich nach der Tür um. Ob Lorenz die überlauten Worte gehört haben konnte?

»Herr Doktor«, sagte sie leise, »das bilden Sie sich ja nur ein.«

Er schüttelte wild den Kopf. »Na, na, i bild mir nix ein. I waaß jetzt: i hätt nia net herkommen dürfen. Nia, nia. I hab ja aa net wollen.«

Josefa trat dicht an ihn heran. Sie fühlte plötzlich eine ungeahnte Kraft in sich.

»Nacha, Herr Doktor, nachher können S' doch wieder zurück. Wer kann Sie denn nacha zwingen, daß Sie dableiben?«

Er sah sie zuerst verständnislos an. »Zurück?« wiederholte er mit dämmernder Stimme. »Zurück?« Er öffnete die Hände und schloß sie wieder, die leicht gebogenen Finger zur Faust formend, als müsse er etwas, was er eingefangen hatte, zerpressen.

Es war ihr, als müsse sie einen gewonnenen Vorteil ausnützen.

»Ja, Herr Doktor, das können S' doch. Fahrn S' z' Haus und machen S' Ihna frei!«

Er sah sie wie geistesabwesend an. »I kann net«, murmelte er. »I kann net.« Sein Blick flog, indem er sich aufrichtete, unruhig über den Raum.

Sie mißverstand diesen Blick.

»Herr Doktor«, schob sie eifrig ein, »der Anfang is gmacht. Vielleicht können S' die Versuche auch woanders fortsetzen. Für die Versuche brauchen Sie ja nicht so ein Laboratorium.«

Er wandte sich wieder ihr zu, ein Aufleuchten des Verständnisses zog über sein Gesicht. »Ah so«, sagte er, leise nickend, »ja, des war schon mögli. Des schon.«

»Na sehn S'«, wollte Josefa sagen, aber die Worte blieben ihr wie Blei auf der Zunge liegen.

Sie hatte in diesem Augenblick begriffen: nicht das Laboratorium hielt ihn gefangen, eine andere Kraft hatte ihn in ihren Bann geschlagen.

Ihr war es, als flimmere das ganze Laboratorium vor ihren Augen. Da war wieder der Haß, der in ihr aufbrach. Wieder waren die Präparate in Gefahr, unter dem Krampf ihrer Hände zu zerbrechen. Es würgte sie im Hals.

Warum schrie sie nicht: »Wollen Sie ein Mann sein? Sie lassen sich zum Sklaven machen, Sie verlieren sich an eine Frau, die Ihnen nicht gehören kann! Sie opfern eine Entdeckung auf, die Menschen vom Tode retten kann.«

Sie vermochte keinen Ton hervorzubringen. Ihr Haß schlug auch auf den Mann über, der da tief vergrämt und entschlußlos vor ihr stand und auf den Boden starrte.

Sie schob die Lade härter, als es für die in ihr enthaltenen Präparate gut war, in den Kasten zurück und ging zornbebend an ihren Arbeitsplatz. Grell klang das Rasseln des mißhandelten Werkzeugs, als sie es in die verschiedenen Fächer mehr warf als legte.

Ihr freudiger Stolz von vorhin war wieder verflogen. Die Aufgabe stellte sich beim ersten Versuch schwieriger dar, als sie gedacht hatte.

*

Nach einigen Minuten wurden ihre Hände ruhiger. Das Werkzeug glitt wie sonst geräuschlos in seine Fächer.

Josefa hielt inne und sah zu Dr. Santifaller hinüber.

Er war langsam zu seinem Arbeitsplatz geschlichen und hockte nun dort, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Hände zwischen den auseinandergespreizten Beinen ineinandergelegt.

Seine Augen wanderten unruhig auf dem Boden hin und wider.

Schließlich glitten sie zu dem Kasten hin, in dem seine Präparate lagen.

Er schüttelte den Kopf, als müsse er etwas Unbequemes von sich schleudern.

Dann sah er auf und zu Josefa hinüber.

»Fräulein Seferl!« sagte er leise.

»Ja?« Ihre Stimme klang abweisend.

Er stand auf und trat zu ihr. »San S' mer net harb, Fräulein Seferl«, sagte er gutmütig. »I war die letzten Tag a bisserl narrisch, wissen S'. Des kann ja vorkommen, net?«

Es war etwas vom alten Ton in seiner Stimme, von der Behaglichkeit, mit der er früher immer gesprochen hatte.

Unter der Wärme dieser Stimme schmolz Josefas Zorn wie Schnee vor dem Feuer.

»Ganz schlecht ausschaun tun S'«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Ja, Seferl«, nickte er und setzte sich auf einen Sessel ganz dicht neben sie. »Sie werden des vielleicht net ganz verstehen. Aber –« – er suchte nach Worten –, »i bin halt allweil an einschichtiger Mensch gewesen. Schon wia i Student gewesen bin, war i halt allweil allan. Die Welt war mir Wurscht. Na ja. I bin halt ganz in meine Studien dringsteckt. Meine Kollegen ham mi für an Streber angschaut. Von mir aus, hab i mir denkt. Sollen s' glauben, was s' mögen. Dann bin i ham. I hätt a Praxis anfangen können. Aber i hab halt zerscht wollen meine Pläne durchführen. Es war a harte Zeit, aber schön war's halt doch aa. Na, und dann hab i halt den Aufsatz veröffentlicht. Na, und dann is der Professor kumma und hat mi überredt, i soll zu ihm kumma. 's war besser für meine Arbeit und so. I hab mi gsträubt. Aber es hat nix gholfen. I hab mir halt aa denkt, für mi und meine Pläne is's besser, wann i in an großen Laboratorium arbeiten kann, und schön gredt hat er aa, der Herr Professor, und versprochen hat er mir, i derf hier arbeiten wia z' Haus. No, und des war ja auch ganz schön hier im Anfang, bis … na ja … bis jetzt halt, wo i siach, daß er mi net aufkumma lassen will.«

Er starrte trübsinnig auf den Boden.

»So wehrn S' Ihna doch!« Josefa sah ihn mit kampfbereit geballten Händen an.

»Ja, ja«, nickte er. »I hätt mi halt glei wehren sollen. Aber er is so viel gschickt, der Professor, so verflucht gschickt, und i bin a Waserl in solchen Sachen.« Er nickte mit einem hilflosen Lächeln vor sich hin.

»Und bloß wegen dem soll aus der ganzen Sach nix werden?« Josefa wies mit der Hand in der Richtung gegen die Präparate.

Sie stand auf und trat vor ihn hin. »Herr Doktor! I weiß net, ob des richtig is, wann Sie jetzt das aufgeben. Wer kann es Ihna denn verbieten, daß Sie an einer Sache weiterarbeiten, wenn Sie keinen Vertrag unterschrieben und kein Versprechen gegeben haben.«

»Verbieten net!« gab er unruhig zu. »Aber i kann net. I kann halt net anderst.«

Sie sah den Mann, der ihr gegenüberstand, schweratmend an.

Vielleicht war es wirklich ein vergebliches Beginnen für ihn, sich gegen den Willen des Professors aufzulehnen. Zweifellos war der Professor der »Geschicktere«.

Sie fühlte statt des früheren Anfluges von Haß nur noch Mitleid mit dem Doktor.

Ach, wie gerne hätte sie ihm geholfen, ihn aus seiner Bedrängnis befreit!

Aber es war deutlich: wenn er blieb, dann brachte ihn der Professor um seine wissenschaftlichen Erfolge. Er mußte fort, so weh es ihr tat. Er mußte fort. Sie schöpfte tief Atem, bevor sie es aussprach.

»Dann bleibt nix übrig, Herr Doktor. Dann müssen S' fort von hier.«

Er saß einen Augenblick unbeweglich. Dann nickte er. »Ja, dann muß i fort … muß … i … fort …« Er sprach ganz leise, wie zu sich selbst.

Dann sah er plötzlich auf und Josefa voll an. »Ja, Fräulein Seferl, Sie ham recht, 's is besser, i geh. Viel besser. Vielleicht«, seine Stimme verklang, »vielleicht is's besser für alls. Für alls.«

Er stand auf, kehrte zu seinem Arbeitstisch zurück und sah stumm durchs Fenster auf die winterklare Stadt.

Auch Josefa kehrte zu ihrer Arbeit zurück.

War es ein Sieg, den sie errungen, oder würde alles, was sie erreicht hatte, wieder in Nichts vergehen?

Das mußten die nächsten Tage zeigen.

*

Am darauffolgenden Tag kam Dr. Santifaller zeitlich ins Laboratorium.

Schon von der Tür her winkte er Josefa verheißungsvoll zu.

Er warf seine Aktentasche auf den Tisch neben seinem Arbeitsplatz und trat vor Josefa hin.

»Fräulein Seferl«, sagte er, »i hab heut die ganze Nacht darüber nachdenkt, und meiner Seel, Sie haben recht, 's is besser, wann i geh. I mach nur noch zwei Voruntersuchungen für den Professor fertig. Wann i mi hinsetz, bin i morgen fertig. Das andere muß er sich halt dann selbst machen. Tut mir leid, aber wann er's bisher allan fertigbracht hat, muß's jetzt aa ohne mi gehen.«

Er rieb sich vergnügt die Hände. »Na, und Sie, Fräulein Seferl? Sie sagen ja nix! Han?«

Sie hatte bisher auf ihre Arbeit niedergesehen.

So war ihm entgangen, wie in ihrem Antlitz Freude und Schmerz, Aufatmen und Verzicht um den Vorrang stritten.

Jetzt hob sie den Kopf. Sie hatte nicht genug Kraft um all dies zu verbergen.

»Ja, was is denn?« fragte er überrascht. »Jetzt hab i glaubt, Sie werden froh sein, daß i Ihna folg, und jetzt … jetzt … fangen S' zum weinen an?«

Sie machte eine ungeduldige, abwehrende Bewegung. »I bin ja froh«, wollte sie sagen, aber sie brachte die ihr widerstrebende Lüge nicht über die Lippen. Sie konnte nicht froh sein, daß er ging. Wie leer würde es wieder um sie sein!

Ja, es war gut, daß er ging; es war notwendig; es mußte sein. Aber froh sein konnte sie nicht darüber.

»Ja, was is denn?« wiederholte er bestürzt.

Sie trocknete eine Träne, die ihr nun doch aus dem Auge getreten war.

»Froh kann i net sein«, murmelte sie. »Jetzt sitz i da wieder ganz allein.«

»Aber, Fräulein Seferl«, er nahm ihre Rechte zwischen die Hände und streichelte sie, »wir ham doch eh fast nix miteinander reden können.«

Sie schüttelte den Kopf. »Des is's net, Herr Doktor. Aber es is halt schön, wann man weiß, es is noch wer da … aus der Heimat wer, mit dem man reden könnt, wann's an so ums Herz is.«

»Fräulein Seferl«, sagte er warm und teilnehmend.

Wie schwer mußte es dem Mädel gefallen sein, ihm die Abreise anzuraten, wenn … ja … wenn …?

Er beugte sich tiefer zu ihr herab.

Herrschaft! Wie das Mädel einen ansehen konnte!

»I bleibert eh da«, murmelte er, »wann net der Professor …«

»Nein«, schrie sie förmlich auf. »Sie müssen fort, Herr Doktor! Sie müssen! Mein Gott, was bin i für a dumme Gans. Daß Sie Ihna des net überlegen, Herr Doktor! Wann S' dableiben, is des a Unglück für Sie, direkt a Unglück.« Sie erschrak und hielt inne. »Jetzt hätt i bald gsagt: Gift. Na, na, Sie müssen fahren, je ehnder, desto besser.«

Er sah sie ob ihrer plötzlichen Erregung verwundert an.

Sie bemerkte sein Erstaunen.

»Geln S', Herr Doktor«, sagte sie hastig, »i kumm Ihna ganz verrückt vor. Ham S' recht. I bin aa ganz narrisch. Denken S' net weiter dran, Herr Doktor. Sie fahren weg, alles andere is jetzt Wurscht.«

Sie drängte den Doktor, der näher an sie herangerückt war, von sich. »Gehn mer arbeiten, Herr Doktor, der Professor muß gleich kumma.«

Sie hatte ihn mit merkwürdiger Kraft beiseite gestemmt und war auf ihren Platz gehuscht.

Er sah ihr mit einem Blick nach, in dem sich Erstaunen und Bewunderung mischten.

Was doch in diesem kleinen Geschöpf für Kraft und Entschlußfähigkeit lebten. Und wie sie ihn angesehen hatte! Völlig warm war ihm dabei geworden.

So lange saß er nun schon neben ihr, tagaus, tagein. Und jetzt erst, jetzt erst lernte er sie kennen.

Herrschaft, was das Mädel eigentlich für ein prächtiges Köpferl hatte! So vernünftig, so klar. Freilich hatte sie recht, tausendmal recht.

Er holte Atem und setzte eben an, es ihr zu sagen, da wurde der Tritt des Professors im Vorraum laut.

*

Die vollen Töne des herrlichen Klaviers, der satte runde Ton des Cellos zogen durch den Raum.

Es war fast so, als schmiegten sich diese Töne wohlig in die schweren Vorhänge, in die warmen Polstermöbel; als blieben sie im Zimmer, um sich hier einzunisten und tief in die alten Einrichtungsgegenstände einzusaugen.

Die »Träumerei« von Schumann war verklungen.

Frau Elisabeth ließ aufatmend die Hände in den Schoß sinken. Dr. Santifaller richtete sich auf und legte den Bogen vor sich quer auf das mächtige Pult aus Mahagoniholz.

»Ich kann mir nicht helfen«, lächelte sie, »aber ich bilde mir ein, daß hier in meinem Zimmer alles noch einmal so gut klingt wie im Musikzimmer. Mein Mann will es nicht glauben, aber mir ist es, als halle es im Musikzimmer zu stark. Es ist zu leer, die Töne finden keinen Halt und prallen von den Wänden zurück. Hier ist das anders.«

Dr. Santifaller nickte. »Das ist keine Einbildung, gnädige Frau. Das is wirklich so. Es klingt besser hier herin.«

»Gibt es dafür auch eine wissenschaftliche Begründung?« scherzte sie heiter. Sie hatte den Kopf mit einer Bewegung, die ein wenig neckend wirkte, schief gelegt und sah ihn halt von unten her an.

Er merkte nicht, daß sie scherzte. So tief war er in ihren Anblick versunken. »Freili gibt's a Begründung dafür«, murmelte er, »nur a bisserl verwickelt halt zu erklären.«

»Ich brauche ja keine Erklärung.« Sie schüttelte leicht abwehrend den Kopf. »Aber wir werden von nun an immer hier spielen, statt im Musikzimmer. Außer wir haben Gäste. Was meinen Sie?«

Er gab keine Antwort.

Hatte er verstanden, was sie gesagt hatte?

»Sie sind heute so verträumt, Doktor. Sind das noch die Folgen der ›Träumerei‹?«

Sie lachte über den Scherz auf. Ihre Stimme klang wie eine Glocke, wenn sie lachte. Sie war glücklich. Diese Stunden des Musizierens war ihr ein Schicksalsgeschenk, wie sie es seit Jahren nicht genossen hatte.

Dieser einfache Doktor aus Tirol spielte … nicht gerade meisterhaft, dazu fehlte ihm jede Übung, aber mit einer tiefen inneren Musikalität, die sie beglückt empfand. Er spielte ungekünstelt, einfach und gemütvoll, so wie er sprach.

Sie hatte im Anfang über seine täppische Haltung, über seine Unbehilflichkeit, über seine Mundart gelächelt, und sie lächelte heute noch darüber. Aber es war heute ein anderes Lächeln als in den ersten Tagen. Damals war sie von jedem Wort, von jeder Bewegung überrascht gewesen und hatte das als erheiternd empfunden. Jetzt, ja jetzt wartete sie darauf, was er für Bewegungen machen werde, sie verglich, ob das, was sie erwartet hatte, mit dem, was sie dann wirklich sah und hörte, übereinstimmte. Ihr jetziges Lächeln war das glücklicher Befriedigung, froher Bestätigung, war ein Lächeln … Ja, ein Lächeln befriedigter Erwartung.

Es war nicht mehr zu leugnen und sie leugnete es auch nicht. Sie lebte den ganzen Tag über in der Erwartung dieser Nachmittagsstunde, in der sie vor dem geliebten Flügel saß und die Hände über die Tasten gleiten ließ und dabei hinüberhorchte und hinübersah, wie sein Cello klang, wie er das Instrument meisterte, bis … bis er aufsah und sich ihre Blicke trafen.

Ja, sie war glücklich. Seit Jahr und Tag hatte sie sich nicht so glücklich gefühlt.

Die Erstarrung, in der sie dahingelebt hatte, war von ihr gewichen. In ihrem Innern hatte sich etwas gelöst. Sie war wieder imstande zu scherzen. Sie scherzte mit ihm, wie wohl jemand mit einem Kinde scherzen mochte.

Es war wahr! Dieser ungelenke Mensch, den ihr ihr Mann gewissermaßen zur Erziehung anvertraut hatte, der, ja der hatte in ihr beseligende Muttergefühle wachgerufen, die sie überwunden geglaubt hatte.

Sie lebte die Tage über in stetem Überlegen, womit sie ihn allenfalls erfreuen konnte.

Seit Jahren kümmerte sie sich zum erstenmal um die Küche.

Bisher war es ihr gleichgültig gewesen, was auf den Tisch kam. Sie hatte eine vorzügliche Köchin.

Sollte die sich kümmern.

Was ihr Mann gerne aß, das wußte die verläßliche Person ohnehin, und ihr war es im Grunde vollständig gleichgültig.

Jetzt forschte sie ihren Schützling aus, was er gerne esse, und war eifrig besorgt, daß seine Wünsche in Erfüllung gingen.

Ach ja. Es war ein anderes Leben. Sie war glücklich, sinnvoll beschäftigt zu sein.

All diese Gedanken flogen in rascher Folge an ihr vorbei, während sie lächelnd zu ihm hinübersah, der ihr noch immer keine Antwort auf ihre Frage gegeben hatte.

»Nun, Herr Doktor!« munterte sie auf. »Sie sind mir noch eine Antwort schuldig.«

Er nickte, das heißt, es war eher ein leichtes Zittern seines Kopfes. Eine Haarsträhne an der linken Schläfe, die sich bei ihm öfters lockerte, fiel ihm ganz in die Stirne.

»I hab schon ghört«, sagte er.

»Nun also.« Sie wurde plötzlich aufmerksam. »So sagen Sie doch ein Wörtchen!«

Statt einer Antwort lehnte er sein Instrument, das er bisher noch zwischen den Knien gehalten hatte, an einen neben ihm stehenden Sessel.

Dann sah er sie traurig an. »I glaub«, flüsterte er stockend, »i glaub, wir werden hier net mehr spielen, gnädige Frau.«

Aus ihrem Antlitz schwand das Lächeln. »Wie?« fragte sie. »Hier nicht mehr spielen? Warum nicht mehr? So reden Sie doch endlich, Doktor! So reden Sie doch!«

Er war auf seinem Sessel ganz in sich zusammengesunken.

»I muß wieder fort«, murmelte er tonlos.

Sie richtete sich steil auf. »Was heißt das? Sie müssen wieder fort. Wer sagt das? Wer schickt Sie fort?« In ihren Augen glomm es auf. »So reden Sie doch! Was ist geschehen?«

»Gnädige Frau!« Er suchte mühsam nach Worten. »I war hier beim Musizieren so glücklich. I … i … kann nix dafür. I möcht ja so gern bleiben, aber …«

»Aber …?«

Er hob die Hände mit den Handflächen nach oben und ließ sie trostlos wieder sinken. »Er laßt mi net arbeiten.«

»Mein Mann?«

Er nickte. Und dann erschrak er.

Hatte sie so aufgestöhnt?

»Is Ihnen net gut, gnädige Frau?« Er war hilfsbereit aufgesprungen.

Sie wies ihn kopfschüttelnd mit vorgestreckten Händen ab, so daß er sich wieder auf seinen Sessel niederließ.

Aber dann preßte sie ein Taschentuch, das sie in der Rechten hielt, gegen den Mund.

Ihre Augen flackerten.

»Was … was hat er gesagt?« fragte sie. Ihr Antlitz war wieder starr und gebändigt.

Er hob leicht die Hände. »Gesagt? Ja, gnädige Frau gesagt hat er ja eigentlich nix Besonderes. Aber er hat halt gemeint, i soll meine Arbeit stehenlassen und ihm helfen … und … und … i siech's ja, was i da für ihn machen muß, ›Voruntersuchungen‹.« Er lachte mit einem wehen und schneidenden Ton auf. »Das … das kann irgendein Student machen, das kann vielleicht Josefa für ihn machen. Und meine große Entdeckung, all meine Arbeit is auf d' Seiten gschoben. Weiß Gott, wann i dazu komm, vielleicht Monate net, vielleicht Jahre. Zuerst waren es drei ›Voruntersuchungen‹, jetzt sind es schon siebzehn, 's können auch dreihundert oder dreitausend werden.«

Sie hörte ihm in unbeweglicher Haltung zu.

Nur ihre Lippen regten sich von Zeit zu Zeit leise.

»I hab glaubt, jetzt bin i heraus aus meine ersten Sorgen«, sprach er jetzt etwas geläufiger weiter. »Eine ganze Reihe von Leuten hat mir gschrieben, auch mein früherer Professor aus Innsbruck, daß sie die Arbeiten für außerordentlich wichtig, ja … wie ham s' gesagt? … ja für ›umwälzend‹ halten. I soll nur recht fleißig weiterarbeiten.

Und grad zwegen dem hab i mi halt auch entschlossen, daß i den Antrag von Ihrem Mann annimm, weil er halt auch gsagt hat, wie wichtig ihm die Sach vorkommt, und daß i halt hier im großen Laboratorium besser vorwärtskomm. Wie sagen S' …?« unterbrach er sich.

Sie hatte wieder einen sonderbaren Laut ausgestoßen.

»Weiter«, sagte sie, »weiter!«

»Weiter nix«, schloß er ab. »I sitz hier für nix und wieder nix. I kumm net weiter. Da hab ich mir halt denkt: geh i halt wieder ham. Dort geht's allweil noch besser, wann i auch net de Instrument und Möglichkeiten hab wie hier, aber i kann wenigstens mei Zeug machen.«

Er schaltete eine kleine Pause ein.

»Wann er mi wenigstens ein bisserl einischaun lassen tät in das, was er macht«, fügte er noch hinzu. »Aber des derf i aa net. Des bleibt für mi aa a Buch mit sieben Siegeln. I lern nix und derf nix Gscheites arbeiten. So geh i halt wieder.«

Nun war er fertig.

Eine tiefe Stille lag im Raum.

Die Frau vor ihm saß regungslos.

Er hob mit einer verzweifelten Gebärde die Hand. »Gnädige Frau!« sagte er, »gnädige Frau!«

Er erhob sich, als mache ihm das Aufstehen Mühe. »San S' net harb, gnädige Frau! Sie wissen ja net, was mi der Entschluß kosten tut. I … i … derf ja net daran denken, daß i …, daß i … dann nimmer hierherkommen derf, net mehr mit Ihna spielen kann, gnädige Frau. Sie waren so lieb zu mir. I … i …« Er fuhr sich durch die Haare. »Herrgott im Himmel …, i bin ja aa so unglücklich …, aber was soll i tun? … sagen S' mir, gnädige Frau …, gnädige Frau …«

Seine Stimme klang immer ängstlicher und ängstlicher. Er war dicht vor sie hingetreten und hatte sich vor ihr ein wenig niedergekauert, um mit seinen Augen ihren Blick aufzufangen, der an ihm vorbei geradeaus ins Leere ging.

»Gnädige Frau«, flehte er. »Jetzt san S' am End doch bös und i kann doch nix dafür. I muß doch … wann i aa … es is doch nix Unrechtes, was i tu, wann i weggeh … net?«

In diesem Augenblick hob sie den Blick empor und sah ihm in die Augen.

Ihre Gestalt hob sich unmerklich …, aber in dieser kaum sichtbaren Bewegung lag der Ausdruck einer unbeschreiblichen Qual.

Er hielt dem Blick ein paar Sekunden lang stand. Dann begannen seine Knie zu zittern. Sein Kopf, sein Oberkörper sank vorwärts und jählings brach er in die Knie.

Das war alles so überraschend gekommen, daß Frau Elisabeth kaum hätte ausweichen können, selbst wenn sie es gewollt hätte.

Sie hatte aber gar keinen Versuch gemacht, dies zu tun.

Sie hatte nur die Hand ganz leicht erhoben und ließ sie nun, da sein Haupt in ihrem Schoß ruhte, sanft auf sein schwarzes, ein wenig unordentlich durcheinander wachsendes Haar sinken.

Sie erschauerte unter der Berührung seiner Hände, die ihre Hüften umklammerten, und schloß die Augen. Aus ihrem Gesicht war alles Blut gewichen.

Sie fühlte, wie es in seinem Innern arbeitete, wie eine nur mühsam gebändigte Leidenschaft einen Ausweg suchte.

Leise hob sie die Rechte und fuhr ihm behutsam ordnend durch das Haar.

Im Nebenzimmer holte die Uhr zum Schlage aus und warf sieben abgehackte Schläge in die Stille.

Das Licht eines vorübergleitenden Kraftwagens lief über die Zimmerdecke.

Er erwachte aus seiner Betäubung und hob den Kopf.

Wieder trafen einander ihre Blicke.

»Elisabeth!«

Da neigte sie sich leise ihm entgegen.

*

Schnee trieb, vom eisigen Nordwind gepeitscht, die schon halb verwehte Allee entlang.

Dr. Santifaller kämpfte sich mühsam in der Richtung gegen die Heilanstalt Kröner aufwärts.

Aber es war nicht allein der Schneesturm, der seinen Marsch verlangsamte.

Trotz der beißenden Kälte blieb er von Zeit zu Zeit stehen und sah vor sich auf den Boden, auf dem der Schnee, vom Winde gefegt, dahinzurieseln schien.

Als die Heilanstalt in Sichtweite kam, atmete er besonders tief auf.

Wie würden sich nun die kommenden Stunden gestalten?

Vorgestern war er nach dem Gespräch mit Josefa entschlossen gewesen, heimzukehren.

Und dann war gestern das Erlebnis mit Elisabeth gekommen.

»Elisabeth.«

Daß diese stille, schweigsame Frau so beredt sein konnte.

Welche Qualen mußte diese Frau im Laufe der Jahre ausgestanden haben, was mußte ein Mensch leiden, bis er in eine solche Erstarrung geriet, wie sie sich ihrer bemächtigt hatte.

Mußte es nicht besser und erträglicher sein, überhaupt ganz allein zu leben, wie ein Klausner im Wald, als neben einem Menschen, an den einen ein ehernes Gesetz band und der doch eigentlich nicht mit einem lebte?

»Was bin ich ihm?« hatte sie in ihrer von Tränen unterbrochenen Lebensbeichte gestanden, »was bin ich ihm mehr als ein Möbelstück, mit dem er seine Wohnung ausstattet? Der Tisch, an dem er sitzt, der Spiegel, in den er blickt, das Besteck, das er zu Mittag in die Hände nimmt, gingen ihm eher ab, als wenn ich nicht da wäre.

Wenn ich bäte: ›Lasse mich reisen, da und dorthin fahren!‹, er ließe mich, ohne mit der Wimper zu zucken. Vor dieser Gleichgültigkeit fürchte ich mich. Ich spreche keine solche Bitte aus, weil ich es nicht ertragen könnte, wenn er seine Erlaubnis vor mich hinwürfe, wie er einem bettelnden Hund einen Knochen zuwirft.

Ich bin ihm ein Möbel«, hatte sie wiederholt, »ein Werkzeug, das ihm eine Gesellschaft zu geben hilft. Er spiegelt sich in mir. Er liebt es, wenn mir die Leute den Hof machen, weil das seiner Eitelkeit schmeichelt. Aber er liebt mich nicht. Er kann überhaupt nicht lieben. Er liebt nur sich und sein Werk, was ja ein und dasselbe ist.

Darum friere ich neben ihm. Friere bis ins Mark.

Wenn ich hier in meinem Zimmer sitze, dann wärme ich mich an der Erinnerung an frühere Zeiten, in denen ich glücklich war. Aber wenn ich die Schwelle dieses Zimmers überschreite, dann springt mich die Kälte an wie ein Raubtier. Sie sitzt zähnefletschend auf der Schwelle.

Ach, ich kann es nicht mehr länger ertragen. Ich kann … kann … kann nicht mehr allein sein.«

Diesem furchtbaren Erguß tiefsten seelischen Schmerzes hatte Dr. Santifaller erschüttert und von Minute zu Minute hilfloser zugehört.

Dann war sie verstummt, nachdem sie noch einmal wiederholt hatte: »Und jetzt ist alles aus. Ich muß wieder allein bleiben.«

Stumm war sie vor ihm gesessen, doch in ihr hatte es getobt. Er hatte gesehen, wie die Wellen eines trockenen Schluchzens ihren Körper durchbebten. Eine Qual nicht bloß für sie, sondern auch für ihn, der dieses wunderbare Geschöpf kurz vorher in heißer Leidenschaft in seine Arme geschlossen hatte.

Es griff ihm an die Seele. Er vermeinte vergehen zu müssen vor Mitgefühl. Und da war es ihm plötzlich hervorgesprudelt.

»Net weinen, Elisabeth, net weinen. I bleib ja da.«

Sie hatte eine Weile noch keine Bewegung gemacht.

Dann aber hatte sie – ganz langsam – das Haupt erhoben und er hatte in zwei feuchte, von maßlosem Staunen und unsicherer Hoffnung erfüllte Augen gesehen.

»Candidus?« hatte sie gefragt.

Es war nur ein einziges Wort gewesen. Aber der Ton, in dem sie es gesprochen hatte, war ihm tief ins Innere gedrungen.

Da war er zum zweitenmal vor ihr niedergesunken, hatte ihre Hände, diese feinen, schmalen Hände, mit Küssen überschüttet und noch einmal und noch einmal gestammelt:

»I bleib da, Elisabeth. I bleib da.«

Was war das für eine Stunde gewesen!

Der Schauer, der über Dr. Santifallers Rücken hinablief, war nicht von der schneidenden Kälte herbeigeführt.

Er war schließlich wie ein Verrückter davongestürzt.

Erst an der Tür des Laboratoriums hatte er sich zu fassen vermocht und hatte so viel Besinnung besessen, ein paar Minuten zu warten.

Dann hatte er seinen Mantel und seinen Hut aus Lorenz' Händen übernommen, seine Aktentasche aus dem Laboratorium geholt und war mit einem kurzen Gruß verschwunden.

Josefa war eben am Giftkasten beschäftigt gewesen und hatte, ohne sich umzusehen, seinen Gruß halblaut erwidert.

Ja und dann war er Stunde über Stunde im Schnee herumgeirrt, bis die Kälte ihn mit nagendem Schmerz in Nase, Händen und Ohren in seine Behausung trieb, zu weiterem Sinnen und wachem Träumen.

Erst in den Morgenstunden hatte er wirklich ein wenig geschlafen.

Und jetzt?

Jeder Schritt gegen die Heilanstalt zu fiel ihm schwer.

Er hatte versprochen, sich loszulösen, und hatte versprochen, zu bleiben.

Welches der beiden Versprechen galt? Welches wog schwerer?

Wie sollte er es Josefa verständlich machen, daß er nun doch blieb?

Das Mädel hatte ihn so eigenartig angesehen, so schmerzlich prüfend, so teilnahmsvoll und sorgend. Was würde sie nun sagen, wie würde sie ihn nun ansehen?

Daß er Elisabeth gegenüber nicht wortbrüchig werden konnte, das war ihm nach dem Erlebnis des gestrigen Abends klar.

Nein, das vermochte er nicht.

Und wenn er nun, um aus dieser verzweifelten Klemme zwischen zwei Versprechen sich herauszuwinden, einen Versuch machte, den Professor umzustimmen, so daß dieser ihn seinen eigenen Weg wie bisher weitergehen ließ?

Dr. Santifaller blieb neuerlich stehen und fing die Unterlippe mit den oberen Zähnen ein.

Das, ja das war eine Lösung, nein, die Lösung.

Es wurde ihm auf einmal warm.

Wenn ihm das gelang, dann war das Versprechen gegenüber Josefa hinfällig, dann war es so gut wie nicht gegeben. Denn dann konnte er ja wieder schaffen, seine Aufgabe durchführen, seinem Ziele näher kommen.

Er begann wieder auszuschreiten. Sein Schritt war frischer und lebendiger als vorhin.

Gewiß, es würde viel Mühe kosten und es würde nicht ganz leicht sein, dem Professor in diesem Kampf die Stirne zu bieten, wenn der ihm in seiner etwas gewalttätigen Art entgegentrat.

Dr. Santifaller richtete sich auf. Es mußte sein. Es stand zu viel auf dem Spiel: sein Werk, das Herz einer Frau, an die er sich verloren hatte, und die Achtung eines tapferen kleinen Mädels mit großen, fragenden Augen.

Jawohl. Es mußte sein.

Entschlossen klinkte er das Tor zur Heilanstalt auf.

Er betrat das Laboratorium mit rascheren Schritten als gewöhnlich. Es kam ihm vor, daß Josefa, die schon an ihrem Arbeitsplatz saß, prüfend zu ihm herüberblickte. Ob sie wohl schon gestern irgendeine Andeutung erwartet hatte, daß er wieder in die Heimat zurückkehren wolle?

Er warf die Aktentasche auf seinen Arbeitsplatz und schritt dann zum Professor hinüber. Der arbeitete in der ihm eigenen Stellung unbeweglich und aufmerksam an seinem Präparat.

Josefa hob den Kopf und sah Dr. Santifaller mit einem fragenden Blick an.

Er nickte, atmete tief auf, sah noch, wie Josefa ihm ein leises ermunterndes Lächeln zusandte, und sprach den Professor, zuerst wohl noch mit einer etwas belegten Stimme, an:

»Herr Professor, i hab mit Ihna z' reden.« Der Angesprochene hob verwundert den Kopf und sah, noch mit seinen Gedanken beschäftigt, den jungen Doktor erstaunt an.

Dr. Santifaller reckte die Brust heraus und stemmte den rechten Arm in die Hüfte.

»I hab eingsehn, Herr Professor, daß i an Fehler gmacht hab, wia i Ihna nachgeben hab damals, wia S' bei mir warn und verlangt ham, i soll hierherkommen. Herr Professor, i siech's, i komm da net weiter. Na, na, i komm net weiter. Alles des, was i mir scho so recht deutlich vorgestellt hab, was i schon so vor mir gsehn hab, des verschwimmt mir wieder allmählich, wann i net ununterbrochen daran arbeit … I fürcht, daß all diese Gedankengänge langsam ganz verschwinden, und aus diesem Grund, Herr Professor, hab i ursprünglich die Absicht ghabt, Ihnen zu sagen, daß i heut wieder hamfahr.«

Professor Kröner hatte sich immer weiter zu seinem Assistenten herumgedreht und ihn mit immer größerem Mißbehagen angesehen. Bei den letzten Worten blitzte es in seinen Augen auf.

Dr. Santifaller schien dies aber nicht zu bemerken.

»I hab mi anders entschlossen«, sagte er, sich neuerlich und noch steiler aufrichtend, »i bleib da.« Er stockte einen Augenblick. Ihm war es, als hätte er hinter sich etwas klirren gehört. Aber nun war er im Zug und ließ sich nicht weiter aufhalten.

»I hab ja eingsehn, Herr Professor, daß S' damals recht ghabt ham, daß i hier mehr Möglichkeiten für meine Versuche hab. Das Laboratorium mit seinem Mikroskop und mit seinen vielen Werkzeugen ist natürlich für mich eine ganz ungewöhnliche Hilfe, aber nur dann, wann i wirklich mei Gschäft weiterführen derf, wia Sie mir's ja damals zugsagt ham.

Sie haben letzthin von mir verlangt, i soll mi jetzt um Ihre Versuche kümmern und Ihna die Voruntersuchungen machen. I tät's gerne, denn i bin a fleißiger Mensch, aber i merk, es geht mir darüber mein Eigenes verloren. I möcht net ungefällig sein, Herr Professor, aber andererseits, i glaub, des, was i da für Ihna machen muß, des könnt irgendein kleines Studentel aa tuan. Aner, der von der Sach no net alles versteht und weiß, kann des aa so guat machen wia i. Aber des, was i will und wovon i mir a so viel erwart wie Sie, Herr Professor, von Ihrer eigenen Arbeit, des kann ka anderer für mi machen, des muß i weitermachen, sonst …«, er begann mit den Armen in der Luft zu rudern, »sonst erstick i da. I gspür's, Herr Professor, i komm net zu dem, was eigentlich für mich die Hauptsach is. Drum muß i Ihnen heut – es tut mir recht lad, Herr Professor, aber es muß sein – muß i Ihnen heut ganz ehrlich sagen, entweder i hab die Möglichkeit, meine Versuche, namentlich die auf dem Gebiet der Morphologie des Blutes, fortzusetzen oder i muß wieder ham, auf die Gefahr hin, daß i z' Haus z' langsam weiterkomm. Und des, Herr Professor, des hab i heut nacht beschlossen. I muß … i muß weiterkommen. I … i …«, er hob langsam die Hände, »möcht's vorziehen, Herr Professor, hier z' bleiben, wann i mei Sach weitermachen derf. I gangert sehr schwer weg, i muß's scho sagen, aber … aber Sie werden selbst einsehen, i kann net anders.«

Er machte eine jähe Verbeugung und wäre beinahe mit der Stirn auf die Schulter des Professors geschlagen.

Josefa beugte sich tief über ihre Arbeit.

Was war geschehen? Hatte er sich nicht ursprünglich ihren Vorschlägen gefügt gehabt, hatte er nicht zugestimmt, daß er wieder in die Heimat zurückkehren werde? Woher hatte er, Doktor Santifaller, nun plötzlich den Mut, mit dem Professor so zu sprechen, wie er es eben getan hatte?

Sie hielt in ihrer Arbeit inne und starrte auf die Glasplatte ihres Tisches, auf der sich undeutlich ihr eigener Kopf widerspiegelte.

War das ihr Kopf oder war das nicht der Kopf einer anderen, war das nicht …? Ach, natürlich war sie das. Das war wieder das Haupt der, die ihn gefangenhielt mit ihrer kühlen Schönheit, die ihm den Kopf benommen hatte mit ihrem eigenartigen Lächeln, das ihn zu bezaubern vermochte. Ach ja, die andere war stärker als sie! Die hatte ihn wohl gestern, als sie miteinander musizierten, beschworen, daß er bleibe, hatte ihm das Rückgrat gesteift, so daß er sich nun entschloß zu bleiben.

Sie konnte es nicht verhindern, daß ihr ein tiefer Seufzer entschlüpfte. Sie erschrak darüber selbst, hob den Kopf und sah nach den beiden Männern hinüber.

Die waren beide vollständig stumm. Dr. Santifaller stand noch immer in der sonst für ihn ungewöhnlichen aufgereckten Haltung und spielte ein wenig unruhig mit den Fingern der herabhängenden Rechten.

Und der Professor?

Der Professor hatte die Arme übereinandergeschlagen und sah durchs Fenster auf die schneebedeckten Bäume der Allee hinaus.

Minuten vergingen, dann wandte sich Dr. Santifaller langsam um und sah nach Josefa hinüber, mit einem Blick, in dem sich Stolz über die eigene bewiesene Tatkraft und die Frage, ob sie das wohl auch zu würdigen verstehe, mischten.

Sie wich diesem Blick aus. Sie konnte ihm so nicht in die Augen sehen; denn in ihren Augen hätte er lesen müssen, daß das ja alles falsch war, und daß sie auch nicht ganz aufrichtig gewesen war, als sie ihn gedrängt hatte, er solle wegen seines Werkes das Haus verlassen.

Ach ja, wegen seines Werkes wohl auch, aber vor allem, damit er dem Bannkreis der Frau Professor entrann, einem Bannkreis, der ihm nichts Gutes bringen konnte, wenn es auf dieser Welt recht zuging und das Gute sich wirklich durchsetzte und alles Schiefe und Verbogene schließlich zu einem Unheil führte.

Wenn er blieb, dann würde dieses Spiel, das ihn früher oder später in eine verzweifelte Lage bringen mußte, weitergehen und sie, Josefa, mußte dann tagaus, tagein Zeugin sein, wenn er wegging, hinüber zu »ihr«, mußte die Stunden, währenddem er mit der Frau Professor musizierte, ununterbrochen daran denken, daß er nun sich immer tiefer und tiefer in den Zauber der anderen verstrickte. Und dann kam er schließlich zurück mit diesem frohen und glücklichen Blick, der sagte, daß er Stunden des Entzückens genossen hatte, während sie hier mit ihrem wunden Herzen gesessen und vergebens gegrübelt hatte, wie sie einen Ausweg aus dieser verwickelten Lage finden könnte, die so bedrohlich aussah.

Nein, sie konnte ihm jetzt wirklich nicht in die Augen sehen.

Sie wandte sich seitwärts und machte sich an den tieferen Laden ihres Werkzeugschrankes zu schaffen. Er sollte nicht bemerken, wie tief sie durch das erschüttert war, was sie soeben gehört hatte.

Und noch immer schwieg der Professor.

Als Dr. Santifaller von Josefa keine Antwort erhielt und der Professor noch immer wie ein steinernes Bildwerk unbeweglich blieb und vor sich hin starrte, da wandte sich Dr. Santifaller, indem er die Schultern hochhob, wieder zu seinem Arbeitstisch zurück.

Dort ließ er sich an seinem Mikroskop nieder und machte den Versuch zu arbeiten. Aber auch ihm gelang es nicht.

So lag denn über dem Zimmer betretenes Schweigen; denn auch Josefa hatte allmählich in ihren Bewegungen innegehalten. Es war ihr, als dürfe diese Stille durch nichts unterbrochen werden, so lange, bis der Professor sich geäußert hatte.

Wenn sich der nun entschlösse zu sagen: gut, Herr Kollege, dann kehren Sie zurück in Ihre Heimat. Ich muß hier für mich sorgen, denn ich bin ich und ich dulde nichts anderes neben mir, ich kann keinen hier neben mir sehen, der nur für sich arbeitet und nicht mein Sklave ist. Wenn er das … Aber das sagte er ja nicht.

Er würde ja gewiß wieder irgendeinen Weg finden, um Doktor Santifaller hier zu behalten, mit einem scheinbaren Zugeständnis wenigstens, und dann war ja alles wieder so wie früher und der ganze große Anlauf, ihr Versuch und der des Dr. Santifaller, das war dann alles vergebens gewesen.

In dieser Stille klang plötzlich die Stimme des Professors:

»Ich verstehe Sie, Herr Kollege, und weiß Ihre Gründe zu würdigen. Ich halte es aber natürlich für vollständig verfehlt, wenn Sie jetzt wieder heimkehren. Ich bin bereit, auf Ihre Mitarbeit bei meinen Untersuchungen für einen gewissen Zeitraum gänzlich zu verzichten. Arbeiten Sie, bitte, an Ihren Versuchen weiter. Wir werden im Laufe der Zeit gewiß einen Modus vivendi finden, der beide Teile befriedigt.«

Bei diesen Worten hatte er den Kopf jäh gewendet und sah über Josefa hinüber zu Dr. Santifaller; über dessen Antlitz flog ein glückliches Lächeln.

»I bin sehr dankbar, Herr Professor!« rief er, dann sprang er auf und schritt an Josefa vorüber zum Professor hinüber und reichte diesem die Hand.

Sah Josefa richtig oder war es nur eine Täuschung, daß der Professor die ihm entgegengestreckte Hand nur sehr langsam und sehr zögernd ergriff?

Dr. Santifaller jedenfalls schien zufrieden. Er machte eine seiner kurzen Verbeugungen, nickte dem Professor und dann Josefa freundlich zu und ging an die Arbeit.

Der vergnügte Ausdruck seines Gesichtes, das er übers Mikroskop beugte, schien anzudeuten, daß er sich als Sieger fühlte.

Hatte er damit recht?

Und nun kam es so, wie Josefa es vorausgesehen hatte. Trüb, einförmig und ermüdend zogen die Tage an ihr vorbei. Die Vormittage über empfand sie das Quälende dieses Zustandes nicht so stark, denn da waren beide Herren in ihre Versuche und Arbeiten vertieft, und sie hatte nun doch alle Hände voll zu tun, um beiden gleichmäßig zu dienen, ohne des Professors heischend ausgestreckte Hand zu übersehen, ohne Dr. Santifaller im Stich zu lassen, wenn er bei einer besonders heiklen Verrichtung am Mikroskop oder an den kristallisierten Salzen ihrer geschickten Hände bedurfte.

Da verging die Zeit rasch und es kam ihr fast sonderbar vor, daß es schon die elfte Stunde sein solle, wenn Lorenz die drei Herren aus der Heilanstalt zur Berichterstattung meldete. Dann kam das gehetzte Mittagessen und dann … dann kam der Nachmittag, der kein Ende nehmen wollte, in dem die Arbeit der beiden Herren träger als vormittags floß. Dieser Nachmittag, an dem der Professor soundso oft in der Woche zu seinen Vorlesungen an der Hochschule fuhr, während Dr. Santifaller gegen fünf Uhr zu immer unruhiger und unruhiger wurde, während der Arbeit vor sich hin zu summen begann, wohl Melodien, die er dann mit »ihr« zu spielen gedachte. Und dann, die Uhr hatte kaum die fünfte Stunde gezeigt, da war er schon geschäftig, seinen Laboratoriumsmantel abzulegen, sich abzubürsten. Schließlich verschwand er mit der immer wieder halb verlegen hingeworfenen Entschuldigung: »I komm eh glei wieder.«

Da war es still und einsam um sie her. So still, daß sie fast dankbar war, wenn das Telephon die Stille zerriß oder wenn Lorenz hereinglitt und gereinigte Werkzeuge brachte, und dann wohl auch – es war den beiden allmählich eine liebe Gewohnheit geworden – eine Viertelstunde mit ihr verplauderte.

Aber das war alles nur eine vorübergehende Rettung; denn, waren die Ferngespräche vorüber, war Lorenz wieder hinter der Tür verschwunden, dann brach diese Stille wie eine unheimliche Lawine über das Laboratorium herein. Dann erschrak sie fast vor dem Klirren der Instrumente, vor dem leisen Klingen der Gläser, die sie aus der Hand stellte. Dann lastete diese Stille so auf ihr, daß sie förmlich einen körperlichen Druck im Nacken verspürte und immer tiefer und tiefer zusammensank. Ja, es konnte vorkommen, daß sie in dieser zusammengesunkenen Stellung viertelstundenlang verharrte, unfähig, sich aufzurichten.

War sie auch unfähig, diesem Zustand, dieser verzweifelten Lage, in der sie nun lebte, abzuhelfen?

Sie zermarterte ihren Kopf, oft halbe durchwachte Nächte hindurch.

Es wurde ihr von Tag zu Tag klarer, daß dieser Mann neben ihr, dieser junge Doktor, bewußt, hineingerissen wurde in ein Abenteuer, das für ihn nur verderblich enden konnte.

Diese Frau, diese unverstandene, von ihrem Mann vernachlässigte Frau, die ihr ganzes Leben, soweit sie es an der Seite des Professors hingebracht hatte, in einem müden und waffenlosen, also leidend überstandenen Kampf verbracht hatte, diese Frau wußte ja vielleicht auch nicht, was sie tat.

Die wenigen Male, die Josefa hinübergerufen wurde, mit ihrer Violine das Trio zu ergänzen, zeigten ihr ja immer wieder, daß auch in dieser Frau die Flamme lichterloh brannte. Sie verhüllte ja kaum mehr ihre Empfindungen. Die lächelnden Blicke des Einverständnisses, die zwischen den beiden Spielenden hin und her flogen, die bezogen sich nicht nur auf die Musik. Wenn die Frau Professor mit einem leichten Senken des Kinnes das Zeichen zum Einsatz gab, wenn sie, mit dem Klavier führend, das Tempo angab und sich ihre schöne hohe Gestalt unwillkürlich im Rhythmus des Gespielten bewegte, das alles, alles deutete darauf hin, daß sie aus einem beklemmenden Verzweiflungsschlaf aufgewacht war zu einem neuen Leben, in dem die Hoffnung, nein, die Begierde eine große, eine verhängnisvolle Rolle spielte.

Und er?

Ach, wenn sie doch imstande gewesen wäre, ihm einen Wink zu geben, wenn sie imstande gewesen wäre, ihn im Laboratorium festzuhalten.

Sie fragte sich oft verzweifelt, ob es nicht ihre Pflicht sei, ihm die Augen zu öffnen. Aber sie erkannte ebenso deutlich, daß er bereits so tief verstrickt war, daß er ihr vielleicht vorübergehend recht gegeben, aber dann doch wieder das getan hätte, wozu es ihn mit tausend Fäden zog.

Und der Professor?

Sein Verhalten war wohl das größte Rätsel. Sah er nichts, fühlte er nichts? Es schien Josefa, als ob der Professor in seiner Arbeit nicht so rasch vorankäme wie früher, er war unruhiger. Sie sah ihn oft und oft aufstehen und zu Dr. Santifaller hinübergehen, und sie fühlte ganz deutlich: es war nicht wissenschaftliche Teilnahme an dem, was Dr. Santifaller trieb, sondern eine geheime Angst, es könne ihm der andere auf dem gemeinsam zurückgelegten Weg vorauseilen, früher als er das ferne winkende Ziel erreichen. Sie sah es an dem unruhigen Kramen seiner Finger in den Hosentaschen, wo er mit Geld und Schlüsseln klimperte. Sie sah es an den kurzen, mißtrauischen Blicken, die er auf die Zeichnungen warf, die Dr. Santifaller anlegte. Sie hörte es an seiner Stimme, daß er in seinem Innern mit sich selbst rang, und sie merkte es vor allem daran, daß er seinen jungen Kollegen immer wieder drängte, er solle sich Ruhe gönnen, er solle sich seine Arbeit überlegen, nicht hasten. Sie merkte es daran, daß er es mit besonderer Befriedigung sah, wenn Dr. Santifaller während seiner Abwesenheit nicht die Versuche fortsetzte, sondern hinüberging, um zu musizieren.

War es diese tiefe Verblendung, dieser Kult des eigenen Ichs, diese Vergötzung des eigenen Wirkens, die ihn blind dafür machte, daß sich in zwei Herzen dicht neben ihm ein ganz gefährliches Feuer entzünden mußte?

Es war an manchen Tagen so, daß Josefa überlegte, ob sie nicht aus diesem Bannkreis weichen solle. Dann aber warf sie sich wieder Feigheit vor. Sie, sie mußte hier wachen, denn hier geschah ja Großes oder sollte zumindest Großes geschehen. Und es schien ihr so, als sei außer ihr schon niemand mehr hier, der rein und klar das wollte, was dieses Laboratorium eigentlich bezweckte: der Allgemeinheit zu dienen.

Dann riß sie sich zusammen, biß die Zähne aufeinander und – blieb.

*

Und nun war Weihnachten da.

Das Ehepaar Kröner hatte zu Weihnachten Gesellschaft. Verwandte kamen, wie Oberschwester Mali ihr mitteilte, regelmäßig zu Weihnachten und ließen sich beschenken und freihalten.

Dr. Santifaller fuhr für ein paar Tage heim in seine Tiroler Heimat.

Josefa blieb allein.

Sie hatte eine tiefsitzende Angst vor diesem Abend.

Ach Gott, sie hatte ihn ja schon so manches Mal trübselig und allein verbracht, aber es war damals immer nur ihr Schicksal gewesen, um das es sich gehandelt hatte. Ihr Schicksal spielte eigentlich hier schon gar keine Rolle mehr. Sie vergaß, daß ja auch sie in all der Wirrsal lebte. Die Sorge um einen ernsten, wertvollen Menschen, der Dr. Santifaller doch zweifellos war, beklemmte sie so, daß sie ihrer selbst vergaß.

Sie war glücklich, daß er weggefahren war. Vielleicht würde er in der Heimat, wenn er allem fern war, sich ein wenig Rechenschaft geben über das, was sich da in Wien ereignet hatte. Vielleicht erzählte er – wie er ihr von der Musikalität der Frau Professor vorschwärmte – auch irgendeinem vernünftigen Menschen in seiner Heimat von seinen Sorgen. Vielleicht machte dort ein Freund seine Bemerkung, die ihn aus seiner Verblendung aufwachen ließ.

War es Feigheit, wenn sie es ihm nicht sagte? Sollte sie ihm die Augen öffnen? Wenn sie es tat, dann konnte es sein, daß er ihr gegenüber seine Ruhe verlor, daß er sich von ihr beargwöhnt fühlte, ja vielleicht erreichte sie das Gegenteil von dem, was sie wollte. Es war möglich, daß er in seiner harmlosen, schwärmerischen Art vielleicht gar nicht ahnte, was sich da mit ihm begab.

Sie hatte sich zuerst vorgenommen, den Abend für sich allein zuzubringen. Dann war die Oberschwester Mali gekommen und hatte ihr gesagt, daß die Schwestern für die leichter Erkrankten den Weihnachtsabend vorbereiteten und anschließend für sich ein wenig Weihnacht feierten. Es sei gut, hatte Mali gemeint, wenn sie wenigstens bei dieser Gelegenheit den Schwestern näherkomme, die ohnehin immer ein wenig Neid gegenüber Josefas selbständiger Arbeit empfanden und diesen Neid auch gar nicht verbargen, insbesondere seit die wiederhergestellte Schwester Albertine eingerückt war und aus ihrer Abneigung gegen Josefa kein Hehl machte.

So entschloß sie sich denn, diesem Fest beizuwohnen, beteiligte sich auch an den Vorbereitungen, half mit ihren geschickten kleinen Händen Geschenke basteln und fuhr am Vorabend des Weihnachtsfestes in die Stadt, um ein paar Kleinigkeiten zu erstehen, die sie der Oberschwester, Lorenz und zweien der Schwestern, die ihr persönlich etwas nähergekommen waren, schenken wollte.

Es war gut gewesen, daß sie sich entschlossen hatte, aus ihrer Einsamkeit hervorzutreten. Es liegt in der Stimmung des Weihnachtsabends, daß er manche Spannungen, die im Zusammenleben der Menschen unvermeidlich sind, lockert oder löst. Es legt sich über jede Seele eine sanfte Ruhe, die Sehnsucht, ins Größere und ins Weitere zu sehen und vielleicht auch ein wenig in die Tiefe der Seele der Nachbarmenschen hineinzublicken. So tratschsüchtig, neugierig und eigensüchtig viele der Schwestern auch sonst sein mochten, an diesem Abend beherrschten sie sich. Mali mochte wohl auch ihren Teil dazu beigetragen haben.

Kurz, Josefa fühlte sich nicht so verlassen, wie sie gefürchtet hatte, sondern beteiligte sich rege an allen Geschehnissen des Abends. Ja sie konnte sogar einen besonderen Beitrag zu dem Feste leisten, indem sie auf ihrer Violine ein paar Weihnachtslieder spielte. Auch hatte sie einen kleinen Chor einstudiert, den sie nun anführte. Er leitete die Feier ein, schloß sie ab und rundete sie auf diese Weise künstlerisch.

Sie wurde zum Schluß sogar ganz heiter und gab auf die Bitte einer Kameradin ein paar Tiroler Volkslieder zum besten, die bei den Kranken und auch bei den Schwestern viel Beifall fanden.

So sang sie denn ein Lied nach dem anderen. Nur bei einem Lied war es mit ihrer neugewonnenen Ruhe und Selbstbeherrschung plötzlich zu Ende. Da hieß es in dem kleinen, schwermütigen Gesang an einer Stelle:

»Und wo mein großes Leid anfing,
Weil er von mir zu der andern ging.«

Sie hatte das Lied ohne Bedacht begonnen. Als sie zu dieser Stelle kam, da packte sie plötzlich eine schnürende Angst. Sie wollte der Klavierspielerin, die sie begleitete, die Noten wegreißen, aber ihre Hände waren wie gelähmt. Und bei den letzten Worten kippte ihre Stimme um und das Lied endete mit einem Mißton. Sie sah, wie alle aufmerkten, und hatte nur noch so viel Geistesgegenwart, daß sie gleich das nächste Lied begann, das fröhlicher Natur war. Sie hielt es tapfer durch, aber nach diesem Lied war es dann mit ihrer Kraft zu Ende. Sie lächelte hilflos, verneigte sich und schlich in eine Ecke. Der Beifall der anderen zwang sie noch einmal, sich zu zeigen, dann hoffte sie, allein zu bleiben.

Aber plötzlich saß die dicke Mali neben ihr und sah sie aus ihren gutmütigen Augen mitleidig an.

»Schwester Josefa«, sagte sie leise. »I hab's scho gmerkt. 's is a schiache Gschicht, wann aner zu der andern geht. Glauben S' mir, i hab's ja aa schon gmerkt, a jeds von uns waaß es ja. Es geht halt allweil net a so, wie es gehen sollt. I hab mir schon oft denkt, Schwester Josefa: i an Ihrer Stell war weggangen. Denn daß Sie den Doktor gern haben, des wissen mir aa schon. Wissen Sie, des laßt sich net verbergen, Schwester Josefa, des laßt sich net verbergen. An anzigen Blick hab i a anzigs Mal aufgfangt, wia Sie herübergschaut habn zu ihm, und damals hab i mir denkt, wie schön war des, Sie und er. Und er is wie narrisch mit dem ›Bild ohne Gnaden‹.«

Josefa gab keine Antwort, sondern sah nur stumm vor sich hin.

Ein »Bild ohne Gnaden« war nun die Frau Professor wirklich nicht. Das stimmte wohl für irgend jemand, der sie nicht näher kannte, der sie in ihrer stillen Vornehmheit sah, mit den kaum bewegten Gesichtszügen, dem ruhigen, klaren Blick, der mochte vielleicht zu der Anschauung kommen, sie sei ein »Bild ohne Gnaden«, bloß schön, aber ohne Gefühl.

Sie, Josefa, hatte sie nun schon, ach wie oft, so ganz anders gesehen: lebhaft, die Augen von einem verhaltenen Feuer glühend und mit einem Lächeln! Daß sie dieses Lächeln immer sehen mußte.

Sie richtete sich auf und starrte den helleuchtenden Weihnachtsbaum an.

Um jede einzelne Kerze wob der Lichtschimmer einen Kreis. Oben an der Spitze des Baumes hatte sie selbst, als die leichteste und geschickteste der Schwestern, auf einer langen Leiter stehend, einen Engel angebracht.

Aber es war wie verhext gewesen. Dieser Engel sah auch wieder »ihr« ähnlich. Er hatte auch so ein regelmäßiges Antlitz, und jetzt, wie sie nach dem Baum hinüberstarrte, da war es ihr, als wüchse dieser Engel und sehe mit einem milden Lächeln herab.

Bei dem Abendessen, das der Feier folgte, trank Josefa mit Gier zwei, drei Gläser Wein. Sie hätte jetzt viel darum gegeben, wenn sich um ihr müdes, ewig weiterarbeitendes Gehirn ein sanfter Schleier gelegt hätte. Sie sah die anderen wie durch einen feinen, märchenhaften Dunst miteinander sprechen und lachen. Und dann fühlte sie, wie sie immer müder und müder in sich zusammensank. Schließlich stahl sie sich aus dem Saal und schlich in ihr Zimmer hinab.

Ihr Tisch war leer. Niemand gedachte ihrer, niemand schrieb ihr. Ach, wenn doch wenigstens der gute kleine Dr. Müller oder seine Frau eine Grußkarte aus Oberflins gesandt hätten!

Sie setzte sich an den Tisch und starrte auf die leere Platte. Aus dem Haus über ihr klang noch der Gesang der Schwestern, leiser, immer leiser. Der Kopf sank ihr auf die Hände herab, der müde Körper gab nach.

So schlief sie ein.

*

Professor Kröner unterhielt einen umfangreichen Briefwechsel. Alltäglich brachte Lorenz etwa um die neunte Vormittagsstunde einen großen Pack Post ins Laboratorium. Briefe aus aller Welt. Anfragen von Gelehrten, Berichte von den Schlangenfarmen, die von Professor Kröner verschiedene Anregungen empfangen hatten, wie sie die Gifte der Schlangen aufbewahren, versenden und die von ihm wieder zugesendeten Sera anzuwenden hatten.

Dazu kamen noch Schreiben von Schülern, Kollegen, kurz, es gab regelmäßig eine ziemlich bedeutende Arbeit, wenigstens das Notwendigste dieser Briefe rasch zu beantworten.

Einen Teil der Briefpost erledigte Josefa selbständig.

Der Professor hatte es mit der ihm eigenen Gleichgültigkeit aufgenommen, daß sie nun auf einmal imstande war, eine Ansage in Kurzschrift aufzunehmen. Daß sie sich unsäglich plagte, um dann auf der ihr wenig gewohnten Maschine diese Briefe in Maschinenschrift umzusetzen, beachtete er ebensowenig.

Durch all diese Arbeiten bekam aber Josefa mit der Zeit einen tiefen Einblick in das gesamte Schaffen des Professors.

Es beglückte sie, daß sie gelegentlich die eine oder die andere Antwort bereits selbst verfassen und dem Professor bloß zur Unterschrift vorlegen konnte, und es war ihr eine prickelnde Freude, sich vorzustellen, wie der Professor wohl den einen oder anderen Brief beantworten mochte, und dann das, was sie geplant hatte, mit dem zu vergleichen, was er ihr in seiner knappen Art ansagte.

Neben diesem Briefwechsel des Professors nahm sich der Doktor Santifallers allerdings winzig genug aus.

Er führte einen kargen Briefwechsel mit seiner Schwester in Tirol und dann mit der Schriftleitung der medizinischen Wochenschrift, in der sein erster Aufsatz erschienen war.

Am ersten Wochentag nach Weihnachten – Dr. Santifaller war noch nicht zurückgekommen – brachte die Post einen dicken Brief mit dem Briefkopf der Universität Berlin.

Josefa schied diesen Brief aus der übrigen Post aus und legte ihn auf den Tisch Santifallers.

Während des Vormittags wurde sie einmal durch die Oberschwester Mali aus dem Laboratorium gerufen, um ihr bei einer kleinen Verrichtung zu helfen.

Als sie zurückkehrte und an dem Tisch Santifallers vorbeiging, kam es ihr vor, als läge der Brief nicht auf dem Fleck, auf den sie ihn hingelegt hatte.

Sie warf einen Blick zu dem Professor hinüber. Der aber arbeitete in der gewohnten gebeugten Stellung.

Es konnte ja auch eine Täuschung gewesen sein.

Plötzlich hörte sie sich vom Professor angesprochen.

»Wann hat Doktor Santifaller gesagt, daß er zurückkommt?«

Sie hob den Kopf.

»Er hat mir gar nichts gesagt, Herr Professor. Aber ich dachte, Sie hätten ihm doch gesagt, er könne die ganze Woche über ausbleiben.«

Der Professor stand auf und ging im Laboratorium auf und nieder, blieb einen Augenblick vor dem Tisch Dr. Santifallers stehen und sagte: »Dann ist es durchaus möglich, daß er erst in drei oder vier Tagen kommt. Hm.«

Er blieb einen Augenblick unschlüssig stehen.

»Wir könnten ihm ja den Brief nachsenden«, sagte er dann langsam.

Josefa drehte sich um und sah ihn an.

»Wenn wir ihm den Brief nachsenden, Herr Professor, so kann es sehr leicht sein, daß er ihn verfehlt. Ist es nicht besser, wir lassen ihn hier?«

Er wandte ihr jäh den Kopf zu und sah sie durchdringend an.

»Ja«, sagte er dann leiser, als er gewöhnlich sprach, »das könnte sein, daß ihn der Brief dann verfehlt. Schön«, schloß er etwas lauter ab, »lassen wir den Brief hier.«

Warum plagte ihn dieser Brief so? War er neugierig?

Josefa schüttelte verwundert und ein wenig unmutig den Kopf. Was ging schließlich den Professor die Briefpost Dr. Santifallers an?

*

Drei Tage später war Dr. Santifaller da.

Er kam braungebrannt und frisch auf Josefa zu, die in dem Augenblick allein im Laboratorium war.

»Schön war's«, sagte er, »die Sonn hat gscheint, braun bin i wordn, es is doch was Herrlichs draußen in den Bergen … Es reißt an förmlich, draußen z' bleiben. Wann i net hier … die … die Arbeit hätt, meiner Seel, i war wieder draußen bliebn. Was Neuchs, Schwester Josefa?«

»Nichts Besonderes«, sagte sie, die sich inzwischen wieder der Arbeit zugewendet hatte. »Vielleicht wird der Herr Professor in der nächsten Zeit einmal für einige Wochen wegfahren.«

»Was?« wandte sich Dr. Santifaller ihr plötzlich zu. »Der Professor wegfahren? Wohin?«

»Gestern«, sagte Josefa, »ist ein Brief gekommen aus Buntantan. Sie wissen …«

»Ja, ja«, nickte Santifaller, »dort is ja die große Schlangenfarm. Weiß schon.«

»Sie fragen, ob er nicht hinüberkommen könnte. Es findet ein großer Kongreß in Rio de Janeiro statt, wo sich fast alle Ärzte von Brasilien und auch aus den anderen Staaten von Südamerika einfinden sollen. Dort werden die Erfahrungen der Schlangenfarm den anderen Herren vorgeführt, und weil doch der Professor so starken Einfluß genommen hat, haben sie gefragt, ob er nicht vielleicht auch hinunterkommt.«

»Ja, des is selbstverständlich, daß er da abifahren muaß«, nickte Dr. Santifaller. »So a Gelegenheit derf er do net versäumen. Wunderbar! Ja, Schwester Josefa, wann einer amol berühmt is! Ha, Südamerika«, er wackelte mit dem Kopf, »wunderbar, wenn man daran denkt, so hinaus in die weite Welt, förmli beneiden könnt i den Herrn Professor, wann mir's Neidigsein liegen tät.«

Er lachte auf.

»Soll nur fahrn, soll nur fahrn, inzwischen …«, er streckte wie ein Lausbub die Zunge heraus und ließ sie wieder verschwinden, »inzwischen kann i da arbeiten, kann mei Sach weiterbringen. Hoffentlich fahrt er!«

Er kicherte in sich hinein und ließ sich dann an seinem Arbeitsplatz nieder.

»Da schauts her«, sagte er, »die Universität Berlin. Was wollen denn die?«

Er öffnete den Brief und las.

Josefa schalt sich neugierig; aber sie konnte es sich doch nicht versagen, gelegentlich einen kleinen Seitenblick zu dem Lesenden hinüberzuwerfen. Und da sah sie, daß er mit immer glänzenderen Augen las, sich ein-, zweimal mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr und vor sich hin nickte. Dann ließ er den Brief sinken und sah sie vergnügt an.

»Sehn S', Schwester Josefa«, sagte er, »wia guat des is, wenn ma net wirkli neidig is. Jetzt hab i scho mei Belohnung dafür. Eingladen bin i!«

»Was, Sie auch?« wunderte sich Josefa.

»Ja, i aa.« Er lachte. »In der Universität Berlin san s' anscheinend erst jetzt auf mein Aufsatz draufkommen, und da laden S' mi ein, i soll in der Vereinigung der Toxikologen an Vortrag über meine Erfahrungen halten. Was sagen S' jetzt, Schwester Josefa? Der Große wird nach Südamerika eingladen und der Klane zum wenigsten nach Berlin. Is aa schon a Anfang.«

Er schlug sich vergnügt auf die Schenkel, verlor dabei den Brief aus der Hand und mußte ihn umständlich wieder vom Boden aufklauben.

In diesem Augenblick trat Professor Kröner ein.

Die Begrüßung der beiden Herren beschränkte sich auf ein paar gleichgültige Worte.

Dann folgte Santifaller mit dem Brief in der Hand dem Professor zu seinem Tisch und sagte:

»Herr Professor, i bin ganz baff. I bin eingladen. I soll in Berlin an Vortrag halten über meine Versuche. Na, Sie wissen eh, was i halt damals in mein Aufsatz gschriebn hab, des wollen s' no a bisserl genauer hörn, die Herren in Berlin. Der Vortrag soll in drei Wochen stattfinden. I hoff, der Herr Professor hat nix dagegen, wann i auf zwa oder drei Tag wegfahr?«

Professor Kröner heftete seinen Blick auf den ihm dargereichten Brief, nahm ihn langsam aus der Hand Santifallers und las ihn durch.

Dann hob er kurz die Schultern. »Bitte«, sagte er, »fahren Sie.«

»Danke vielmals«, verneigte sich Santifaller, »für mi is des scho was Bsonders, Herr Professor, net, wann ma no so der Niemand is und hat do so Gelegenheit, ein paar Fachleuten was von seiner Arbeit zu erzähln. Es macht einem halt Freud, net wahr?« Er lachte glücklich auf. »Und des möcht i halt net versäumen. Außerdem kenn i Berlin net und möcht mi sehr gfreun, wann i amol die wunderliche Stadt siech.«

Er kehrte mit ein wenig einknickenden Schritten, die so aussahen, als versuche er einen leisen Tanz, zu seinem Mikroskop zurück.

»Des hätt i mir net träuma lassen«, sagte er von dort her. »Der Santifaller nach Berlin! Na, hoffentlich lachen s' mi net aus, wenn i komm mit mein Tirolerisch. Ich bin neugierig, ob mi die Lackeln da oben verstehn.«

Er schien keine Antwort zu erwarten. Er kicherte noch mehrmals vergnügt in sich hinein und widmete sich dann, wie gewohnt, seiner Arbeit.

Am Abend desselben Tages, Dr. Santifaller war wieder zum Musizieren in die Privatwohnung des Professors hinübergegangen, erledigte Professor Kröner mit Josefa die Post.

Der Brief aus Rio de Janeiro blieb als letzter.

Der Professor schien ihn nicht zu beachten.

»Schluß«, sagte er und schob die Papiere zur Seite.

»Hier ist noch die Einladung, Herr Professor«, machte Josefa ihn aufmerksam und schob ihm den Brief zu, »die Einladung aus Rio de Janeiro.«

Professor Kröner hob die zur Faust geballte Rechte an die Lippen und drückte nachdenklich die Knöchel gegen die Zähne. So blieb er eine Zeitlang stehen. Dann schien es ihm bewußt zu werden, daß sie eine Antwort erwartete.

»Rio de Janeiro«, sagte er, das kostet mich eine Abwesenheit von … von … wie lange kann das wohl sein? Drei, fünf, mindestens sieben bis acht Wochen, wenn nicht länger.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das wird nicht gehen, Josefa, so lange kann ich hier nicht alles liegenlassen. Die Versuche, die Darstellung der tropischen Gifte, Vorlesungen«, er schüttelte mißmutig den Kopf.

»Die Vorlesungen?« meinte Josefa. »Der Kongreß findet doch grad in den Semesterferien statt. Die Schlußvorlesungen vom ersten und die Anfangsvorlesungen vom zweiten Semester gehn drauf. Sonst nix.«

Er sah sie forschend an.

»So«, sagte er fragend, »das mag sein. Das kann stimmen, aber«, er schüttelte plötzlich energisch den Kopf, »es geht trotzdem nicht. Ich kann von hier nicht fort. Ich … ich kann nicht. Es geht nicht. Denk doch nur an die Gifte von Rüttgers. Da hab' ich doch drei Viertel erst richtig durchgearbeitet, und die schwierigsten und gefährlichsten sind zum Schluß geblieben. Weiß Gott, ob sich nicht doch das eine oder andere mit der Zeit zersetzt. Dann wäre alle Arbeit vergebens gewesen. Nein«, sagte er und ging ein paar Schritte auf und ab.

Er blieb vor dem Arbeitsplatz Dr. Santifallers stehen.

»Nein«, sagte er mit entschiedenem Ton in der Stimme, »kommt nicht in Frage.«

Josefa war es, als schwänge in seiner Stimme doch ein gewisser Zweifel mit, ein Zweifel, ob er denn wirklich mit solcher Entschiedenheit sich entschließen solle.

Sie hatte es bisher nie gewagt, ihn in solchen Angelegenheiten näher um Auskunft zu bitten oder gar einen bescheidenen Ratschlag zu versuchen. Sie wußte selbst nicht, woher sie den Mut nahm, als sie nun plötzlich sagte:

»Die Herren bitten aber so freundlich, und es ist doch vielleicht wirklich sehr wichtig. Wer weiß, ob die Südamerikaner alle Anweisungen ausführen, wie Sie es wollen?«

Er wandte sich erstaunt zu ihr herum.

»Wenn ich sage, ich fahre nicht, so fahre ich nicht.«

Sie duckte sich vor dem scharfen Ton, in dem er diese Worte hervorgestoßen hatte, über ihr Papier und schwieg.

Sie erwartete, daß er nun einen Absagebrief diktieren werde, aber er tat nichts dergleichen, sondern beschäftigte sich ohne ein weiteres Wort zu sprechen, mit den Präparaten auf dem großen Tisch, der in der Mitte des Laboratoriums stand.

Als er nach etwa fünf Minuten noch immer keine Miene machte, weiter anzusagen, räumte Josefa geräuschlos Papier, Bleistift und ihr anderes Handwerksgerät zusammen und setzte sich an die Schreibmaschine.

Als sie sich nach einiger Zeit fleißiger Arbeit umdrehte, um wegen einer Unklarheit in ihrem Stenogramm den Professor um Auskunft zu fragen, sah sie zu ihrem Erstaunen, daß sie allein war. Sie mußte unter dem Geräusch der Schreibmaschine überhört haben, daß er den Raum verließ.

Statt seiner kam nach einiger Zeit Dr. Santifaller, eine Melodie vor sich hin summend, herein.

»Schön war's wieder«, sagte er, »mein Gott, der alte Beethoven, der hat halt doch sei Sach verstanden. A Tiefe is in der Musik. Unerschöpflich, unerschöpflich. Heut ham wir wieder so Sonaten gespielt, mein Gott, der Mann, der Mann hat was können! Ja«, unterbrach er sich plötzlich, »also Schwester Josefa, jetzt hätt i halt a Bitt an Sie. Schreiben möcht i gern an die Universität Berlin. Zusagen, daß i komm, net? Wissen S', i bin ka großer Schriftsteller. San S' mir a bisserl behilflich, wie man so recht höflich und nett schreibt. Wie halt der Professor nach Rio de Janeiro geschrieben hat, so ähnlich halt, net?«

Sie hob den Kopf.

»Er fahrt net.«

Dr. Santifaller ließ sich in einer Art komischen Entsetzens an den Schrank zurückfallen, vor dem er stand.

»Was«, sagte er, »er fahrt net? Na, du lieber Gott, so is des auf der Welt. I, wann i fahren könnt, mein Gott, so was: Südamerika, Rio de Janeiro, und die Farm anschaun! Kennt er sie denn überhaupt?«

»I glaub net«, sagte Josefa, »i glaub net, daß er schon einmal drüben war.«

»Des versteh i net«, sagte Dr. Santifaller, »so a Gelegenheit vorbeigehen lassen. Ja, ja, is aber schließlich sei Sach. Schließlich is Rio de Janeiro a bissel weiter als Berlin.«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Präparate schepperten.

»I fahr nach Berlin. Werdn ma sehn, wie das ausgeht. Werdn ma sehn.«

Josefa setzte ihm einen höflichen Zusagebrief auf.

Dr. Santifaller fügte noch einige Fragen über den Umfang des gewünschten Vortrages, über die ihm zugebilligte Zeit und dergleichen Einzelheiten hinzu.

Dann schrieb Josefa den Brief, und Dr. Santifaller krakelte mit steilen Buchstaben seinen Namen darunter.

»Unlesbar«, lachte er, »schreiben S' auf alle Fälle no amol mit Maschinschrift drunter, wie i haaß, sonst wissen die Brüder net, wer ihnen den Brief gschickt hat.«

Er war in der besten Laune.

»Jetzt muaß i mi aber glei hinsetzen«, nickte er Josefa zu, »und mi vorbereiten dafür; denn wann i scho nach Berlin komm und vor lauter Fachleut, des muaß a Vortrag werdn«, er schnalzte mit der Zunge, »also ganz was Erstklassiges muaß des werdn!«

Hatte Josefa recht behalten, als sie vermutet hatte, dem Professor sei es mit seiner Absage nach Rio de Janeiro nicht ganz ernst gewesen?

Der Brief lag in der Mappe und blieb unbeantwortet.

Sie wagte nach der scharfen Abweisung, die sie das erste Mal erfahren hatte, nicht mehr, ihn darauf aufmerksam zu machen. Sie ließ den Brief immer wie unabsichtlich in der Unterschriftenmappe liegen, so daß er ihn beim Durchblättern sehen mußte. Irgendwann mußte er sich doch entscheiden.

Er überschlug ihn regelmäßig, was er sonst nie bei einem Schriftstück tat.

Er war also offenbar noch immer nicht entschlossen, ob er fahren sollte oder nicht.

Inzwischen bereitete sich Santifaller mit großem Eifer auf seinen Vortrag an der Berliner Universität vor. Mit solchem Eifer, daß er darüber sogar einmal über die fünfte Stunde hinaus arbeitete.

Der Professor mußte ihn aufmerksam machen, daß er die gewohnte Zeit übersehen habe.

Santifaller lachte verlegen auf, ließ aber, wie es Josefa auch nicht anders erwartet hatte, auf der Stelle seine Arbeit sein und verschwand.

In diesen Wochen kam es zu keinem gemeinsamen Kammermusikabend.

Die Köchin der Frau Professor war erkrankt, das Stubenmädchen überlastet. Offenbar war es nicht die Art der Frau Professor, daß sie selbst bei der Arbeit einsprang.

So mußte eben manches Gewohnte unterbleiben.

Die Köchin würde erst in zwei, drei Wochen wiederkommen, teilte das Stubenmädchen Josefa mit.

Auch im Laboratorium gab es viel Arbeit.

Nun sah es doch ein wenig so aus, als ob der Professor irgend etwas vorhabe; denn er beschleunigte die Bearbeitung der tropischen Gifte, die Rüttgers mitgebracht hatte, mit allen Mitteln.

Er hatte eine unglaublich glückliche Hand.

Es mußte offenbar auch bei diesen tropischen Giften gewisse Klassen geben, die auf bestimmte Blutgruppen besonders eigenartig einwirkten.

Gewöhnlich war es so, daß es dem Professor gelang, hintereinander rasch drei oder vier solcher Gifte zu enträtseln oder, besser gesagt, die Gegengifte ausfindig zu machen und die allenfalls notwendigen Sera herzustellen. Dann dauerte es wieder erhebliche Zeit, bis er zur nächsten Gruppe von Giften vorgehen konnte. Hatte er aber dann wieder einmal in diese Gruppe eine Bresche geschlagen, dann enträtselte sich wieder verhältnismäßig leicht eine weitere Reihe dieser von Rüttgers gebrachten gefährlichen Säfte.

Es war ziemlich deutlich zu erkennen, daß er in einer gewissen Spanne Zeit mit der Sendung fertig werden würde. Vielleicht wollte er erst, wenn er dieses Ergebnis sicher hatte, die Fahrt nach Südamerika unternehmen.

Das war denkbar. Er liebte es nicht, eine Arbeit zu unterbrechen. Schon in seinem großen Vortrag in der Akademie der Wissenschaften hatte er gesagt, daß es auch in der wissenschaftlichen Arbeit so etwas gäbe wie Stimmung; nicht bloß in der rein künstlerischen. Es könne sich, so hatte er damals gesagt, ereignen, daß sich in einer besonderen Laune und Stimmung des wissenschaftlich Arbeitenden, ja vielleicht auch in einer gewissen Laune des Schicksals manches eröffne, was vielleicht ein anderes Mal überhaupt nicht hervorträte und dann für ewige Zeiten ein Rätsel bleibe.

Möglich, daß eine derartige Erwägung bei ihm eine Rolle spielte.

Er war gereizter und nervöser, als Josefa ihn je vorher gesehen hatte. Jede kleinste Abhaltung brachte ihn auf.

Ja, er konnte oft mitten während seiner Arbeit aufspringen, im Laboratorium auf und ab gehen und plötzlich mit Dr. Santifaller ein Gespräch beginnen, das von seiner Seite in einer Art Jähzorn geführt wurde, während Dr. Santifaller in seiner unverbrüchlichen Ruhe es oft gar nicht zu empfinden schien, daß sich der Professor gereizt fühlte.

Denn Dr. Santifaller war diese Zeit über in der besten Stimmung der Welt.

Die Einladung der Universität Berlin hatte ihm einen tiefen Eindruck gemacht. Es war die zweite große Anerkennung seines Schaffens. Die erste war die gewesen, daß ihn der Professor, der wohl erste Fachmann der Welt auf diesem Gebiet, besucht hatte. Die zweite, daß sich eine der größten Hochschulen der Welt für sein Werk einzusetzen begann.

Seine Versuche, Blut verschiedener Herkunft mit Hilfe verschiedener Salze zu kristallisieren, setzte er mit großem Erfolg fort. Beinahe jeder Versuch brachte ihn seinem Ziel näher, dem Ziel, daß eine Bestimmung mancher Krankheiten bloß dadurch möglich war, daß man Blut mit Salz kristallisieren ließ und dann aus der Morphologie, aus der Form, in die sich die Blutkörperchen zusammenballten, Schlüsse ziehen konnte.

Er hatte eine köstliche Art, jedesmal, wenn ihm wieder ein weiterer Schritt gelungen war, fast wie ein Junge aufzujubeln. Dann packte er sein Präparat und lief damit zum Professor hinüber, der, Josefa merkte es wohl, regelmäßig mit innerem Widerstreben die Leistung des jüngeren Kollegen anerkennen mußte.

Ob wohl das der Hauptgrund dafür war, daß er in der letzten Zeit so fahrig, so nervös geworden war?

Dazu kamen allerhand Abhaltungen von außen her. Dekanatssitzungen an der Universität, Vorträge in Volksbildungsanstalten, die den berühmten Gelehrten immer wieder heranzogen, und dann Besuche.

Jeden Augenblick meldete sich irgendein Gelehrter von außen zum Besuch der Heilanstalt an.

Es war nicht immer möglich, diesen meist hochstehenden und berühmten Männern eine abschlägige Antwort zu senden.

Kamen sie einzeln, so war der Professor noch besserer Laune. Am wenigsten lag es ihm hingegen, wenn sich gleich eine ganze Gesellschaft von Ärzten oder Fachleuten anmeldete und dann wie ein Schwarm von Wespen hereinbrach und das Haus mit Unruhe und Lärm erfüllte.

*

In den letzten Wochen des Jänner ereignete sich wieder ein solcher Fall.

Es waren diesmal nordamerikanische Ärzte, die um einen Vortrag und um eine Führung baten. Er mußte schließlich zusagen.

Josefa hatte ziemlich viel Arbeit damit. Es mußte ein großes Programm zusammengestellt werden, das am Samstag mit einem Ausflug auf den Semmering endete.

Dr. Santifaller hatte sich schon am Samstag vom Professor verabschiedet.

Er sollte am Montag in Berlin eintreffen und war noch unentschlossen, ob er am Sonntag mit dem Mittag- oder Abendzug abreisen sollte.

»Alsdern«, sagte Santifaller, »i waaß ja net, ob i am Abend no da bin und wann Sie zruckkommen, Herr Professor. Oder seh i Sie vielleicht do noch?«

Josefa schüttelte den Kopf.

»Der Ausflug ist erst um zehn Uhr abends zu Ende. Der Herr Professor kann Sie nimmer erreichen.«

*

Dieser Sonntag gehörte Josefa.

Sie hatte einen Ausflug in den Wienerwald unternommen und wanderte erfrischt heimwärts. Als sie sich der Heilanstalt näherte, war es ihr, als sähe sie Dr. Santifaller von der Gegenseite herankommen. Es war zu weit, als daß sie ihm hätte winken oder zurufen können.

Er trat durch die Seitenpforte, die unmittelbar zum Laboratorium führte, in den Garten ein.

Sie beschleunigte ihre Schritte, um ihn noch einzuholen. Als sie sich auf Rufweite genähert hatte, sah sie ihn gerade ins Gebäude selbst eintreten. Es war kein Zweifel, er war es.

Sie legte in ihrem Zimmer rasch ab und überlegte.

Vielleicht brauchte er sie im Laboratorium, vielleicht konnte sie ihm noch etwas zu dem sagen, was sie schon einmal angedeutet hatte. Ja, das war eine Gelegenheit.

Sie verließ ihr Zimmer und öffnete den Vorraum. Auf dem Tisch des alten Lorenz lag noch immer der Zettel, den sie ihm morgens hingelegt hatte.

Sie erschrak. Hatte er am Ende heute vormittag das Laboratorium nicht besucht? War die Temperatur vorschriftswidrig gesunken?

Aber dann atmete sie erleichtert wieder auf. Auf dem Zettel stand unter ihrer Anweisung mit den sauberen Schriftzügen des Alten geschrieben: Auftragsgemäß drei Uhr Temperatur überprüft, Lorenz.

Was doch die Verläßlichkeit eines Menschen wert ist!

Und nun wollte sie Dr. Santifaller überraschen.

Sie ging leise auf die Tür zu, drückte unhörbar die Klinke nieder und öffnete die Tür. Dann blieb sie wie gebannt stehen.

Das Laboratorium war leer.

*

Leer?

Wo war … wo war Dr. Santifaller?

Oder sollte sie sich doch getäuscht haben? Gab es in der Heilanstalt noch jemand, der ihm so ähnlich sah, sogar in seinen Bewegungen, in der eigentümlichen Art, wie er vorgebeugt ging?

Sie schritt an seinen Arbeitstisch heran, aber es war alles in unberührter Ordnung. Seine Aktenmappe, die er sonst immer mit sich führte, fehlte.

Sie kehrte in den Vorraum zurück. Auch sein Hut, sein Mantel waren nicht vorhanden.

Sie ließ plötzlich die Hände herabsinken.

Ach ja, da war er wohl drüben, wieder bei der Frau Professor, und sie spielten.

Sie kehrte in müder Haltung ins Laboratorium zurück und sah sich mit einem verzweifelten Blick in dem leeren Raum um.

Nein, heute, heute konnte sie hier nicht mehr arbeiten.

Wenn er dagewesen wäre, Dr. Santifaller, o ja, dann hätte sie ihm gerne ein wenig Hilfe geleistet. Vielleicht wäre ihm dann noch irgend etwas gelungen, irgendeine neue Entdeckung auf seinem Gebiet. Dann hätte er wieder vor sich hin gejubelt und gelacht, und sie hätte sich mit ihm freuen können.

So freute er sich ohne sie dort drüben.

Sie schlug die Hände vors Gesicht und blieb einen Augenblick unbeweglich stehen.

Dann floh sie vor dieser Stille, die von allen Seiten auf sie eindrang. Fort, nur fort!

Auch in ihrem Zimmer wollte sie nicht bleiben. Da hörte man ja jeden Ton der Musik herüber, der Musik, die sie ja sonst so gerne hörte und die ihr zur Qual wurde, wenn sie wußte, daß die beiden drüben miteinander spielten.

Sie öffnete in ihrem Zimmer den Kasten, um sich umzukleiden.

Sie wäre so gerne jetzt geblieben, hätte sich zur Ruhe gelegt und geschlafen. Aber sie wußte, daß sie es nicht ertragen würde, die ganze Zeit hier im Zimmer zu bleiben und den Tönen zu lauschen, die da von nebenan kamen.

Aber es kamen ja gar keine Töne von nebenan!

Das wurde ihr erst jetzt bewußt. Sie blieb mit hocherhobener Hand, in der sie ein dem Kasten entnommenes Kleid hielt, stehen.

Jetzt war sie doch schon hübsch lange im Zimmer und noch war kein Ton von drüben herübergeklungen.

Sie hängte das Kleid wieder leise in den Kasten zurück, als könne sie das kleinste Geräusch beirren. Dann blieb sie, an die Wandung des Kastens gelehnt, stehen, mit der rechten Hand am Schlüssel der offenstehenden Tür, und horchte.

Es kam kein Ton herüber. Kein leisester Ton.

Sie suchte sich zu vergegenwärtigen, wie das gewesen war, als sie sich, von ihrem Spaziergang zurückkehrend, der Anstalt genähert hatte. Da hatte sie doch den Doktor heraufkommen gesehen. Er war durch die Seitenpforte eingetreten, durch die sonst eigentlich, abgesehen vom Personal des Haushaltes des Professors, niemand ging. Es konnte auch niemand anderer gewesen sein, nein!

Oder war es doch eine Täuschung?

Sie war ihm doch unmittelbar nachgefolgt, sie war ihm dicht auf den Fersen gewesen!

Er hätte doch läuten und warten müssen, bis ihm jemand öffnete. Als sie aber heraufgekommen war, da hatte sie im Stiegenhaus niemand vorgefunden.

Josefa schüttelte den Kopf.

Es mochte sein, daß die kalte Winterluft, der ungewohnte Ausflug, die Müdigkeit und vielleicht auch der Wein, den sie in der Hütte getrunken hatte, daß ihr all das ein wenig den Blick getrübt hatte.

Vielleicht war es wirklich so. O ja, es mußte so sein!

Sie fühlte eine leise Beruhigung und beschloß, nun doch in ihrem Zimmer zu bleiben.

Wenn kein Laut mehr von drüben herüberklang, dann hatte sie sich eben geirrt, dann war es eine Täuschung ihrer Sinne gewesen.

So nahm sie denn ein Buch zur Hand und versuchte zu lesen.

Aber es ging nicht. Immer wieder verwirrten sich ihre Gedanken. Immer wieder tauchte mit quälender Zudringlichkeit die Frage in ihr auf, ob sie nicht vielleicht doch richtig gesehen habe.

Sie ertappte sich dabei, daß sie nun schon zum drittenmal dieselbe Seite las, ohne von dem Inhalt des Gelesenen auch nur das Geringste aufgenommen zu haben.

Und dann plötzlich hob sie lauschend den Kopf.

Das war der Klang des Haustores vom Seitentrakt. Ganz deutlich, da kam jemand die Treppe herauf.

Das war doch ein Schritt, den sie kannte. War das nicht der Schritt des Professors?

Sie hielt den Atem an.

Die Schritte kamen herauf, hielten vor ihrer Tür an. Dann hörte sie Schlüsselgeklimper, eine Tür öffnete sich und fiel wieder zu.

War das nun die der Wohnung oder die des Laboratoriums gewesen?

Josefa warf das Buch zur Seite.

Wenn der Professor ins Laboratorium hinüberging, dann brauchte er sie. Das war so sicher wie das Amen im Gebet.

Sie drehte das Licht in ihrem Zimmer ab, fischte den Schlüssel aus ihrem Täschchen, verschloß ihr Zimmer und ging ins Laboratorium hinüber.

Es war leer wie früher.

Dann war der Professor also in seine Wohnung hinübergegangen. Wohl um abzulegen.

Sie seufzte tief. Ach Gott, es war wohl jetzt schon das Gescheiteste, sie blieb. Es gab für morgen noch einiges vorzubereiten. Besser, sie tat es jetzt, als daß sie sich am nächsten Morgen in großer Hast plagen mußte, alles in Ordnung zu bringen.

So öffnete sie denn ihr Arbeitskästchen, holte die noch nicht eingeteilten Präparate heraus, breitete sie auf dem großen Mitteltisch aus und begann sie zu ordnen.

Sie hatte richtig gerechnet.

Sie hatte kaum begonnen, als sie unmittelbar vor der Tür die Schritte des Professors vernahm. Wieso hatte sie ihn nicht aufsperren gehört?

Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür und der Professor trat ein.

Sie hatte eben eine Tablette mit Präparaten in der Hand und konnte sich ihm nicht gleich zuwenden. So grüßte sie über ihre Schulter hinüber.

Aber sie bekam keine Antwort.

Sie stellte die Tasse nieder und wandte sich um.

Da sah sie den Professor, breitbeinig, dicht vor der Tür stehen. So wie ein Seemann auf Deck steht, um die Bewegungen des schwingenden Schiffes auszugleichen, so stand er, die beiden Arme herabhängend und zu Fäusten geballt, und sah …

Ja, wohin sah er nur?

Er schien ihren Gruß nicht gehört zu haben. Er sah an ihr vorbei in die Ecke des Laboratoriums, mit einem Blick, der Josefa unheimlich berührte: mit einem durchdringenden und doch geistesabwesenden Blick, als müsse er irgend etwas, was sich vor seinem körperlichen oder geistigen Auge befand, enträtseln.

Josefa wich unwillkürlich zwei kleine Schritte zurück. Dann wiederholte sie leise ihren Gruß.

Aber er hörte sie auch diesmal nicht. Er stand unbeweglich und sah vor sich hin.

Auf der Straße vor der Heilanstalt hupte ein Auto.

Josefa war diesem Geräusch dankbar. Es gab ihr, so meinte sie zumindest, das Recht, sich wieder zu bewegen; denn das, was sie da vor sich sah – diese eigentümliche Haltung des Professors, diese verkrampften Hände, dieser starre Blick der Augen –, hatte sie gelähmt.

Der Laut, der von da draußen kam, erlöste sie von ihrem Bann. Sie schlich wieder zu ihrer Tasse zurück und begann weiterzuarbeiten.

Sie zog dabei unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern, als schwebe über ihr irgend etwas Schreckliches, Bedrohliches.

Von Zeit zu Zeit nur warf sie einen scheuen Blick zum Professor hinüber.

Wußte der überhaupt, daß sie im Raum war? Er hatte doch wohl überhaupt nicht vermutet, sie zu treffen; er hatte ja doch gesagt, daß er erst spät abends …

In diesem Augenblick begannen ihr die Hände zu zittern, und sie mußte die Tasse auf den Tisch niederstellen.

Ein furchtbarer Gedanke war ihr durch den Kopf gezuckt.

Der Professor hatte seine Rückkehr für den Abend angekündigt, war vorzeitig zurückgekommen, in die Wohnung hinübergegangen und …

Josefa griff nach der Tischkante, um sich festzuhalten.

Sie wußte in diesem Augenblick mit der Klarheit einer Seherin, daß etwas geschehen sein mußte. Etwas ganz Furchtbares mußte geschehen sein.

Aber was?

Da drüben …

Es mußte also doch der Doktor gewesen sein, der vor ihr die Treppe hinaufgehuscht war!

Sie mußte alle Kraft aufbieten, um nicht vor dem Tisch, an den sie sich klammerte, zusammenzusinken.

Und wenn sie jetzt zusammenbrach, wenn sie jetzt umfiel, dann, dann konnte der Professor noch überdies glauben, daß sie, Josefa, vielleicht mit im Spiel war …

Nein, das durfte er nicht glauben. Wenn schon Entsetzliches geschehen war, dann mußte sie sich frei halten und darauf achten, was jetzt geschah! Denn jetzt, das fühlte sie, jetzt ballte sich über dem Haus etwas Furchtbares zusammen. Eine Gewitterwolke, eine düstere, aus der früher oder später ein Blitz herniederzucken mußte, um einen zu treffen.

Aber wen?

Sie ballte die Hände und preßte sie vor die Brust. Ein schneidender Schmerz ging ihr vom Kopf abwärts durch den ganzen Körper.

Nun wußte sie mit Gewißheit, daß ihre Warnung doch zu spät gekommen war.

Hatte sie … hatte sie etwas versäumt?

Sie seufzte tief auf und erschrak über den allzu laut den Raum durcheilenden Ton.

Das gab ihr das Bewußtsein wieder. Sie drehte sich rasch um. Hatte der Professor diesen Seufzer gehört?

Mein Gott, er stand noch immer so wie früher, in derselben verkrampften Haltung.

Sie schüttelte den Kopf. Das war nicht zu ertragen. Es mußte etwas geschehen!

Sie trug die Tablette mit den Präparaten zu ihrem Tischchen und schlug die Kastentüre ihres Arbeitsschrankes kräftig zu.

Das knallartige Geräusch klang wie ein Schuß.

Der Professor fuhr, aus seinem dumpfen Brüten erweckt, auf und starrte Josefa wie einen Geist an.

Sie erhob sich von ihrem Platz.

»Wünschen Herr Professor die Präparate von gestern?«

Er hob die rechte Faust, öffnete sie mit immer noch verkrampften Fingern vor dem Gesicht und legte dann die Hand über die Augen. Dann fuhr er mit den Fingern kämmend durch das Haar.

Sie wiederholte ihre Frage.

»Die Präparate von gestern?« sagte er in fragendem Ton.

»Sie wollen doch arbeiten, Herr Professor?« sagte sie mit immer noch zitternder Stimme.

»Arbeiten?« wiederholte er, »ja«. Seine Haltung lockerte sich etwas.

Es war ihr, als sähe er sie überhaupt erst jetzt.

»Wieso bist du da, Sefi?« fragte er.

Sie nahm alle Kraft zusammen und sagte in gleichgültigem Ton: »Ich habe einen kleinen Ausflug gemacht und war dann in meinem Zimmer. Da hörte ich Sie kommen und dachte, Sie brauchten vielleicht etwas.«

»Ja«, sagte er und nickte vor sich hin, »ich brauche etwas. Aber was ich brauche … was ich brauche, das kannst du mir nicht geben.«

»Möchten Sie vielleicht die Post noch sehen, Herr Professor?«

Sie wollte um jeden Preis, daß er aus dieser entsetzlichen Haltung einen Übergang zur Wirklichkeit finde.

»Die Post?« sagte er, »ja, gib mir die Post.«

Er ging schleppend zu seinem Arbeitstisch hinüber und begann in der Postmappe, die sie ihm vorlegte, zu blättern.

Mitten in diesem Blättern hielt er inne. Er schob die beiden Arme weit auf den Tisch vor sich, dann neigte sich sein Oberkörper vor, und in dieser Stellung, den Kopf leicht zur Seite geneigt, blieb er sitzen.

Josefa schüttelte verzweifelt den Kopf. Da waren alle ihre Bemühungen vergebens gewesen. Sie konnte nicht zusehen, wie er dasaß!

So wendete sie sich denn um und nahm ihre Tätigkeit wieder auf.

Sie wußte, daß es nur eine Leerarbeit war, daß sie das alles, was sie heute machte, morgen noch einmal überprüfen mußte. Sie mußte nur ihre Hände beschäftigen, daß irgend etwas geschah, was sie zwang, nach der anderen Richtung zu blicken. Sie wollte nicht mehr hinübersehen, wie er da drüben saß, denn das erweckte in ihr Ahnungen und Bilder, die ihr Herz zusammenpreßten!

Nach einiger Zeit hörte sie, daß er leise in der Postmappe zu blättern begann. Und dann war es ihr, als hätte er auf einmal »ja« gesagt.

Sie wandte sich um.

»Bitte, Herr Professor?« Ihre Stimme klang in der Stille laut und grell.

Er wandte sich ihr zu und sah sie noch immer etwas geistesabwesend an. Dann hörte sie ihn leise sagen, er habe nichts gewollt.

Aber es war doch etwas an seiner Haltung anders geworden.

Er stand auf und ging im Laboratorium auf und nieder. Und dann sagte er noch einmal ganz laut und vernehmlich »ja«.

Von diesem Augenblick an schien der Bann gebrochen.

Er schlug die Postmappe zu und schob sie zur Seite, verlangte mit der gewohnten Stimme seine Instrumente und begann die Präparate, die sie ihm vorlegte, mit dem Mikroskop zu überprüfen.

Nun war es also wieder still im Raum. So still, daß Josefa plötzlich ein eigenartiges Klopfen hörte, ein Pochen, über das sie sich im ersten Augenblick nicht klarwurde, bis sie erkannte, daß es ihr eigenes Herz war, das ihr schier die Brust zu sprengen drohte.

Wenn sie nur jemand gehabt hätte, der ihr jetzt gesagt hätte: Du hast Gespenster gesehen, du bildest dir ein, daß etwas geschehen sein muß. Es ist ja in Wirklichkeit nichts geschehen.

Wie wäre das gut gewesen!

So war sie allein mit ihren Gedanken und konnte sich das Schrecklichste ausmalen.

Würde sie vergessen können, was ihr in einer jähen Eingabe durch den Kopf gezuckt war; ein gräßliches, entnervendes Mißtrauen und eine Ahnung von einem fürchterlichen Geschehnis, das nicht mehr aus der Welt zu schaffen war und nach dem sie auch nicht fragen durfte?

Wie sollte sie nun in Hinkunft tagaus, tagein diese Marter ertragen? Wie würde sich diese Marter erst steigern, wenn er, Dr. Santifaller, wieder aus Berlin zurückkam und neben ihr saß und sie nicht wußte, ob sie sich von ihm wenden mußte oder ob sie ihm nicht vielleicht Unrecht tat?

Und auch der Abend wollte heute kein Ende nehmen!

Nun war es schon spät geworden und der Professor saß noch immer bei seinem Mikroskop. Nicht untätig mehr, er arbeitete, und jetzt rief er sie sogar an und sie mußte ihm ein Werkzeug reichen.

Sie erhob sich und brachte ihm die Pinzette.

Er sah kurz von seinem Instrument auf.

»Es ist spät«, sagte er, »gib mir von jedem Instrument ein Stück her, dann kannst du schlafen gehen.«

»Ich danke, Herr Professor«, murmelte sie.

Ja, es war besser, wenn sie aus dieser Umgebung floh. Sie verschloß ihr Werkzeug, ihr Kästchen, empfahl sich und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Dort fühlte sie sich nun freier. In dem Zimmer war noch alles rein und klar. Höchstens der trübe Argwohn, der in ihrem Herzen saß und ihr Gehirn bedrängte, konnte des Zimmers Reinheit und Unschuld verletzen. Sonst war der Raum eine glückliche Insel in dem schwülen Getriebe, das sich beiderseits, in Privatwohnung und Laboratorium, breitmachte.

Sie entkleidete sich halb unbewußt und ging zu Bett.

Da lag sie dann auf dem Rücken und starrte zur Zimmerdecke empor.

Würde sie jemals wieder ruhig und zufrieden schlafen können?

*

In den nun folgenden Tagen mußte sich Josefa über sich selbst wundern. Sie hatte gefürchtet, daß sie keine Sekunde ihres Lebens von dem inneren Druck loskommen werde, der sich an diesem unseligen Sonntagnachmittag auf ihr Herz gelegt hatte. Dann aber empfand sie es beglückend, daß die Arbeit das unruhige Klopfen ihres Herzens immer weniger hörbar werden ließ. Sie spürte es schließlich gar nicht mehr. Es machte sich wohl das seltsame Gesetz des menschlichen Lebens geltend, daß die Zeit alles zu sänftigen vermag.

Dr. Santifallers Abwesenheit trug das Ihrige dazu bei. Sie konnte wieder arbeiten.

Und es gab so entsetzlich viel zu tun.

Den Professor schien eine Art Besessenheit ergriffen zu haben. Er hatte plötzlich die Untersuchung der tropischen Gifte aufgegeben, was an und für sich zu verwundern war, weil nur mehr zwei oder drei noch nicht untersucht waren und keine Gegensera gefunden waren.

Er hatte plötzlich eine neue Idee gefaßt, der er mit Eifer nachging und die er noch bis zu einem gewissen Grad abschließen wollte, bevor er …

Ja, das war nun das Erstaunliche gewesen!

Ein paar Tage nach dem Sonntag hatte er plötzlich den Brief aus Rio de Janeiro verlangt. Er hatte ihn eine Zeitlang mit durchdringendem Blick starr angesehen und dann zu Josefa gesagt: »Schreib!«

Sie war nun begierig, wie er seine Ablehnung fassen werde, und daher nicht wenig erstaunt, als er begann:

»Ich bin gerne bereit, der ehrenvollen Einladung, in Rio de Janeiro einen Vortrag zu halten, Folge zu leisten …«

Wie? Er fuhr also doch; hatte es sich überlegt? Vor ein paar Tagen hätte sie sich noch unmäßig darüber gefreut. Was wäre das für eine schöne Zeit gewesen, wenn sie mit Dr. Santifaller allein hätte arbeiten können!

Ach Gott, vielleicht hätte sie ihn dann zu überzeugen vermocht, daß es besser war, wenn er doch fortging. Und jetzt, jetzt, mein Gott, jetzt war alles zu spät und überflüssig.

Gleichwohl!

Also der Professor fuhr nach Rio de Janeiro.

Sie warf die Zeichen der Kurzschrift flink aufs Papier.

Der Professor fragte, ob er nicht die Gelegenheit dieses Aufenthaltes in Rio de Janeiro benützen könne, um nicht bloß die brasilianischen, sondern vielleicht auch die anderen südamerikanischen Schlangenfarmen zu besuchen; ob ihm die einladende Gesellschaft nicht vielleicht einen Dolmetscher oder Reisemarschall mitzugeben vermöge; ob es nicht denkbar wäre, daß er über die neuesten Erfahrungen auf diesem Gebiet auch in Montevideo, Buenos Aires, ja vielleicht in Santiago de Chile Vorträge halte. Ihm scheine es ein Gebot der Pflicht, diese zweifellos selten wiederkehrende Gelegenheit auszunützen und, wenn er schon die weite Fahrt unternehme, auch gleichzeitig alles mitzuverbinden, was sich überhaupt auf diesem Gebiet erreichen ließ.

Dann bat er, es möge die Gesellschaft noch ein besonderes Schreiben an die Universität Wien richten, damit er bei seinen Urlaubsverhandlungen die nötige Unterstützung genieße. Diesen Brief solle man mit Flugpost schicken.

Er selbst werde allerdings nicht mit dem Flugzeug nach Brasilien kommen, sondern die Gelegenheit benützen und die Seereise als Erholung nach anstrengender Arbeitszeit verwerten.

»So«, sagte er dann kurz, »das heißt also, Sefi, daß ich voraussichtlich mehrere Monate abwesend sein werde. Wie ich das an der Universität in Ordnung bringen soll, weiß ich noch nicht. Aber vielleicht kann ich es doch erreichen, daß man mich für diese Zeit wegläßt. Meine Studenten werden zwar fluchen, und wie das mit den Prüfungen gemacht werden soll, weiß ich auch noch nicht. Aber es muß sein, es muß gehen und es wird gehen«, betonte er mit einem scharfen Ton, der eigentlich gar nicht zu dem bisher Gesagten zu passen schien.

»Und wann fahren Sie dann, Herr Professor?«

Er las den Brief noch einmal durch. »Ich soll im April unten sein. Ich werde also aus diesem Grunde wohl Ende Februar, Anfang März fahren müssen. Ich will mich nicht hetzen. Dann kann ich also die notwendigsten Prüfungen abschließen, damit niemand zu Schaden kommt. Das kommende Semester wird natürlich für mich ausfallen. Ja! Hier im Laboratorium«, setzte er fort, indem er aufstand und, die Hände in die Hosentaschen geschoben, langsam auf und ab ging, »hier im Laboratorium wird mich Doktor Santifaller vertreten. Die Heilanstalt selbst läuft ja ohnehin auch ohne mich den geregelten Gang. Und du, Sefi, du wirst mir zusammen mit Lorenz darauf achten müssen, daß hier alles in Ordnung verläuft und daß nicht ein Unheil geschieht. Denn wenn ich einmal so weit weg bin, dann bin ich nicht so bald heraufzuholen, verstanden?«

»Jawohl, Herr Professor.«

Nun war Josefa doch ein wenig stolz. Er schätzte ihre Arbeit also doch; denn wenn er sie beauftragte, das Laboratorium zu überwachen, dann hatte er wohl eine gute Meinung von ihr.

Warum gab er dem niemals Ausdruck?

Die Arbeitsbesessenheit hatte ihn wohl zu dem Menschen werden lassen, der auf nichts achtete, was sich um ihn herum begab.

*

Von Dr. Santifaller kam aus Berlin ein Brief. Sein Vortrag sei mit großem Beifall aufgenommen worden, man habe versucht, ihn für Berlin zu gewinnen, er habe aber abgelehnt und gedenke auch in dieser Hinsicht festzubleiben. Wien habe ihn schon so an sich gefesselt, daß er keine Lust verspüre, seinen Arbeitsplatz aufzugeben. Er benütze die Gelegenheit nur noch, um einige Einrichtungen an der Berliner Universität zu studieren und die Forschungen eines Fachkameraden kennenzulernen, dann werde er zurückkehren. Voraussichtlich dürfte er am kommenden Mittwoch eintreffen.

Josefa beobachtete den Professor, als er diesen Brief las.

Ob er irgendein Zeichen gab, ob sich irgend etwas in seiner Miene, in dem Blick seiner Augen, in der Haltung seiner Hände zeigen würde, was auf die tiefe Gemütserregung hinwies, die ihn damals, an dem verhängnisvollen Sonntagnachmittag ergriffen hatte?

Aber es zeigte sich nichts dergleichen. Der Professor las den Brief mit steinerner Ruhe, legte ihn dann beiseite und sagte so beiläufig:

»Doktor Santifaller kommt Mittwoch.«

Nun würde sich ja doch wohl manches ändern, dachte Josefa. Ob der Professor auch weiterhin zusehen würde, wie Santifaller nachmittags zum Musizieren hinüberging?

*

Und dann war Dr. Santifaller da. Sehr vergnügt, sehr aufgeräumt, hochzufrieden mit dem Berliner Erfolg und voll Begierde, seine Erfahrungen darzulegen.

Er übersprudelte sich förmlich bei seinem Bericht an den Professor, der ihm in gehaltener Ruhe zuhörte und mit keiner Miene irgendeine innere Bewegung verriet, als Dr. Santifaller in seinem Glück davon zu reden begann, daß die Herren in Berlin seine Forschungen für epochemachend hielten und sich weitere große Entdeckungen von seiner Arbeit erwarteten.

Als er geendet hatte, nickte der Professor, dann sagte er:

»Herr Kollege, ich muß Sie jetzt allerdings um etwas bitten, was Ihnen wenig Freude machen wird. Aber ich glaube, daß Sie mir mit Rücksicht auf das, was ich Ihnen dabei eröffne, die Bitte erfüllen werden. Ich habe mich entschlossen, für mindestens drei bis vier Monate nach Südamerika zu verreisen.«

Er brach plötzlich ab und hob den Kopf, so daß er sehen konnte, wie Dr. Santifaller einen Zug freudiger Überraschung zeigte. »Glauben Sie nicht auch, Herr Kollege«, setzte er fort, und Josefa bildete sich ein, daß ein lauernder Ton in seiner Stimme lag, »glauben Sie nicht auch, Herr Kollege, daß das für unsere Arbeit von großer Bedeutung wäre?«

»Na gwiß«, Dr. Santifaller hob die beiden Hände hoch empor, »das is geradezu eine wunderbare Sach, Herr Professor. Großartig! Natürli müssen S' fahren. Das is gscheit, daß S' Ihna entschlossen haben. I hab's net verstehen können, daß S' damals absagen haben wollen. Bin i froh und i vergunn's Ihnen recht.«

»So«, sagte der Professor, »danke. Ich werde also fahren. Sie werden dann eine Zeitlang mich im Laboratorium mit uneingeschränkten Vollmachten vertreten. Sefi und Lorenz sind ja genügend eingearbeitet, so daß Sie keine Sorge zu haben brauchen, daß Ihnen irgend etwas danebengehen könnte. Ich hoffe, Sie sind bereit, diese meine Vertretung zu übernehmen.«

»Na mit tausend Freuden«, Santifaller streckte dem Professor unwillkürlich die Hände entgegen, die dieser aber nicht nahm.

»Wir sind noch nicht fertig«, sagte der Professor.

Von dem etwas kühlen Ton, der aus diesen Worten klang, zog Dr. Santifaller den vorgestreckten Kopf und die Hände zurück.

»Bitte?« sagte er fragend.

»Ich muß«, der Professor warf einen Blick über das Laboratorium, »bis zu meiner Abfahrt eine größere Arbeit, die mir dieser Tage in den Sinn gekommen ist, unter allen Umständen vollenden. Ich muß Sie also jetzt herzlich bitten, daß Sie mit Rücksicht darauf, daß Sie ja ohnehin durch Monate hindurch ganz Ihrer Arbeit leben können, die nächsten vier Wochen sich vollständig mir zur Verfügung stellen. Es wird eine entsagungsvolle Arbeit sein; denn wir werden wohl bis in die Nacht hinein werken müssen, damit ich das fertigbekomme«, wieder machte der Professor eine Pause.

Dr. Santifaller hatte unwillkürlich das Gesicht ein wenig in die Länge gezogen.

»Ja«, sagte er dann, den Kopf schüttelnd, »da kannst nix machen. Des siach i ein, Herr Professor. Wird gmacht.« Er nickte und lächelte den Professor wieder freundlich an.

»Dann ist es recht, und dabei bleiben wir.« Der Professor wandte sich zu seiner Arbeit zurück.

Josefa saß stumm, so wie sie während des ganzen Gespräches gesessen hatte. Sie war eigentlich nicht glücklich darüber, daß es zu keiner Szene gekommen war, wie sie es im Augenblick befürchtet hatte. Denn sie fühlte sich beklommen; dieses Gespräch hatte ihr eigentlich die Bestätigung dessen gegeben, was sie ahnte. Und doch empfand sie auch wieder eine gewisse Erleichterung.

Das Gespräch war ja im Grunde genommen nichts anderes als ein Verbot für Dr. Santifaller, die Stunde des Musizierens wieder aufzunehmen.

Wie geschickt, wie unanfechtbar geschickt der Professor das gemacht hatte! Der arglose Doktor hatte keinen Verdacht gefaßt. Es war ja eigentlich alles so selbstverständlich, wie es der Professor gebracht hatte. Das war für sie, für Josefa, eine gewisse Erlösung für die Zeit, die der Professor noch dablieb.

Und was würde dann kommen?

»Herr Doktor Santifaller ist zurückgekommen«, meldete das Stubenmädchen Frau Elisabeth.

»Ja?« sagte diese und schloß die Augen.

Das Stubenmädchen nickte und ging aus dem Raum.

»Jetzt werden s' wieder musizieren«, sagte sie draußen zur Köchin, die inzwischen wieder ihren Dienst angetreten hatte. »Wissen S'«, sagte sie, »wenn i der Professor war, i lassert des net zua. Allweil die zwa beinand, allweil. Sehn S', so san die Männer. Der Professor, der glaubt einfach net, daß die Frau für an andern aa Augen haben kunnt. Er glaubt's net. Kümmern tuat er si um die Frau aber aa net. Wann da net zum Schluß amol was gschiecht.« Sie schüttelte bedenklich den Kopf, nahm die Serviertasse unter den Arm und verfügte sich mit zierlich trippelnden Schritten ins Speisezimmer, um heute wieder einmal drei Gedecke aufzulegen.

Elisabeth war, als das Stubenmädchen sie verlassen hatte, in ihr Zimmer hinübergegangen, hatte die Tür hinter sich geschlossen und stand nun, die Hände über der Brust gekreuzt und mit einem glücklichen Lächeln mitten im Raum.

Er war wieder da! Sie würden wieder musizieren!

Hoch hob sich die Brust in Erwartung der schönen Stunden, die sie in der Zeit seiner Abwesenheit so bitter vermißt hatte.

Sie trat an das Klavier und schlug stehend ein paar Akkorde an.

Er war also wieder da!

Ob die Köchin wohl für drei Personen …?

Zur gewohnten Stunde erschienen die beiden Herren.

»Willkommen!« sagte sie lächelnd, indem sie Dr. Santifaller die Hand reichte. »Zufrieden mit dem Ergebnis?«

Der Professor, der dicht hinter Santifaller ins Zimmer getreten war, legte diesem die Hand auf die Schulter. »Kümmern Sie sich nicht um mich, erzählen Sie ihr ruhig das Ganze noch einmal. Ich hab ohnehin noch keinen Blick in die Zeitung getan.«

Er setzte sich in einen Klubsessel in der anderen Ecke des Salons und vertiefte sich in seine Zeitung.

Elisabeth und Dr. Santifaller ließen sich an einem der Salontischchen nieder und er begann noch wesentlich zusammenhängender, fröhlicher und beglückter, als er es bei seinem Bericht an den Professor getan hatte, zu erzählen.

Sie hörte ihm mit einem seligen Lächeln zu. Mit keiner Frage unterbrach sie ihn, sondern nickte ihm nur ermunternd zu und hob von Zeit zu Zeit die ineinandergelegten Hände, getrieben von einem inneren Gefühl der Freude, gegen die Brust empor.

Dr. Santifaller erzählte auch noch weiter, als sie bereits zum Mittagstisch übergesiedelt waren.

Dann brach er plötzlich ab.

»Ja«, sagte er, »und jetzt fahrt der Herr Professor weg.«

»Du fährst weg?« Frau Elisabeth wandte plötzlich ihrem Mann den Kopf zu. »Ich weiß ja gar nichts davon.«

»Ach so«, sagte er anscheinend gleichgültig, »ich hätte es dir natürlich schon sagen sollen. Ja, ich habe mich entschlossen, eine Einladung nach Südamerika anzunehmen. Ich werde dort Vorträge halten in einigen Städten und die Schlangenfarmen besuchen. Herr Doktor Santifaller wird mich inzwischen vertreten.

Elisabeth hatte ihn zuerst in maßlosem Erstaunen angehört, jetzt sah sie mit einem verlorenen Lächeln von ihm zu Doktor Santifaller hinüber.

»I bin recht stolz drauf«, sagte der, »daß der Herr Professor mi schon mit der Vertretung beauftragt.«

»Ja, das ist ja wunderschön«, sagte sie unbeherrscht. »Das wird Sie riesig freuen, Doktor.«

»Kann ihn auch freuen«, sagte der Professor, »das ist ein Beweis meines besonderen Vertrauens.«

»Für den i ganz besonders schön dank.« Santifaller verneigte sich.

»Sie werden es sich auch verdienen, dieses Vertrauen«, sagte sie zu ihm hinüber und lächelte ihn wieder an. Dann verschwand das Lächeln von ihren Zügen und sie wandte sich wieder ihrem Mann zu.

»Ich hätte das wohl erst im letzten Augenblick erfahren, wenn nicht Doktor Santifaller jetzt zurückgekommen wäre, was?«

Der Professor zuckte leicht die Achseln.

»Ich bin etwas überanstrengt, Elisabeth, in der letzten Zeit. Du mußt verzeihen. Ich habe noch eine größere Arbeit zu beenden. Herr Doktor Santifaller wird so lieb sein, mir jetzt diesen einen Monat hindurch zu helfen. Das hat natürlich leider auch unangenehme Folgen«, er machte mit der flachen Hand eine Bewegung zu Santifaller hinüber, »vielleicht sagen Sie das am besten meiner Frau.«

»Ja«, sagte Santifaller mit einem leichten Auflachen, »musizieren können wir halt in der nächsten Zeit net, weil i dem Herrn Professor halt helfen will. Wir können's ja …« er stockte plötzlich.

Eine betretene Stille entstand zwischen den drei am Tisch Sitzenden.

»Was wollen Sie sagen?« wandte sich der Professor an Santifaller. »Sie wollten wahrscheinlich sagen, daß man's ja doch schwer verantworten kann, eine so wichtige Sache unbeendet liegen zu lassen.«

»Ja«, sagte Santifaller erlöst, »ganz recht, Herr Professor, des war net zum verantworten und zwegen dem hab i dem Herrn Professor zugsagt. Jetzt wird halt net musiziert die Zeit über, daß die Gschicht fertig wird, daß der Herr Professor ganz beruhigt wegfahren kann, net wahr?«

Frau Elisabeth hatte sich auf ihrem Sitz steil erhoben. Ihr unruhiger Blick flog von einem der beiden Männer zum anderen.

»Meinst du nicht auch?« wandte sich der Professor plötzlich an sie.

»Ja«, sagte sie. Es klang atemlos hingeworfen. »Ja, natürlich.«

»Ich habe mich gefreut«, sagte der Professor, indem er mit dem Unterkiefer eine malmende Bewegung machte, »ich habe mich gefreut, daß Doktor Santifaller mir in so liebenswürdiger Weise gleich zugesagt hat. Es tut mir leid, daß ich euch beiden das gewohnte Vergnügen dadurch eine Zeitlang verderbe. Aber ich hoffe, daß wir dafür ein paarmal gemeinsam Kammermusik treiben können. Josefa wird sicher auch wieder bereit sein, irgendeinen Abend einmal mitzuwirken. Und dann, wie gesagt, nachher, dann reise ich ja fort, dann kann ich ja auch den Doktor nicht mit Beschlag belegen!« Er lachte leicht auf. »Dann könnt ihr ja nach Herzenslust musizieren.« Er nickte den beiden mit einem beherrschten Lächeln zu.

Der angstvolle, gespannte Ausdruck im Antlitz Frau Elisabeths schwand auf diese Bemerkung hin.

»O ja«, sagte sie, »dieses Opfer müssen wir schon der Wissenschaft bringen, nicht wahr, Doktor Santifaller?«

»Gewiß, gnädige Frau!« nickte er mit dem ganzen Oberkörper und lächelte ihr mit seinem glücklichsten Lächeln zu.

»Darf ich um etwas Salz bitten?« unterbrach der Professor.

Dr. Santifaller sah mit seinen kurzsichtigen Augen auf dem Tisch umher, dann reichte er ihm das Gewünschte.

»Ich werde voraussichtlich von Genua abfahren«, sagte der Professor in gleichgültigem Gesprächston.

*

Die nun folgenden Wochen gestalteten sich tatsächlich zu einer Zeit ununterbrochener und bis zum Höchstmaß gesteigerter Arbeit.

Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein waren die beiden Herren und Josefa, nur durch eine Mittagspause unterbrochen, an der Arbeit.

Die Präparate, die Karteiblätter häuften sich zu beängstigenden Türmen und Josefa segnete sich bei dem Gedanken, daß sie ja dann Monate Zeit haben würde, um dieses Gebirge während der Abwesenheit des Professors wieder abzutragen.

Dr. Santifaller war während dieser Zeit in ausgezeichneter Laune.

Freilich schien es Josefa manchmal, daß er in den Nachmittagsstunden, also um die Zeit, zu der er in früheren Monaten zur Musik hinübergegangen war, ein wenig unruhig wurde.

Das hing wohl damit zusammen, daß er sich innerlich überwinden mußte.

Es schien ihr auch, als ob der Professor um diese Zeit öfter als sonst von seinem Mikroskop auf und zu Dr. Santifaller hinübersähe.

Aber diese Beobachtungen wurden von Tag zu Tag seltener, der Arbeitsrhythmus hingegen immer rascher, so daß schließlich Josefa eine wohltuende Entspannung in sich fühlte.

Sie war von der bis zur äußersten Grenze der Leistungsfähigkeit getriebenen Arbeit so erschöpft und so in Anspruch genommen, daß sie kaum einen Gedanken für etwas anderes aufbringen konnte.

Oft war sie starr vor Staunen, wenn ein Blick auf die Uhr ergab, daß es bereits spät am Abend war. Meistens aber geriet sie in eine Art Dämmerzustand, in dem sie ihre Arbeit tatsächlich nur noch wie eine Maschine weiterführte, unfähig, sich über das, was sie tat, irgendeine klare Vorstellung zu machen.

Tatsächlich schien es dem Professor zu gelingen, die von ihm neu gemachte Entdeckung wissenschaftlich so auszuwerten, daß sie für andere eine brauchbare Arbeitsunterlage bieten konnte.

Und als der Tag der Abfahrt herannahte, es war etwa zwei Tage vorher, da konnte er den Sessel von seinem Arbeitstisch wegrücken, aufstehen und sagen:

»Also, das wäre getan. Das übrige können nun andere weiterführen. Die zwei Tage bis zu meiner Abfahrt, Kollege Santifaller, benützen wir, um noch einmal das ganze Material zu sichten und dann«, er machte eine Pause, »dann können Sie ja tun, was Ihnen Freude macht.«

Nach diesen Worten drehte er sich um und ging ein paarmal im Laboratorium auf und nieder.

Dr. Santifaller hatte auf diese kurze Äußerung des Professors hin zufrieden genickt und, wie es Josefa schien, auch ein wenig geschmunzelt.

Mit einem Schlag wurde ihr wieder offenbar, daß sich ja in den letzten Wochen, in dieser Zeit der Betäubung eigentlich nichts geändert hatte.

Sie hatte es dankbar empfunden, daß der Doktor den ganzen Tag im Laboratorium geblieben und nicht hinübergegangen war. Sie hatte dabei auch die leise Hoffnung gefühlt, daß er sich vielleicht doch ein wenig Gedanken über seine Lage gemacht habe, daß er vielleicht auch ein wenig zur Vernunft gekommen sei.

Und doch hatte sie dabei von einem Tag zum anderen immer wieder gefürchtet, es werde einen Kammermusikabend geben, wie es ja der Professor auch angedeutet hatte.

Aber sei es, daß er das vermeiden wollte, sei es, daß die Arbeit es tatsächlich nicht zuließ, es war einfach nicht dazu gekommen.

Am vorletzten Tag diktierte ihr der Professor auf Grund der letzten Forschungen einen größeren zusammenhängenden Aufsatz, den er, wie er sagte, auf der langen Überfahrt nach Südamerika in eine Reihe von Vorträgen zerlegen wollte, die er dann ganz nach Belieben in den verschiedenen Städten zu halten gedachte.

Aus Rio de Janeiro war auf seine Zusage hin ein freudig zustimmender Brief gekommen, der versprach, daß dem Professor alle geäußerten Wünsche erfüllt werden sollten.

Seine Reise sollte ihn also von Brasilien über Uruguay nach Argentinien, von dort nach Chile führen und, das hatte eine Rückfrage bei einem Reisebüro ergeben, mit einem Verkehrsdampfer der pazifischen Nord-Südlinie von Santiago de Chile zum Panamakanal, von wo aus der Professor dann Anschluß mit einem Transatlantikdampfer nach Europa zurück zu finden hoffte.

Es war sicher, daß seine Abwesenheit drei, wahrscheinlich vier, wenn nicht gar fünf Monate dauern würde.

In den Besprechungen mit den drei Ärzten der Heilanstalt legte Professor Kröner die Richtlinien fest, nach denen die drei Herren die Geschäfte und Arbeiten zu führen hatten.

Das Laboratorium hingegen sollte, das betonte er mehrmals, Dr. Santifaller inzwischen ruhig für seine Versuche benützen. Er halte es für besser, hatte er bei dieser Gelegenheit gesagt, daß sie ihre Forschungen doch getrennt hielten. Er wolle eben, solange er abwesend sei, auf die Fortführung seiner Arbeit Verzicht leisten, dafür könne Dr. Santifaller mit um so größerer Tatkraft sein Werk fördern.

In überströmender Dankbarkeit war Dr. Santifaller bei dieser Äußerung des Professors von seinem Sitz aufgesprungen und zu dem Professor hinübergeeilt.

Aber der hatte die dankbar entgegengestreckten Hände nicht beachtet und in seiner kühl abweisenden Art gemeint, es sei doch wohl das Praktischeste so, und darüber sei weiter kein Wort zu verlieren.

Es ging dann alles sehr rasch.

Da war das Auto des Professors vorgefahren, zwei Krankenträger der Anstalt hatten das umfangreiche Gepäck des Professors in den Wagen verladen, dann hatte es eine ganz kurze Verabschiedung gegeben, in der der Professor Dr. Santifaller gegenüber nur geäußert hatte: »Sie sind im Bilde?«, was dieser mit einer tiefen Verbeugung und einem eifrigen »Ja« beantwortet hatte. Dann hatte er Josefa die Hand gegeben:

»Achtgeben, Sefi«, sagte er, »recht achtgeben. Du hast bis jetzt alles in Ordnung gemacht, mach's weiter so.«

Das war die erste Anerkennung, die sie von ihm, seitdem sie in Wien war, erhalten hatte.

Wie eigentümlich es doch ums menschliche Herz ist!

Sie hätte auf einmal vor Freude weinen mögen. Sie hatte seine Hand so fest ergriffen, daß er sich fast gewaltsam loslösen mußte.

Dann hatte sie nur noch seinen breiten, mächtigen Rücken gesehen, wie er aus dem Laboratorium schritt, und zwei Minuten später war der Wagen in der Allee verschwunden.

Josefa, die bis zum Wagen hinab mitgelaufen war, kehrte versonnen zurück.

Wie würde sich nun die weitere Zeit gestalten?

*

Zu Josefas Verwunderung vergingen einige Tage, ohne daß Dr. Santifaller zum Musizieren hinüberging. Sie sah ihn oft versonnen vor sich hinstarren, dann wieder unruhig im Laboratorium hin und her gehen. Namentlich um die fünfte Stunde. Aber er blieb.

Ja es trat sogar insoferne eine Änderung ein, als Dr. Santifaller nicht mehr zum Mittagessen in die Privatwohnung des Professors hinüberging, sondern sich von Josefa aus der Anstaltsküche eine Kleinigkeit herüberbringen ließ.

Ob ihm denn das Wenige genüge, hatte Josefa das erste Mal gefragt, und ob es nicht vielleicht besser sei, wenn er während der Zeit, da Professor Kröner abwesend sei, mit den drei anderen Herren gemeinsam speise?

Da hatte Dr. Santifaller den Kopf geschüttelt und gemeint, er füge sich schlecht in Gesellschaft und es sei ohnehin für ihn sehr verwunderlich gewesen, daß er die ganze Zeit über an dem Mittagessen des Professors teilgenommen habe. Er sei aus seiner Studentenzeit her gewohnt, zu Mittag nur eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen, und auch als Arzt in seinem weltverlorenen Dörfel habe er es nicht anders gehalten. Er kehre also zu einer lieben Gewohnheit zurück.

»Und dann, wissen S'«, sagte er, »i glaub, i versteh mi net recht mit die drei Herren. Wann i gleich von allem Anfang an mit ihnen gegessen hätt, i glaub, dann war es eher gangen. Aber so, so schaun S' mi a bissel von der Seiten an. I glaub, sie waren immer a weng neidisch, daß i allerweil eingladen gewesen bin, und des möcht i jetzt net gspürn, wann i für die Zeit zu ihnen hinüberkomm. I glaub, jetzt is des scho verdurbn. Da bleib i lieber herüben und laß mir halt a Bröckel zum Essen bringen.«

Sollte diese neue Haltung, sollte der Umstand, daß er nicht musizieren ging, tatsächlich eine innere Umkehr bei ihm bedeuten?

Wenn das nur so gewesen wäre!

Josefa fühlte, daß sie bei diesem Gedanken plötzlich rot wurde. Vielleicht war es ihm doch bewußt geworden, daß es in der alten Weise nicht weitergehen konnte. Vielleicht hatte auch die Frau Professor ihrerseits dasselbe Gefühl gehabt und nicht auf die Fortsetzung des Musizierens gedrungen.

Fehlen kann jeder Mensch einmal! Wie oft hatte ihr seliger Vater gesagt: »Wenn er sich nachher nur wieder bessert, dann ist es recht, und dann wird ihm alles verziehen.«

O ja, auch sie, Josefa, wollte Dr. Santifaller alles verzeihen, wenn er Besinnung angenommen hatte und Verzicht auf etwas leistete, was ihm ja doch niemals zukommen konnte und verschlossen bleiben mußte!

Diese leise Hoffnung gab ihr Mut und machte sie wieder froher.

Ach, wie überglücklich hätte sie sein können, wenn diese Stimmung Aussicht auf Dauer gehabt hätte!

Wie war das doch eigentlich schön, mit ihm gemeinsam zu arbeiten, wenn der Professor nicht daneben saß!

Wenn Professor Kröner an seinem Mikroskop arbeitete, dann durfte kein Laut die Ruhe im Laboratorium stören. Er begann sofort unruhig zu brummen, ein Zeichen, daß jedes Gespräch und jede laute Tätigkeit um ihn herum auszusetzen hatte.

Jetzt ging es eigentlich recht lebhaft zu.

Dr. Santifaller war ja im Wesen ganz anders geartet als der Professor. Er ging freigebig mit allem um, was er schuf, er sprach gerne von dem, was er tat. Ihm lag diese seltsame Sorge, es könnte ein anderer in sein Gedankengebäude eindringen und da vielleicht Raubzüge unternehmen, vollständig fern.

Sie sah es ja, wie ihm die Arbeit von der Hand ging. Er war gewiß auf dem Gebiet der Toxikologie auch ein Genie. Vielleicht keines von der Größe des Professors! Oder doch? Wer konnte es augenblicklich sagen?

Dr. Santifaller hatte ein ungeheuer sicheres Gefühl für die Entwicklung der Untersuchungen, er tat manches, ohne sich irgendeine Rechenschaft darüber zu geben.

Er hatte eine merkwürdige Art, seine Hände zu bewegen, fast wie ein Bildhauer, der an einem Tonklumpen arbeitete, um ihm Gestalt zu geben!

Was war es für eine Freude, ihm bei der Arbeit zu helfen! Wie schön, wie unsäglich beglückend wäre das gewesen, wenn in Josefa nicht immer noch die Angst geschlummert hätte, daß etwas vorgefallen sein müßte oder wieder vorfallen könnte.

Und als er wieder einmal so vor sich hin zu plaudern begann und sie, tiefer als er sitzend, zu ihm emporsah, da fühlte sie plötzlich in sich die Kraft und den Entschluß, mit ihm offener als bisher zu reden. Sie empfand es plötzlich als eine heilige Aufgabe, die sie jetzt, wo sie mit ihm von Tag zu Tag vertrauter wurde, eher ausführen konnte als früher.

Früher, da hatte zwischen ihm und ihr eine seltsame Trennungswand gestanden. Sie wußte ganz genau, woher das gekommen war!

Das war der Einfluß der Frau Elisabeth gewesen, an die er ununterbrochen gedacht hatte.

Ob er das jetzt noch tat?

Vielleicht nicht mehr in dem Maß wie früher. Manchmal wurde es ihr wohl deutlich, daß er den Bann noch nicht vollkommen abgestreift hatte, und sie zitterte vor dem Zeitpunkt, an dem eine Einladung von drüben kommen würde und dieser Bann natürlich von neuem Gewalt über ihn bekommen konnte.

Jetzt schien dieser Einfluß geringer. Sie hatte das Gefühl, daß sie leichter an ihn herankommen konnte. Es war ihr auch der Mund nicht so verschlossen wie damals, wo eine geheimnisvolle Macht ihr förmlich die Lippen versiegelte und ein innerer Zwang sie gehindert hatte, sich zu äußern!

Sie suchte von diesem Augenblick an die Gelegenheit, ihm in unverfänglicher Weise ihre Meinung darzulegen. Und die fand sich früher, als sie erwartet hatte.

»Eigentlich«, sagte er an diesem Tage zufällig, »is des a wunderschöner Gedanke, daß man grad auf dem Gebiet arbeiten derf.

Des is a schöne und a heilige Aufgabe, und dafür kann man sich schon a ganzes Leben lang aufopfern! Na, und gar wie hier, gegen diese Gifte, gegen diese schleichende Gefahr da ankämpfen, des aufdecken und rausreißen aus dem Körper und vertreiben, des is do eigentlich a wunderbares Geschäft! Meinen S' net aa, Schwester Josefa?«

»Freili«, sagte sie, »deswegen bin i aa so froh gwesen, wie mi der Professor nach Wien mitgnommen hat. Da hab i aa so etwas gespürt, so a glückliches Gfühl … hab … i … ghabt …«

»Na, und haben S' des jetzt nimmer?« fragte Dr. Santifaller, dadurch aufmerksam geworden, daß sie immer schleppender und langsamer gesprochen hatte.

Sie hob den Kopf und sah ihn eine Zeitlang voll an.

Und auch er neigte das Haupt und genoß den Blick dieser klaren Kinderaugen, die zu ihm aufblickten, Kinderaugen, die doch schon viel vom Leben zu wissen schienen; denn sie lagen mit einer ängstlichen, forschenden Frage auf seinen.

Was sie für einen eigenartigen Blick hatte!

Es war ihm schon hie und da einmal aufgefallen, daß das Mädchen so eigenartig vor sich hin und jemand ansehen konnte. Jetzt fühlte er das besonders deutlich.

»I hab Sie was fragen wollen, Herr Doktor«, begann sie mit einer etwas zaghaften Stimme, »derf i?«

»Na freilich«, er drehte sich ganz zu ihr herum und streckte ihr unwillkürlich die beiden Hände offen entgegen.

Und sie legte ebenso unwillkürlich ihre Rechte zwischen seine ihr dargebotenen Hände.

»Sie können so hübsch sprechen über allerhand Gedanken, die Sie da haben, Herr Doktor«, begann sie, »und i hätt Sie halt gern gfragt, wie Sie so manches auffassen?«

»Na, fragen S' nur, Josefa, fragen S'!«

Er merkte nicht, daß er sie zum erstenmal nur mit dem Vornamen ansprach.

Sie ließ die Augen im Laboratorium die Wände entlang wandern, auf dem Tischchen mit den Präparaten ruhen, zum Mikroskop hinübergleiten und kehrte mit dem Blick wieder zu seinen fragenden Augen zurück.

»Sehn S', Herr Doktor, der Herr Professor und Sie und wir alle hier in der Heilanstalt, wir führen da einen ständigen Kampf gegen allerhand Gifte; Tag und Nacht san in der ganzen Welt hunderte Ärzte und Schwestern und Laboranten in den Spitälern und Laboratorien an der Arbeit und haben nur den einzigen Gedanken, daß sie all diese Gifte aus dem menschlichen Körper heraustreiben und Abwehrmittel gegen solche Gifte schaffen. Des is alles so wunderbar schön, daß man so recht von Herzen selig sein könnt, daß all des geschieht, aber …«

Dr. Santifaller, der die Hände Josefas noch immer mit den seinen gefangen hielt, hob den Kopf und sah Josefa tief in die Augen.

Sie schien aus diesem Blick Kraft zu gewinnen. Der Ausdruck in ihren Augen verstärkte sich.

Sie atmete tief auf, und dann fuhr sie, den Kopf leicht zur Seite neigend, aber ohne den Doktor aus den Augen zu verlieren, fort: »Schaun S', Herr Doktor, so schön könnt alles sein. Aber die Menschen vergessen über dem Kampf gegen diese Gifte, die man sehen kann, die man in Präparaten darstellen kann, die man aufheben kann in Flascherln und Gläsern, über dem Kampf gegen diese Gifte vergessen sie, daß es auf der Welt noch so viel anderes Gift gibt, Gift«, – sie sah einen Augenblick zur Seite und kehrte dann wieder in die alte Blickrichtung zurück. »Das andere Gift is noch viel ärger, Herr Doktor, mein i halt, das Gift, das so dem Menschen das Leben verdirbt, das Gift, das so zwischen die Menschen tritt, sie auseinanderbringt und ihnen das Leben zur Hölle macht. Warum gibt's noch nix gegen dieses Gift?«

Dr. Santifaller hatte unwillkürlich den Kopf gesenkt und sah auf die kleine, schmale Hand, die er zwischen seinen hielt.

»Ja, Schwester Josefa«, sagte er, »das is eine Frage, die ham sich die Ärzte und die Menschen überhaupt von allem Anfang an immer wieder vorlegen müssen. Das is eins von die großen Übel und Rätsel auf der Welt. Gegen die Krankheiten wird gekämpft, und gegen die seelischen Gifte – des ham S' doch wohl sagen wollen, Schwester Josefa? – gegen die seelischen Gifte, da wissen wir uns alle miteinand kan rechten Rat, das is wahr.«

Es war eine Weile still zwischen beiden. Dann begann Doktor Santifaller wieder in seiner langsamen und bedächtigen Art zu sprechen.

»Wissen S', Schwester Josefa, das is ein Rätsel, ein Problem, das niemals gelöst werden wird, solange Menschen auf der Welt atmen. Denn solange es Menschen gibt, gibt's Leidenschaften, und solange es Leidenschaften gibt, werden die Menschen verschiedener Natur gegeneinander kämpfen, und dann …« – er atmete tief auf –, »dann is noch so was in der Welt, was noch viel zu schwer zu verstehen is: es gibt seltsame Kräfte, die den Menschen packen und net mehr auslassen, Kräfte, gegen die er kämpfen kann, wie er will, und auch, wenn er manchmal erkennt, daß s' ihm schaden, er kann net los; 's is wie mit den Rauschgiften. Da weiß ein Mensch oft nur zu gut, daß er, wann er sich net loslöst, mit der Zeit zgrund gehen muß, aber wann er dann wieder verzweifelt is und net mehr aus und ein weiß, dann greift er wieder nach dem Gift und richt sich zugrund, daß er zu seinem eigenen Schatten wird und wie ein Geist unter den Lebenden umanand geht.«

Er ließ plötzlich Josefas Hand fallen, bohrte aufspringend die Fäuste in die Hosentaschen und ging im Laboratorium auf und nieder.

Sie folgte ihm mit den Augen.

Sie fühlte es triebhaft: das Gespräch hatte die Wendung genommen, die sie erhofft hatte. Das, was er gesagt hatte, war ja bereits eine verhüllte Beichte gewesen.

Hier im Haus, nur durch wenige Mauern getrennt, da gab es ein Gift, das ihn unbeschreiblich lockte und das ihn zu verderben drohte, wenn nicht ein Gegengift, eine starke Kraft, entgegenwirkte.

Ach Gott, wenn sie doch nur hätte zaubern können!

Wenn ihr eine gütige Fee das Mittel verraten hätte, mit dem sie ihm Widerstandskraft hätte geben können.

Dr. Santifaller hielt in seinem Spaziergang inne, blieb vor ihr stehen und sah sie an.

»Schwester Josefa«, sagte er leise mit einem guten Ton in der Stimme, »so is's auf der Welt. Der Mensch braucht Kraft, Kraft, Kraft, um alles zu überwinden. Es is hart, furchtbar hart.«

Breitbeinig, etwas vornübergebeugt, stand er vor ihr, die noch immer saß und zu ihm emporsah.

Lag in ihrem Blick eine sanfte Gewalt, die ihn beeinflußte und heranzog? Hatte es diese glückliche Stunde vermocht, zwischen ihr und ihm ein Verstehen zu schaffen?

Wie dem auch sein mochte, auf einmal trat Dr. Santifaller noch näher an sie heran, zog die Hände aus den Taschen, und dann fuhr er mit einer unsagbar sanften Bewegung Josefa über die Haare.

Der sanfte Druck seiner Hand zwang sie, den Kopf ein wenig zurückzulegen, so daß sie ihm noch freier in die Augen sehen konnte.

»Schwester Josefa«, sagte er, »Sie san a guets Madel, i weiß scho, was Sie wollen. Herrschaft noch amol!« – er stöhnte auf –, »i weiß ja, i weiß ja, was Sie sagen wollen. I gspür's, i gspür's, seit … ja, seit i in Berlin war, und wia i dann zruckkumma bin, da san mir so die Augen aufgangen.«

Er suchte nach Worten und strich ihr dabei immer noch leise über die Haare. »Und seither, wissen S', da is in mir so a Kampf, so a …«

Er hob plötzlich die Hände an seinen Kopf, drehte sich um und lief zur Tür. Dort lehnte er sich an einen der Glasschränke und blieb in dieser Stellung stehen.

Dann schrak er plötzlich auf; denn die Tür dicht neben ihm öffnete sich, Lorenz kam hereingehuscht, verrichtete seine Umtauscharbeit und kehrte wieder in den Vorraum zurück. Er war so von seiner Arbeit erfüllt, daß er es gar nicht zu bemerken schien, in welch seltsamer Stellung er die beiden im Laboratorium gefunden hatte.

Als sich die Türe hinter ihm wieder geschlossen hatte, kehrte der Doktor wieder zu Josefa zurück.

Da stand sie auf, hob die gefalteten Hände leise gegen ihn empor und sagte: »Herr Doktor« – sie atmete tief auf –, »derf i Sie was bitten?«

»Was denn, Schwester Josefa?« fragte er rauh.

Sie legte alle seelische Kraft, die sie besaß, in ihren bittenden Blick.

»I bitt Sie vielhundertmal, Herr Doktor … gehn S' … nie mehr … hinüber …!«

Er stand einige Sekunden reglos, dann atmete er auf und … nickte langsam und tief.

»Ja, Schwester Josefa, des is's halt. I derf net mehr nübergehn. I … derf … net mehr … nübergehn: Net mehr. Des bringt mi um. Des bringt mi um!« Er schrie förmlich auf. »Und je öfter i nüberkumm, desto mehr brennt's und ziagt's und lockt's mi. Naa«, murmelte er ganz leise, »'s derf net mehr sein, 's derf net mehr sein.«

Hatte er einen inneren Schwur geleistet, sich etwas gelobt? In seiner Haltung löste sich plötzlich etwas. Der Krampf, der ihn noch eben gefangengehalten hatte, schien von ihm zu weichen. Unter seinen Augen zuckte es zuerst rasch und fiebrig, dann immer langsamer, und dann veränderten seine Lippen ihre Stellung und ein leises Lächeln umspielte sie.

Er hob die Hände und legte sie wieder sanft an Josefas Schläfen.

»Schwester Josefa«, sagte er ganz leise, »i siach's jetzt alls ein. I siach's ein, daß Sie recht schlecht von mir haben denken müssen. Naa, naa, i gspür's schon, i hab's früher auch scho gspürt, nur hab i net aus und ein gwußt. Aber jetzt, wo die Heimlichkeit für uns zwei weg is und wir ganz offen miteinand über die Gschicht reden können, jetzt dank i Ihna, Schwester Josefa, halt vielmals.«

Er hielt ihr beide Hände hin, in die sie mit einer weichen Bewegung die ihren legte.

»Und i bitt Sie halt vielmals, Schwester Josefa, helfen S' mir! I glaub, i bin scho drüber wegkumma, i glaub, 's geht scho wieder aufwärts. Zerscht war i blind, dann war i rauschig, dann bin i nüacht gwordn. I siach's jetzt scho anders, ganz anders. Wer weiß, vielleicht war's gut, daß i da nach Berlin auffigfahrn bin. Aus der Entfernung siacht ma des alls ganz anders. Und Sie, Schwester Josefa, Sie sind so a guets Madel und ham so a guets Gfühl. I siach's ja, die ganze Art, wie S' heute gredt ham mit mir und wie S' mi angschaut ham …, i kann nur sagen: Vergelt's Gott, Seferl, vergelt's Gott!«

Er atmete noch einmal tief auf und lächelte wieder.

»I glaub, jetzt muß viel anders werden, i glaub, die Gschicht is überwunden.«

Er sah sie mit einem glücklichen Ausdruck an.

Sie sagte nichts, aber etwas von der Kraft ihrer reinen und gesunden Seele floß zu ihm hinüber.

Er machte eine unbeholfene Bewegung, als wollte er sie um die Schultern fassen und an sich heranziehen. Sie wich ihm leise aus.

Ach, wie gern, wie gern wäre sie ihm an die Brust gesunken und hätte einen Augenblick die Wollust genossen, sich an jemand anlehnen zu dürfen, sich zumindest einzubilden, daß sie jemand habe, der sie ganz verstand und vielleicht auch einmal ihr zu helfen imstande sei.

Aber so weit war es doch wohl noch nicht.

Jetzt galt es ja nicht, daß sie Schutz genoß, und sich Hilfe erhoffte. Sie mußte ja geben, geben, immer nur geben. Von ihr mußte die Kraft ausgehen, die ihn in seinem inneren Seelenkampf stärkte, da durfte sie keine Schwachheit zeigen. Sie mußte ja die Führung übernehmen, auf daß nicht wieder alles hinfällig wurde, was sich glücklich anzubahnen schien.

So wich sie denn seiner tastenden Hand mit einer weichen Bewegung aus, nickte ihm lächelnd zu, und sagte dann leise: »Gehn mer arbeiten, Herr Doktor! Jetzt wird's doppelt so gut gehen. Meinen S' net auch?«

»Ja«, sagte er mit einem frohen Aufatmen, »jetzt wird'i doppelt so gut gehn. Fang mer an!«

*

Ach, was war das für eine glückliche Zeit, die jetzt kam!

Josefa gestand sich, daß sie noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen war wie in diesen Tagen. Nicht einmal damals, als sie der Professor mit nach Wien genommen hatte, war in ihr das Glücksgefühl so stark und überquellend gewesen wie jetzt.

An dem Tag, an dem sie mit Dr. Santifaller so offen gesprochen hatte, war sie, halb taumelig von der glücklichen Wendung, abends in ihr Zimmer geeilt und hatte sich auf ihr Bett geworfen und vor Freude ein wenig geweint.

Dann war sie trotz der tiefen Dunkelheit, die schon über der Stadt lag, zwei Stunden lang durch die Straßen auf und ab gelaufen, immer wieder stehenbleibend und tief aufatmend in einer heißen Freude, die ihr schier das Herz zersprengte.

Und dann war der nächste Morgen so schön gewesen.

Da war Dr. Santifaller ganz leise, so behutsam, wie er es sonst nie tat, ins Zimmer getreten und hatte ihr, als sie sich zur Begrüßung umwandte, ein Päckchen in die Hand gedrückt, das ein wenig unbeholfen in Seidenpapier eingeschlagen war.

Sie hatte ihn fragend angesehen und er hatte darauf mit seinem guten Lächeln geantwortet und den Finger warnend an den Mund gelegt, als wollte er sie zu tiefstem Schweigen ermahnen.

Sie hatte sofort versucht, das Päckchen zu öffnen, aber er hatte die Hände daraufgelegt und gesagt: »Net jetzt, net jetzt, Seferl, erst abends, bitt schön!«

Sie hatte fragend die Schultern gehoben und sich erkundigt, was sie wohl von der Sache zu halten habe.

»Nix, nix«, hatte er neckend von seinem Arbeitsplatz herübergerufen, »auf d' Nacht, Seferl, auf d' Nacht, dann schaun S' nach.«

Den ganzen Tag über hatte er dann bei seiner Arbeit leise vor sich hin gebrummt, meist Tiroler Volkslieder, und auf einmal hatte sie auch die Stimme erhoben und ganz leise mitgesummt und dabei war ihnen die Arbeit so herrlich von der Hand gegangen, daß es eine helle Freude für sie beide bedeutet hatte.

Als er dann abends sich empfahl, da fuhr er ihr wieder mit der Hand übers Haar und sagte: »Seferl, Sie wissen gar net, was Sie da Guets tan ham, gar ka Ahnung ham S' davon, Seferl.«

Dann hatte er ihr zugenickt und an der Tür eine seiner komischen Verbeugungen gemacht und war verschwunden.

In ihrem Zimmer hatte sie dann ganz feierlich das Päckchen geöffnet und war tief erschrocken. Denn das weiße Papier umschloß eine kleinwinzige altertümliche Schatulle, die deutlich Tiroler Herkunft verriet, und als sie sie aufgemacht hatte, da blitzte ihr eine herrliche Armspange aus getriebenem Silber entgegen, wie sie die reichen Bäuerinnen in den Talgründen der Tiroler Heimat tragen. Es war ein wunderschönes, schweres und gediegenes Stück.

Sie vergaß fast zu atmen, als sie es aus der Schatulle herausnahm und betrachtete.

Es war merkwürdig, ihr liefen auf einmal die Tränen herab, so glücklich war sie über dieses Geschenk.

Aber gleich darauf packte sie es entschlossen wieder ein und stellte es beiseite.

Das konnte, das durfte sie nicht annehmen; das war vielleicht altes, schönes Erbgut, das Dr. Santifaller in seiner freudigen Regung jetzt an sie verschenkt hatte.

Nein. Nein. Das durfte nicht sein.

Als er am nächsten Tag eintrat, stand sie entschlossen auf und ging ihm entgegen.

»Herr Doktor«, sagte sie und sah ihn voll an, »i hab ja erst gestern abend gsehn, was Sie mir da haben schenken wollen. Herr Doktor, i sag Ihnen hundertmal vergelt's Gott! für den guten Willen, aber nehma derf i des net.«

»Seferl«, schrie er förmlich auf, »was soll das heißen?«

Sie hob die Hände und drückte seine erhobenen Hände leise abwärts. »Das ist ein schönes altes Erbstück, Herr Doktor, 's könnt Sie amol g'reuen, daß Sie's hergeben ham. I kann und i derf des net annehmen.«

Er zog plötzlich die Hände zurück und legte sie auf den Rücken.

»Seferl«, sagte er, »da versteh i kan Spaß net. Des müssen S' nehma oder Sie kränken mi so tief, aber so tief, daß i's gar net sagn kann.« Er war bei diesen Worten förmlich bleich geworden. Seine Hände zitterten.

Sie sah, daß er tatsächlich tief erregt war.

Sein Kopf war vorgeneigt, und seine Augen starrten zu ihr herab, fragend, drängend, mit einem Ausdruck tiefer Sorge.

Sie wich seinem Blick aus und sah verlegen im Raum umher, dann trafen sich ihre Augen wieder.

»Seferl«, sagte er. Nur das eine Wort. Aber darin lag eine so innige und herzliche Bitte und eine solche Angst, daß diese Bitte nicht erfüllt werden könnte, daß sie sich leise umdrehte und zu ihrem Platz zurückging.

Er folgte ihr unmittelbar.

»Seferl, i kann nur ans sagen: wann S' des Armbandel net nehma –«, er stockte und brachte den Satz nicht zu Ende.

Da war es um ihren Widerstand geschehen.

Sie hob den Kopf, lächelte ihn an und legte dann beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. »I hab mi halt net recht traut, des z' nehma, Herr Doktor«, sagte sie. »Aber bevor i Sie bös mach …, schön is's ja … des Armbandel. Wunderschön … i hab scho lang net so was Wertvolls und Schöns gsehen …, so sag i halt noch amol: vergelt's Gott!«

»Gott sei Dank«, atmete er auf. »Seferl, Sie hätten mi wirkli harb gmacht, wann S' des net gnommen hätten. I hab ja so a Freud ghabt, da i a kleins bisserl was ghabt hab, daß i Ihna beweisen kann, wie dankbar als i Ihna bin.«

Er hob sanft die Hand und fuhr ihr wieder übers Haar und neigte sich über sie.

Sie hatte das Gefühl, daß er im nächsten Augenblick sich ganz zu ihr herabneigen und sie küssen würde. Sie hätte sich bestimmt nicht gewehrt.

Aber er wagte es nicht.

Er richtete sich fast mühsam aus dieser gebeugten Stellung wieder auf, ließ seine beiden Hände ihr über Schläfen, Schultern und Arme herabgleiten, drückte ihr rasch und herzlich beide Hände und wandte sich dann seinem Platze zu.

Von dieser Stunde an herrschte zwischen ihnen tiefes Vertrauen.

Es zeigte sich darin, daß er, was er bisher nie getan hatte, von seinem Quartier erzählte, von der ältlichen Verwandten, bei der er wohnte, und von seinen kleinen Sorgen, die er da hatte. Daraus entwickelte sich dann ein freundliches Gespräch, das auch auf die Heimat, ihre gemeinsame Tiroler Heimat, übergriff und in ihnen eine leise, aber glückliche Sehnsucht nach den Bergen wachrief.

Ja, das waren herrliche Tage!

Nur einmal überstand Josefa eine schreckliche Stunde. Lorenz kam und flüsterte dem Doktor etwas ins Ohr. Der sagte daraufhin kurz »ja« und blieb dann unbeweglich an seinem Platz sitzen. Als der Diener die Tür hinter sich zugemacht hatte, wandte sich Dr. Santifaller Josefa zu.

»Eine Einladung«, sagte er. »Von drüben.«

Sie versuchte, an sich zu halten, aber sie war nicht imstande, einen Ton tiefer ängstlicher Beklemmung zu vermeiden, der ihr wider Willen über die Lippen brach.

»I soll nüberkommen.« Er stand auf und schlenkerte ein wenig mit den Beinen, um die im Sitzen eingeschlafenen Füße zu erwecken.

Sie hob unwillkürlich die beiden Hände vor die Brust.

»I weiß scho«, sagte er, »aber so geht des aa net, Seferl, daß i einfach net nübergeh. Ham S' ka Angst!« Er trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »I glaub net, daß mi noch wer verhexen kann«, sagte er mit ruhiger und klarer Stimme. »I geh nüber.« Und ehe Josefa noch etwas erwidern konnte, war er mit ruhigen und entschlossenen Schritten, wie sie sie sonst bei ihm nicht kannte, aus dem Raum gegangen.

Josefa verlebte die qualvollste Stunde ihres Lebens.

Es war ihr, als müsse sie jeden leisesten Laut vermeiden, als könne sie durch die beiden Mauern hindurchhören, was da drüben gesprochen wurde.

Die Zeit verrann, zäh und langsam …, eine Viertelstunde und noch eine …, drei Viertelstunden.

Sie sah den Minutenzeiger angstvoll an.

»Wenn eine ganze Stunde herumgeht, ohne daß er zurückkommt«, sagte sie zu sich selbst, »dann ist alles vergebens gewesen. Kommt er früher zurück, dann wird es gut.«

Aber der Zeiger rückte unbarmherzig vor und überschritt die Stunde.

Da sank Josefa ganz in sich zusammen, so tief, daß ihre Stirn fast die Knie berührte.

Wenn jetzt alles verloren war?

Da ging draußen die Tür.

Sie richtete sich pfeilschnell auf. Wie kam er zurück? Langsam, leise, mit zagendem Schritt; oder aufrecht, wie er weggegangen war, kräftig und jeden einzelnen Schritt betonend?

Aber während sie noch überlegte und nach seinen Schritten lauschte, da war die Tür schon offen und Dr. Santifaller stand vor ihr.

»Seferl«, sagte er, und sie wußte beim ersten Blick, den sie in sein Antlitz getan hatte, daß sie das Spiel mit dem Zeiger betrogen hatte.

»Seferl«, sagte er, »a schwere Stund war's, aber jetzt, jetzt is's vorbei. Fragen S' mi net, Seferl, fragen S' mi net, wia 's war.«

Sie sah ihn die Schultern schütteln, als müsse er eine unangenehme Erinnerung von sich werfen.

»Schreckli war's«, fuhr es ihm noch einmal zwischen den Lippen hervor. »Aber i hab mer's net nahgehn lassen, na, i hab mer's net nahgehn lassen. I denk jetzt anders über die ganze Gschicht, ganz anders, Seferl! Wirkli! Und jetzt … jetzt … is's vorbei.«

Er breitete die Arme aus, holte tief Atem, dann trat er auf Josefa zu und hielt ihr die Hand hin.

»Seferl, gib's Handerl her!«

Sie reichte ihm zaghaft die Hand und sah ihn fragend an.

»Vergelt's Gott«, sagte er. Nicht mehr als das, aber sie wußte, was es zu bedeuten hatte.

*

Es war nun schon ein Monat vorübergegangen, seit der Professor Wien verlassen hatte. Aus Genua und Gibraltar waren kurze Nachrichten gekommen, daß er eingeschifft sei, eine vorzügliche Kabine habe und imstande sei, auf dem Schiff in Ruhe und ungestört an seinen Vorträgen zu arbeiten.

Dann begann die große Überfahrt über den Atlantik und die Briefe blieben aus. Es war wohl kaum eine weitere Nachricht vor vier Wochen zu erwarten. Aus Rio de Janeiro würde er, das hatte er noch hinterlassen, mit Flugpost Nachricht geben.

Es war Josefa, als habe sie bis zu dem Eintreffen dieses fernen Briefes eine Zeit vollkommener Freiheit und ungetrübten Glückes vor sich.

Sonderbar! Sie konnte es sich nicht erklären, warum sie die beiden Male, als die Briefe aus Genua und Gibraltar eingetroffen waren, ein ängstliches Gefühl erfaßte. Sie hatte sie förmlich mit Überwindung geöffnet und beide Male aufgeatmet, als sie den ziemlich trockenen Inhalt durchgelesen hatte.

Mit keinem Wort fragte der Professor, was sich etwa ereignet habe. Er berichtete kurz, gab noch einige Anweisungen als Ergänzung zu dem, was er ihr und Dr. Santifaller bei seinem Abschied aufgetragen hatte. Und beide Male schloß der Brief mit der Bemerkung, daß nun auf längere Zeit hinaus keine Nachricht von ihm zu erwarten sei.

Sie hatte die Briefe jedesmal wie erlöst aus der Hand gelegt.

Als sie vor einem halben Jahr zitternd vor Freude nach Wien gekommen war, da hatte sie nicht gedacht, sie werde einmal glücklich darüber sein, daß er fern war. Damals hatte sie in ihm ihren Beschützer und Erretter gesehen und sich geschworen, daß sie alles, aber auch alles für ihn tun werde, um ihm eine treue Helferin zu sein.

War sie undankbar, wenn sie sich jetzt glücklich schätzte, daß er nicht in ihrer Nähe war?

Sie schüttelte, als diese Gedanken sie beschäftigten, verwundert den Kopf.

Warum bemächtigte sich ihrer eigentlich immer, wenn sie an ihn dachte, ein ängstliches Gefühl? Ein dumpfer Druck lastete augenblicklich auf ihr. Aber sie brauchte dann nur einen Blick zu ihrem Arbeitskameraden, zu Dr. Santifaller, hinüberwerfen, der neben ihr still und unverdrossen arbeitete, und dann war mit einem Male dieser Druck wieder von ihr gewichen.

Es lagen ja jetzt noch Monate, herrliche freie Monate vor ihr, die sie in stiller und froher gemeinsamer Arbeit mit Dr. Santifaller verleben konnte!

*

Inzwischen war der Frühling gekommen. Die Sonne wärmte bereits, der Schnee war weggeschmolzen, die Hänge des Wienerwaldes waren braun und dunkel, voll verhaltener Kraft, und harrten des ersten Sprießens und Gedeihens.

Josefa hatte die Heizung abstellen müssen.

»Der Frühling ist da«, sagte sie heiter zu Dr. Santifaller.

Aber sie bekam keine Antwort. Er saß über sein Mikroskop gebeugt und hatte wohl gar nicht gehört, was sie sagte. So vertiefte sie sich dann auch in ihre Arbeit und es war still im Laboratorium.

Auf einmal zuckte sie zusammen.

Was war das für ein Klang gewesen?

Hell hatte Metall auf Glas geklungen.

Sie wandte sich Dr. Santifaller zu.

»Herrschaft«, fluchte er und nahm die Pinzette, die ihm aus der Hand geglitten war, wieder auf. Er murmelte noch etwas Undeutliches und arbeitete dann weiter.

Wenige Minuten später verlangte er von ihr eine Eprouvette. Sie reichte sie ihm mechanisch.

Aber wenige Augenblicke später zuckte sie neuerlich zusammen. Ein heller, feiner Schall, ein Klirren, die Eprouvette war zu Boden gefallen und zersprungen.

Entsetzt sprang Josefa auf. »Um Gottes willen, war s' noch leer?«

»Ja«, sagte Dr. Santifaller stumpf, »leer war s' schon, die Eprouvetten, leer schon.«

Der schwere, düstere Ton, in dem er gesprochen hatte, machte sie aufmerksam.

Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Was is denn, Herr Doktor«, sagte sie, »was schaun S' denn so? Des is doch ka Malheur, wann nix drin war in der Eprouvetten, 's is doch nix dabei. Glaseln ham mer doch gnug.«

»Ja«, sagte er gedankenverloren, und dann sah sie, wie er seine beiden Hände, die Handflächen nach oben, vor sich hin hielt und sie abwechselnd betrachtete.

Nun begann sie sich zu wundern. »Was is denn, Herr Doktor, was ham S' denn?«

»Was i hab?« Er hob den Kopf und sah sie an. »I weiß net, Seferl, mir is so komisch.«

»Was heißt: komisch?«

»Schaun S', gestern auf d' Nacht, wie i z' Haus kumma bin, da is mir beim Essen das Messer auf den Teller gfalln und heut in der Früh beim Rasieren, da is mir das Rasierzeug aus der Hand gfalln, und jetzt hier zuerscht die Pinzetten und jetzt das Glasl. Seferl, i weiß net, was das is, aber …« Er drückte plötzlich mit dem Daumen jeder Hand gegen die anderen Fingerspitzen – »... i weiß net, i hab ka Gfühl in die Fingerspitzen. Da schaun S'!« Er hielt ihr die Hände hin und drückte die Nägel der Daumen in die Fingerspitzen der anderen Finger. »Des is alles so gfühllos. I spür des gar net. I glaub, i kunnt mi stechen und i möcht aa nix gspürn. Is des … is des net komisch?«

»Komisch?« hauchte sie zurück. Sie stand ihm gegenüber und dann wich sie einen kleinen Schritt zurück, so daß sie an den einen Mitteltisch zu lehnen kam.

»Jessas Mariandjosef!« sagte sie. »Herr Doktor, Sie werdn doch am End net in irgend etwas neingriffen ham. Sie werdn doch nix von irgendan Gift auf d' Händ kriegt ham? Waren S' am End unvorsichtig?«

»I weiß net«, sagte er, »i hab doch allweil die Handschuh anghabt, wann i was Gfährlichs g'arbeit hab. Es müßt höchstens sein, daß auf irgendan Präparat was hängenbliebn is. Aber da hätt's doch eher a Verbrennung geben oder a Färbung, a verdächtige.«

Er schloß die Hände mehrmals zur Faust und öffnete sie wieder. »Kann sein, daß bloß vom vielen Sitzen hier und dem Aufstützen auf die Tischkante der Blutumlauf net richtig is. Ach!« Er lachte kurz auf. »Da wird weiter nix dabei sein. Gehn mer weiter. Gebn S' mer a frischs Eprouvettel!«

Sie holte mit zitternder Hand eine frische Eprouvette hervor und reichte sie ihm. Er nahm sie vorsichtig entgegen und trug sie auf seinen Platz. »Geht scho wieder«, sagte er erleichtert. »I glaub, i sitz schlecht, i muß mir was unter die Arm legen. I glaub, des macht aa was aus, daß man die Händ fort in der Höh hat am Mikroskop. I muß sie öfter hängen lassen, dann geht 's Blut wieder in die Fingerspitzen.«

Sie sah ihm ängstlich zu, wie er wieder weiterarbeitete.

Nach einiger Zeit wandte er den Kopf und nickte ihr beruhigend zu. »'s is schon wieder in Ordnung, Seferl, 's geht scho wieder.«

Aber sie empfand diese Beruhigung nur vorübergehend. Sie mußte immer wieder zu ihm hinüberblicken, und als die Mittagspause kam und er aufstand, da sah sie ihn mit einem so besorgten Blick an, daß er sie anlächelte.

»Ka Angst, Seferl, i bin ja selber Arzt, i weiß ja, von wo des kummt. Gsund is ja unser Leben net, allweil des Hocken, allweil die Händ in der Höh, früher oder später muß sich so was einstelln. I weiß schon, was guet sein wird dafür: i werd jetzt jeden Morgen und jeden Abend a weng turnen, daß des Blut durchanand kummt, dann geht des Ganze scho wieder vorüber.«

Er war wieder ganz heiter geworden und machte, während er sein knappes Mittagessen verzehrte, ein paar seiner gutmütigen Spässe, so daß Josefa auch wieder in bessere Laune geriet.

Aber als er am Abend die Lade seines Laboratoriumstischchens versperrte, da glitt ihm der Schlüsselbund aus der Hand und stürzte rasselnd zu Boden.

Josefa war in derselben Sekunde bei ihm und hob ihm den Schlüsselbund auf.

»Komisch«, sagte er, »wie ein alter Thaddädl. Seferl, da muß was gschehn. Morgen wird geturnt. Die Leut, die unter mir wohnen, die werdn schaun! Da muß alles scheppern.«

Er gab ihr zum Abschied die Hand und ging fort, Josefa in schwerer Sorge zurücklassend.

Sie wußte es aus unzähligen Krankengeschichten, die sie im Laufe der Zeit im Laboratorium hatte durchlesen müssen, daß sich der schleichende Tod durch Gift in tausend verschiedenen Gestalten den Menschen näherte. Unzählige Male begann der Körper irgendeine leise Störung zu empfinden, sei es, daß die Verdauung nicht mehr wie gewohnt arbeitete, daß Gehör, Gesicht oder andere Sinne mehr oder minder starke Einbuße erlitten, sei es, daß irgendwelche Nerven nicht mehr ihren Dienst taten.

Als die Tür sich hinter Dr. Santifaller geschlossen hatte, begann sie seinen Tisch eingehend zu untersuchen. Sie leuchtete die Platte sorgfältig ab, ob sich irgendwo die Spur vergossenen Giftes zeige, irgendeine Ätzung der Glasplatte, eine Farbveränderung des Holzes. Der Tisch war ja doch ganz neu. Irgendein verschüttetes Gift hätte in neunzig von hundert Fällen irgendeine Spur hinterlassen müssen. Aber die Platte war unversehrt. Auch am Mikroskop ließ sich kein Fleck, keine sonstige Veränderung bemerken. Sie nahm seinen Arbeitsmantel aus dem Kasten und forschte auch hier sorgfältig von Quadratzentimeter zu Quadratzentimeter nach verdächtigen Spuren. Sie kam auch hier zu keinem Ergebnis.

Vielleicht hatte er ja doch recht, daß die einseitige Lebensweise, dieses ewige Hocken auf dem Drehsessel, dieses Aufstemmen der Unterarme auf dem kantigen Tischrand den Blutzulauf zu den Fingern so unterbanden, daß diese schließlich das Gefühl verloren.

Es war ein magerer Trost.

Als sie beim Verlassen des Laboratoriums den Vorraum durchschritt, zögerte sie einen Augenblick.

Ob sie den alten Lorenz um Rat fragen sollte? Der mußte doch sicher in seiner langjährigen Tätigkeit schon ähnliche Fälle mitgemacht haben.

Aber dann schalt sie sich selbst mutlos. Vielleicht kam am Tag darauf Dr. Santifaller vergnügt wie immer zum Dienst und fühlte sich wieder wohl.

Aber alle Trostgründe halfen nichts, sie konnte die Nacht über kaum schlafen. Immer wieder sah sie das sorgenvolle Antlitz Dr. Santifallers vor sich, wie er die offenen Handflächen vor sich hin hielt und mit den Augen von Fingerspitze zu Fingerspitze blickte und auf seiner Stirn sich eine tiefe Sorgenfalte eingrub.

Sehnsüchtig harrte sie dem Morgen entgegen. Vielleicht brachte der eine gute Nachricht.

Aber als Dr. Santifaller zur gewohnten Zeit eintrat, da wußte sie beim ersten Blick, daß sie vergebens gehofft hatte. Er sah schlecht aus, hatte offenbar ebensowenig wie sie geschlafen und zeigte eine müde, fast hätte man sagen können: hinfällige Haltung.

Sie trat ihm mit einem angstvoll fragenden Blick entgegen. Es fiel ihr auf, daß er ihr die Hand so kraftlos gab und nicht wie gewöhnlich ihr in die Augen sah, sondern an ihr vorbei.

»Schlecht ausschaun tut's, Seferl«, sagte er, »recht schlecht. Und des, was i da spür, oder besser gesagt net spür, diese Gefühllosigkeit, es is net mehr mit unterbundener Blutzirkulation zu erklären. I muß irgendwo ein Gift erwischt haben, weiß der Teufel, wieso. Ja sehn S', Seferl, des kann einem Forscher leicht passieren, wenn er halt allweil mit dem Zeug zu tun hat. Irgendwo die geringste Unvorsichtigkeit, und schon muß er selber an das glauben, wovon er andre befreien möcht.

So, und jetzt werdn wir eine Blutprobe nehmen, Seferl, vielleicht, wenn mer Glück ham, kriegen mer heraus, was für ans von die verflixten Gift in mir drinsteckt.«

Er wusch sich sorgfältig am entblößten Unterarm eine Stelle sauber und entnahm dann nach einem kleinen Stich ein Tröpfchen Blut, das er sofort in ein Präparat verwandelte und unter das Mikroskop schob.

Josefa stand in zitternder Erwartung neben ihm, während er das neue, so entscheidungsschwere Präparat untersuchte.

Er sah lange unbeweglich durch das Okular, dann hob er den Kopf und fuhr sich mit den Fingern über die Augen.

»Weiß der Teufel«, sagte er, »bin i jetzt a Hypochonder und bild mir was ein oder siech i tatsächlich jetzt schlechter?«

Er schüttelte den Kopf, zwinkerte ein paarmal mit den Augenlidern und senkte dann neuerlich das Haupt über das Mikroskop.

Josefa stand dicht neben ihm. Sie hatte die Hände über der Brust gekreuzt und starrte ihn unruhig und erwartungsvoll an.

Wenn tatsächlich die Erscheinungen so rasch eintraten, dann mußte der Doktor sogar eine ziemliche Menge Gift in sich aufgenommen haben. Aber woher? Woher?

Er mochte etwa eine Viertelstunde, sich immer wieder die Augen reibend und frisch durch das Okular sehend, zugebracht haben, da hob er den Kopf, drehte sich dann auf seinem Sessel um und sah Josefa, die noch immer neben ihm stand, mit einem müden Blick an.

»Ja, Seferl«, sagte er, »da gibt's nix zu deuten, nix zu ändern. Die Veränderung in meinem Blut is ganz deutlich. I hab oft und oft mein eigenes Blut untersucht, weil i kerngesund bin und so an Vergleich immer gern angstellt hab mit krankem Blut. Was i da drin gsehn hab, Seferl, des is nix Gutes, und leider Gottes, i weiß net, was es is.

A Gift wird's schon sein, aber was für ans, was für ans?« Er ließ die Hände sinken und schüttelte den Kopf. »Jetzt werdn mer halt schaun, eins von die Gifte nach dem andern durchnehmen, eine endlose Arbeit.« Er seufzte auf. »Eine Arbeit, die wir gar net mehr durchführen können.«

»Warum?« fragte sie ängstlich.

»Ja, warum!« sagte er. »Weil's seit gestern noch viel schlechter gwordn is mit meine Finger. Schaun S', wie des Präparat in meine Händ zittert! Himmelherrgott noch amol! Jetzt wär i so schön drin gwesen und so nah dem Erfolg und hätt was richten können, und jetzt, jetzt …« Er senkte den Kopf und legte die geballte Rechte an die Nasenwurzel.

Als er nach einiger Zeit das Haupt erhob, sah er Josefa mit einem Ausdruck sprachlosen Entsetzens in den Augen sich gegenüber.

»Net traurig sein! Net traurig sein, Seferl. 's wird sich scho noch a Ausweg finden, 's war doch net schlecht, wann in der Krönerschen Heilanstalt a Arzt sich net selber helfen könnt. Komm, Kinderl, fang mer halt an, gehn mer alles systematisch durch, vielleicht ham mer Glück.«

»Soll i net vielleicht den Doktor Pasch oder einen von die andern Herrn holen?«

Er schüttelte den Kopf. »Hat kan Sinn, Seferl, die können aa nix richten. Wenn's wer erkennt, kann's i nur selber hier erkennen. Aber das Blutbild, wia i's da drin siech, hab i no in mein ganzen Leben net gsehn. Es mueß a fürchterliches, a ganz entsetzlichs Gift sein, 's muß ans von die schleichenden, langsam wirkenden Gifte sein. Ja, ja.«

Er nickte vor sich hin, dann drehte er sich zum Mikroskop um. »Also, Seferl, fang mer an mit den Präparaten der Gruppe A!«

Sie arbeiteten stumm den ganzen Vormittag hindurch.

Es war eine mühsame Arbeit, und Josefa sah nach kurzer Zeit ein, daß der Doktor recht behalten würde. Seine Finger waren so ungeschickt. Jeden Augenblick entfiel ihm die Pinzette. Sie mußte ihm die Präparate selbst unter das Mikroskop schieben, damit keines zerbrach.

Zu Mittag aß er kaum etwas, sondern saß nur stumm auf seinem Sessel und starrte vor sich hin.

Sie vermochte trotz aller Überwindung nicht Mut zu fassen, heiter zu scheinen. Es schnürte ihr quälend den Hals zusammen. Mühselig hielt sie sich selbst aufrecht und zerquälte dabei ununterbrochen ihr Gedächtnis, um ihm irgendeine Hilfe zu geben, sich an irgendeine unter den zahllosen Krankheitsgeschichten, die durch ihre Hände gegangen waren, zu erinnern.

Als er am Abend nach fruchtloser zehnstündiger Tagesarbeit müde sagte, nun sei es genug, er wolle heim und versuchen zu schlafen, da wollte sie ihn zuerst nicht allein heimgehen lassen. Aber er lehnte ihr Angebot, ihn zu begleiten, ab. Er sei noch durchaus gut auf den Füßen und glaube nicht, daß sich da irgendein Hindernis zeigen würde.

Er fuhr ihr, wie in den letzten Tagen öfter, über die Haare und sagte nur mit einem bitteren Ton in der Stimme: »Jetzt spür i fast scho gar nix mehr, daß i Ihna über die Haar fahr, Seferl, so tot sind die Fingerspitzen schon, so tot.«

Dann ging er still aus dem Raum.

Josefa blieb mitten im Laboratorium stehen und starrte vor sich hin auf den Boden.

Jetzt, gerade jetzt, wo das geschah, war der Professor fern, er, vielleicht der einzige, der hätte helfen können, der gewußt hätte, wie man dem entsetzlichen Übel beikommen, wie man dem Gift seine Gewalt hätte rauben können.

Sie hob den Kopf, und ihre Augen blieben auf dem Giftschrank haften.

Ob sich wohl in ihm des Rätsels Lösung barg?

Sie öffnete ihn und starrte die zahllosen Reihen grellfarbiger Vignetten an, die auf den sauber ausgerichteten Fläschchen klebten.

Vielleicht war aus einem der Fläschchen Gift ausgetreten? Er hatte es dann zufällig berührt, und das Gift …

Doch nein. Es hatte ja niemand außer ihr selbst Gifte aus dem Schrank genommen. Sie und der Professor. Und es waren immer so winzige, so unglaublich kleine Mengen gewesen, daß nach menschlicher Ermessung eigentlich irgendeine Katastrophe so gut wie unmöglich war. Und wenn irgendeine größere Menge entnommen worden wäre, so hätte das ja schließlich aus der Kartothek hervorgehen müssen. Hatte sie nicht jedes Gift nach jeder Entnahme nachwägen müssen? War nicht der Betrieb hier durch zehnfache Kontrolle so durchgebildet, daß ein Unfall so gut wie ausgeschlossen sein mußte?

Sie ging zu dem Kasten, der die Karteikarten enthielt, und begann, die Krankheitsgeschichten zu überfliegen. Vielleicht war von der Seite aus dem Rätsel beizukommen.

Wo hatte sie denn nur einmal dieselbe Aufeinanderfolge gelesen?

Gelesen?

Hatte sie es nicht einmal gehört?

War es nicht einmal …?

Ja, ja, es hatte ein Gespräch stattgefunden, da hatte jemand das erwähnt.

Ach Gott, sie hatte so unzählige Gespräche um sich herum gehört!

Jeden Tag erzählten doch die drei Herren aus der Heilanstalt die Krankheitsgeschichten. Unzählige Krankheitsbilder hatte sie selbst, sei es handschriftlich, sei es mit der Maschine, festgehalten. Wie sollte sie sich jetzt an eines dieser Gespräche erinnern!

Und doch! Es lag auch so ein eigener Klang ihr in den Ohren.

Wer war es nur gewesen?

Keiner von den drei Herren aus der Heilanstalt. Und der Professor? Nein, der auch nicht. Es hatte so eigenartig, so fremd geklungen, und das war ihr jetzt noch in Erinnerung.

Dieses Gespräch, in dem diese Aufeinanderfolge von Krankheitserscheinungen vorgekommen war, das … das mit dem Gefühlloswerden der Fingerspitzen, den Sehstörungen, das hatte … das hatte … nicht hier im Raum stattgefunden, sie hatte es … natürlich! … sie hatte es mitgeschrieben … angesagt … hatte es ihr … angesagt hatte es ihr … natürlich!

Sie richtete sich jäh auf.

Mit einem Schlag war ihr das Bild wieder gegenwärtig. Nicht hier im Laboratorium, drüben im Empfangsraum hatte sie das gehört, und das war … nicht Dr. Pasch gewesen, nein, nein … das war … das war … Selbstverständlich! Jetzt wußte sie es. Das war dieser gelbe Weltreisende, das war Rüttgers gewesen, der ihr das gesagt hatte, damals, als er ihr dieses gefährliche Gift, das schrecklichste von allen, auf den Tisch gestellt hatte.

Im nächsten Augenblick hatte Josefa den Schlüssel herausgerissen und war auf den Schrank, den sie inzwischen wieder versperrt gehabt hatte, losgestürzt.

Nun hielt sie das winzige Fläschchen in den Händen, eilte damit zum Tisch Dr. Santifallers, ließ die Lampe ihren vollen Schein auf das Fläschchen senden und begann mit einer Lupe das Fläschchen zu untersuchen. Es bot den gewohnten Anblick. Nichts deutete darauf hin, daß Gift ausgeflossen war.

Zögernd und nachdenklich stellte sie es wieder an seinen Platz zurück.

Sollte sie das Gift neuerlich abwägen? Es war eine mehrstündige Arbeit, die ihr da bevorstand.

Gleichwohl, das durfte kein Hindernis sein. Dieses Opfer mußte sie bringen.

Sie nahm die Karteikarte hervor und sah die eingetragene Menge nach.

Ach ja, jetzt entsann sie sich, indem sie nach der Karte suchte. Da war ja damals noch der sonderbare Zufall gewesen. 4,8 Kubikzentimeter hatte die Phiole enthalten. Sie hatte noch damals im Scherz zu Lorenz gesagt, das sei ja das Datum ihres Geburtstages, wenn man berücksichtige, daß der Dezimalpunkt ein wenig herabgerutscht war, so daß das Ganze aussah wie der 4. August.

Da war die Karteikarte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die damals von ihr geschriebene Ziffer.

Der vierte …

Im nächsten Augenblick hob sie die Karte ruckartig näher an die Augen.

Hatte ihr Gedächtnis sie ganz verlassen?

Das war doch damals so gewesen! Der 4. 8. Sie hatte doch noch Lorenz von dieser merkwürdigen Entdeckung Mitteilung gemacht?

Aber hier, hier stand ja gar nicht 4,8, da stand ja sauber und deutlich 4,3!

Wie war das möglich?

Noch tiefer senkte sie den Kopf über das Blatt, und dann begann sie plötzlich heftig zu zittern.

»Um Gottes willen«, murmelte sie, »um Gottes willen!« Und dann stürzte sie, alle Vorsicht außer acht lassend, mit dem Blatt Papier zum Mikroskop und schob das Papier unter das Mikroskop und stellte es ein, so gut sie es vermochte, und senkte den Kopf über das Okular.

Und dann, dann brach ein tiefes, entsetztes Stöhnen aus ihrem Mund. Deutlich, von dem Mikroskop mit furchtbarer Deutlichkeit enthüllt, war es zu sehen: die Ziffer drei stand wohl da, aber dort, wo sich die beiden Krümmungen des Dreiers gegen die Mitte von oben und unten nähern, da war es unter dem Mikroskop einwandfrei zu sehen, da war etwas radiert, so daß aus dem Achter hatte ein Dreier werden müssen.

Josefa sank, wie von einer furchtbaren Macht niedergedrückt, in ihrem Stuhl zusammen.

Wer konnte da radiert haben?

Und war wirklich diese fürchterliche Menge Gift: 0,5 Kubikzentimeter entnommen worden?

Sie sah genau in der Tabelle nach. Das Gewicht des Fläschchens war bis auf ein Hundertstel Gramm genau ermittelt. Wenn sie jetzt nachwog, dann mußte sie mit voller Genauigkeit feststellen können, ob tatsächlich diese 0,5 Kubikzentimeter in dem Fläschchen fehlten.

Ihre Hände zitterten, als sie die Waage bediente, und ihre Lippen murmelten, als spräche sie eine Beschwörung, als sie das Fläschchen auf die eine Tasse senkte und dann das Instrument für genaue Messungen einstellte.

Sie wartete eine Ewigkeit, um dem Instrument Zeit zu lassen, sich zu beruhigen; denn wenn sie jetzt die Augen öffnete und hinsah, dann gab ihr die unbestechliche Waage an, ob es geschehen war oder nicht.

Sie wußte selbst nicht, wie lange es war, bis sie endlich den Mut fand, die Augen zu öffnen. Dann beugte sie sich nieder und las ab und blieb starr in dieser Haltung stehen.

Mit unbarmherziger Deutlichkeit zeigte das Instrument an, daß die entsprechende Menge entfernt worden sein mußte.

Und noch gab Josefa nicht nach. Nun mußte auch noch die Messung des Volumens erfolgen.

Lorenz steckte den Kopf durch die Tür und fragte, ob sie denn noch nicht Schluß mache.

Sie schüttelte den Kopf. Er solle nach Hause gehen, sagte sie, sie habe noch lange zu arbeiten.

Er murmelte einen Gutenachtgruß und verschwand.

Sie aber werkte weiter. Über zwei Stunden lang wartete sie, bis der letzte Hauch des Giftes aus dem Fläschchen herabgeronnen war in die Meßphiole. Dann erst tauchte sie diese in das Meßgerät ein. Noch einmal schloß sie die Augen vor der Ablesung und noch einmal mußte sie dieselbe schreckliche Feststellung machen; auch die Volumenmessung führte zu keinem anderen Ergebnis.

Von dem Gift »Luri«, dem gefährlichsten aller malaiischen Gifte, fehlten 0,5 Kubikzentimeter.

Sie hatte nicht mehr die Kraft, das Gift aus der Phiole in das Fläschchen zurückzuschütten. Sie verklebte die Öffnung der Phiole flüchtig mit Schellack und ließ sich dann kraftlos auf ihrem Arbeitssessel nieder.

Jetzt konnte nur noch ein Wunder die fürchterliche Tatsache aus der Welt schaffen, die Tatsache, daß aus diesem Fläschchen die für ein Gift ungeheure Menge von 0,5 Kubikzentimeter fehlte, und daß Dr. Santifaller deutlich, unanfechtbar und unleugbar alle die Anzeichen einer Vergiftung zeigte, die die Merkmale des schrecklichen Giftes bedeuteten.

Wie war zu helfen?

Wer konnte helfen?

Nur zwei Männer vermochten es: Dr. Santifaller selbst, der aber vielleicht in wenigen Tagen nicht mehr imstande war, an der Darstellung und Bekämpfung des Giftes selbst tätigen Anteil zu nehmen.

Der andere aber war …

Als sie in ihren Gedanken so weit gekommen war, begann sie am ganzen Körper zu zittern.

Durfte sie diesen furchtbaren Gedanken überhaupt zu Ende denken? Den Gedanken, der sich ihr mit unerhörter Gewalt aufdrängte und sie mit eisigem Entsetzen erfüllte.

Wer konnte es denn gewesen sein, der aus dem siebenfach verschlossenen Panzerschrank das Gift entfernte? Wer konnte es gewesen sein, der auf dem Karteiblatt mit solch merkwürdiger Geschicklichkeit die winzigen Strecken des Tintenstriches herausradiert hatte? So geschickt, daß ein menschliches Auge dies niemals ohne die Hilfe eines Mikroskopes bemerkt hätte.

Sie legte die zitternde Hand vor die Augen und beugte die Stirne bis zu den Knien hinab.

Warum war sie die ganze Zeit über nie so ganz froh gewesen, diese Zeit, als der Professor und Dr. Santifaller so fremd geworden waren, als sie stumm, in einer rätselhaften Gegnerschaft nebeneinander gearbeitet hatten?

War es denkbar, daß ein Mann wie der Professor, ein Mann von dieser inneren Kraft, diesem Ruhm, dieser Begabung, ein Mann, der den Leitspruch »Schach dem Tode!« auf sein Panier geschrieben hatte, daß dieser Mann es versuchte … Gift …?

Sie lief noch einmal hinüber zum Karteischrank, nahm das Blatt heraus und legte es neuerlich unter das Mikroskop.

Ach, es war unleugbar, ebenso unleugbar das Bild dieser Rasur, wie ihre klare und deutliche Erinnerung an den seltsamen Zufall, daß das Maß des Giftes sie an den Tag ihrer Geburt erinnert hatte.

Sie preßte mit aller Kraft ihre geballten Hände gegen die Brust. Es war ihr, als beginne der Boden unter ihren Füßen zu schwanken, als sinke sie hinunter ins Uferlose.

Niemand außer ihr und dem Professor verfügte über die Schlüssel zum todumschließenden Giftschrank. Niemals, seitdem sie in der Anstalt Dienst tat, war dieser Giftschrank länger offen gewesen, als irgend jemand von ihnen beiden, der Professor oder sie, vor ihm stand, Gifte entnahm oder Gifte einreihte. Niemals hatte Lorenz, seitdem sie die Arbeit übernommen hatte, auch nur einen Versuch gemacht, in den Besitz des Schlüssels zu gelangen, Gift selbständig in den Schrank zu tun oder aus ihm zu entnehmen. Niemals hatte Dr. Santifaller selbst ein Giftfläschchen entleert oder umgefüllt.

Es gab – so grauenhaft und grausam es war – nur eine einzige schaurige Erklärung: die, daß der Professor mit Willen und Absicht und für einen grauenvollen Zweck die todbringende Giftmenge aus dem Fläschchen entfernt hatte.

Josefa stöhnte bei diesem Gedanken tief auf.

Oh, was war das für eine Welt, in die sie geraten war! Welch eine rätselvolle, mit unergründlichen Gefahren und Verbrechen belastete Welt!

Bei diesem Gedanken erhob sich Josefa mühselig von ihrem Sitz und begann das zeitraubende und ermüdende Geschäft des Zurückfüllens aus der Eprouvette in das Fläschchen. Sie hatte genau gemessen, ein zweites und drittes Messen konnte – so sicher war sie in ihrer unglückseligen Erkenntnis – kein anderes Ergebnis bringen.

Sie wankte zu dem Tisch hinüber, auf dem das Meßgerät stand, und begann die Rückfüllung, sah, wie Tropfen um Tropfen aus der Eprouvette in das Fläschchen hinüberglitt, Viertelstunde um Viertelstunde.

Als sie fertig war, war es Mitternacht geworden. Mit aller erforderlichen Umsicht fügte sie das Gift wieder an seinen alten Platz und versenkte die Eprouvette zutiefst in die antiseptische Flüssigkeit. Dann sah sie sich zitternd im Raum um.

Es war kalt geworden und sie fror. Aber sie fror nicht etwa deswegen, weil die Temperatur im Raum gesunken war, sie fror von innen heraus, aus der Tiefe ihres Herzens, das manchmal angstvoll und unruhig schlug, dann aber wieder zeitweise ganz auszusetzen schien.

»Jetzt is alls aus«, flüsterte sie vor sich hin, »alls.«

Sie wußte selbst nicht, wie sie in ihr Zimmer kam.

Mechanisch legte sie sich zu Bett, ohne Abendessen, todmüde, und doch unfähig zu schlafen. Denn immer wieder, wenn sie einen Augenblick die Gedanken abzulenken versuchte, stiegen vor ihr Bilder aus den letzten Monaten auf. Und diese Bilder begannen allmählich sich zu einer Reihe zu formen, zu einer furchtbaren, anklagenden Reihe, die in ihr nur immer mehr die Gewißheit steigerte, daß diese schauerliche Entdeckung ihren tiefen seelischen Grund hatte.

Dieser Mann, so mächtig und selbstsicher; dieser Mann, der einer Welt als groß und bedeutsam erschien; dieser Mann, der sich selbst für einen Gott hielt, war im tiefsten Kern seiner Seele schlecht.

Was konnte es gewesen sein, das in ihm diesen entsetzlichen Entschluß hatte reifen lassen?

Nichts anderes als der ratlose Neid und der uferlose Haß gegen den anderen, der ihm seine Erfolge zu verdunkeln, seinen Ruhm zu nehmen drohte, seinen Namen der Einzigkeit, der Göttlichkeit zu entkleiden vermochte und der ihm auch …

Bei diesem Gedanken zuckte sie, wie von einem ungeheuren Nervenschmerz gerissen, zusammen.

Ja, das war wohl der letzte Anstoß gewesen. Damals, als der Professor unvermutet zurückgekehrt war, damals, als er hinter ihr gestanden war und vor sich hin gestarrt hatte in die uferlose Weite, ins Nichts, damals hatte sich in ihm der schaurige Haß zu der furchtbaren Gewalt verdichtet, aus der dann das Verbrechen seine Kraft genommen hatte, und damals, als er unbewußt, ihr aber deutlich hörbar, zweimal sein »ja« in den Raum hinausgerufen hatte, damals hatte es sich wohl entschieden.

Ein Verbrechen war also geschehen, ein Verbrechen von einer Art, wie es sich eben hier in dieser Anstalt nie und nimmer hätte ereignen dürfen! Hier, wo der kühne Ausruf »Schach dem Tode!« zum erstenmal erklungen war, hier hatte eben der, der diesen Ausruf getan hatte, den Tod gerufen, gerufen in schlimmer und verderblicher Absicht.

In der Absicht, dem Tod einen Menschen auszuliefern, einen Menschen, der wie er, der Verbrecher selbst, ein Kämpfer gegen den Tod war.

Ach, und was für einen Menschen!

Diesen seelenguten, naiven und dabei so genialen Doktor Candidus Santifaller, den besten Menschen, den sie, Josefa, seit dem Tod ihres Vaters kennengelernt hatte.

Josefa horchte erschrocken auf.

Was war das für ein seltsames Geräusch?

Was knarrte und quietschte im Raum?

Ach so! Es war das Bett, und es knarrte und quietschte so in seinen Fugen, weil das von grauenvollem Entsetzen geschüttelte Wesen, das in ihm lag, am ganzen Körper zitterte.

Josefa versuchte, ihrer selbst Herr zu werden.

Aber es gelang ihr nicht.

Die furchtbare dämonische Kraft, die sich ihrer Nerven bemächtigt hatte, ließ sie nicht aus ihren Fängen.

Ach, und sie lag und konnte nicht helfen.

Oder sollte sie jetzt, da sie Gewißheit hatte, aufspringen und hinabeilen, um dem Kranken Bescheid zu sagen, diesen grauenvollen Bescheid, daß an ihm ein Verbrechen begangen worden war, wie es entsetzlicher kaum auszudenken war?

Würde dieser seelische Keulenschlag ihn nicht noch tiefer verwunden und noch kränker machen, als er ohnehin schon war?

Er mußte es ja früh genug erfahren.

Wie würde diese Stunde, da er es erfuhr, vorübergehen?

Herrgott! Wie das Bett knarrte!

Sie legte sich auf die Seite, zog die zitternden Knie an und umschlang sie mit den Armen.

Und wenn sie jetzt unter diesen furchtbaren Ereignissen zusammenbrach, wenn ihr die Nerven durchgingen? Was dann?

Wenn auch sie zusammenbrach, war das Laboratorium nicht mehr arbeitsfähig, dann fehlte der Anstalt die Seele, die sie aufrechthielt!

Und dann, dann war auch niemand da, der sich Santifallers annahm.

Ihn, ihn mußte sie retten. Ihn … ihn!

Ach ja! Es half ja nichts, sich etwas vorzureden. Es war ja klar, unwiderleglich klar …, sie liebte diesen guten Menschen. Sie liebte ihn mit aller Gewalt ihrer einsamen Seele. Um ihn hatte sie gelitten, ihn hatte sie vorübergehend gehaßt und ihm hatte sie verziehen, als er Einkehr hielt … weil …? Weil sie ihn liebte. Nur die Liebe vermag alles, aber auch alles zu verzeihen.

Und dieser Mensch, der einzige, den sie auf dieser Welt liebte, liebte mit vollem und reinem Herzen, dieser Mensch war verloren, unrettbar verloren, wenn … nicht ein Wunder geschah.

Gibt es Wunder?

Ach nein. Es gibt keine. Denn wenn auch die Menschheit von Wundern redet, die der Arzt vollbringt … Wunder sind es trotzdem nicht; denn diese Wunder sind Ergebnisse aufopfernder Arbeit, rastlosen Fleißes, genialen Schaffens.

Von selbst gebären sich Wunder nicht.

Auch hier mußte und konnte nur tatkräftiges Handeln retten, konnte nur einer retten, dem es gegeben war, in diese rätselvolle Welt zumindest hie und da einen tieferen Blick zu tun …, hier konnte nur einer helfen …

Und dieser eine war der, der diesen verzweiflungsvollen Zustand selbst herbeigeführt hatte, der den Tod selbst gerufen hatte …, der Verbrecher selbst.

Und dieser Mann – wenn er überhaupt noch den Ehrentitel eines »Mannes« verdiente –, wo war er?

Ach, jetzt wurde so vieles klar, so unsäglich vieles. Oh, wie verschlagen, wie abgrundtief verworfen, wie tückisch hatte er alles angelegt. Niemals – so hatte er rechnen können – konnte dieses Verbrechen entdeckt werden.

Und es wäre nie entdeckt worden, wenn nicht dieser unglaubliche Zufall Josefa auf die Spur gebracht hätte.

Dieser Dr. Santifaller mußte dahinsiechen, weil er, der einzige Retter, fern war.

Wenn ihn auch eine rasche Draht- oder Kabelnachricht erreichte, mußte er denn kommen? In der Heilanstalt rangen soundso viele mit dem Tod und er war trotzdem in die Ferne gefahren. Warum sollte nicht auch der dem Tod verfallen, den er haßte? Der ihm im Weg war, der seinen Stolz bis ins Mark getroffen hatte?

Was galt ihm der Tod dieses Mannes? Nichts! Nein, er war ihm sogar erwünscht. Ihm galt ja nur die eigene Person, sein Werk, sein Ruhm.

Darum hatte er ja in hinterlistigem Planen die Untersuchung der tropischen Gifte, die Rüttgers gebracht hatte, vor seiner Abreise aufgegeben, damit kein Gegenmittel vorhanden wäre, wenn sich der andere in Schmerzen wand. Darum hatte er sich letztlich entschlossen, die Reise doch zu unternehmen.

Denn wäre er dagewesen, dann hätte er – zumindest zum Schein – weiterforschen müssen.

Aber dazu hatte er wohl nicht die Kraft aufgebracht, seinem Werk der Vernichtung auch noch gelassen und mitleidlos zuzusehen.

Vor diesem Grauen war er geflohen in die Ferne Südamerikas.

Wenn ihn dort nach Monaten die Nachricht traf, Dr. Santifaller sei gestorben, dann brauchte er nur zu nicken und zu sagen: es ist gelungen, und konnte von keinem Verdacht getroffen, zurückkehren und wieder der große Mann sein.

Nein, das sollte er nicht.

Josefa fühlte, wie plötzlich das Zittern ihrer Glieder aufhörte.

War es der Haß, der ihr auf einmal die Kraft gab, ihre Glieder zu beherrschen?

Oder war es die Ruhe des Entschlusses zum Handeln?

Ja, das fühlte sie: sie mußte handeln, handeln mit aller Tatkraft und Entschlossenheit.

Es galt, den liebsten Menschen zu retten. Und der mußte gerettet werden, wenn darüber auch der andere zerbrach, der den teuflischen Plan ausgeheckt hatte.

Doch wie? Wie sollte sie es anstellen, daß der Zweck erreicht wurde?

Ruhelos warf sich Josefa von einer Seite auf die andere.

Immer neue Pläne gebar ihr erregt arbeitendes Gehirn. Immer wieder mußte sie sie verwerfen, weil sie unbrauchbar, haltlos waren.

Gegen Morgen fand Josefa für zwei Stunden Schlaf.

Aber noch ehe der Wecker sie ihm zur gewohnten Zeit entreißen konnte, war sie in ihrer inneren Unruhe schon wieder erwacht.

Wie würde sie Dr. Santifaller heute finden, wie würde er aussehen …? Und, ach Gott, ja, das war das Entsetzliche, wie … ja wie sollte sie ihm die gräßliche Nachricht beibringen?

Sie vermochte sich kaum richtig anzukleiden.

Viel zu früh erschien sie im Laboratorium.

Es war ihr unmöglich zu arbeiten. Fast war es ihr, als habe das furchtbare Gift auch sie selbst ergriffen.

Ihre Hände zitterten so stark, daß sie die Werkzeuge und Glasapparate kaum festzuhalten vermochte.

So legte sie denn alles beiseite und trat an das Fenster, um dort Santifallers Kommen zu erwarten. Schon an seinem Gang mußte sie ja erkennen, wie es um ihn stand, ob er sich wohler fühlte, ob er die Wirkungen des Giftes noch stärker empfand.

Sie umfaßte mit der einen Hand die in Kopfhöhe angebrachte Schnalle des Fensters und blieb so, die Stirn gegen die Scheibe pressend, stehen.

Die Zeit verrann.

Die Uhr hinter ihr schlug die achte Stunde. Aber Dr. Santifaller war noch nicht zu sehen. Um diese Zeit saß er gewöhnlich schon an seinem Arbeitsplatz und schob das erste Präparat unter das Objektiv seines Beobachtungswerkzeuges.

Ach, wenn das heute nur auch so gewesen wäre!

Aber der Platz blieb leer.

Sie preßte das Gesicht ganz flach an die Scheibe des Fensters, um möglichst weit die Straße hinabsehen zu können.

Vergebens.

Die Straße blieb leer, und wenn hie und da eine Gestalt auftauchte, so erkannte Josefa nach wenigen Schritten, daß es nicht Dr. Santifaller war.

Die Hand, mit der sie den Griff des Fensters umfaßte, begann sie zu schmerzen.

Sie wechselte die Stellung.

Es war neun Uhr geworden.

Wieder fühlte sie das unselige Zittern der Knie.

Wenn er nicht kam?

Dann, ja dann mußte, jawohl mußte sie sich um ihn kümmern.

Noch eine Viertelstunde wollte sie warten, nur eine einzige, dann, dann wollte sie zu ihm hinfahren.

Hinter ihr entstand ein leises Geräusch.

Lorenz war in das Laboratorium eingetreten.

Er sah sich unmutig um.

»Der Herr Doktor ist noch nicht da«, sagte er mit einem mißbilligenden Ton in der Stimme.

»Nein«, preßte sie mühsam hervor.

»Er wird krank sein«, murmelte der Alte.

Er stand dünn und klein in der Mitte des Laboratoriums und schüttelte sorgenvoll sein weißes Haupt.

»Glauben S' net auch, Schwester Josefa?«

»Ja, Herr Lorenz.«

Ihre Stimme klang kaum, sie hatte es nur vor sich hingehaucht. Sie drehte sich um. Ihr Blick fiel auf die Wanduhr. Es war ein Viertel über neun Uhr.

»Ich fahre zu ihm, Herr Lorenz.«

»Is recht«, sagte der. »Der Herr Doktor hat mir in den letzten Tagen net recht gfallen«, fügte er hinzu, »'s wird gut sein, wenn sich wer um ihn umschaut.«

*

Zehn Minuten später glitt der Wagen des Professors – Lorenz hatte ihr den Rat gegeben, ihn zu benützen – die Straße hinab.

Die Fahrt ging rasch, aber Josefa erschien es, als bewege sich der Wagen nicht von der Stelle.

Sie sah angestrengt nach rechts und links, ob nicht vielleicht doch Dr. Santifaller des Weges daherkam.

Aber sie konnte ihn nicht erspähen.

Dann hielten sie vor dem schmalbrüstigen Vorstadthaus, in dem er bei seiner Verwandten wohnte.

Josefa lief die Stufen des Hausflurs empor, erfuhr von der Hausbesorgerin, die eben die Treppe wusch, die Wohnungsnummer und flog die Treppe hinauf.

Eine schmächtige ältere Frau öffnete ihr.

Bevor sie noch ein Wort gesprochen hatte, wußte Josefa, daß es schlecht stehen mußte. Die Frau hielt in der freien Hand ein Waschbecken, aus dem der Geruch von Essig aufstieg.

»Wie geht es dem Herrn Doktor?« Josefa überfiel die bekümmerte Frau jäh und unvermittelt mit der Frage.

»Schlecht, Fräulein, schlecht!« Die schmalgesichtige Frau verzog das Gesicht und suchte nach einem Platz, das Waschbecken hinzustellen. So rasch waren ihr die Tränen aus den Augen geschossen.

»Darf ich zu ihm? Ich bin seine Laborantin.«

»Einen Augenblick«, schluchzte die Frau, dann huschte sie durch das dämmerige Vorzimmer und verschwand durch eine Seitentür.

Josefa schloß die Augen.

Wie entsetzlich rasch das ging. Wenn es heute schon so schlecht um Dr. Santifaller stand …

Die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen, Josefa hörte eine Stimme. »Bitt schön, Fräulein.«

Sie trat ein.

Es war ein schmales Kabinett. Altväterischer Hausrat erfüllte es in beklemmendem Gedränge. Kleidung und Wäschestücke lagen unordentlich umher.

Das Bett, zwischen zwei wuchtig sich vordrängende Kasten geklemmt, war auf den ersten Blick nicht zu sehen.

»Seferl!«

Wie schwach die Stimme klang.

Mit raschem Schritt war sie bei ihm.

Und erschrak über seine bleiche Gesichtsfarbe.

»Mein Gott«, sagte sie statt jeder Begrüßung.

Sie bereute es sofort. Aber die Worte waren ihr nun einmal entflohen.

»Ja, Seferl«, atmete er mühsam, »schlecht schaut's aus, a Schleier liegt vor meine Augen.«

Sie ließ sich kraftlos auf die Bettkante nieder.

Er tastete nach ihrer Hand. »I gspür fast nix«, lispelte er, »aber a wengerl halt doch, Seferl!« Seine Stimme klang zärtlich.

Sie starrte ihn an wie einen Geist. »Sie müssen sofort in die Anstalt hinauf. Dort haben S' doch wenigstens a Pflege.«

Er nickte von seinem Kissen her. »Ja, Seferl, 's wird besser sein. Die Frau, meine Verwandte, schindt sich ab und dermacht's halt doch net. Und i möcht auch net, daß ich dann hier …«

Er schwieg plötzlich und sah starr zur Zimmerdecke.

Josefa griff sich an den Hals.

Sie mußte mühsam Atem holen, bis sie sprechen konnte. »Wir werden Ihnen beim Ankleiden helfen. I hab den Wagen vom Professor da. I nimm Sie gleich mit.«

Er sah sie dankbar an. »An was Sie alles denken, Seferl.«

Es war ein schweres Werk für die beiden Frauen.

Aber Josefa brachte es fertig, ihn richtig anzukleiden. Dann stützte sie ihn mit Hilfe der Verwandten und des zufällig vorüberkommenden Briefträgers.

Eine Nachbarin trug den kleinen Koffer mit den wichtigsten Habseligkeiten des Doktors nach.

Als der Doktor im Wagen Platz genommen hatte, schluchzte die gutmütige alte Frau laut auf.

»Rehr net, Anna!« besänftigte der Doktor. »Rehr net, 's kommt alles in der Welt, wie's kommen muß. A Arzt muß auf so was immer gfaßt sein. Net, Seferl?«

Aber Josefa wandte sich ab. Auf so etwas mußte nicht einmal ein Arzt gefaßt sein!

Nein! Sie konnte, sie durfte ihm nicht eröffnen, warum er leiden mußte.

Die Nachbarin führte die laut weinende Frau ins Haus zurück.

Der Wagen setzte sich in Bewegung.

»Mein Gott. Wie schön des wär, so im Wagen durch die Welt zu fahren«, sagte der Doktor leise. »So leicht und schwebend geht das dahin.«

Was für eine Sehnsucht, was für verzweifelter Verzicht in dieser Stimme mitklang!

Josefa hatte das Gefühl, daß ihr das Herz aussetzte.

Aber es durfte jetzt nicht aussetzen.

Denn sie, sie mußte ja jetzt handeln.

Aber wie?

Wie sollte sie es einrichten, daß der Professor auf dem schnellsten Wege zurückkehrte?

*

Dr. Santifaller lag nun in einem Krankensaal der Heilanstalt. Die drei Ärzte hatten sich sofort um ihn bemüht.

Aber was vermochten sie gegen ein Gift, das sie nicht kannten?

»Wenn doch der Professor da wäre«, murmelte Dr. Gasser, und Dr. Pehn nickte düster.

»Oder wenn wir eine leise Ahnung hätten, zu welcher Klasse das Gift gehört«, setzte Dr. Gasser fort.

Die Herren hoben alle drei plötzlich die Köpfe.

Was war das für ein Laut, für ein Geräusch gewesen?

Ach so! Die Tür war zugefallen! Und wer hatte so tief aufgeseufzt?

Das war wohl die Schwester Josefa gewesen. Die hatte so tief geseufzt, bevor sie aus dem Zimmer geglitten war.

Josefa war ins Laboratorium geeilt.

Mit raschen Schritten lief sie auf und nieder.

Es war ihr klar: sie mußte einen Entschluß fassen.

Wenn sie nun angab, was sie entdeckt hatte? Wenn sie den Professor als Verbrecher entlarvte?

Was geschah dann?

Dann würde wohl ein Telegramm oder Kabel nach Südamerika eilen, um den Professor zurückzurufen.

Würde er aber kommen?

Würde er nicht vielleicht erraten oder vermuten, warum die Rückberufung erfolgte?

Nie und nimmer würde er kommen!

Eher würde er sich, der stolze Mann, eine Kugel in die Schläfe jagen.

Nein, er durfte keinen Verdacht schöpfen.

*

Dann genügte also vielleicht ein Kabel: Dr. Santifaller sei erkrankt, seine Rückkehr dringend nötig.

Ob er sich dann wohl beeilte?

Wohl kaum! Dann fand er einen Grund zu zögern, so lange zu zögern, bis sein Opfer gestorben war.

Und um dieses Opfer ging es ja.

Nicht darum, daß er, der Professor, seine Strafe erhielt, daß er sühnen mußte. Es ging einzig und allein darum, daß Doktor Santifaller gerettet wurde.

Und das war vielleicht möglich, wenn der Professor innerhalb acht bis vierzehn Tagen eintraf.

Hatte er nicht mehrere der Gifte in verblüffend kurzer Zeit dargestellt und das dazugehörige Gegengift entdeckt?

Aber dazu mußte er eben einmal da sein.

Wie sich doch die Gedankengänge im Kreis drehten!

Wie aber ein Zaubermittel finden, das den Professor hierherlockte? Wie es zustande bringen, daß er keinen Verdacht schöpfte?

Sie fühlte sich plötzlich schwach und müde. Die durchwachte Nacht war wohl schuld daran.

Sie rückte sich ihren Arbeitssessel heran und ließ sich auf ihn niederfallen.

Nur eine Minute ruhen können!

Aber … war nicht diese winzige Pause schon ein Verbrechen?

Mußten nicht die Herren drüben schließlich erfahren, welches Gift sie zu bekämpfen hatten?

Das, ja, das mußten sie erfahren.

Wenn es Dr. Santifaller sofort erfahren hätte, vielleicht wäre er imstande gewesen, sich selbst zu helfen.

Er mußte es erfahren. Vielleicht konnte sie, konnte Dr. Pasch für ihn die Versuche durchführen.

Vielleicht war es möglich, ihn doch noch zum Mikroskop zu bringen. Vielleicht sah er heute und morgen noch genug, um einem Helfer neue Anweisungen zu geben.

Aber wie sollte sie es allen den Herren beibringen, daß es dieses furchtbare Gift gewesen war, ohne daß sie das schaurige Verbrechen aufdeckte?

Nur der Professor und sie hatten die Schlüssel zum Giftschrank, nur …

Sie hatte bisher verzweifelt vor sich ins Leere gestarrt.

Jetzt bekam plötzlich ihr Blick einen scharfen, fragenden Ausdruck. Ihre Lippen bewegten sich lautlos.

Ihr Atem ging plötzlich rasch und hastig, ihre Hände, die bisher kraftlos im Schoß gelegen waren, hoben und senkten sich …

Und dann stand sie plötzlich auf.

Über ihr bisher in verzweifelter Sorge versteinertes Gesicht flog ein ganz leises, sanftes Lächeln.

»Mein Gott«, flüsterte sie leise vor sich hin. »Mein Gott … ja! Ja!«

Wie mit einem Schlag erfüllte Leben ihre Gestalt. Ihre Füße setzten sich in Bewegung.

Neuerlich lief sie im Laboratorium auf und ab. Immer rascher und rascher.

Und dann blieb sie plötzlich beim Arbeitsplatz Dr. Santifallers stehen.

»Herrgott, du wirst es verstehen«, schluchzte sie auf.

Mit einer jähen Gebärde warf sie sich über seinen Arbeitstisch.

Ihre Hände tasteten über die den Tisch bedeckende Glasplatte, über das Mikroskop. Zärtlich und weich, als streichle sie einen geliebten Menschen.

So, über den Tisch hingeworfen, die Hände um das Mikroskop geklammert, blieb sie ein paar Sekunden liegen.

Dann erhob sie sich.

Ihr Antlitz strahlte wie von einem von innen her durchleuchtenden, verklärenden Schimmer.

Ihre Hände falteten sich langsam und fest. So gefaltet, führte sie sie gegen die Lippen.

»I tu's. Ja, i … tu's. Für di … Für di … tu i alls, alls in der Welt!«

Mit freien Schritten und hoch erhobenem Kopf schritt sie auf die Tür zu.

Als sie die Klinke ergreifen wollte, öffnete sich, wie von Geisterhand geöffnet, die Tür.

Im geöffneten Spalt stand Lorenz.

»Schwester Josefa«, sagte der alte Mann mit tiefen Sorgenfalten in der Stirn. »Was tun wir jetzt, wenn der Herr Doktor todkrank liegt?«

»I weiß, was i tu«, sagte Josefa und machte Miene, an ihm vorbeizuschreiten.

Dann blieb sie aber doch stehen. »Herr Lorenz«, sagte sie, »unter diesen Umständen wern mer was tun müssen, was verboten is. Aber 's hilft nix. Wir werden Leute hier hereinlassen müssen.«

»Nein, Schwester Josefa. Nie und nimmer«, entsetzte sich der kleine Mann. »Ehnder …«

»Ehnder lassen Sie den Doktor Santifaller sterben?«

Ihre Augen lagen groß und forschend auf ihm.

»Wollen S' es auf sich nehmen, Herr Lorenz, daß Doktor Santifaller stirbt, weil Sie sich nicht traun, jemand hier hereinzulassen?«

Der Alte hob die beiden zitternden Hände an die Schläfen und sah Josefa entgeistert an.

Sie schüttelte den Kopf. »I nimm's auf mich. Soll mich der Herr Professor hinauswerfen. Mir is des gleich. Aber sterben laß i den Doktor net deswegen. Merken Sie sich das …, wenn … wenn … Sie ein Herz im Leib haben, Herr Lorenz.«

»Schwester Josefa!« Er streckte ihr seine zitternden Hände nach.

Aber sie war schon aus dem Laboratorium geeilt.

*

Sie fand die drei Ärzte noch immer am Lager Dr. Santifallers.

Sie gab Dr. Pasch einen heimlichen Wink, ihr zu folgen.

Er trennte sich sofort von den anderen und ging ihr in die Halle nach.

»I – muß Sie bitten, mit mir ins Laboratorium zu kommen«, sagte Josefa. »I hab Ihnen etwas mitzuteilen, etwas von größter Dringlichkeit.«

Sie fühlte in seiner Haltung eine leise Ablehnung.

Sie lächelte leise. An einem früheren Tag hätte ihr das vielleicht Kummer bereitet, daß er sie das fühlen ließ, wie bös er darüber war, daß sie sich gar nicht mehr um ihn gekümmert hatte.

Jetzt war das alles einerlei.

»Es handelt sich um was Wichtiges«, fügte sie hinzu. »Es geht um Leben oder Sterben.«

Ein bitterer Zug legte sich um seinen Mund.

Das hieß wohl: um den anderen kümmert sie sich. Ich hätte zugrunde gehen können.

Aber dann folgte er ihr doch.

Lorenz machte noch eine hilflose Bewegung, als wollte er dem Dr. Pasch den Eintritt verwehren. Beschwörend hob er seinen Arm.

Aber Josefa war wie verwandelt. »Lassen Sie uns«, zischte sie den Alten an, daß er förmlich zurückprallte.

Die Tür flog auf und fiel hinter den beiden wieder zu.

Verstört und von nagenden Gewissensbissen gepeinigt, wankte der Alte zu seinem Arbeitsplatz.

*

Im Laboratorium aber stand Josefa dem Dr. Pasch gegenüber.

Er sah das Mädchen fragend an.

Sie erschien ihm verwandelt, größer, schlanker stand sie vor ihm, als er sie sonst gesehen zu haben vermeinte. Ihre Brust hob und senkte sich in rascher Bewegung.

Seine Hände hoben sich in fragender Gebärde.

Sie hatte, offensichtlich in tiefer Erregung, an ihm vorbei durchs Fenster gesehen. Jetzt richtete sie den Blick voll auf ihn.

»Herr Doktor«, sagte sie mit leiser Stimme, in der aber doch eine wunderbare Festigkeit lag, »i hab Ihnen etwas ganz Furchtbares zu sagen.«

Sie machte eine kleine Pause, während der sie die Augen schloß.

Dann lag wieder ihr Blick auf seinem Antlitz. »Doktor Santifaller ist vergiftet worden.«

Dr. Pasch machte eine jähe Bewegung.

Sie hob die Hand. »Ich weiß, mit welchem Gift. Kommen Sie.«

Sie ging zum Giftschrank und öffnete ihn.

Mit sicherem Griff hob sie das Fläschchen mit dem malaiischen Gift heraus.

»Von diesem Gift, es heißt ›Luri‹«, sprach sie, unwillkürlich hochdeutsch redend, »hat Doktor Santifaller fünf Zehntelkubikzentimeter in sich. Es ist höchste Eile geboten. Es ist eines der gefährlichsten Gifte, die es überhaupt gibt.«

Er starrte sie aus runden Augen an.

»Ja, aber Josefa, wieso … Erklären Sie mir es doch …, woher wissen Sie es …?«

Nun wandte sie den Kopf.

Eine schwüle Pause entstand.

Dann sprach sie, jede Silbe betonend: »I weiß es, weil i … weil i es selber getan hab.«

»Josefa!«

Er hatte aufgeschrien. Der Ruf hallte durch den kahlen Raum.

Er war von ihr zurückgewichen und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen fassungslos an.

»Josefa!?«

Das war kein Schrei mehr, das war geflüstert, fast furchtsam und ängstlich geflüstert.

»Josefa, das kann nicht wahr sein.«

Sie hatte die Hände ineinandergefalzt. Ihre Knöchel knackten. Sie konnte ihn nicht mehr ansehen.

»Ich kann es nicht glauben, Josefa. Das … das … nicht.«

»Ich kann es beweisen.«

»Josefa!«

Sie trat an den Karteitisch und nahm die Karte des Giftes heraus, ging zum Mikroskop und legte sie unter das Objektiv.

»Überzeugen Sie sich«, sagte sie.

Er ging mit unsicheren Schritten, ohne den Blick von ihr zu wenden, zu dem Gerät hin und ließ sich langsam nieder.

Dann sah er durch.

»Hier ist radiert worden«, sagte er nach einer kurzen Zeit.

»Ja«, sagte sie und zog die Karte wieder vom Objektiv fort. »Ohne Mikroskop kann das niemand sehen.«

Sie hielt ihm die Karte unter die Augen.

Er prüfte sie. »Nein«, sagte er, »niemand kann das mit bloßem Auge sehen.«

»Glauben Sie es jetzt?« fragte sie.

Er stand stumm und schüttelte den Kopf.

»Josefa«, murmelte er dann, »Josefa«, fügte er lauter hinzu und dann noch einmal »Josefa!« Das war fast geschrien.

Sie stand vor ihm, an einen Glaskasten gelehnt, und sah wieder durch das Fenster.

»Warum haben Sie das getan, Josefa?«

Sie zuckte die Achseln. »Das ist jetzt gleich, Herr Doktor. Hauptsache, daß etwas geschieht, daß er gerettet wird.«

Er schien sie nicht zu hören. Er starrte sie noch immer an.

Es ging über sein Begriffsvermögen, daß dieses Mädchen das getan haben konnte.

»Herr Doktor«, fuhr Josefa drängender fort, »'s muß etwas geschehen. Sonst stirbt er uns. Der Professor muß her. Ein Telegramm, ein Kabel muß ihn zurückrufen.«

»Ja«, sagte er mechanisch.

»Versprechen S' mir, daß Sie das Kabel so aufgeben, wie ich es Ihnen ansag, Herr Doktor.«

Er hob den Kopf.

Sie ließ wieder die ineinandergefalzten Finger knacken.

»Einer Person, die so etwas getan hat, verspricht einer wohl nichts mehr?«

Er hob abwehrend die Hände.

»Wenn ich Ihnen aber sage, daß alles vergeblich is, wenn's nicht so gemacht wird, wie ich es ansag?«

Nun sah er sie an.

»I hätt ja nix sagen brauchen«, murmelte sie, »und der Doktor wär z'grund gegangen …, durch … durch … mein Geständnis will ich ihn retten. Da … da … hab ich halt vielleicht doch noch das Recht, daß mir jemand glaubt.«

»Bitte«, murmelte er.

Sie trat an den Tisch des Professors und begann stehend zu schreiben.

Er blieb stehen und sah ihr zu.

Noch hatte er die Fassung nicht zurückerrungen.

Ihm graute.

*

Sie hatte nicht lange überlegt und geschrieben.

Jetzt drehte sie sich um und hielt ihm das Papier hin.

Er nahm es zögernd.

Und las: »Eifersuchtsmord Josefas an Dr. Santifaller. Josefa gesteht alles. Anstalt in Gefahr. Kehrt sofort auf schnellstem Weg zurück.«

Dr. Pasch ließ das Blatt sinken.

»Das ist furchtbar«, sagte er.

Josefa senkte den Kopf. »Wenn er nur gerettet wird«, flüsterte sie leise.

»Josefa«, seine Stimme klang fast warm, »warum haben Sie das getan?«

»Fragen S' nicht«, zischte sie, sich abwendend. »Gehen Sie, laufen Sie …, daß das Kabel abgeht.«

Er wandte sich zögernd zur Tür.

Auf halbem Weg blieb er stehen. »Josefa«, sagte er, »ich kann nicht …, wenn … wenn ich das absende …, ich weiß nicht, ob Sie das bedacht haben, dann … dann, ja dann bleibt mir nichts anderes übrig …«

»Was?« fragte sie tonlos.

Er kehrte zurück und sah sie an, als sehe er sie zum erstenmal. »Ich kann es nicht glauben, ich kann es nicht begreifen.« Er stieß beide Hände gegen die Zimmerdecke zu, daß das Papier laut aufraschelte. »Ich kann … es … nicht … be … grei … fen …«

Josefa tat einen tiefen Atemzug und machte eine Bewegung, als hätte sie eine streichelnde Hand verspürt.

Dann richtete sie sich auf. »Gehen Sie, Herr Doktor! Gehen Sie.« Ihre Stimme hatte einen zwingenden Tonfall.

Er blieb stehen. »Wissen Sie, Josefa«, mühsam rang er sich die Worte ab, »wissen Sie, daß die Absendung dieses Kabels gleichbedeutend ist mit …«

»Womit?«

»Mit Ihrer Verhaftung, Josefa.«

Nun ging doch ein leises Beben durch ihre Gestalt.

Er trat näher heran. »Wissen Sie das, Josefa? Haben Sie das bedacht?«

Sie schüttelte den Kopf. »I hab daran nicht gedacht. I hab nur an ihn gedacht«, hauchte sie zurück.

Er wich einen Schritt zurück.

So liebte also dieses Mädchen? Es konnte … morden … gräßliches Wort! Aber es gab sich dem Verderben preis, um den Geliebten wieder zu retten.

Rätselvolles weibliches Herz!

»Aber es muß sein, Herr Doktor«, flüsterte sie, das Gesicht in den Händen verbergend.

»Dann also … ja.«

Er schritt zur Tür.

»Noch eines«, rief sie plötzlich. »Doktor Santifaller … Doktor Santifaller muß es wissen. Vielleicht hat er noch so viel Kraft, um an seiner Rettung mitarbeiten zu können.«

Dr. Pasch nickte.

Dann griff er nach der Klinke. Zögernd hielt er sie in der Hand.

»Ändern Sie das Kabel nicht. Sonst ist alles verloren, Herr Doktor!«

»Ich werde sehen.«

Josefa drehte sich blitzschnell um. »Mein Gott«, keuchte sie. »Haben Sie Erbarmen. Tun Sie, was ich Ihnen sage. Sie setzen alles aufs Spiel, alles, wenn Sie mir nicht folgen. Doktor! Doktor!«

Er sah auf das Blatt nieder.

»Ich werde es tun«, sagte er. »Und Sie, was werden Sie jetzt tun?« Er sah sie besorgt an.

Sie schüttelte den Kopf. »I bleib hier und richt alles für die Arbeit her«, sagte sie leise. »Haben S' keine Angst, Herr Doktor. I bring mi net um. I hab nur noch eine Aufgabe auf dieser Welt: daß ich ihn rett!«

Er atmete tief auf. Dann drückte er die Klinke nieder und verschwand.

»So«, sagte Josefa, »jetzt is's gschehn. Jetzt … jetzt schnell …«

Mit fliegenden Händen hatte sie alles für die Herstellung von Präparaten hergerichtet.

Dann rief sie Lorenz herein.

Er kam zögernd, sichtlich tief gedrückt und ein wenig widerstrebend.

»Hier ist alles für die Untersuchung von Luri 26536 vorbereitet. Gehen Sie heute den Herren an die Hand. Ich bin in meinem Zimmer.«

»Ja … aber … wa … warum denn?« stotterte der Alte.

Aber er hatte die Worte noch nicht herausgekämpft, so war er schon allein. Die Tür des Laboratoriums hatte sich hinter Josefa geschlossen.

*

Als Josefa in ihr Zimmer getreten war, fiel sie kraftlos auf einen Sessel nieder.

Es war zu viel gewesen.

Zu viel?

Stand nicht das Ärgste noch bevor?

Wie hatte Dr. Pasch gesagt? Die Polizei würde sich einmischen?

Natürlich!

Nicht lange würde es dauern, dann würde jemand an die Tür klopfen und sie mitnehmen. Die Schwestern würden zusammenlaufen und sie anstarren, und alles würde sich mit Abscheu von ihr wenden. Wer würde daran zweifeln, daß sie eine Verbrecherin war?

Niemand … außer Dr. Santifaller selbst und vielleicht Doktor Pasch. In dessen Augen hatte sie den Zweifel gelesen. Trotz ihrem Geständnis.

Sie würden vielleicht dafür sorgen, daß ihre Verhaftung nicht allzu öffentlich erfolgte, alles andere … ach ja! Ach ja!

Ein Schauder lief ihr über den Rücken.

Wenn sie wenigstens dem entgehen könnte!

Sie hob den Kopf mit einer fragenden Gebärde.

Wie wäre es, wenn sie selbst zur Polizei ginge und sich meldete?

Dann behielt man sie wohl gleich dort und diese qualvolle Szene blieb ihr erspart. Ja, das war ein Gedanke.

Sie erhob sich mit einer raschen Bewegung.

Was sollte, was konnte sie mitnehmen?

Da war ihr altes kleines Köfferchen, das bereitwillig mit einem leisen Knacks aufsprang, als sie den Hebel drückte.

Etwas Wäsche, ein zweites Kleid, ihre Waschgeräte, Kamm und Seife.

Sie besaß ja so wenig. Das schöne Armband Dr. Santifallers, ach ja, das mußte mit. Hoffentlich ließen es ihr die Polizisten.

In wenigen Minuten hatte sie das Köfferchen gepackt.

Dann holte sie einen Bogen Briefpapier heraus und schrieb:

»Ich habe mich der Polizei gestellt. Josefa.« Das legte sie auffällig auf den Tisch in der Mitte des Zimmers.

Nun stand sie an der Tür.

Wie schön war dieses friedliche Zimmer. Nie mehr würde sie es wiedersehen. Denn wie alles auch kommen mochte, in der Heilanstalt war ihres Bleibens nicht mehr.

Sie lehnte sich an den Türstock und weinte. Dann raffte sie sich auf und trat auf den Gang.

Im Stiegenhaus blieb sie einen Augenblick stehen und sah die Tür zur Wohnung des Professors an. Nun würde auch diese Frau in schlotternde Angst geraten.

Mit ihr hatte sie kein Mitleid. Mochte sie sehen, wie sie sich zurechtfand. War es denn nicht auch ihre Schuld?

Josefa nickte sich selbst Bestätigung.

Dann ging sie.

Vor dem Tor lud eben ein Lohnkraftwagen seine Fahrgäste aus. Er machte eine einladende Handbewegung.

Ach ja! Das war gut. Der Mann wußte sicher, wo die Polizeidirektion war. Da mußte sie nicht erst fragen. Was lag an dem Geld. Jetzt, in dieser Lage!

Sie gab ihr Ziel an. Der alte Kasten ratterte los.

Die Heilanstalt versank, die Allee blieb zurück. Die grauen Vorstadtstraßen nahmen den Wagen auf.

Josefa schloß die Augen.

Auf der Polizeidirektion erfuhr sie, daß eine Anzeige eines Verbrechens dort nicht angenommen werde. Man gab ihr eine Anschrift an. Dort könne sie das tun.

Die Leute hielten sie wohl für eines der unzähligen greuellüsternen Frauenzimmer, die irgend jemand einer schlechten Tat verdächtigen wollten.

Sie fand vor dem Tor noch den Lohnwagen stehen.

Er führte sie zum Gefängnis.

Sie gab dem erstaunten Mann ein zweites Trinkgeld und trat durch das öde, steinerne Tor in das Gebäude.

Die freie Welt, die Sonne, die Menschen, die tun und lassen konnten, was sie wollten, blieben draußen.

Sie nickte.

Es galt, ihn zu retten. Alles andere war nebensächlich.

*

Dr. Pasch bremste seinen Wagen vor der Heilanstalt ab.

Den Auftrag Josefas hatte er erfüllt. Dann war er in raschester Fahrt zurückgekehrt. Ihm war es, als müsse er ohne jeden Verzug in die Nähe Josefas eilen, bevor das Mädchen etwas tat, was ihm verhängnisvoll werden konnte.

Er glaubte nicht an das, was sie ihm »gestanden« hatte. Es war ihm nicht möglich, es zu glauben.

Wenn dieses Mädchen, dieses einfache Landkind mit seinem unverdorbenen Wesen dieser Tat fähig war, dann – das wußte er – war es um seine Auffassung von Menschen und Menschenwert geschehen. Dann sank der letzte Rest von Menschenachtung, der ihm innewohnte, unrettbar dahin.

Er versorgte den Wagen flüchtiger, als er es sonst tat, dann stürmte er zum Laboratorium.

Er traf den alten Lorenz in großer Unruhe. Josefa war verschwunden. Auch an ihrem Zimmer habe er vergeblich geklopft.

Dr. Pasch erbleichte.

Im nächsten Augenblick war er davongestürzt und kehrte wenige Minuten später mit dem Anstaltsschlosser wieder.

Die Tür zu Josefas Zimmer flog auf. Durch einen Luftzug vom Fenster her gehoben, flatterte ein Papier vor die Füße der Eintretenden.

Dr. Pasch hob es auf und las die wenigen Worte.

Als er es sinken ließ, sah er die Augen des Laboratoriumsdieners und die des Schlossers erwartungsvoll auf sich gerichtet.

»Wir können das Zimmer wieder versperren«, sagte er mit rauher Stimme. »Schwester Josefa wird voraussichtlich längere Zeit nicht kommen.«

»Längere Zeit?« entsetzte sich Lorenz. »Aber, Herr Doktor, das geht doch nicht. Der Herr Professor …«

Er verstummte vor einer heftigen Handbewegung des Arztes und sah entgeistert zu, wie der Schlosser die Tür mit raschem Griff wieder schloß.

»Das Zimmer bleibt vorderhand versperrt. Niemand tritt ohne mein Wissen ein. Verstehen Sie, Lorenz?«

»Aber, Herr Doktor …«

»Kein Aber. Sie werden bald erfahren, warum. Es steht mehr auf dem Spiel, als sie glauben.«

Lorenz sah sich mit dem Schlosser allein.

Der, ein untersetzter Mensch mit groben Gesichtszügen, lächelte vielsagend: »Glauben S' mer, Herr Lorenz, da steckt was dahinter.« Er deutete mit dem Daumen gegen die Tür hinter seinem Rücken, die er eben verschlossen hatte. »So fangen die Kriminalgschichten an. Grad a so.«

Der alte Mann hob entsetzt die gewölbten Hände vor den halboffenen Mund. »Du lieber Gott«, stammelte er, »was wird der Herr Professor …?«

Er brach ab. Denn die Tür zur Wohnung Professor Kröners hatte sich geöffnet.

Im Türrahmen stand, deutlich erkennbar zum Ausgehen gekleidet, die Frau Professor.

Sie war gewohnt, achtlos an allem vorüberzugehen, was sich auf die Heilanstalt und nicht unmittelbar auf sie selbst bezog.

Aber der Ausdruck maßlosen Entsetzens in den Zügen des alten Lorenz, der vor ihr zurückgewichen war und nun mit seitlich gehobenen Armen wie gekreuzigt an der Wand des Stiegenhauses Stütze suchte, fiel ihr dennoch auf.

Sie blieb stehen und sah den Alten verwundert an: »Sind Sie unwohl, Herr Lorenz?«

Der alte Mann stemmte sich mühsam an die Wand zu gerader Haltung empor und öffnete den Mund. Aber er brachte keinen Laut hervor.

»Und was machen Sie hier?« suchte sie bei dem Schlosser Aufklärung.

»Aufgemacht ham mer das Zimmer von der Schwester da, gnä Frau«, sagte der Handwerker mit einem Ausdruck genießerischen Behagens in den Zügen. »Da stimmt was net mit der Schwester da. Der Herr Doktor Pasch sagt, sie kommt so bald net wieder zruck.«

»Ja, ist sie denn fort?« wunderte sich Elisabeth. »Ich verstehe das nicht, Lorenz.«

»Ich ja auch nicht, gnädige Frau«, jammerte Lorenz, der nun doch seine Sprache wiedergefunden hatte. »Und eben jetzt, wo der Herr Doktor Santifaller verunglückt …«

Er sprach das letzte Wörtchen nicht mehr aus. Er blieb starr und unbeweglich stehen und sah mit weit aufgerissenen Augen, wie sich das Antlitz der vor ihm Stehenden verfärbte. Die schmale Hand Elisabeths machte für einen Augenblick eine verlorene Bewegung, fast so, als müsse sie eine Stütze suchen. Aber dann hob sie sich und legte sich mit weit auseinander gespreizten Fingern an ihren Hals. So, mit geschlossenen Augen, erstarrt und unbeweglich, stand die Frau des Professors vor den beiden Männern.

Erst nach Sekunden öffnete sie die Lippen. »Ver … un … glückt?« stieß sie flüsternd hervor. »Um Gottes willen … was ist ihm zu … ge … sto … ßen?«

»Gift«, würgte Lorenz hervor. »Gift, gnädige Frau …, wir können es uns alle nicht erklären. Vielleicht eine Unvorsichtigkeit des Herrn Doktors selbst …«

Elisabeth öffnete die Augen und ließ einen seltsam schweren Blick auf Lorenz lasten. »Gift?« hauchte sie tonlos. »Gift?«

»Ja, gnädige Frau. Er zeigt die charakteristischen Anzeichen einer schweren Vergiftung.«

Sie stöhnte auf, tief und klagend. »Und wo ist er?«

»Sie haben ihn in den ersten Stock gebracht, gnädige Frau.«

»In den ersten Stock? Ich will zu ihm. Lassen Sie mich durchs Laboratorium. Herr Lorenz … lassen Sie mich …«

Ihre Erstarrung war plötzlich einer krankhaften Unruhe gewichen.

Sie konnte es kaum erwarten, bis Lorenz den Schlüssel hervorgefingert hatte. Sie eilte ihm durch den Vorraum des Laboratoriums voraus, durch diesen Raum, den sie seit Jahren nicht betreten hatte. Sie stand Lorenz im Wege, als er die Tür zur Vorhalle aufschloß, und drängte ihn fast zur Seite, als sie sich durch den erst halb geöffneten Spalt hinauszwängte.

In der Vorhalle stieß sie auf die Oberschwester. »Wo liegt Doktor Santifaller?« Sie faßte Mali am rundlichen Arm.

»Im ersten Stock, auf Stefanie, gnädige Frau.«

»Wo ist Stefanie?«

Mali schüttelte den Kopf. »Sie können ohnehin jetzt nicht hinein, gnädige Frau … die Herren Doktoren …«

Sie hielt erschrocken inne. »Was?« keuchte Elisabeth, aus deren sonst so ruhigem und beherrschtem Antlitz plötzlich zwei vor Leidenschaft fast irr funkelnde Augen leuchteten. »Ich soll nicht zu ihm? Hat das vielleicht auch mein Mann verboten? Zu allen Kranken kommt Besuch. Und ich … ich … die Frau des Professors Kröner …«

»Gnädige Frau …« Mali versuchte es, Elisabeth beruhigend die Hand auf den Arm zu legen …

Aber sie fühlte sich hart zurückgestoßen. »Ich will zu ihm!« schrie Elisabeth. »Ich will zu ihm, ich will zu ihm …!«

Ihre Stimme, die, hoch erhoben, alle Sanftheit verloren hatte und in ein schrilles Gellen übergeschnappt war, brach sich an den Wänden. Ehe Mali es hindern konnte, hatte sie sich umgewendet und war gegen die Treppe zu gelaufen.

»Ich will zu ihm ... wiederholte sie pausenlos, »ich will zu ihm …«

Es war deutlich, daß sie die Herrschaft über ihre Nerven verloren hatte.

Zwei Schwestern, die durch das Schreien aufmerksam geworden und ins Stiegenhaus geeilt waren, warfen sich ihr auf dem Treppenabsatz des ersten Stockes entgegen.

Sie hatten alle Mühe, die wild um ihren Weg Kämpfende zu halten, bis der Torwart und ein Aufzugwärter herangekommen waren. Erst diesen gelang es, sie zu bändigen und in das nächstgelegene Zimmer einer Schwester zu bringen.

Wenige Sekunden später trat Dr. Pehn ein.

Er fand Elisabeth auf dem Bett der Schwester liegend, noch immer im Kampf mit zwei Schwestern, die ihr rechts und links die Arme niederhielten, während der Torwart die zuckenden Füße umfaßt hatte.

Dr. Pehn gab den Schwestern einen Wink, auf den hin sie aufstanden und zur Seite traten.

»Gnädige Frau.« Er beugte sich zu Elisabeth hinab.

Aber er zuckte zurück.

»Nein«, schrie sie ihm entgegen, »nein! Ich halte es nicht mehr aus. Ich bin keine Sklavin. Ich will ein freies Leben haben. Ich will zu ihm! Wo ist er? Ich muß ihn sehen. Er war der einzige Mensch, der mich verstanden hat. Ihr haltet ihn gefangen wie mich. Warum ist er nicht mehr gekommen? Wo war er die langen Tage? Habt ihr ihn eingesperrt? Ihr seid alle Sklaven. Mein Mann hat euch geknechtet, daß ihr tun müßt, was er will. Ich halte es nicht mehr aus … ich halte es nicht mehr aus … ich …«

»Aber liebe gnädige Frau …«

Dr. Pehn suchte in den Ton seiner Stimme möglichst viel Beruhigung und Güte zu legen.

War es das oder hatte sich die Kraft Elisabeths erschöpft?

Sie hatte sich bei ihrem Ausbruch erhoben gehabt. Jetzt sank sie in sich zusammen. »Ich kann nicht mehr«, klagte sie plötzlich, »ich kann nicht mehr. Ich will ja nichts mehr. Ich will nur zu ihm … Candidus …«

Ein Strom von Tränen brach plötzlich aus ihren Augen. »Candidus!«

Dr. Pehn richtete sich auf und wies mit einer tatkräftigen Gebärde die angesammelten Schwestern und Wärter aus dem Raum.

Dann setzte er sich neben Elisabeth auf das Bett und strich der Weinenden über die Schultern.

»Liebe gnädige Frau.«

Im nächsten Augenblick war sie ihm in die Arme gesunken. Noch ein paar Stöße harten Schluchzens erschütterten ihren Körper, dann wurde dieser schwer und sank, von Dr. Pehn fürsorglich gelenkt, auf das Bett zurück.

»Ohnmacht!« murmelte Dr. Pehn, bettete ihr die Füße auf das Lager und richtete sich langsam auf.

»Was für ein Tag«, sagte er zu sich selbst, indem er sein Taschentuch hervorzog und sich die Stirne trocknete. »Was für ein entsetzlicher Tag.«

Er schüttelte den Kopf und trat auf den Gang hinaus. »Schwester Albertine!«

»Bitte, Herr Doktor?«

»Sie lassen eine Tragbahre kommen und bringen die Frau Professor in ihre Wohnung hinunter. Sie kann hier nicht bleiben. Es ist möglich, daß ihr Schreikrampf wiederkehrt. Nehmen Sie sich eine zweite Schwester oder das Stubenmädchen zu Hilfe und weichen Sie ihr nicht von der Seite, bis ich komme und weitere Anweisungen gebe. Ich bin inzwischen bei Doktor Santifaller nötiger.«

Er nickte der Schwester zu und eilte dann, nervös mit dem Finger zwischen Hals und Kragen fahrend, in den Gartentrakt zurück, wo Dr. Santifaller untergebracht war.

*

Im Vorraum stieß er auf Dr. Gasser, der, als er seiner ansichtig wurde, den Finger an die Lippen legte.

»Wie steht es?« hauchte Dr. Pehn.

»Er ist dabei, ihm das Unfaßliche beizubringen«, gab Doktor Gasser ebenso leise zurück. »Ich beneide Pasch nicht um diese Aufgabe. Hören Sie! Jedes Wort ist deutlich zu verstehen.«

Die beiden Ärzte traten dicht an die Tür des Krankenzimmers und lauschten.

*

»Ich gehe von der Anschauung aus, Herr Kollege«, sagte Doktor Pasch eben zu dem unbeweglich Liegenden, »daß wir Ärzte vor allem die Aufgabe haben, der Wirklichkeit in die Augen zu schauen. Was hilft es uns, was hilft es den Kranken, wenn wir uns die Wirklichkeit verbergen. Meinen Sie nicht auch?«

Dr. Santifaller, der anfangs den Blick auf die Decke des Krankenzimmers geheftet hatte, wandte dem Sprechenden langsam die Augen zu.

Dr. Pasch schlug für einen kurzen Augenblick die Lider nieder, dann suchte er dem fragenden Blick Santifallers standzuhalten.

»Und so habe ich mir denn vorgenommen, ganz offen mit Ihnen zu sprechen, auf die Gefahr hin …«

Santifaller hob leicht die rechte der auf der Decke liegenden Hände.

»Herr Kollege«, sagte er ruhig. »Mit mir brauchen S' keine Faxen z' machen. Ich weiß, was mit mir los ist. Ich wär net der erschte Arzt, den sein Beruf umbringt. Mi kann nix mehr aufregen seit heute nacht.« Er atmete tief auf. »Die Nacht war schlecht, Herr Kollege Pasch. Weiß Gott, i hab ja net gar a so viel vom Leben ghabt. Aber wann einer so merkt, daß a abfahrn muß, 's kommt an net ganz leicht an. Aber jetzt is des übertaucht. Jetzt können S' scho ganz offen mit mir reden, Herr Kollege.« Er machte eine kleine Pause. »Also, was ham S' mer denn zu sagen, Herr Kollege?«

Dr. Pasch atmete tief auf, dann hob er den Kopf und sah Santifaller frei in die Augen. »Vor allem eines: ich weiß nunmehr, von welchem Gift Sie befallen sind.«

»Was?« Dr. Santifaller richtete sich jäh auf. »Das war ja … das ist ja das Wichtigste, was Sie mir überhaupt sagen können: Also her damit, Herr Kollege, her damit.«

»Luri«, sagte Dr. Pasch.

»Luri?« wiederholte Dr. Santifaller sinnend. »Luri? Zum Teufel, wie is denn das nur? Is des net ans von die Gifte, die der Rüttgers bracht hat?«

»Das, Herr Kollege, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nur, daß das Gift ›Luri‹ heißt, eines der gefährlichsten Gifte ist, und dann weiß ich …«

»Was?« drängte Santifaller, noch immer halb aufgerichtet im Bett sitzend.

»Ich weiß auch, daß Sie eine ungewöhnlich starke Menge von diesem Gift in sich aufgenommen haben dürften.«

Santifaller sah den Sprecher starr an, mit einer drängenden Frage im Ausdruck seiner Augen.

»Es ist wahrscheinlich, daß Sie nicht weniger als fünf Zehntelkubikzentimeter in sich aufgenommen haben, eine ganz entsetzliche Menge.«

»Fünf Zehntelkubikzentimeter?« Santifaller sah den Kollegen verständnislos an. »Ja, woher wissen S' denn das alles auf einmal so genau?«

»Es wäre besser, Sie würden nicht fragen, Herr Kollege. Eine große Aufregung, eine furchtbare Enttäuschung bliebe Ihnen erspart …«

»Na, na, na …« hastete Santifaller hervor, »ich will's wissen. Ich muß's wissen.

»Genügt es Ihnen nicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich leider selbst habe davon überzeugen müssen, daß es dieses Gift ist und daß diese Menge in Betracht kommt?«

Dr. Santifaller hatte sich nun vollständig aufgerichtet. »Herr Kollege«, keuchte er, »jetzt wird's mir z' dumm. Machen S' keine Faxen und sagen S' mir, sagen S' an Menschen, der a Recht darauf hat, bevor er stirbt: wie hängt die Gschicht zsamm? Woher wissen S' des?«

»Ich habe es gewußt, daß ich es Ihnen nicht werde verheimlichen können«, murmelte Dr. Pasch. »Also denn: ich weiß es von Schwester Josefa.«

»Von der Sefi?« Dr. Santifaller sprach den Namen mit einer fast ehrfürchtigen Liebe aus. »Die Sefi hat es Ihnen gsagt? Ja, um Gottes willen und wie is denn des Madl draufkommen? Das versteh i net.«

Dr. Pasch nickte. »Ja, Herr Kollege. Ich versteh es auch nicht. Und ich werde es zeit meines Lebens nicht verstehen. Aber Josefa hat mir selbst die Phiole gezeigt und die Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, daß tatsächlich diese Menge aus der Phiole fehlt. Und auf der Karteikarte habe ich selbst gesehen, daß an den Aufzeichnungen radiert worden ist, so daß aus einem Achter ein Dreier geworden ist.«

»Ja, aber«, Santifaller begann förmlich zu schreien, »von selbst is doch des net gschehn. Das muß doch wer tan habn … Herr Kollege, schaun S' mir in die Augen. Die Josefa hat Ihnen noch mehr gsagt, i waaß's, i merk's.«

Dr. Pasch hob neuerlich den Blick. »Sie behauptet … sie … sie sei es selbst gewesen.«

Dr. Santifaller saß unbeweglich. Nur seine Augen verloren den fragenden Ausdruck, an dessen Stelle hilfloses Entsetzen trat, sein Unterkiefer sank herab.

»Wie?« sagte er nach einigen Sekunden tiefer Stille. »Was ham S' gsagt, Herr Kollege? Die Sefi hätt gsagt … i hab net recht ghört. Die Sefi soll gsagt ham, sie selbst … gehn S', Herr Kollega, des glauben S' doch selber net …«

Dr. Pasch stand von seinem Sessel auf und ging zwei, drei Schritte auf und ab. »Gsagt hat sie es, Herr Kollege. Da ist jeder Irrtum ausgeschlossen. Daß sie es getan hat, kann ich auch nicht glauben. Kann … ich … nicht … glauben … aber gesagt hat sie es …«

Über Dr. Santifallers Antlitz glitt plötzlich ein Lächeln. »Des is a Irrtum, Herr Kollege … die Sefi? … Da kann i nur lachen … Übrigens, Herr Kollege, des is ganz einfach. Lassen S' die Sefi amol herkommen … i wunder mi eh schon, daß s' net kummt. So viel wird s' doch net z' tun ham im Laboratorium. Rufen Sie s' her, Herr Kollege.«

Dr. Pasch schüttelte den Kopf. »Das ist leider nicht möglich, Herr Kollege.«

»Warum?« Dr. Santifaller hob sich noch höher aus seinen Kissen. »Warum net?« Zum erstenmal schlich sich ein mißtrauischer Ton in seine Stimme.

Dr. Pasch zögerte einen Augenblick, dann zog er seine Brieftasche hervor und entfaltete ein Blatt Papier. Noch eine Sekunde des Überwindens … er streckte es Dr. Santifaller hin. »Lesen Sie, bitte …«

Mit zitternden Händen nahm Dr. Santifaller das Blatt entgegen. Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre es seinen gefühllosen Fingern entglitten.

Dann las er. Einmal, zweimal, dreimal … dann entschwebte das Papier auf die Bettdecke, und Dr. Santifaller sank in die Kissen zurück. Seine Lippen zuckten, seine Augen schlossen sich.

Dr. Pasch stand unbeweglich.

Eine Minute verstrich.

Dann öffnete Santifaller die Augen. »I möcht alles wissen, Herr Kollege. Alles. Was hat die Sefi … was hat das Mädel mit Ihnen gredt …? Setzen S' Ihna da zu mir und erzähln S' mir alles, Wort für Wort, Herr Kollega …«

Dr. Pasch folgte der Aufforderung und berichtete sein Gespräch mit Josefa in allen Einzelheiten.

Dr. Santifaller hörte, die Augen auf die Zimmerdecke gerichtet, regungslos zu.

»... dann bin ich eben auf das Hauptpostamt gefahren und habe den Funkspruch an den Professor aufgegeben. Als ich zurückkam, war sie bereits fort. Den Zettel habe ich in ihrem Zimmer vorgefunden.« Mit diesen Worten schloß Dr. Pasch.

Sorgenvoll sah er auf Dr. Santifaller nieder. »Ich habe mich entschlossen, Ihnen alles mitzuteilen, Herr Kollege, weil nur auf diese Weise die Möglichkeit besteht, Sie vielleicht doch noch zu retten. Jetzt kennen wir den Feind, jetzt sind wir vielleicht in der Lage, ihm entgegenzutreten. Vielleicht gelingt es mir, unter Ihrer Anweisung das Gift darzustellen und ein Gegengift zu schaffen. Das war ja auch, wie sich Schwester Josefa ausdrückte, der Grund, warum sie … mir … die Eröffnung machte.«

Dr. Santifaller wandte Dr. Pasch langsam den Kopf zu. »Und Sie, Herr Kollege …? Glauben Sie … die ganze Gschicht?«

Dr. Pasch sah dem Fragenden in die Augen. »Daß es dieses Gift ist … das muß ich leider glauben … das andere … das andere … ich weiß nicht … ich kann es mir nicht vorstellen …«

Dr. Santifaller schüttelte den Kopf. »Da steckt was anderes dahinter, Herr Kollege. I glaub's net. Und wenn i drüber stirb. I glaub's net. Nie und nimmer, Herr Kollega. Das tut dieses Mädel net. Die net.«

Wieder herrschte eine Weile hindurch tiefes Schweigen.

Dann aber erhob Dr. Pasch wieder die Stimme. »Schwester Josefa hat mich in meinem Gespräch mit ihr beschworen, daß ihr …, wie sie es nannte, ›Geständnis‹ vor allem dazu dienen solle, Sie zu retten, Herr Kollege. Wollen wir nicht, weil wir jetzt das Gift kennen, den Versuch machen, im Laboratorium unten …«

»Mi retten?« murmelte Dr. Santifaller. »Wofür denn? Daß i a Krüppel bleib zeit meines Lebens? Wozu? Jetzt nach dem allen? Lassen S' mich in Frieden, Herr Kollege. Leicht is es besser, i stirb.«

»Das darf ich nicht zulassen«, wehrte Dr. Pasch eifrig ab. »Sie würden es an meiner Stelle auch nicht gestatten. Ich bestehe darauf, daß wir auf der Stelle mit allen Versuchen beginnen, die dazu führen können, Sie doch noch zu retten. Es ist fraglich, ob der Professor zeitgerecht eintreffen kann, um die Versuche selbst durchzuführen. Jede Stunde, vielleicht jede Minute ist jetzt kostbar. Wer weiß, wie lange Sie selbst noch klar beobachten können. Lassen Sie sich überzeugen. Beginnen wir … und …« Dr. Pasch zögerte … »Schwester Josefa hat es gewünscht …«

»Die Sefi hat es gewünscht«, flüsterte Dr. Santifaller. Dann schüttelte er den Kopf.

Dr. Pasch mißverstand dieses Kopfschütteln, indem er es als Ablehnung nahm. »Darf ich Sie noch an Ihren Berufseid erinnern, Doktor Santifaller? Der Arzt hat jede Gelegenheit wahrzunehmen …«

Dr. Santifaller hob sich leicht aus dem Kissen. »Herr Kollege, wann Sie wüßten, wie's mi reißt, noch amol durchs Mikroskop z' schaun. Wann Sie des wüßten! In Gottes Namen. Gehn mer's halt an, wann i auch net glaub, daß da was herauswachst.«

*

Es kostete nicht wenig Mühe, bis es gelungen war, Dr. Santifaller in das Laboratorium zu bringen und ihm seinen Stuhl so einzurichten, daß er trotz seiner Schwäche das Mikroskop benützen konnte.

Dr. Pasch war wie von einem Fieber ergriffen. Zum erstenmal seit Jahren bot sich ihm eine Gelegenheit, zu beweisen, was er sich getraute. So wie ein ausgehungerter Körper jede Nahrung in sich schlingt, die ihm erreichbar wird, so griff er nun die Möglichkeit auf, Versäumtes nachzuholen, sich endlich, endlich einmal auf dem Gebiet zu betätigen, auf dem er sich seinerzeit seine Lebensaufgabe gestellt hatte.

Dadurch, daß er das Mikroskop des Professors dicht neben das Dr. Santifallers schob und immer genau gleichartige Präparate für beide zur Verfügung standen, schien die Arbeit erleichtert.

»I woaß net«, sagte Dr. Santifaller, während Dr. Pasch und Lorenz die ersten Vorbereitungen trafen, der Alte freilich in schweren Sorgen darüber, daß er Dr. Pasch im Laboratorium mitarbeiten lassen mußte, »i woaß net«, sagte Dr. Santifaller, »mir is, als müßt i hier noch was erreichen, ein … ein Unrecht gutmachen. Mir is so komisch. Wissen S', Herr Kollega, wann i's nur an anzigen Augenblick glauben könnt, was das Mädel gsagt hat, i … i … möcht net mehr leben, net um die Burg. Aber a so, weil i's net glauben kann, is mir, als müßt i weiterleben, für … für …«

Er schüttelte den Kopf und schwieg.

»Wofür?« fragte Dr. Pasch mit freundlichem Ton in der Stimme.

Aber Dr. Santifaller machte eine abwehrende Bewegung. »Mir geht z' viel im Kopf durcheinand«, murmelte er vor sich hin. Und dann gab er Anweisungen, was geschehen sollte, damit die Untersuchung beginnen konnte.

Dr. Pasch nahm ihm geschickt eine Blutprobe ab, versetzte sie nach dem neuen Verfahren Santifallers mit Salz und stellte sie beiseite, damit der Kristallisationsprozeß erfolgen konnte. Eine zweite Blutprobe wurde in gewöhnlicher Weise präpariert und unter die Mikroskope geschoben.

Dr. Santifaller richtete sich auf und begann mühselig, nachdem er sich mehrmals über die Augen gefahren war, zu beobachten. Dr. Pasch beugte sich über das zweite Mikroskop und nahm begierig alle Angaben auf, die ihm Santifaller machte.

»Der Mensch soll net schimpfen«, sagte Santifaller nach einigen Minuten, indem er sich, wie schon mehrmals, zurücklehnte, um sich zu erholen. »Was hab i auf den Professor für a Wut ghabt, weil i hab für ihn so viel Voruntersuchungen machen müssen. Jetzt is's gut für mi. I glaub, 's wird net lang brauchen und i waaß, in welche Gruppe des Teufelsgift ghört. Und wann i des waaß, nachher is scho viel gwonnen. Dann kann's uns vielleicht gelingen, den Zersetzungsvorgang im Blut zu verzögern oder überhaupt aufzuhalten, bis … bis … na, wir werden ja sehen …, passen S' auf, Herr Kollege, wenn S' das Präparat genau betrachten, nachher sehn S' …«

Professor Kröner betrat die Terrasse des palastartigen Hotels an der Avenida Beiramar in Rio de Janeiro. Es war noch verhältnismäßig früh am Tage. Nur wenige Gäste hatten auf der weitläufigen Terrasse, die von weiten Sonnenplachen gegen die Strahlen der Sonne gedeckt und mit prachtvollen Blumen übersät war, Platz genommen.

»Senor Professor Kröner?« fragte eine jugendliche Stimme dicht neben dem Professor.

Ein Boy in der Livree des Hotels stand mit einer Silbertasse neben dem Professor.

»Was? … Wer?« Der Professor wandte sich ärgerlich um.

»Sie bekommen eine Funkdepesche, Herr Professor«, erklärte ein junger Arzt, Dr. Niemann, den Kröner hier kennengelernt hatte.

»Eine Funkdepesche?« Professor Kröner zuckte zusammen. »Wer? … Wer? … Wer schickt mir …?« Er riß den verschlossenen Briefumschlag mit dem Amtssiegel an sich. »Sie entschuldigen, Herr Kollege.«

»Natürlich.«

Mit unruhig zitternden Fingern öffnete der Professor den Umschlag.

Der junge Arzt hatte sich diskret in seinen Korbsessel zurückgelehnt und sah seitwärts auf den Hafen nieder, über den eben ein leuchtend weißer Dampfer seinen Kurs gegen Santa Cruz, die Ausfahrt gegen das Meer zu, nahm. Aber es entging ihm trotzdem nicht, daß der Professor durch die Nachricht auf das tiefste betroffen sein mußte.

Denn er saß starr und unbewegt und sah das Papier an, das in seiner Rechten deutlich zitterte.

Es konnte kein Zweifel bestehen: Der Professor hatte eine Nachricht von größter Bedeutung erhalten.

Und schon hatte sich der Professor erhoben. Sichtlich mit dem Aufgebot seiner ganzen Kraft. Das war an der Art erkennbar, wie er die Zähne zusammenbiß. »Verzeihen Sie«, murmelte er, den Arzt ihm gegenüber mit einem geistesabwesenden Blick streifend, »aber ich muß … ich muß … verzeihen Sie …«

Dr. Niemann fing geschickt den Korbsessel auf, den der Professor beim Verlassen seines Sitzes umgestoßen hatte, und sah dem Davonschreitenden mit einem bedenklichen Kopfschütteln nach.

»Lassen Sie«, bedeutete er dann dem Kellner, der fragen kam, ob er inzwischen abservieren dürfe. »Vielleicht kommt der Senor Professor zurück.«

Aber der Professor kehrte nicht auf die Terrasse zurück.

Er war, von dem Tisch aufstehend, in die kühle Halle des Hotels hinüber mehr getaumelt als geschritten und hatte sich dort zwischen den Palmen, die einen leisen plaudernden Springbrunnen umstanden, in einen Korbsessel geworfen.

Die Nachricht des Funkspruches hatte ihm den Atem benommen.

Wenn … wenn … diese Nachricht stimmte – und warum sollte sie nicht stimmen? –, dann … mein Gott, dann hatte sich ein Wunder ereignet, ein Wunder sondergleichen, das ihn mit einem Schlag von der Gefahr befreite, daß seine Tat früher oder später doch einmal entlarvt wurde.

Der Professor schloß die Augen. Nur einen Augenblick, einen einzigen kurzen Augenblick wollte er sich diesem Gedanken hingeben können, daß die düstere Drohung, die nun seit Wochen über seinem Leben schwebte, sich löste, daß er wieder frei atmen konnte.

Zwar, was er getan, das war so angelegt, daß es nicht an den Tag kommen konnte.

Von der Wirkungsweise des teuflischen Giftes »Luri« wußten in Europa nur zwei Menschen, Rüttgers und er. Rüttgers fuhr jetzt quer durch Afrika den Kongo aufwärts. Vor zwei Jahren kam er nicht nach Europa zurück. Bis dahin war Dr. Santifaller längst aus dem Leben geschieden. Denn die Dosis war so gewaltig, daß selbst dieses langsam schleichende Gift nach verhältnismäßig kurzer Zeit den Tod herbeiführen mußte, den Tod dieses Menschen, den er, Professor Kröner, als einzigen auf dieser Welt nicht neben sich dulden konnte, wenn er der bleiben wollte, der er bleiben mußte, der einzige erfolgreiche Streiter gegen den Tod.

Was waren das für Tage gewesen, in denen er erkannt hatte, daß der junge Gelehrte ihm ebenbürtig, nein, vielleicht sogar an Genialität überlegen war! Grauenvolle Eifersucht hatte ihm die Nächte schlaflos gemacht und an seinem Lebensmark gesogen, bis er sich zu dem furchtbaren Entschluß durchgerungen hatte, ein Ende zu machen und die schwerwiegende Tat zu vollziehen.

Niemand würde je die winzige radierte Stelle in dem verhängnisvollen Achter erkennen, eine Rasur, die nur unter dem Mikroskop erkennbar war, also niemals auffallen konnte.

Er hatte einen Augenblick geschwankt, ob er nicht das Fläschchen mit dem Gift und die zugehörigen Karteikarten vernichten sollte.

Aber das hätte, wenn nicht Josefa, so doch vielleicht Lorenz mit seinem eisernen Gedächtnis entdeckt.

Das wäre gefährlich gewesen.

Oh, er hatte das alles sehr genau erwogen.

Es war meisterhaft gesponnen. Eines Tages würde Dr. Santifaller erkranken, seine Erkrankung aber würde ein vollkommenes Rätsel bleiben. Kein Präparat würde nützen. Vielleicht würde Josefa, die den Doktor liebte, um Hilfe kabeln. Aber dann würde er nicht antworten oder kabeln lassen, er sei ins Innere abgereist. Und wenn er dann zurückkehrte, scheinbar ahnungslos, dann würde er erfahren, daß der Nebenbuhler inzwischen gestorben sei.

Dann … ja dann würde er wieder frei sein, frei wie bisher, ohne die nagende Pein der Eifersucht und die Qual der Angst, es könnte ihm ein anderer den Siegespreis im Kampf gegen den Tod streitig machen.

Aber trotz alledem hatte ihn eine nervöse Furcht überfallen. Noch nicht in Wien, noch nicht bei der Abreise. Erst auf der langen, viel zu langen Fahrt über das Meer, in den vielen Stunden, die er nicht arbeitete, nicht arbeiten konnte, weil keine drängende Arbeit zu verrichten war und das bloße Schreiben und Vorbereiten der Vorträge ihn nicht genügend von den Gedanken ablenkte, die ihn innerlich beherrschten.

Er hatte sich tausendmal töricht gescholten. Eine Entdeckung war unmöglich, vollkommen ausgeschlossen.

Und doch hatte er beim Grenzübertritt nach Italien, beim Einschiffen, beim Anlaufen von Gibraltar stets vor einer Nachricht gezittert.

Es war keine gekommen.

Aber auch das hatte ihn nicht beruhigt.

An seinen Vorträgen arbeitete er nicht gerne. Das, was bisher der Kernpunkt seiner Vorträge gewesen war, sein Schlachtruf »Schach dem Tode!«, das wollte nun nicht mehr über seine Lippen. Hatte er nicht dem Tod, dem er die Menschheit entreißen wollte, ein Opfer hingeworfen?

Unerträglich heiß erschien ihm die Fahrt, ihm, der noch vor zwei Jahren die Hitze Afrikas und Indiens ohne Beschwerden in Kauf genommen hatte.

Ruhelos wanderte er, schier ganze Nächte hindurch, auf dem Promenadendeck auf und ab, um sich müde zu machen.

Aber er fand den Schlaf nicht, der sonst so willig zu ihm herabgesunken war, wenn er ihn rief.

Die Ankunftstage in Rio de Janeiro hatten dann eine kleine Erleichterung gebracht. Er war von der ersten Stunde an nahezu ständig von Gesellschaft umgeben, in wissenschaftliche Beratungen verwickelt, von einem Festessen zum anderen gebeten. Er sah sich genötigt, seinen Vortrag umzuändern, um den Wünschen seiner Gastgeber entgegenzukommen, er mußte die Institute des Vivariums besichtigen und auf tausend Fragen Antwort stehen.

Das tat wohl, die Schmeicheleien und die Bewunderung der Fachkollegen sänftigten die Unruhe in seinem Innern.

Aber in den Nächten hatte er dann trotz aller Ermüdung wieder keinen Schlaf gefunden.

Mit Hilfe von Schlafpulvern und Beruhigungsmitteln hatte er sich schließlich so weit gebracht, daß er den entscheidenden Vortrag in der wissenschaftlichen Gesellschaft mit glänzendem Erfolg halten konnte.

Er hatte ihn wie im Traum gesprochen, kaum des Inhaltes seiner Worte bewußt, mit einer berauschenden Beredsamkeit, die die Zuhörer mitriß. Es war, als wäre der frühere unbekümmerte Professor Hubert Kröner in ihm wach geworden, der keine Bergeslast von Gewissensqual auf sich gefühlt hatte.

Dann war ein Festmahl gefolgt, dessen er sich überhaupt nicht mehr entsinnen konnte.

Er war mit seinen Nerven zu Ende.

Er hatte sich mit Grauen gefragt, wie es weiter werden sollte, wenn sich die Qual nicht von ihm hob.

Und jetzt, jetzt kam dieser Funkspruch mit dieser beispiellos überraschenden Nachricht: »Eifersuchtsmord Josefas an Doktor Santifaller. Josefa gesteht alles. Anstalt in Gefahr, kehrt auf schnellstem Weg zurück. Dr. Pasch.«

Hatte diese kleine Person den Landsmann, den Dr. Santifaller derart geliebt, daß dieses zarte unscheinbare Persönchen zur Mörderin wurde!?

Verstehe einer die weibliche Natur. Dieses schmächtige Ding, anscheinend die Aufopferung selbst, konnte solche Gefühle in sich entwickeln?

Eifersüchtig!

Wem hat wohl die Eifersucht gegolten?

Der Professor ertappte sich dabei, daß er hämisch auflachte.

Seiner Frau natürlich, der er es auch nie im Leben zugetraut hätte, daß sie ihn mit dem täppischen Bären von Tiroler Doktor hinterging.

Ja, das hatte ihm damals den Rest gegeben. Nicht nur auf dem Felde der Wissenschaft suchte ihn dieser Nebenbuhler zu schlagen, auch auf dem rein menschlichen Gebiet der ehelichen Liebe und Treue war er ihm als Gegner entgegengetreten, ihm, dem berühmten, weltbekannten Arzt und Forscher.

Kenne einer die Frauen. Sein Werkzeug war diese Elisabeth gewesen. Ihm verfallen, von der ersten Stunde, vom ersten gegenseitigen Liebesblick an.

Gut, es hatte sich die Begeisterung später abgekühlt. Aber hatte er es jemals ahnen können, daß sie ihm, ihm einen anderen vorzog. Er hatte geglaubt, mit einem Wort, mit einem Blinzeln seiner Augen diese Frau regieren zu können, und hätte nun zusehen sollen, wie sie sich einem andern schenkte!

Wenn er nicht mit seinen eigenen Ohren ihr Geflüster gehört, wenn er sie nicht im verräterischen Spiegel beobachtet hätte, nie, nie in seinem Leben hätte er es geglaubt.

Warum war er eigentlich nicht damals in gerechtem Zorn losgebrochen und eingetreten, das Liebespaar zu stören?

Vielleicht, weil er sich selbst nicht die Schande antun wollte, vor anderen Menschen, und wenn es die Täter selbst waren, einzugestehen, daß er aus dem Felde geschlagen war.

Er hatte im Stiegenhaus eine endlose Weile gestanden und gekeucht wie ein Ertrinkender, bis er sich wieder so weit in der Gewalt hatte, daß er in das Laboratorium zurückkehren konnte.

Dort war ihm der furchtbare Gedanke, dort der Entschluß zur Tat gekommen.

Lag es dort vielleicht in der Luft, daß solche Gedanken den Menschen befielen? Hatte diese Atmosphäre vielleicht auch das Mädchen Josefa erfaßt, so daß sie dann unter dieser Einwirkung die Tat begangen hatte?

»Eifersuchtsmord.« Dr. Santifaller lebte also nicht mehr. Josefa hatte gestanden.

Wenn eine Untersuchung der Leiche bei dieser Lage der Dinge überhaupt stattfand, dann wurde alles, was sich ergab, dem Mädchen zur Last gelegt.

Sie galt als Mörderin, sie … sie …

Er aber … er war frei.

Professor Kröner fuhr sich aufgeregt durch die Haare. Und sie, diese Frau, die ihn mit Santifaller betrogen hatte, die würde an der Leiche des Geliebten sich in Leid verzehren.

Wie er ihr das gönnte!

Er haßte sie seit dem Augenblick, da sie einen anderen ihm, ihm vorgezogen hatte.

Sie sollte leiden.

Eine grausame Lust, sie in ihrem Schmerz zu sehen, befiel den Professor. Ja, er würde seine Reise abbrechen. Sie war ohnehin nur unternommen worden, um seine Tat zu decken, um ihn für lange Zeit von Wien fernzuhalten. Jetzt war all dies nicht mehr nötig. Er konnte heimkehren.

Er war wieder frei, frei …

Er sah wieder auf das Blatt nieder.

Dr. Pasch hat den Funkspruch aufgegeben.

Dieser Dr. Pasch? Hm. Der würde sich jetzt wohl in alles hineinmischen und im Laboratorium herumspionieren.

Das mußte man in Kauf nehmen.

Aber für lange durfte er selbst nicht fernbleiben. Nicht für lange.

Aufbruch! Aufbruch!

*

Josefa war zeit ihres Lebens einsam gewesen; als Pflegerin ihres Vaters hatte sie sich von der ohnehin so kleinen Welt ihres Dorfes ganz zwangsläufig abgeschieden. Bei dem wortkargen Bauern im Oberflinser Ödloch war sie schließlich seelisch vollständig vereinsamt.

Der Dienst bei Professor Kröner vollends hatte aus ihr eine Einsiedlerin gemacht. Oft hatte es Tage gegeben, an denen sie so gut wie überhaupt nicht gesprochen hatte, von einem tausendmaligen »Jawohl, Herr Professor« abgesehen. Erst als Dr. Santifaller gekommen war, hatte sich das ein wenig geändert, wenigstens für Stunden, in denen der Professor ferne war.

Sie war also strengste Einsamkeit gewohnt.

Das war unter den augenblicklichen Umständen für sie ein Glück.

So ertrug sie die – freilich selbstgewählte – Haft besser, diese Tage von ertötender Eintönigkeit, in der nur dreimal sich der Schlüssel in der Tür knirschend drehte und der Aufseher erschien, um sie zu versorgen.

Der Mann war schweigsam.

Sie machte auch keinen Versuch, mit ihm zu reden.

Sie saß den Tag über entweder auf der hölzernen Bank oder auf dem harten Bett und sah vor sich hin ins Leere, auf die einförmig weiß gestrichene Wand der Zelle.

Aber diese Wand gewann – vielleicht gerade deswegen, weil sie frisch gestrichen und nahezu fehlerlos weiß war – für sie die Bedeutung einer Fläche, auf der sich vor ihrem inneren Auge abwechslungsreiche Bilder abspielten, wie auf der Leinwand einer Lichtspielbühne.

Zwei Gestalten beherrschten diese Bilder, zwei Gestalten, aber die mit einer Kraft und Lebendigkeit, daß ihr manchmal das Herz zu klopfen begann.

Dr. Santifaller und Professor Kröner.

Sie sah Santifaller mit zitternden Händen und überanstrengten Augen vor dem Mikroskop hocken und Versuch um Versuch beginnen. Sie sah, wie er sich oft und oft zurücklehnte und müde die Augen schloß, und sie sah, daß er die Lippen bewegte.

Was er nur sprach? Ob er sie verwünschte; ob er ihr nicht vielleicht eine furchtbare Anklage entgegenschleuderte?

Aber – sie sah es deutlich – es war kein harter Zug um seinen Mund. Nein. Die Güte, die ihn auszeichnete, wich nicht von seinem freundlichen Antlitz.

Josefa senkte dann oft das Haupt.

Ob er es wohl gleich geglaubt hatte, ob er sich gegen diese furchtbare Neuigkeit gewehrt hatte. Ob er wohl gesagt hatte: »Des glaub i net. Des tut die Seferl net, des net.«

Wie es ihm wohl ging, dem Dr. Santifaller? Wie es ihm ging? Ob das Zittern seiner Hände zunahm, ob seine Augen wohl noch ihren Dienst in ausreichendem Maße taten?

Sie ballte die kleinen Hände zu Fäusten und preßte sie aneinander, daß ihr die Finger weh taten.

Daß sie nicht fragen durfte, daß sie nicht erfahren konnte, wie es ihm ging!

Sie wagte den Richter, der die Untersuchung führte, nicht zu fragen.

Denn sie hatte sich in den ersten Stunden, da man sie vom Polizeirevier in das Gefangenhaus gebracht hatte, gewitzigt durch die erste Einvernahme, entschlossen, nicht von Reue zu sprechen.

Hing nicht alles davon ab, daß der Professor kam und daß er, wenn er kam, mit aller Kraft an der Darstellung des Giftes arbeitete, das Gegengift fand?

Wenn nun irgendein Zweifel aufkam, daß sie etwa nicht die Täterin sei, wenn … sie schauderte bei dem Gedanken … ein findiger Untersuchungsrichter ihr eine Falle stellte und sie sich in Widersprüche verwickelte, dann … ja, dann hätte es geschehen können, daß sie den Professor in Untersuchung zogen, und dann … dann war Santifaller verloren.

Wie gut es war, daß sie zu diesem Ergebnis gekommen war!

Denn eine der ersten Fragen des Untersuchungsrichters war die gewesen, ob sie denn das Verbrechen bereue.

Da war es ihr durch den Sinn gezuckt, daß sie, wenn je in ihrem Leben, so jetzt schauspielern mußte, schauspielern, um den liebsten Menschen auf dieser Welt zu retten.

Das hatte sie in solche Erregung versetzt, daß ihr das Schauspielern anscheinend wirklich gelungen war.

Reue? Nein, die empfinde sie nicht. Er habe sie mit einer anderen betrogen, und das … das könne sie ihm nicht verzeihen.

Ob sie nicht bedenke, wie furchtbar er leiden müsse.

Das sei, hatte sie in bebender Erregung gestammelt, das sei die gerechte Strafe dafür, daß er sie getäuscht und verraten habe.

In diesem Augenblick hatte sie erkannt, daß sich in dem Richter ein starker Widerwille gegen sie erhob.

Bis dahin hatte er freundlich fast, wenn auch gemessen, mit ihr gesprochen, fast ein wenig so, als ob es ihm unwahrscheinlich vorkomme, daß sie einer solchen Tat fähig sei.

Jetzt verhärtete sich sein Gesicht.

Eine solche Herzensroheit sei ihm noch nicht vorgekommen, hatte er sie angefahren. Ob sie wisse, wie sie eine solche Haltung belaste? Daß es sie den Kopf kosten könne?

Sie hatte gefühlt, daß in dem doch gewiß gegen die Welt abgehärteten Mann ein leises Grauen vor solcher Verworfenheit aufgestiegen war.

Und das, das hatte sie förmlich mit Freude erfüllt. Er glaubte ihr. Ach, er glaubte ihr.

Das war es ja, was sie erreichen mußte. Das, gerade das!

Was hatte er gefragt?

Ob sie wisse, daß es sie auch den Kopf kosten könne?

Ein Lächeln war in diesem Augenblick über ihre Lippen geflogen.

»I stirb gern, Herr Richter«, hatte sie gesagt. »I hab nix mehr verloren auf dieser Welt nach … nach …« Hier hatte sie einen Augenblick gezögert. »Nach dieser Enttäuschung …«. hatte sie dann angefügt.

Ihr Leben war ja ohnehin vernichtet. Was war es, was bedeutete es da noch, wenn sie sterben mußte?

Nichts!

Oder doch etwas?

Ja, ein Glück … ein unsagbares Glück … wenn sie nur mit ihrem Opfer ihn zu retten vermochte.

Sie hatte sich zusammennehmen müssen; denn der Gedanke, daß ihr Opfer, und war es das ihres Lebens, vielleicht den liebsten Menschen zu retten vermochte, hatte sie so beseligt, daß sie … sie fühlte es … lächelte.

Der Richter hatte ihr Lächeln offenbar mißverstanden.

Er war von dieser Wendung der Unterredung an ihr gegenüber eisig kalt.

Rein geschäftsmäßig stellte er die Fragen.

Sie mußte ihm schildern, wie sie bei dem Verbrechen vorgegangen war.

Sie gab an, daß der Professor sie besonders auf dieses Gift aufmerksam gemacht habe. Es sei eines der gefährlichsten Gifte, die es gebe. Also habe sie zu diesem Gift gegriffen, als der Entschluß in ihr wach geworden war.

Wann das gewesen sei.

Kurz bevor Dr. Santifaller nach Berlin gefahren sei, sie könne sich sogar noch an das Datum erinnern.

Wie sie bei der Tat vorgegangen sei.

Josefa schloß die Augen.

Jetzt hieß es achtgeben.

Sie habe das Gift entnommen und ihm in ein Glas Wasser gegossen.

Ob das Gift geschmacklos sei?

Das wisse sie nicht. Er habe jedenfalls nichts bemerkt.

Warum sie auf dem Karteiblatt so sorgfältig radiert habe, wenn sie sich doch nachher selbst gestellt habe.

Wieder zögerte Josefa.

Wieder hing alles von einer geschickten Antwort ab.

Sie habe zuerst nur Haß empfunden und den Wunsch, ihm zu schaden.

Dann – erst später – habe sie erkannt, daß das Leben für sie ohnehin keinen Wert mehr habe. Das Leben habe für sie nur Enttäuschungen gebracht.

Der Richter runzelte die Stirne.

Vielleicht meinte er, daß eine andere unter solchen Umständen und bei solchen Gefühlen den Freitod gewählt hätte.

Josefa fühlte, wie es ihr plötzlich ans Herz griff.

Nur jetzt nicht den Kopf verlieren, nur jetzt nicht.

Sie verspürte plötzlich einen leisen Stich im Herzen. »Mein Vater«, sagte sie – sie wunderte sich selbst, daß sie sich so sprechen hörte –, »mein Vater hat mir oft und oft gesagt: wenn ein Mensch etwas getan hat, muß er auch dafür einstehen. Jetzt … jetzt …«

Sie schwieg.

Gott würde es verstehen, daß sie um der guten Sache willen ihren seligen Vater in die schreckliche Sache hereinmengte.

Der Richter hatte sie eine Zeitlang scharf angesehen.

»Sie bereuen also nicht …? Nicht im geringsten?«

»Nein, Herr Richter.«

Darauf hatte er die Einvernahme abgebrochen.

Der Aufseher hatte sie wieder in ihre Zelle zurückgebracht.

Sie hatte das Gefühl, daß der Richter sie verachtete, als moralisch ganz verkommen ansah.

Sie war ihm zuwider geworden.

Das bedeutete einen Sieg.

*

Dann hatte es sie plötzlich gefröstelt.

Und wenn man ihr nun glaubte? Wenn sie verurteilt wurde, wenn sie …?

Nun schauderte es sie doch …

Dann … dann mußte sie vielleicht …

Sie preßte die Hände vor der Brust zusammen.

Dann mußte sie … sterben.

Sie schloß die Augen und atmete tief.

Was bedeutete das … wenn er gerettet wurde?

Nichts bedeutete das.

Und wenn er dem gräßlichen Gift zum Opfer fiel?

Dann starb sie vergeblich mit einer furchtbaren Lüge auf den Lippen …

Aber was war ihr diese Welt noch, wenn er nicht mehr in ihr weilte?

Ebenfalls nichts.

Der Makel würde an ihr haften.

Aber wenn sie nicht sterben mußte, wenn sie vielleicht für ihr ganzes Leben eingekerkert blieb?

Ein heftiges Zittern befiel sie.

Sie mußte sich auf ihr Lager legen und das Zittern ihrer Hände und Füße bekämpfen.

Aber nach einiger Zeit hatte sie sich wieder in der Gewalt.

Es war ja nicht ihre Schuld, wenn alles so kam.

Sie … sie hatte ein … reines Gewissen.

Sie konnte sich nichts … Gott sei Dank … nichts vorwerfen.

Hatte sie ahnen können, daß dieser Mann, der sich als Gott fühlte und als Gott gab, daß dieser Mann einer solchen verruchten Tat fähig war, dieser Mann, der »Schach dem Tode!« gerufen hatte und in seinem selbstverblendeten Wahn vielleicht gar glaubte, er habe um seiner selbst willen das Recht, den Tod herbeizurufen, wenn er ihn brauchte, brauchte, um seinen eigensüchtigen Zwecken zu dienen?

Diesen Mann hatte sie angebetet. Diesem Mann hatte sie als Sklavin gedient. Tag und Tag, Stunde um Stunde, bis tief in die Nacht und früh am Morgen, mit schmerzendem Kreuz, mit zitternden Füßen, die vor Müdigkeit ihren Dienst zu versagen drohten.

Und dieser Mann hatte … das getan …! Getan in einer unbeschreiblich tückischen und hinterlistigen Art, kalt berechnend durch Wochen vorbereitet … Entsetzlich.

Und dieser Mann, der würde weiterhin als der große Wohltäter der Menschheit gelten. Ruhm und Ehre ernten, sich weiter als Gott fühlen, der sogar über den Tod gebieten konnte.

Wie furchtbar, daß ein Mensch mit solchen Gaben, solchen beispiellosen Talenten im Grunde genommen … ein Verbrecher war, der um seiner Ruhmsucht, um seiner Eitelkeit willen … in kalter Folgerichtigkeit einen Mord beging.

Diesen Mann … Josefa richtete sich auf … was war nur mit ihr geschehen?

In ihr brannte es plötzlich heiß und verzehrend, ein Gefühl glühender Hitze durchdrang sie, ein Gefühl von wilder Gewalt … diesen Mann … ja, das war Haß, was in ihr brannte …

Sie haßte diesen Mann.

Oh, wie Dr. Pasch ihn durchschaut hatte.

Und sie hatte ihn immer noch in Schutz genommen! Hatte Dr. Pasch ungerecht gescholten!

Nein. Er hatte recht gehabt. Tausendmal recht.

Dieser Mann … Wo war er nur, dieser Mann?

Saß er vielleicht noch im fernen Brasilien und harrte der Nachricht, daß sein Assistent erkrankt sei, rätselhafterweise?

Oder versteckte er sich am Ende tief im Dickicht der Urwälder, damit ihn keine Nachricht erreichen könne?

Oder hatte ihn die Nachricht, der Funkspruch oder das Kabel, das sie Dr. Pasch abzusenden gebeten hatte, erreicht?

Wie hatte er sich wohl verhalten?

Vielleicht war es ihm eine freudige Botschaft gewesen, die ihn der Gewissensbisse entledigte, wenn er überhaupt solche zu empfinden imstande war.

Ach, wenn das geglückt wäre!

Josefa klammerte sich an den Gedanken.

Er mußte kommen, wenn anders auf dieser Welt ein Opfer seinen Sinn behalten sollte, wenn anders es auf dieser Welt eine Gerechtigkeit gab, die das Schicksal der Menschen lenkte, wenn es das gab … dann … dann mußte … mußte er kommen.

Sie richtete sich auf ihrem Lager auf, zog die Beine an sich und umfaßte die Knie mit den Händen.

Ihr Blick bohrte sich in die kahle weiße Wand …

Die Wand begann zu flimmern, Schatten flogen über sie hin … die Schatten formten sich zu einer Gestalt … es war die Gestalt des Professors.

Er stand vor ihr, so wie er damals gestanden hatte, als der furchtbare Entschluß in ihm wach geworden war, damals, als er aus seiner Privatwohnung zurückkam mit der Gewißheit, daß ihm seine Frau verloren war an den anderen, den er schon als Kämpfer im Wettstreit um den Ruhm haßte …

So stand er vor ihr. Die Beine gegrätscht, die Hände in den Hosentaschen, die Lippen zusammengepreßt, den fürchterlichen Ausdruck, den sie damals nicht verstanden hatte, im Antlitz.

So sah sie ihn vor sich stehen.

Sie richtete sich langsam ein wenig auf und heftete ihre Augen mit aller Kraft auf ihn, so als müsse sie ihn zwingen, den Kopf zu heben und – statt auf den Boden – ihr in die Augen zu sehen. Wenn … wenn es ihr gelang … wenn sie ihn zwang … sie anzusehen …

Dann … dann wollte sie in ihren Blick einen Ausdruck legen, daß er erkannte, sie habe ihn und sein Verbrechen durchschaut.

Erzittern sollte er, dieser »Gottähnliche«!

*

Das Flugzeug der Transozeanlinie, deren Flugstrecken Lissabon über die Westküste Afrikas mit Brasilien verbinden, zog gleichmäßig seine Bahn.

Professor Kröner lag, wie die anderen Fahrgäste auch, zurückgelehnt in dem bequemen Polstersessel, von dem aus ihm durch das schmale waagrechte Fenster zur Rechten ein weiter Blick über das Meer tief unten möglich war.

Es war ein Tag vollkommener Windstille.

Gelegentlich sank das Fahrzeug für Sekunden und stieg wieder an, wenn es die gefürchteten tropischen »Luftlöcher« überquerte. Sonst schien sich kein Lüftchen zu regen.

Das Meer unten lag als eine ins Endlose verdämmernde milchig verhüllte weiße Fläche da, die nur gelegentlich leisen Silberglanz aufwies.

Das dumpfe Brausen der Motoren, das trotz aller Abdichtungen in die Gästekabine hereindrang, der einförmige Schimmer, der durch das Fenster hereinströmte, hatten die Fahrgäste zum größten Teil eingeschläfert.

Ein paar angeknüpfte Gespräche waren bald wieder abgeebbt, von einzelnen Sesseln her waren die gleichmäßigen Atemzüge Schlafentrückter, war da und dort auch ein leises Schnarchen hörbar.

Das ging so seit vielen Stunden und mochte weiterhin viele Stunden währen.

Professor Kröner hatte Zeit, nachzusinnen.

Der Aufbruch aus Rio de Janeiro war ungemein rasch vor sich gegangen.

Dr. Niemann, der junge Arzt, und die Herren vom wissenschaftlichen Klub hatten sich hilfreich erwiesen, diese in ihrer überschwenglichen südländischen Art nicht genug Worte des Bedauerns finden können, daß er so unerwartet wieder nach Europa zurückkehrte.

Er hatte aber seine Unruhe nicht bemeistern können.

Die überraschende Nachricht von dem Verbrechen Josefas hatte ihn geradezu überwältigt.

Zwei Gedanken beherrschten ihn vollständig. Der Gedanke, wieder frei zu sein, frei von dem Druck tiefgehender Angst: irgendein von menschlichem Voraussehen nicht zu erwartender Zufall könne sein Verbrechen doch an den Tag bringen; und der Gedanke, sein Werk könne inzwischen von unberufenen Augen durchschnüffelt werden, es könne etwa Dr. Pasch, den er mühsam und kunstvoll von seiner Arbeit ferngehalten hatte, nun ins Laboratorium mit gutem Recht eindringen, das ja jetzt natürlich vollständig verwaist sein mußte, wenn Dr. Santifaller tot und Josefa zweifellos verhaftet war.

Dr. Pasch hatte ja den Funkspruch geschickt. Er hatte sich wohl jetzt alle Rechte angemaßt. Einzig Lorenz war da, der vielleicht seinen schwächlichen Einspruch erhob, wenn jemand das sonst so sorgfältig gehütete Laboratorium betrat.

Es war auf jeden Fall höchste Eile geboten.

Seine Frau, ein harter Zug legte sich bei dem Gedanken an sie um seinen Mund, seine Frau würde es zu büßen haben, daß sie sich ihm hatte entfremden lassen.

Nun, wo das Geständnis Josefas alles an den Tag gebracht haben mußte, denn ihre Eifersucht konnte sich wohl nur auf Santifallers Verhältnis zu Elisabeth beziehen, würde er die natürlich unhaltbar gewordene Ehe lösen, die Ehe mit einer Frau, die es nicht zu schätzen gewußt hatte, ihm anzugehören, einem Mann, der ihr alles geboten hatte, was die Welt an Ansehen und Ehre zu vergeben hatte.

Bei dieser Unterredung würde sie dann wohl doch einmal aus ihrer kühlen Vornehmheit erwachen … die Ehebrecherin, die auf ihre alte Familie so stolz war.

Er hatte sie noch nie weinen gesehen. Nicht einmal beim Tode ihrer Schwester hatte sie eine Träne vergossen. Steinern ruhig und ernst war sie an seiner Seite hinter ihren Eltern dem Sarg nachgeschritten. Er war damals stolz gewesen auf diese Haltung und dann doch wieder aufgebracht darüber, daß sie sich so zu beherrschen wußte.

Diesmal aber, da sie schuldig war, da ihr keine Ausrede half, würde er wohl die Worte finden, die sie so tief trafen, daß sie ihre Haltung verlor.

Hatte er sie eigentlich je geliebt?

Er hatte sie bewundert und ihrer begehrt, aber geliebt? Nein, geliebt hatte er sie nicht, zumindest nicht mehr als er ein schönes Kunstwerk liebte, das seine Wohnung, sein Leben verschönte.

Er hatte auch von ihr keine verzehrende Leidenschaft genossen, auch nicht einmal erwartet. Es hatte ihm genügt, sie zu besitzen, selbstgefällig ihre Schönheit zu genießen, sie als Repräsentationsfigur bei Empfängen zu verwenden und gelegentlich bei Ausflügen in das gesellschaftliche Leben zu führen.

Vielleicht hatte in den ersten Monaten ihrer Bekanntschaft, da sie beide noch um so viel jünger gewesen waren, jugendlicher Überschwang Liebe vorgetäuscht; aber wenn es so gewesen war, dann hatte sich das bald verflüchtigt.

Sie hatte nie nach Zärtlichkeit verlangt, und er war nicht gesonnen, irgend jemand auf Gottes Erde nachzulaufen. Er nahm sich, was er wollte und brauchte. Und das, was er von ihr begehrt hatte, das hatte sie ihm widerstandslos, wenn auch gleichgültig, gegeben.

Daß sie ihm einen anderen vorziehen konnte … das hatte er nie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde vermutet.

Eben darum hatte ihn ihre Hingabe an den jüngeren, auch wissenschaftlich mit ihm wetteifernden Doktor bis in die tiefste Tiefe seiner herrischen und stolzen Seele getroffen.

Er hatte sie strafen wollen. Seine Rache war entsetzlich gewesen.

Aber eine andere war ihm zuvorgekommen.

Welch eine sonderbare Fügung! Daß dieses kleine zarte Wesen, dieses noch kindhafte Geschöpf, diese Josefa sich zu einer Tat aufgeschwungen hatte, die ihm Befreiung brachte.

Diese Josefa!

In der milchigweißen Fläche des Meeres, auf die er niedersah, flossen Schatten zu einem Bild zusammen, gewannen Gestalt, die Gestalt eines Frauenkopfes, aus dem ihn zwei Augen ansahen, deren Frage sich in sein Antlitz einzubohren schien … die Augen … Josefas.

Professor Kröner hob sich unwillig in seinem bequemen Sitz und sah umher. Es war – abgesehen von dem Brausen der nahen Motoren – kein Laut um ihn. Die anderen schliefen alle.

Er atmete tief auf und sank wieder in seinen Sitz zurück.

Da unten dehnte sich das unendliche Meer … in milchigem Spiegel.

Und da waren wieder diese Schatten! Und da waren wieder diese Augen!

Er schloß die Augen, aber das Bild drang ihm durch die geschlossenen Lider, brannte sich in sein Blickfeld ein.

Diese Augen! Diese Frage in ihnen! … Josefa … Sefi!

Was wollten diese Augen?

Die sagten wohl: Du und ich, wir sind nun auf einer Stufe. Beide haben wir den Tod gerufen, den wir sonst gemeinsam bekämpft haben, du, der mächtige Mann, und ich, das arme Kind vom Lande.

Professor Kröner schüttelte den Kopf. Aber das Bild ließ ihn nicht los.

Diese Augen der Josefa.

Sonderbar! Mit einem Male stand wieder das Bild vor seinen Augen, wie ihm die kleine Tiroler Doktorfrau das dürftige Kind entgegengeschoben hatte und es nach einer ersten Verwirrung der Scham seine Augen zu den seinen erhoben hatte.

Was hatte er damals empfunden?

O ja, er konnte sich dessen noch entsinnen. Er hatte sich gestanden, daß er solch einen fragenden, rätselhaften Blick noch nicht auf sich ruhen gefühlt hatte. Wie viele Frauen aller Stände und Berufe und Gesellschaftskreise waren ihm in seinem Leben schon entgegengetreten, fragend und ängstlich.

Wie hatte er über diese ängstlichen Blicke spöttisch hinweggesehen.

Damals aber, als ihm dieses einfache Landkind entgegengetreten war, da hatte ihn aus den Augen des schmächtigen Mädchens etwas Neues angepackt, etwas ungeheuer Starkes … vielleicht die Natur selbst in ihrer unverbildeten Kraft, mit ihrer rätselhaften Tiefe, mit der er als Arzt so oft und so mühevoll rang, um sie zu enträtseln.

Er hatte damals Josefa aufgenommen, fast ein wenig gegen sein eigenes Gefühl. Und er hätte sie vermutlich wieder weggeschickt, wenn sie diesen forschenden Blick noch öfter auf ihn gerichtet hätte.

Aber es war ja dann alles anders gekommen.

Sie war sein williges Geschöpf geworden, sein getreues Werkzeug.

Aber jetzt, jetzt sah sie ihn von der Tiefe des unten vorübergleitenden Meeres wieder mit diesem forschenden Blick an.

Was gab ihr jetzt ein Recht zu dieser anklagenden Frage im Blick?

Hatte sie nicht dieselbe Schuld auf sich geladen wie er selbst?

Oder wollte sie sich mit ihm zu gemeinsamer Abwehr verbünden?

Er reckte sich in seinem Sessel. So weit war es noch nicht.

Was er getan, das wußte auf Erden keine Seele; was sie getan, das wußten heute vielleicht schon viele.

Ihn umgaben, wenn er heimkehrte, wie immer der Ruhm und die Ehre des angesehenen Mannes, ja vielleicht würde die Welt sogar mit ihm ein wenig Mitleid haben, daß solch böse Dinge in seiner Abwesenheit von einer Angehörigen seiner Heilanstalt verübt worden waren.

Sie aber … sie galt als … Mörderin.

Er fühlte ein leises Zittern in den Knien.

Gräßliches Wort … Mord!

Er hob die Hand und machte mit ihr eine Bewegung, als durchschneide er die Luft vor sich und in ihr etwas Rätselhaftes, das sich ihm unsichtbar zu nähern schien.

Nicht daran denken … Mord!

Die Tür der Gästekabine öffnete sich. Die begleitende Angestellte der Flugzeuglinie trat mit einer Tasse ein, die sinnreich und sturzsicher einige eisgekühlte Fläschchen und Gläser trug.

Sie warf einen prüfenden Blick über die Schlafenden.

Dann wurde sie seiner ansichtig, glitt zu ihm heran und bot ihm die Tasse.

Er nickte und griff hastig nach Glas und Flasche, die er in den an der Seitenwand angebrachten Ringen versorgte.

Mit zitternder Hand goß er sich ein Glas voll und stürzte es hinunter.

Das war kühl! Das war gut.

Er wechselte ein paar Worte mit dem Mädchen, das ihm höflich Bescheid gab.

Dann war sie hinausgeglitten und er lehnte sich wieder zurück.

Er sah aus dem Fenster.

Immer noch dieselbe weiße Fläche.

... Und wieder der Schatten. Wieder dieser Kopf … diese Augen, diese Augen!

»Josefa«, murmelte er verstört. »Josefa.«

*

Im Laboratorium der Krönerschen Heilanstalt brannte um Mitternacht noch Licht.

Dr. Pasch saß über das Mikroskop gebeugt und starrte mit rot geränderten, schmerzenden Augen durch das Okular.

Neben ihm saß auf dem Klappsessel, den Josefa immer innegehabt hatte, der alte Lorenz hintenübergeneigt und schlief mit offenem Mund, in den sonst so hilfsbereiten Händen eine Pinzette und eine leeres Fläschchen.

Nun schnarchte er ein wenig.

Dr. Pasch sah, durch das ungewohnte Geräusch aufmerksam geworden, von seinem Instrument auf und ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge.

Er stemmte die Fäuste auf die auseinandergespreizten Schenkel und blickte nachdenklich vor sich hin.

Was hatte die nahezu ununterbrochene Arbeit am Mikroskop ergeben?

Sie war nicht fruchtlos gewesen.

Den vielen Hunderten Versuchen, die er gemeinsam mit Doktor Santifaller unternommen hatte, war ohne Zweifel ein bemerkenswerter Erfolg beschieden.

Sie hatten das Gebiet, in dem sie zu forschen hatten, von Tag zu Tag immer mehr eingeengt, den Feind in die Enge getrieben, wie Dr. Pasch ingrimmig bemerkt hatte.

Wenn der Professor mit seiner ungeheuren Erfahrung dagewesen wäre! Für ihn wäre es da gewiß ein leichtes gewesen, die letzten klärenden Versuche anzustellen, vielleicht hätte er mit der ihm eigenen Begabung gefühlsmäßig den Griff nach den richtigen chemischen Verbindungen getan, die eine Entscheidung herbeigeführt hätten.

Eines freilich war gelungen, eine Entdeckung von ganz großer Bedeutung.

Sie hatten erkannt, daß das Gift gegenüber der leisesten Veränderung der Temperatur äußerst empfindlich war, daß es sofort zerfiel, wenn sie im Laboratorium die Wärme unter eine gewisse Höhe sinken ließen.

Das brachte Dr. Pasch auf den Gedanken, einen ungewöhnlichen Versuch zu wagen.

Schon zweimal hatte er Blutübertragungen an Dr. Santifaller durchgeführt, um ihm frisches, unverbrauchtes, nicht von dem Gift angegriffenes Blut zuzuführen.

Nun versuchte er es mit unterkühltem Blut, das er in die Blutbahn des Kranken einspritzte.

Die erste Wirkung zwar versetzte ihn in Furcht.

Dr. Santifaller schien plötzlich zu verfallen.

Aber schon nach wenigen Viertelstunden erholte er sich, und neue Blutproben und Untersuchungen ergaben, daß der Kampf in der Welt der Blutkörperchen wenigstens vorübergehend eine Besserung herbeigeführt hatte.

Sofort griffen sie beide die neue Erfahrung auf.

Die Luft im Laboratorium wurde stark gekühlt, nur die Untersuchungsplatte des Mikroskops selbst mit Hilfe eines sinnreich angebrachten Teekochers gehitzt, so daß sich das für die Untersuchung aufgetragene Gift nicht so rasch zersetzen konnte.

Dr. Santifaller fühlte sich sofort wohler, der Kräfteverfall machte keine so starken Fortschritte mehr.

Aber die entscheidende Darstellung des Giftes gelang nicht.

Drei, vier, fünf verschiedene Tiere hatten sie mit geeigneten Mengen des Giftes geimpft. Aber das Gift wirkte ja nur langsam. Eine merkbare Wirkung trat bei den Tieren vorderhand nicht ein, ließ vielleicht noch Tage und Wochen auf sich warten, vielleicht so lange, bis es zu spät war.

Dr. Pasch starrte auf das Mikroskop, das vor ihm im Schein der starken Laboratoriumslampen glitzerte.

Rastlos hatte er gearbeitet. Tatsächlich Tag und Nacht.

Dr. Pehn und Dr. Gasser hatten ihm den gesamten Dienst in der Heilanstalt abgenommen. Er selbst saß täglich zwölf, vierzehn und mehr Stunden bei der Untersuchung.

Vier bis fünf Stunden nahm auch Dr. Santifaller daran teil.

Seit sie gemeinsam auf den Gedanken der Kühlung gekommen waren, erschien er frischer.

Die Gefühllosigkeit in den Fingern freilich nahm immer weiter zu, auch die Augen verschleierten sich langsam, aber merklich.

Es war ein furchtbarer, ein erschöpfender Kampf, den die beiden Männer gegen das todbringende Gift führten.

*

Dr. Pasch fühlte, daß ihn der Schlaf zu übermannen drohte. Er reckte sich auf und machte, aufstehend, ein paar Turnbewegungen.

Er mußte sich wach erhalten.

Noch zehn … zehn Versuche hatte er sich für diese Nacht vorgenommen. Das Material lag vorbereitet. Er wollte sich nicht den Vorwurf machen, er habe vorzeitig aufgegeben.

Mein Gott! Wenn es ihm gelang, hier ein Ergebnis zu erzielen, wenn es ihm glückte, nein, nicht »glückte«, wenn es seiner Zähigkeit zu verdanken war, daß er das nötige Gegenmittel gegen »Luri« fand, dann … dann hatte er bewiesen, daß er ein Lebensrecht auf Arbeit in diesem Laboratorium besaß, daß er nicht wieder verbannt werden durfte, verbannt und verdammt zur Nichtigkeit, herabgewürdigt zu einer Rolle zweiten oder dritten Grades, die irgendein anderer ebensogut erfüllen konnte, vielleicht besser als er.

Dann würde er dem Professor gegenübertreten können und sagen …

Dr. Paschs Gesichtszüge verhärteten sich bei diesem Gedanken.

Wie er diesen Mann haßte, diesen Mann, der aus Eigensucht und Selbstgefälligkeit bestand und der sein gottgegebenes Talent für seine Eitelkeit mißbrauchte; diesen Mann, der um sich herum nur Kälte und Unbehagen verbreitete, diesen Mann, der rücksichtslos über alles hinwegschritt, was seinen Glanz zu trüben, nein, was nur an seinem Glanz teilzunehmen drohte.

Dr. Pasch schüttelte in seiner Erregung den Kopf.

Was für Gedanken in ihm aufstiegen!

Dem Professor hätte er alles zugetraut, auch daß er einen, der ihm unbequem erschien, von der Welt verschwinden ließ.

Vielleicht war das Mädel, die Josefa, nur sein Werkzeug. Vielleicht hatte er sie eifersüchtig gemacht.

Nein, das waren unwürdige Gedanken.

Er fuhr sich über die Stirne.

Er mußte sich klaren Blick für seine eigentliche Aufgabe bewahren, er durfte sich nicht an solche Gedanken verlieren, er durfte nicht an all das denken, was geschehen war, nicht an das Mädchen und seine unbegreifliche Tat, nicht an des Professors Frau, die in der Wohnung nebenan in einem seltsamen Dämmerzustand ihre Tage hinbrachte.

Nein, nein. Er mußte seine Aufgabe im Auge behalten.

Sie hieß: den Kampfstoff gegen das tückische Gift finden, das in den Blutbahnen seines Kollegen Santifaller kreiste.

Er nahm rasch einen Schluck heißen Kaffees aus der bereitstehenden Thermosflasche. Dann beugte er sich wieder über sein Instrument.

*

Das Nachtflugzeug setzte um zwei Uhr auf dem Flugplatz Aspern auf.

Wenige Minuten später sauste ein Lohnkraftwagen mit dem Professor als Fahrgast stadtwärts.

Der Fahrer warf von Zeit zu Zeit einen Blick in den Spiegel, der seitlich vor ihm über dem Armaturenbrett angebracht war.

Manchmal, wenn er an einer Laterne vorbeifuhr, vermeinte er das bleiche Gesicht seines Fahrgastes zu erkennen, das ihm schon in dem Augenblick aufgefallen war, als dieser ihn für die Fahrt in die Stadt aufgenommen hatte.

»Fahren Sie so rasch, wie Sie es nur verantworten können«, hatte der Herr mit einem hastigen Ausdruck im Wesen gesagt.

Nun raste der Wagen in höchster Fahrt die Straße entlang.

Professor Kröner lag nicht, wie es sonst seine Art war, in die Polsterung des Wagens zurückgelehnt, sondern hockte auf der vorderen Kante des Sitzes und starrte an dem Fahrer vorbei auf die Häuser, die in der trüben, winddurchkühlten Nacht in rasender Eile vorübergespensterten, auf die Alleebäume, die, vom Licht des Scheinwerfers getroffen, hell aufleuchteten und dann als dunkle Schatten mit einem schier hörbaren Anhauch an dem Wagen vorbeiflogen.

Er saß so, als müsse er jeden Augenblick bereit sein, aus dem Wagen zu springen, als lauere eine furchtbare Gefahr auf ihn, die ihn wie ein wildes Tier anfallen konnte.

Je weiter die Reise fortgeschritten war, je mehr er sich der Heimat genähert hatte, desto tiefer hatte ihn eine von Stunde zu Stunde steigende Aufregung erfaßt.

Er war von Lissabon mit dem nächsten Flugzeug weiter geflogen, hatte auch nicht in Marseille, Bern oder München haltgemacht, sondern war, wie von einem Dämon gejagt, weitergehetzt.

Und nun war er da, war er in Wien.

Schon sauste der Wagen die Allee hinauf, die zur Heilanstalt führte.

Das Haus lag in tiefster Finsternis, nur der Nachttorwächter war wach und öffnete überrascht.

Das plötzliche Eintreffen des Professors kam ihm so unerwartet, daß er vergaß, dem Ankommenden auch nur einen Bruchteil von dem mitzuteilen, was sich in den letzten Tagen ereignet hatte und was der aus weiter Ferne Zurückkehrende wohl trotz Funkdepesche und Kabel nicht gut wissen konnte.

Erst als der Professor schon im Haus verschwunden war und der gähnende Kraftfahrer in schläfriger Verdrossenheit seinen Wagen wieder durchs offene Tor hinaussteuerte, schlug er sich ärgerlich vor den Kopf und überlegte, ob er dem Professor nicht vielleicht doch nachlaufen sollte.

*

Aber die Schwester vom Nachtdienst, die das Einfahren des Wagens gehört hatte, war inzwischen aus der Privatwohnung des Professors herabgeeilt und mit dem Professor in der Halle zusammengetroffen.

»Da bin ich, Albertine«, sagte der Professor.

Die Schwester schlug statt einer Antwort die Hände vor das Gesicht und wandte sich zur Seite.

Professor Kröner runzelte die Stirne.

»Was ist geschehen?« rang er mühsam seinen Lippen ab.

Die starke knochige Person schüttelte den Kopf, gab aber keine Antwort.

»Lassen Sie mich vorüber, Albertine«, murmelte der Professor.

Aber Albertine stellte sich ihm in den Weg. »Sie wissen es ja noch nicht«, flüsterte sie.

»Was?«

»Das von Ihrer Frau …«

»Was ist mit meiner Frau geschehen …?«

Die Schwester hob überrascht den Kopf. Die Frage hatte nicht besorgt, nicht erschrocken, nicht drängend geklungen, sondern eher geschäftlich kühl.

»Was ist mit meiner Frau?« wiederholte der Professor.

Albertine sah ihm nunmehr zum erstenmal bei dieser Begegnung in die Augen.

Und sie las in diesen Augen nichts von einem warmen Gefühl, nichts von brennender Sorge.

»Die gnädige Frau«, zögerte sie flüsternd … »Die gnädige Frau … hat einen Nervenzusammenbruch erlitten und hat sich nicht mehr erholt. Sie … sie lebt in einer anderen Welt … sie redet irre … Wir müssen sie ständig bewachen.«

»Seit wann?«

»Seit …« Albertine suchte verlegen nach Worten. »Seit sie erfahren hat, daß … der Herr Doktor Santifaller … vergiftet worden ist.«

»So?« sagte der Professor hart. »Gehen wir jetzt weiter.«

Albertine gab den Weg frei, nahm dem Professor dann, als er an ihr vorüberschritt, den einen der beiden Koffer, die er trug, ab und folgte ihm in sein Zimmer.

Der Professor legte Hut und Mantel ab und wandte sich dann Albertine zu.

»Ist die Leiche obduziert worden?«

Albertinens Augen weiteten sich. »Welche Leiche?« fragte sie erstaunt.

»Doktor Santifallers Leiche.«

Albertine hob den Kopf. »Oh!« sagte sie. »Sie wissen es nicht? Doktor Santifaller ist ja nicht gestorben.«

»Nicht gestorben?« Professor Kröner war mit einem jähen Schritt auf die Schwester zugetreten. »Nicht gestorben?« keuchte er.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Er liegt bei uns oben im zweiten Stock und wird täglich hinunter ins Laboratorium getragen. Er macht selbst noch Versuche zusammen mit Doktor Pasch. Ich glaube, sie hoffen beide, daß der Anschlag von dieser … dieser Person … doch nicht ganz geglückt ist …«

»Ja, aber«, murmelte der Professor, »im Funkspruch hieß es doch ›Mord‹.«

Albertine nickte. »Sie hat es ja versucht, Herr Professor. Es war ein Mordversuch. Aber dann, dann hat sie halt doch die Reue gepackt und sie hat alles gestanden. Und das war noch ein Glück. Jetzt wissen die Herren doch, welches Gift es war, und kommen rascher vorwärts mit den Versuchen.«

»Versuchen?« wiederholte der Professor. »Ja, was hat sie denn für ein Gift genommen, wenn die Herren erst Versuche machen müssen? Wir haben doch keine Gifte …«

Er verstummte und sah die Schwester entsetzt an.

Die nickte eifrig. »Oh, Herr Professor, Sie haben immer so viel auf die Person gehalten. Das ist eine Abgefeimte, sage ich Ihnen. Keines von den gewöhnlichen Giften hat sie genommen. Ein ganz gefährliches hat sie genommen, eines von den ganz schrecklichen aus Hinterindien, nur damit es ja wirkt und keine Gegenwirkung möglich ist. Doktor Pasch sagt, daß es erst vor kurzer Zeit ein Herr aus Asien mitgebracht habe …«

Sie stockte. »Sie sehen so schlecht aus, Herr Professor, wollen Sie nicht lieber zuerst ein wenig schlafen …«

»Nein«, hastete er, »nein. Welches Gift, Albertine? Welches Gift?«

»›Luri‹ soll es heißen, Herr Professor.«

»Luri?« Der Professor faßte mit einer jähen Bewegung nach seinem Herzen. »Luri.«

»Jawohl, Herr Professor. Ein ganz langsam wirkendes Gift soll es sein. Und schrecklich viel hat sie genommen. Fünf Zehntelkubikzentimeter hat sie dem Doktor Pasch gestanden.«

»Das ist nicht möglich«, stöhnte Professor Kröner.

»O doch!« nickte die Schwester. »Sie hat dem Doktor Pasch noch gezeigt, wie sie auf dem Karteiblatt radiert hat. Aus dem Achter hat sie einen Dreier gemacht … Doktor Pasch hat es mir im Mikroskop gezeigt … Kein Mensch hätte es bemerkt, wenn die Josefa nicht alles gestanden hätte.«

Schwester Albertine machte eine kleine Pause. Es war deutlich, daß sie viel auf dem Herzen hatte. Der Name Josefa klang aus ihrem Munde scharf. Ihre Stimme war haßgeschwängert, wenn sie ihn formte.

All die über ein halbes Jahr zurückgestauten Gefühle der Kränkung und Zurücksetzung, die ihr das Leben verbittert hatten, brachen jetzt hervor. Er sollte es nur wissen, was er mit ihrer Verstoßung und der Anstellung dieser Person angerichtet hatte.

»Herr Professor«, atmete sie tief auf, »diese Person, diese Josefa, diese scheinheilige …«

Erschrocken hielt sie inne.

Was hatte der Professor gesagt? War dieser halb zischende, halb keuchende Laut, den er ausgestoßen hatte, war das überhaupt ein Wort gewesen?

Professor Kröner hatte sich jäh von ihr abgewendet. Sie sah nur seinen breiten Rücken, den starken Nacken … Ach, wie hatte sie sich für den Mann begeistert, wie hatte sie sich für ihn aufgeopfert …

Und er hatte sie mit einer Handbewegung zur Seite geschoben … sie hatte ihn daraufhin gehaßt … Aber jetzt, jetzt … jetzt tat er ihr leid, denn … war es Täuschung? … dieser stolze Nacken, der war jetzt gebeugt, diese Haltung verriet Schwäche.

Er war wohl erschöpft.

»Sie sind überanstrengt, Herr Professor«, murmelte sie in aufkommendem Mitleid. »Sie müssen zuerst schlafen, sich ausruhen, Herr Professor …«

Geschäftig lief sie zum Bett und begann es für die Nacht herzurichten. Dann öffnete sie, leise mit sich selbst redend, das Fenster. »Es ist so schwül hier herinnen. Ein wenig Lüften wird gut sein.«

Sie erhielt keine Antwort.

Auch dann nicht, als sie mit einem zögernden »Gute Nacht« an die Türe trat.

»Gute Nacht, Herr Professor«, wiederholte sie. Und als auch dann keine Antwort kam, hob sie die Stimme. »Wann soll ich Sie wecken, Herr Professor?«

Das war so laut gesprochen, daß er es hören mußte.

Er raffte sich aus seiner unnatürlichen Starrheit auf. »Wecken?« murmelte er. »Mich braucht niemand zu wecken. Mich nicht …« Erst jetzt erwachte er vollends. »Es ist gut, Albertine. Sie können gehen.«

»Gute Nacht, Herr Professor.«

Das klang wieder unfreundlich. Mit hochgezogenen Schultern drückte sich Albertine aus dem Zimmer.

»Sie können gehen«, wiederholte sie mit einem erbitterten Ton in der Stimme. Aber dann glitt ein Lächeln der Schadenfreude über ihr Gesicht. »Aber das geht ihm jetzt nahe, daß er sich mit der Person so blamiert hat«, frohlockte sie für sich. »Eine Albertine wegschicken und eine Mörderin ins Laboratorium nehmen. So sind die Männer. So scharfblickend. So viel Menschenkenntnis haben sie.«

Brummend zog sie sich in den Salon zurück, wo sie während des Nachtdienstes bei der Frau Professor ihr Lager aufgeschlagen hatte.

*

Der Professor hatte gehört, wie sich hinter Albertine die Tür schloß.

In diesem Augenblick war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei.

Mit einem scheuen Blick über die Schulter vergewisserte er sich, daß das Zimmer leer, die Tür geschlossen war. Unter einem tiefen Aufstöhnen sank er aus seiner bisher so aufrechten Haltung in sich zusammen.

Jetzt, wo niemand Zeuge seiner Schwäche war, gab er dem Ansturm dessen, was ihn bedrängte, zum erstenmal nach.

Seine Hand griff tastend umher, bis sie einer Stuhllehne habhaft wurde. Mühsam drehte er den Stuhl zu sich heran und ließ sich mit zitternden Knien nieder.

Sein Blick wanderte unstet umher mit einem verzweifelten, fragenden Ausdruck.

Wie? Was war geschehen?

War nicht mit einemmal die Welt um ihn her zusammengebrochen? War nicht mit einemmal die Hoffnung, daß seine furchtbare Tat verborgen bleiben werde, dahingeschwunden?

Was hatte die Schwester, was hatte Albertine gesagt? Josefa hätte gestanden, gestanden, daß sie den Dr. Santifaller vergiftet hatte, vergiftet mit dem gräßlichsten aller tropischen Gifte, vergiftet mit »Luri«?

Der Professor begann am ganzen Körper zu zittern.

Bei Gott. Es war kein Zweifel mehr möglich. Dieses Mädchen, diese Josefa wußte um das, was er getan hatte. Denn selbst wenn sie aus Eifersucht, wie es in dem Funkspruch gelautet hatte, nach diesem Gift gegriffen hätte, nach demselben wie er, selbst wenn sie – ein kaum mehr auszudenkender Zufall – dieselbe Menge des Mordsaftes angewendet hätte, eines brachte die furchtbare Klarheit, daß er durchschaut war, daß er eine Mitwisserin hatte, eben das, was er für seine gewandteste Leistung gehalten hatte: die Tarnung seines Verbrechens durch die Umwandlung der winzigen Ziffer Acht in eine Drei.

Der Professor schrak zusammen.

Wer hatte geklopft? Hatte nicht jemand an der Tür des Zimmers geklopft?

Jetzt wieder!

»Herein!« rief er.

Aber es trat niemand ein.

Er erhob sich schwerfällig und öffnete die Tür.

Der Gang lag tot und schwarz.

Er kehrte zurück und setzte sich wieder.

Er hob die beiden flachen Hände an die Schläfen.

Dabei fühlte er, daß er am ganzen Körper zitterte.

Sein Herz schlug in rasendem Takt. Schweiß rann ihm über Hals und Rücken, obwohl das Fenster offen war und kalte Frühmorgenluft hereinströmte.

Wie spät war es?

Er nestelte mit zitternden Händen die Uhr aus der Tasche.

Es ging gegen fünf Uhr früh.

Schlafen?

Keine Rede von schlafen. Wie sollte er jetzt unter dieser furchtbaren Erkenntnis schlafen?

Er schüttelte abwehrend den Kopf.

Nein! Nein! Nur nicht hierbleiben in diesem toten, dunklen Zimmer.

Er tastete nach seinen Schlüsseln.

Da war er ja, der Schlüssel zum Laboratorium.

Ja, ins Laboratorium wollte er gehen, ins Laboratorium!

Als Professor Kröner im Laboratorium den Schalter betätigte und weißes grelles Licht von der Decke herabstürzte, sah er, daß alle Tische mit einer schier unübersehbaren Menge von Präparaten belegt waren, die hie und da zwischen den sie nicht ganz überdeckenden Tüchern hervorlugten.

Er trat unsicher näher. Ja. Er hatte sich nicht geirrt.

Und dort, dort neben seinem Arbeitsplatz, da lag ein Heft, ein schmales langes Heft, wie es die Ärzte der Heilanstalt für ihre Aufzeichnungen verwendeten und immer in Händen hielten, wenn sie zu Mittag zu ihm zum Vortrag kamen.

Dort hatte wohl Dr. Pasch gearbeitet.

Er ließ sich auf dem Arbeitsplatz nieder und schlug das Heft auf.

Sein Auge fiel auf eine Zeile, die dick unterstrichen war.

Er las: Das Unterkühlverfahren scheint glänzend zu wirken. Selbst Dr. S. spürt eine starke Erleichterung, das Blutbild erscheint gebessert. Die Zahl der Giftkörper hat sich im Gegensatz zu früher nicht vermehrt, eher verringert. Wenn es gelingt, weitere Blutübertragungen nach dieser Methode durchzuführen, so ist viel gewonnen.

Dicht darunter stand: 387. Versuch. Der Kreis der Möglichkeiten ist bereits winzig klein. Es muß und es wird möglich sein, das entscheidende Gegenmittel zu finden.

Der Professor hob den Kopf; er las die bei dem Versuch angegebenen Formeln und chemischen Anmerkungen nicht mehr …

Er blickte durch das Fenster in die tiefschwarze Nacht hinaus, durch die die Lichter von Wien herüberglänzten.

Aber er sah diese Lichter nicht. Er sah nur die schimmernde Fläche des ein wenig spiegelnden Fensters.

Und auf dieser spiegelnden Fläche hob sich, ach so deutlich, ein Haupt ab, der Kopf einer Frau.

»Josefa!«

Professor Kröner hatte es laut vor sich hin gesprochen.

Der Klang des Wortes erfüllte plötzlich schreckhaft den Raum.

War nicht jemand im Laboratorium?

Professor Kröner wandte sich auf seinem Sessel um.

Aber der kühle nüchterne Raum lag leer.

Er richtete, schier mechanisch angezogen, wieder den Blick auf das Fenster.

Im gleichen Augenblick trat auch wieder das Bild aus dem Fensterrahmen hervor.

Es war kalt im Laboratorium.

Professor Kröner zog die Schultern zusammen. Aber er vermochte nicht, sich zu erheben und die Schaltung in Bewegung zu setzen.

Er saß und starrte wie gebannt auf den Kopf, dessen Augen ihn unverwandt anblickten.

»Josefa!« murmelte er, »Josefa.«

Ja, dieses Mädchen wußte alles, wußte es unerklärlicherweise. Sein Verbrechen war ihr bekannt.

Aber warum hatte sie diese gräßliche Schuld auf sich genommen? Warum wohl?

Professor Kröner versenkte den Blick seiner Augen fragend in die großen Augensterne, die aus dem Bild in der Fensterfläche auf ihn sahen.

»Josefa«, flüsterte er tonlos.

Wie hatte das Mädchen es entdeckt, wie hatte es zu diesem Entschluß kommen können, sich selbst als Täterin zu bezeichnen und dieses Geständnis so glaubwürdig mit Angaben zu unterbauen, die es dem Richter unmöglich machen mußten, an der Wahrheit ihrer Selbstbezichtigung zu zweifeln?

Er raffte sich auf und öffnete umständlich den Schrank.

Das Fläschchen mit »Luri« war da.

Und wo war die Karteikarte?

Er suchte mit hastigen Fingern und unruhigen Blicken. Schließlich fand er eine Karteikarte mit genauen Aufzeichnungen über den Verbrauch von winzigen Teilen des Giftes für Untersuchung, für die Impfung der Tiere. Diese Versuche stammten aus den letzten Tagen.

Die Karte, die anklagende, vernichtende Karte aber war es nicht.

Die hatte wohl das Gericht angefordert. Die lag nun dort, hatte bis jetzt gegen Josefa gezeugt und würde … er mußte sich aufstützen … und würde gegen ihn zeugen, wenn … wenn das Mädchen sprach … wenn Josefa …

Er stöhnte dumpf auf.

Das Fläschchen mit dem gefährlichen Gift in seiner Hand zitterte. Er stellte es vorsichtig wieder an seinen Platz zurück.

Dann blieb er, an die mächtig stählerne Wand des Schrankes gelehnt, stehen.

Wie war das mit Josefa gewesen? Hatte er Grund zur Annahme, daß das Mädchen das ungeheure Opfer seinetwegen auf sich genommen hatte?

Sie war ihm treu ergeben gewesen.

Immer?

Er sah sie neben sich im Tiroler Bergtal über die Wiesen hin wandern, sah sie mit den Kindern und Erwachsenen sprechen, sah ihr Kopfnicken und Winken, wenn sie glaubte, die Leute so weit gewonnen zu haben, daß er selbst sein Werk beginnen konnte.

Er fühlte den Druck ihres schlaftrunkenen Kopfes auf seinem Arm, als sie mit ihm nach Wien gefahren und – von der ungewohnten Fahrt ermüdet – eingeschlummert war. Er sah sie neben sich rastlos im Laboratorium arbeiten, dort, an dem jetzt einsamen Tisch, über den die nächtlichen Lampen ihren kalten Schimmer herabfluten ließen.

Sie war immer die gleiche gewesen, unermüdlich, opferwillig und still, auch wenn er Außerordentliches von ihr verlangt hatte.

Nie zuvor hatte er eine solche Helferin gehabt. Keine andere hatte so eisern durchgehalten wie sie.

War das bloßes Pflichtbewußtsein gewesen, oder hatte sie – wie es so oft bei Frauen und Mädchen vorkam – auch ein wenig um seinetwillen ihren Dienst so eifrig getan?

Frauen leisten oft Übermenschliches … aus Liebe.

Hatte ihn Josefa geliebt?

Sie war ihm ergeben gewesen, aber geliebt …? Geliebt hatte sie ja dann doch nur diesen Tiroler, den Dr. Santifaller …

Um seinetwillen, um dieses Doktors willen aber konnte sie doch nicht dieses furchtbare Opfer auf sich genommen haben!

Oder doch?

Professor Kröner löste sich langsam vom Giftschrank und wankte zu seinem Arbeitsstuhl hinüber.

Wenn das Mädchen … nein. Er mußte anders rechnen. Was war wohl geschehen, als Josefa entdeckt hatte, daß es das Gift »Luri« war und daß auf der Karteikarte die Ziffer geändert erschien?

Da hatte sie wohl annehmen müssen, daß Dr. Santifaller verloren sei, verloren, wenn nicht ein Wunder geschah. Und solch ein Wunder, das wußte sie wohl, konnte nur einer auf dieser Welt vollbringen. Er, Professor Kröner.

»Josefa!«

Professor Kröner war plötzlich aufgesprungen und streckte nun die Arme gegen das Fenster aus, in dessen Rahmen ihm der Kopf des Mädchens erschienen war.

»Josefa!« rief er ein zweites Mal.

Aber das Bild gab ihm keine Antwort. Die Augen Josefas lagen mit einem strengen, fordernden Ausdruck auf seinem Antlitz, so als suchte ihn ihr Blick zu zwingen, etwas zu tun … etwas, das …

Professor Kröner griff sich mit beiden Händen an die Brust.

Jetzt war es ihm furchtbar klar.

Dieses Mädchen hatte nicht nur Kenntnis von seinem Verbrechen, dieses Mädchen hatte bereits Gewalt über ihn.

Sie, niemand anderer als sie, hatte ihn durch ihr Opfer herbeigezwungen, viele tausend Kilometer über den Ozean hierhergetrieben, an den Platz seines Schaffens, damit er sein letztes Werk hier vollbringe: den Tiroler Doktor zu retten.

Das hatte dieses kleine unscheinbare Mädel, dieser Traumichnicht vom Lande, das hatte dieses stille, wortkarge Wesen vermocht.

Und er, der gewaltige Bekämpfer des Todes, der dem Beherrscher alles menschlichen Lebens sein übermütiges »Schach« zugerufen hatte, er stand hier und zitterte vor der Macht dieses kleinen nichtigen Kindes, das, wenn es den Mund öffnete …

»Nein«, schrie der große, mächtige Mann in die Stille des Laboratoriums hinein. »Du sollst mich nicht besiegen. Du sollst mich nicht hinunterstoßen ins grauenhafte Nichts …«

Aber dieses Aufbäumen dauerte nur wenige Sekunden.

Sprach nicht, wenn sie reden wollte, wenn etwa Dr. Santifaller starb und sie keinen Grund mehr hatte, sich anzuklagen und zu beschuldigen, sprach dann nicht alles für sie und alles gegen ihn? Sein Verhalten gegen den unbequemen Nebenbuhler auf wissenschaftlichem Gebiet und in seiner Ehe, seine zuerst aufgeschobene und dann übermäßig lang geplante Reise, die Wahl des langsam wirkenden Giftes, gerade dieses Giftes, das beinahe als einziges von ihm noch nicht dargestellt und für das kein Gegenmittel gefunden, ja – ebenfalls absichtsvoll – gar nicht gesucht worden war.

Wenn dieses Mädchen sprach, und wer bürgte dafür, daß sie, wenn ihr Opfer sinnlos wurde und das Gericht ihr mit furchtbarer Strafe drohte, nicht ihr Geständnis widerrief, wenn also dieses Mädchen sprach, dann brach seine Welt zusammen, dann … war er verloren, unrettbar verloren.

Und wenn er leugnete?

Weiß Gott, was dann vielleicht noch gegen ihn zeugte!

Eines war klar. Wenn Dr. Santifaller starb, dann war die Stunde gekommen, in der das Mädchen sprach, sprechen mußte, aus Rache an dem, der den von ihr geliebten Mann … häßliches Wort! … gemordet hatte.

Nein! Dr. Santifaller durfte nicht sterben. Er durfte nicht sterben!

Solange Dr. Santifaller zwischen Leben und Tod schwebte, solange er, Professor Kröner, an der Arbeit war, ein Rettungsmittel zu finden, so lange würde Josefa schweigen.

Und wenn es gelang, Dr. Santifaller zu retten?

War dann die Gefahr gebannt? Würde das Mädchen dann noch schweigen?

Wer kannte die Tiefen der Frauenseele?

Eines aber war klar. Sterben durfte dieser Dr. Santifaller nicht. Das nicht. Hier lag die größere Gefahr. Dieser mußte er vor allem vorbeugen.

Noch, noch war eine Rettungsfrist. Sie galt es zu nützen.

Professor Kröner stemmte sich von seinem Sitz empor.

Schlafen! Nur einige Stunden schlafen, vergessen! Vergessen!

Dann wollte er kämpfen, kämpfen … Und wenn er sterben mußte. Eines mußte gerettet werden: Sein Name. Sein wissenschaftlicher Ruhm. Der Name Kröner, der magische Kraft in sich geborgen hatte.

Hatte er nicht einmal gerufen »Schach dem Tode«?

Jetzt stand der Tod nahe und drohend vor ihm. Der Tod, den er gerufen hatte, der angelte jetzt nach ihm …

Ein Schauer lief dem Professor über den Rücken hinab.

»Schlafen«, murmelte er. »Schlafen! Schlafen!«

Der Schalter knackte, der Raum lag dunkel.

Ein armseliger, furchtsamer Mann tappte über den dunklen Gang seiner Wohnung zu.

*

Josefa schrie auf, erwachend, auf ihrem harten Gefängnisbett sitzend.

Ihr Herz klopfte schier hörbar.

Sie strich sich das Haar, das ihr feucht an den Schläfen klebte, zurück und suchte sich zurechtzufinden.

Was war geschehen?

Hatte sie nicht geträumt?

Ja! Aber was war es nur gewesen?

Sie konnte sich des Traumes nicht mehr entsinnen. Nur eines wußte sie: der Professor war ihr gegenübergestanden, Aug in Aug.

Der Professor!

Sie sank wieder auf ihr Lager zurück.

Sonderbar!

Sie erfüllte die unerträglich langsam hinschreitende Zeit mit tausend Gedanken, die sich mit den Personen beschäftigten, mit denen sie in der Heilanstalt zu tun gehabt hatte.

Es war selbstverständlich, daß hiebei die Gestalt Santifallers eine bedeutende Rolle spielte.

Aber im Vordergrund stand sie nicht, trotz aller ihrer Sehnsucht nach einem Blick seiner gütigen Augen, nach einem seiner gemütlichen Mundartausdrücke!

Nein!

Im Vordergrund stand, alles andere verdeckend und beiseitedrückend, die Gestalt des Professors.

Josefa legte die rechte Hand auf ihr pochendes Herz.

Es war doch jetzt Nacht.

Und trotzdem war es ihr, als müsse im nächsten Augenblick der schwerfällige Schritt des Aufsehers auf dem Gang draußen zu hören sein, als müsse der Schlüsselbund rasseln, die Türe sich öffnen und die farblose Stimme des gleichmütigen alten Mannes sagen: »Herr Professor Kröner wünscht Sie zu sprechen.«

Ach, das war ja alles Unsinn.

Wenn ein Besuch gekommen wäre, so hätte man sie in das Sprechzimmer geholt.

Zu ihr kam ja niemand.

Wozu auch?

Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen.

Der Richter hatte ihr einen Rechtswahrer als Beistand aufdrängen wollen. Es werde sie nichts kosten. Es geschehe das aus öffentlichen Mitteln.

Sie hatte abgelehnt. Sie brauche keine Hilfe. Sie habe gestanden und damit sei auch alles erledigt.

Der Richter hatte ein langes und breites geredet, daß sie es bereuen werde.

Aber sie war fest geblieben.

Was hätte ein solcher »Helfer« ihr helfen können?

Ihr Geheimnis konnte sie ihm nicht verraten und alles andere wäre nur eine öde Ausfragerei geworden, vor der sie sich fürchtete. Denn war sie sicher, daß sie sich nicht doch einmal verschnappte? Besonders gegenüber einem, der ihr helfen wollte, der ihre Unschuld beweisen wollte.

Sie durfte ja nicht unschuldig sein, durfte nicht … so lange nicht, bis …

Und da schloß sich der Kreis ihrer Gedanken. Schon war sie wieder bei der Gestalt des Professors angelangt.

Und warum schlug ihr jetzt so rasend das Herz? Warum hatte sie das Gefühl, daß er auftauchen könnte?

Sie begann plötzlich zu zittern.

Ein furchtbarer Gedanke stieg in ihr auf: wenn dem Professor im fernen Erdteil oder auf seiner Rückkehr etwas zustieß, wenn ein Hindernis seine Fahrt verzögerte, wenn er selbst …

Ach, dann war alles vergeblich gewesen.

Dann … dann war sie verloren und um nichts, um gar nichts verloren. Dann ging der liebe gute Dr. Santifaller unter gräßlichen Qualen aus dieser Welt und sie … was half es, wenn sie dann ihr Geständnis zurückzog? Wer würde ihr glauben, wenn sie einen Toten der Tat bezichtigte? Wer würde ihr diese Verantwortung glauben?

Dann, dann war es besser, sie lebte nicht mehr länger.

Aber vielleicht war sie gar nicht mehr imstande, ihr Leben zu beenden. Vielleicht hielt man sie, die Mörderin, Jahre, Jahrzehnte gefangen …

Josefa stöhnte in namenlosem Entsetzen auf.

Sie vereinigte ihre Hände über der tobenden Brust und suchte gegen das Zittern ihres Körpers anzukämpfen.

»Kommen Sie«, murmelte sie, »kommen Sie doch und retten Sie, wenn noch ein Funke von Menschlichkeit in Ihnen wach ist, kommen Sie … kommen Sie … kommen Sie …«

Sie hob wieder den Kopf und sah vor sich in die Finsternis und legte in diesen Blick alle Kraft ihres Herzens, als könnte es so werden, daß ihr Blick ihn magnetisch heranziehe.

*

Professor Kröner sah mit einem tiefen Aufstöhnen auf die Uhr.

Er hatte kaum eine Stunde geschlafen.

Durch das Fenster stahl sich bereits der dämmernde Tag.

Er schüttelte unwillig den Kopf.

Es konnte nur Täuschung sein. Oder hatte ihn wirklich jemand gerufen?

Wie? Wenn er ein Schlafmittel nahm, um noch ein paar Stunden zu ruhen?

Vor acht Uhr war doch ohnehin niemand im Laboratorium!

Er erhob sich vom Bett und trat an den Kasten, in dem er einige Heilmittel für persönlichen Gebrauch verwahrte.

Er nahm das Fläschchen zur Hand, in dem sich das Schlafmittel befand.

Es sah dem ähnlich, in dem er das gefährliche Gift …

Er schob das Fläschchen wieder an seinen Platz zurück.

Nein. Er würde nicht schlafen. Zumindest würden ihn wie in dieser kurzen Stunde des Schlafes gräßliche Träume quälen.

Es gab nur eine Rettung vor dem entsetzlichen Nachsinnen, vor dieser Qual, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließ … ein einziges Mittel … Arbeit.

Er trat in das anschließende Badezimmer und ließ das Wasser in das Becken ablaufen.

Als es kalt und erfrischend zu ihm empor atmete, legte er ab und begann sich zu waschen.

Das kühlte, das tat gut.

Und mit der Erfrischung kam auch ein gewisser Arbeitseifer über ihn.

Er glaubte, es nicht erwarten zu können, bis er an seinem Arbeitsplatz im Laboratorium saß.

Schneller als jemals sonst war er fertig.

Noch lag das Haus ruhig, als er das Laboratorium betrat.

Arbeiten!

Er griff nach dem Heft, in dem Dr. Pasch den Gang der Versuche eingetragen hatte, und begann zu lesen.

Hie und da stand er auf und suchte das betreffende Präparat heraus, legte es unter das Mikroskop und beobachtete.

Sein Blick wurde immer schärfer.

Es war erstaunlich, was die beiden Doktoren in diesen Tagen geleistet hatten.

Welch ein Gedanke mit der Einspritzung unterkühlten Blutes! Eine kühne, eine gefährliche Kur!

Und nun die Probe aus dem Blut der geimpften Tiere.

Er nahm eines der Präparate nach dem anderen vor. Immer tiefere Falten bildeten sich auf seinem Antlitz.

Er erkannte es:

Hier waren zwei am Werk gewesen, die mit erstaunlicher Sicherheit den Weg fortsetzten, den er der Forschung gewiesen hatte.

Er preßte die Lippen gegeneinander.

Er war nicht mehr der einzige. Schon strebten andere nach demselben Ziel wie er.

Er hob den Blick vom Mikroskop und sah durch das Fenster auf die im Morgenschein erwachende Stadt.

Aber über der Stadt erhob sich wieder das Haupt mit den zwei fordernden Augen.

Und diese Augen sagten: »Komm und arbeite, rette, rette, rette!«

Mit einem tiefen Schauer senkte er wieder den Kopf über das Mikroskop.

Es gab nur eine Rettung vor diesen Augen.

Die Arbeit.

*

Schon lange vor acht Uhr erschien der alte Lorenz.

Als er den Professor am Fenster sitzen und arbeiten sah, verhielt er entgeistert den Schritt.

Seine Lippen versuchten Worte zu formen, aber es wurde nur ein unzusammenhängendes Stottern daraus.

Und der Professor?

Der machte bloß eine ungeduldige Bewegung und verlangte dann nach einer Reihe von Präparaten, die er bisher noch nicht hatte finden können, da sie gesondert aufgehoben waren.

Der Alte zappelte eilfertig, den Befehl auszuführen.

Zum erstenmal in seinem Dienst wäre ihm um ein Haar die Tablette entglitten. So sehr zitterten seine Hände aus Rührung über das unerwartete Geschehen.

Endlich hielt er dem Professor das Gewünschte hin.

Er erntete kein Wort des Dankes.

Schon schob der Professor das erste Präparat unter sein Instrument.

Die Tablette in den Händen, setzte sich Lorenz auf den Klappsessel neben dem Professor.

Sollte er dem Professor jetzt gestehen, daß er gegen sein Verbot den Dr. Pasch hier hatte arbeiten lassen; daß Albertine wieder ihren Einzug gehalten hatte? Sollte er von dem Unfaßbaren sprechen, daß Josefa, das stille, sanfte, aufopfernde Mädchen, diese furchtbare Tat sich aufs Gewissen geladen hatte?

Das Erscheinen Albertinens überhob ihn einer Entscheidung.

Zwei Minuten später sah es wieder so aus, wie es vor einem Jahr gewesen war, da Albertine noch diesen Dienst beim Professor versehen hatte und niemand etwas von dem Mädchen aus dem Tiroler Bergtal gewußt hatte.

Und dann ging die Tür auf und Dr. Santifallers Rollstuhl wurde sichtbar. Neben ihm schritt Dr. Pasch.

Die Gruppe blieb wie angewurzelt stehen. Dr. Pasch und Doktor Santifaller wechselten überraschte Blicke des Zweifels.

»Herr Professor«, flüsterte Albertine, »die beiden Herren Doktoren sind da.«

Der Professor schien sie nicht zu hören: denn er rührte sich nicht. So mußte sie ihm die Meldung ein zweites Mal erstatten, diesmal lauter.

Aber der Professor hatte alles gehört.

Er hatte nur für Sekunden die Augen geschlossen und den Mund zusammengepreßt.

Jetzt stand er mit einer jähen Bewegung auf und wandte sich um.

Die beiden Herren erschraken.

Aus einem übernächtigen Gesicht sahen sie zwei flammende Augen an, deren unruhiger Ausdruck wenig zu dem verzerrten Lächeln passen wollte, das der Professor seinen Lippen abzwang.

Nervös tasteten des Professors Augen die Gesichter der beiden Herren ab. »Ich habe gesehen«, begann er statt jeder Begrüßung, »die Herren haben bereits sehr weitgehende Vorarbeiten gemacht. Die Ergebnisse sind über Erwarten gut. Ich denke, wir werden rasch vorankommen.«

Er wandte sich kurz an Dr. Santifaller. »Wie fühlen Sie sich, Herr Kollege?«

»Seitdem der Doktor Pasch den Versuch mit dem unterkühlten Blut gmacht hat, is mei Zustand gleichbleibend, Herr Professor.«

»Gut! Und die Tierversuche?«

Dr. Pasch begann zu berichten. Ein Gespräch auf höchster wissenschaftlicher Stufe begann.

Sonst hatte gewöhnlich der Professor den Ansichten der anderen widersprochen.

Diesmal verhielt es sich anders.

Er nickte, er ging auf des Tiroler Doktors Ansichten ein, er wies die Gedanken der beiden Herren nicht schroff zurück, sondern ließ ihnen Gerechtigkeit widerfahren.

Dr. Pasch holte die Präparate heran, der Professor beugte sich interessiert über die Arbeiten und beobachtete durch das Mikroskop nach den Erklärungen der beiden Herren.

So nahmen sie zusammen die Entwicklung der Untersuchung durch, wobei Dr. Pasch alles beiseite ließ, was er an Nebenversuchen und parallelen Untersuchungen vorgenommen hatte.

Sie kamen hiebei rasch vorwärts. Der Professor bedurfte ja so gut wie keiner Erklärung. Er schnitt eine solche in den meisten Fällen dadurch ab, daß er sie vorwegnahm oder das Ergebnis selbst andeutete.

Sie mochten etwa eine Stunde in dieser Weise gearbeitet haben, als der Professor plötzlich Einhalt gebot.

Dr. Pasch hob fragend den Kopf.

»Dieses Blutbild kenne ich«, sagte der Professor, ohne das Auge vom Instrument zu lösen. »Wir sind hier …« Er stockte. »Warten Sie einmal …«, er verharrte einige Sekunden, regungslos über das Mikroskop gebeugt. Dann sagte er plötzlich mit ruhiger Sicherheit in der Stimme: »Lorenz, bringen Sie mir das Präparat 87 A gebrochen durch 1517!«

»Jawohl, Herr Professor!« Der Alte humpelte eilfertig ins Vorzimmer hinaus.

Während sie auf den Alten warteten, hatten die beiden Doktoren zum erstenmal Zeit, den Professor, der nun den Kopf erhoben hatte, genauer zu betrachten.

Unwillkürlich trafen ihre Blicke einander.

Jeder der beiden deutete mit den Augen nach dem Gelehrten hin.

Und dann blieben ihre Augen auf den Schläfen des Professors haften.

Hatten sie jemals graue Haare an ihm gesehen? Hatte er nicht immer mit einer gewissen Absicht mit den flachen Händen die Haare seitlich zurückgestrichen, als wollte er sagen: »Seht, ich habe mir meine Kraft und meine Jugend erhalten!«

Und heute?

An den Schläfen, aber auch sonst in seinem dichten Haar schimmerten silbergraue Strähne auf.

Und lag nicht in der Haltung des Professors eine Müdigkeit und Schwäche, die sie sonst an ihm nie bemerkt hatten?

Hatte ihn die Nachricht über das Geschehnis in der Heilanstalt so betroffen?

Hatte ihn die Reise so hergenommen?

Dr. Pasch preßte die Lippen zusammen. Der fragende, forschende Ausdruck in seinem Gesicht verstärkte sich, eine tiefe Falte grub sich oberhalb der Nasenwurzel in seine Stirne.

Und dann zog plötzlich etwas seinen Blick magnetisch empor.

Er sah auf und in die Augen Dr. Santifallers, die mit einem rätselvollen Ausdruck auf die seinen gerichtet waren.

Und da war es ihm, als gehe über die Gestalt Dr. Santifallers ein deutliches Zittern.

Lorenz trat ein, und der Professor beugte sich über das Präparat. Dann richtete er sich plötzlich auf mit einer Bewegung, die frischer, zügiger war als die müden, fast ein wenig lahm wirkenden Bewegungen vorher.

Mit klarer und ein wenig herrischer Stimme verlangte er ein Präparat noch einmal zu sehen, das schon als anscheinend erledigt beiseitegeschoben worden war.

Schwester Albertine brachte das Gewünschte heran.

Der Professor begann es noch einmal zu untersuchen, während ihn die beiden Doktoren erwartungsvoll beobachteten.

»Meine Herren«, hörten sie den Professor sagen, »der Gang Ihrer Untersuchung zeigt: Sie haben angenommen, daß von der Beobachtung dieses Präparates hier nur ein Weg weiterführt. Ich«, und hier klang wieder der selbstbewußte Ton auf, den sie an ihm kannten und immer gehaßt hatten, »ich finde hier noch eine zweite Möglichkeit. Bitte, meine Herren.«

Dr. Pasch trat näher, und Dr. Santifaller gab Albertine zu verstehen, daß sein Krankenstuhl näher herangeschoben werden solle.

Professor Kröner begann zu erklären. Immer rascher und sicherer klangen seine Worte, immer gespannter wurden die Züge der beiden Zuhörer.

Dr. Pasch biß sich auf die Lippen. Es war Tatsache: es gab wirklich noch einen zweiten Weg, einen Weg, der eine langwierige und mühsame Untersuchung überflüssig machte, einen Weg, der – mein Gott, wenn es sich bewahrheitete! – gerade dorthin führte, wohin sie seit Tagen zu gelangen wünschten.

Warum war ihnen beiden das nicht gelungen?

»Sie sehen«, hörten sie den Professor inzwischen sagen, »Sie sehen, daß wir das zu betrachtende Gebiet auf ein Minimum einengen. Ein Bruchteil von Versuchen ist nötig. Ich möchte fast wetten, daß wir in kürzester Frist das Geheimnis entschleiert haben. Albertine!«

»Ja, Herr Professor?«

Mit fast militärischer Kürze und Bestimmtheit gab Professor Kröner seine Anweisungen.

Ehe zehn Minuten vergangen waren, saßen er und Dr. Pasch wieder an der Arbeit, während Albertine alle Hände voll zu tun hatte, um den Ansprüchen der beiden gerecht zu werden.

Dr. Santifaller aber saß und sah den beiden zu.

Ach, er war so schwach. Zwar hatte sich der Kräfteverfall in den letzten Tagen nicht mehr fortgesetzt. Seit der glücklichen Entdeckung des Dr. Pasch fühlte er eine Erleichterung, ja es war ihm fast so, als ob ihm auf eine geheimnisvolle Weise wieder Kraft zuströme.

Aber das konnte auch Einbildung sein.

Doch nun zog ja die Hoffnung wieder ein.

Bisher hatte der Professor noch für jedes Gift ein Gegengift ermittelt.

Warum sollte es hier, bei diesem Gift, mißlingen?

Mit welchem Eifer der Professor auf der Suche war. Wie sich seine Anordnungen und Befehle jagten!

Dr. Santifaller fühlte plötzlich eine tiefe Scham.

Diesem Mann, der nun mit solchem Eifer daran war, das Rettungsmittel für ihn zu finden, diesem Mann – es war gräßlich, daran zu denken – hatte er die unselige Tat, die ihn dem Tode nahegebracht hatte, eher zugetraut als dem Mädchen.

Es hatte Stunden gegeben, in denen er am liebsten geschrien hätte: »Laßt das Mädchen frei! Sie ist unschuldig! Aber greift nach diesem! Ihn halte ich der Tat für fähig.«

Und seltsam, er hatte das bestimmte Gefühl gehabt, daß auch Dr. Pasch sich mit ähnlichen Gedanken trug.

Sie hatten nie davon gesprochen, nie auch nur die geringste Andeutung gemacht. Und doch hätte Dr. Santifaller darauf schwören mögen, daß den anderen Ähnliches bewegte.

Vielleicht hatte sie beide der Haß verblendet, vielleicht sie beide die Zuneigung zu dem Mädchen …

Nein! Nein!

Hier gab es ein Hindernis des Weiterdenkens.

Darüber würde er nie im Leben hinwegkommen:

Josefa konnte … konnte es nicht gewesen sein.

Dr. Santifaller versuchte seine kraftlosen und gefühllosen Hände zu Fäusten zu ballen.

Das wollte, das konnte, das durfte er nicht denken. Das nicht!

*

Am dritten Tag nach der Rückkehr des Professors brach Schwester Albertine zusammen, einen Tag später Dr. Pasch.

Sie waren der übergroßen Anstrengung des Tag und Nacht währenden Dienstes nicht gewachsen.

Der Professor aber hielt durch.

Die Ermüdungserscheinungen, die sich bei ihm am Tage der Rückkehr gezeigt hatten, schienen gewichen zu sein.

Er schlief kaum, er aß wenig, trank nur von Zeit zu Zeit etwas starken Kaffee, trotz allen Mahnungen und Bitten des alten Lorenz, der ihm einen vollständigen Nervenzusammenbruch voraussagte.

Aber der Professor gab nicht nach.

Das Gift wehrte sich.

Schon war eine ganze Reihe von Versuchstieren zugrunde gegangen. Schon klagte der mit der Wartung der Versuchstiere beschäftigte Wärter, sein Tiergarten sterbe ihm aus.

Der Professor zuckte die Achseln, ließ frische Versuchstiere kommen, impfte und probierte weiter.

Der alte Lorenz, der sich nur noch mit Mühe aufrecht hielt, beschwor ihn, er möge sich, schon um der Sache selbst willen, schonen, sich Ruhe gönnen.

»Ich kann nicht«, murmelte der Professor.

»Sie müssen aber schlafen«, schrie der Alte förmlich auf.

Der Professor sah ihn mit einem seltsam geistesabwesenden Blick an.

Was wußte der Alte mit seinem gut gemeinten und doch so einfältigen Ratschlägen, worum es ging? Wußte er, daß es für ihn, den Professor, keine Ruhe mehr gab auf dieser Welt, wenn nicht in der Arbeit? Wußte er, daß er nicht schlafen konnte, daß selbst die stärksten Schlafmittel versagten, wußte er …?

Er wußte nichts von diesen grauenhaften Wachträumen, von dem entsetzensvollen Blick der zwei wachsamen Mädchenaugen, die wie mit einem Zauberbann auf ihm ruhten und die er überall, allüberall vor sich und auf sich gerichtet sah, nur nicht, wenn er seine Augen in die schimmernde Röhre seines Mikroskops senkte und sich dort vor ihm die Wunderwelt des Blutes auftat, wo Myriaden und Myriaden von winzigen Körperchen ihre Kämpfe ausfochten, einander bedrängten und verzehrten, einander halfen und sich vermehrten nach Gesetzen, denen er ewig auf der Spur war und die er einst zu beherrschen gehofft hatte.

Er und beherrschen!?

Er war ein Sklave geworden, ein Sklave peinigender Angst vor dem Blick Josefas, ein Sklave vor der Anklage seines Gewissens.

Nur eines wollte er noch erreichen, nur eines. Diesen einen Sieg über dieses tückische Gift, den letzten Sieg seines Lebens! Dann … was dann?

Nicht daran denken. Arbeiten, arbeiten, arbeiten!

In der achten Nacht nach seiner Rückkehr rief der Tierwärter durch den Hausfernsprecher an.

Bei dem einen der mit dem Giftstoff geimpften Tiere habe sich an der Impfstelle eine ungeheure Beule gebildet, die allem Anschein nach in kürzester Frist aufzubrechen drohe.

Der Professor versorgte sich mit allem nötigen Gerät, streifte sich ein Paar Gummihandschuhe über die Hände und eilte beim Schein einer elektrischen Taschenlampe quer durch den Garten in den Tierstall.

Das Versuchstier, ein junger Esel, fieberte hochgradig und war äußerst unruhig.

Mit Mühe gelang es den beiden Männern, das Tier an ein Eisengeländer zu drängen und zu fesseln.

Dann nahm der Professor den Schnitt vor.

Eine mißfarbene Flüssigkeit ergoß sich in die untergehaltene Schale, ein übler Geruch stieg auf.

Mit geübter Hand legten die beiden dem Tier einen Verband an und lockerten seine Fesseln so weit, daß es sich etwas bewegen, nicht aber den Verband erreichen konnte.

Dann kehrte der Professor in das Laboratorium zurück.

Er hatte keine Hilfe. In den Nachtstunden arbeitete er seit Albertinens Zusammenbruch allein. Keine der anderen Schwestern arbeitete ihm zu Dank. Josefa aber …

Der Professor stöhnte auf.

Mit fliegenden Händen bereitete er selbst das Präparat vor.

Nach Stunden war er so weit. Die Versuche konnten beginnen.

Es war inzwischen Tag geworden, dämmriges Licht flutete zäh durch die Fensterscheiben.

Der Professor wies durch den Hausfernsprecher die Nachtschwester an, ihm sofort eine Blutprobe Dr. Santifallers zu bringen.

Als sie erschien, riß er ihr das winzige Glasstiftchen förmlich aus der Hand.

Er schien so erregt, daß es die Schwester für gut hielt, noch ein wenig zu verweilen und ihn zu beobachten.

Sie alle im Hause wußten ja, daß der Professor früher oder später einen Zusammenbruch erleben mußte, wenn er sich nicht endlich Ruhe vergönnte.

Nun sah sie, wie der Professor mit zitternden Händen ein Präparat mit dem Blut Dr. Santifallers unter das Mikroskop schob.

Hatte er etwas gesagt?

Es hatte wie ein leises Brummen geklungen.

Und jetzt, was tat er jetzt? Jetzt nahm er offenbar eine Mischung vor. Er tauchte ein nadelförmiges Gerät in eine Schale zur Seite und übertrug in das bisher beobachtete Präparat einen winzigen Teil der dort enthaltenen Flüssigkeit.

Nun schob er das veränderte Präparat neuerlich unter das Mikroskop und beugte sich wieder über dieses.

Die Schwester stand mit gefalteten Händen.

Eine merkwürdige Unruhe hatte sie befallen.

Es war ihr, als müsse sie zum Professor hinspringen und ihm irgendwie helfen, denn jetzt, jetzt hob er die beiden Hände, stützte sie rechts und links vom Mikroskop auf die Glasplatte des Versuchstisches und jetzt …

War das ein menschlicher Laut gewesen?

Die Schwester öffnete erschrocken den Mund.

Jetzt klang der Laut wieder …

Das war der Professor gewesen …

Sie lief die wenigen Schritte zu ihm hin.

Hatte er das Geräusch ihrer Schritte gehört?

Auf einmal sah sie jäh sein Gesicht vor sich.

»Schauen Sie«, lallte er, »schauen Sie! … Das … das … das ist es. Das ist es … Jetzt habe ich … ich … ich … es doch noch erreicht. Das, das, so schauen Sie doch …!«

Er drängte die Schwester zum Okular hin und drückte ihr das Gesicht an den metallenen Ring.

Gehorsam sah sie durch.

Aber ihr sagte der Wirrwarr sich seltsam bewegender winziger Teilchen nichts.

»Sehen Sie?« stammelte er.

»Ja«, sagte sie mechanisch »... ja … ja …«

»Das ist es nun«, murmelte er, »das ist es nun endlich. Lassen Sie mich«, drängte er dann plötzlich und schob sie fast brutal vom Sitz wieder weg. »Rufen Sie den Pavillon an, den Versuchstierpavillon. Der Wärter soll bereit sein. Alle mit ›Luri‹ geimpften Tiere bereithalten, alle bereithalten …«

In unruhiger Geschäftigkeit bereitete er neue Geräte vor: Injektionsspritzen, Verbandzeug, Pinzetten …, dann lief er eilig zu den Versuchstieren.

*

»Wenn nicht alles trügt, so sind wir am Ziel«, sagte Doktor Pasch.

Er saß, noch nicht von seinem Zusammenbruch erholt, ein wenig bleich am Lager Dr. Santifallers.

»Mein Gott, wann's möglich wär«, flüsterte dieser, noch ohne rechten Glauben an die wundersame Botschaft.

Dr. Pasch aber schien überzeugt. »Alle Versuche an den Tieren sind positiv verlaufen, alle Versuche an ihren Blutproben ebenso.«

»Und warum wartet er dann, der Professor?«

Dr. Pasch hob den Kopf. »Das Mittel ist stark. Er will, so sagt er, es noch etwas abdämpfen, damit der Schock nicht zu stark wird. Vielleicht …«

Aber Dr. Pasch kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu führen.

Die Tür ging auf und der Professor trat ein, dicht gefolgt von einer Schwester, die ihm eine Tasse mit Gerätschaften nachtrug.

Dr. Santifaller suchte sich auf seinem Lager aufzurichten. »Oh, Herr Professor selbst …«, stotterte er.

Professor Kröner winkte kurz ab und bedeutete ihn, liegenzubleiben.

»Wir wollen den ersten Versuch machen«, sagte er.

Seine Stimme klang heiser. Seine Augen wichen denen Doktor Santifallers aus.

»Es kann sein«, setzte der Professor fort, »daß die erste Wirkung des Gegengiftes sehr stark ist und Sie stark in Anspruch nimmt. Aber wer nicht wagt …«

Er heftete seinen Blick plötzlich mit starrem Ausdruck auf Dr. Santifaller.

»I trau mi scho«, murmelte der. »Besser als wie elendig krepieren. Im schlimmsten Fall wird halt das Verfahren abgekürzt«, versuchte er einen leichten Scherz.

Aber der Professor schien dies nicht gehört zu haben.

Schon war er mit seinen Gerätschaften beschäftigt, schon hatte Dr. Pasch die Brust Dr. Santifallers freigelegt und die Einspritzstelle mit Äther gereinigt.

»In Gottes Namen«, flüsterte die Schwester.

Der Professor hielt die Spritze bereits in der Hand.

Aber diese Hand zitterte, zitterte so stark, daß Dr. Pasch dem Professor das Gerät mit einer ruhigen Bewegung aus der Hand nahm. »Lassen Sie mich, Herr Professor …«, sagte er.

Er hatte gefürchtet, daß der Professor aufbrausen würde.

Aber zu seiner angenehmen Überraschung geschah das nicht.

Der Professor nickte bloß müde und murmelte leise: »Ich muß wohl, ich muß wohl …«, und sah mit zusammengepreßten Lippen zu, wie Dr. Pasch mit seiner durch Tausende von Einspritzungen geübten Hand die Nadel unter die Haut des Kranken einführte und langsam die Flüssigkeit einströmen ließ.

»Hoffen wir das Beste«, sagte er stark, als die Glasröhre leer war und er die Spritze herausziehen konnte.

Dr. Santifaller hatte den kleinen Eingriff mit größter Ruhe über sich ergehen lassen.

»Jetzt aber, Herr Professor«, meinte er, »jetzt müssen Sie ein paar Tage Rast einschieben, net wahr?«

Professor Kröner hob die Augenbrauen und sah ihn starr an.

»Rast?« murmelte er, »Rast?«. Er schüttelte langsam den Kopf. »Wenn das Mittel wirkt, wenn es das Gesuchte ist, dann …«

»Herr Professor!« Dr. Pasch war aufgesprungen und hatte den Wankenden unwillkürlich gestützt.

Aber Professor Kröner hatte sich schon wieder in der Gewalt. »Es ist nichts«, flüsterte er. »Es ist nichts«, wiederholte er stärker. Sein ausgestreckter Finger deutete auf Dr. Santifaller. »Achten Sie, achten Sie auf den da, achten Sie auf ihn und geben Sie mir Nachricht, sobald sich irgendwelche beunruhigende Erscheinungen zeigen. Verstehen Sie?«

»Jawohl, Herr Professor.«

*

Der Kampf, den Gift und Gegengift im Körper Dr. Santifallers ausfochten, beanspruchte die ohnehin so stark zusammengeschmolzenen Lebenskräfte Dr. Santifallers auf das höchste. Am zweiten Tag nach der Injektion verlor er das Bewußtsein.

Alle zwei Stunden ließ sich der Professor eine Blutprobe Doktor Santifallers bringen.

Am Abend des zweiten Tages erwies sich eine Kampferinjektion als nötig; denn das Herz des Kranken drohte auszusetzen.

Professor Kröner kam selbst in das Krankenzimmer. Stumm saß er Dr. Pasch gegenüber, der auf der anderen Seite des Bettes Platz genommen hatte. Sein Gesicht war, wie Dr. Pasch erschrocken feststellte, grau. Die Augen waren tief in ihre Höhlen zurückgesunken, die Lippen blutleer. Sie zitterten leicht. Von der sonst so aufrechten Haltung des Professors war nichts zu merken. Er war in sich zusammengefallen.

Unruhig huschte sein Blick immer wieder über das magere Antlitz des Kranken, forschend, ob sich nicht der gefürchtete Schatten des Todes darüberbreitete und die Haut die schrecklich fahle Farbe annahm, die dem Arzt ankündigte, daß er sein Spiel verloren habe.

Dr. Pasch fühlte ein leises inneres Zittern. Das waren wohl jetzt die Stunden der Entscheidung.

Wenn es dem Professor gelang, auch dieses Opfer dem anscheinend schon sicheren Tod zu entreißen, dann, dann wollte er nicht mehr gegen ihn aufbegehren, dann war er wirklich der große Mann, der den Kampf mit dem Tod aufzunehmen berechtigt war.

Dann wollte er ihm alles abbitten und wieder in sein gewohntes Geleise zurückkehren und sich bescheiden.

Aber würde es gelingen? Konnte es überhaupt gelingen?

Wieder heftete er seinen fragenden Blick auf den Professor.

Da hob dieser, als habe er die Frage körperlich empfunden, die Augen und sagte mit leiser, brüchig klingender Stimme:

»Der Weg ist richtig. Der Weg ja … an seiner Kraft liegt es nur mehr. Nur an seiner Kraft.«

Es war Dr. Pasch so, als huschten diese Worte von einer Wand des Krankenzimmers zur anderen, als flüsterten Geister sie einander zu.

Dann war es wieder still im Raum, und nur die leisen Schritte der Schwestern im Krankensaal des oberen Stockwerkes klangen ganz leise herab.

Der Professor nahm eine neue Blutprobe ab und eilte mit ihr ins Laboratorium.

Dr. Pasch beobachtete unentwegt den Kranken.

Ob der geschwächte Körper noch die Kraft aufbringen würde, diese Beanspruchung zu überstehen.

Mit einer fast zärtlichen Bewegung legte er seine Hand auf die abgezehrten Finger Santifallers.

Welch furchtbarer Verlust für die Wissenschaft, wenn dieser Mann stirbt, ging es ihm durch den Sinn. Kein Wunder, daß der Professor den Wetteifer dieses genial veranlagten Mannes gefürchtet hatte. Dieser Dr. Santifaller war ihm dicht auf den Fersen. Bei der gemeinsamen Arbeit im Laboratorium hatte Dr. Pasch all dies erkannt.

Der Professor ging einen streng verstandesmäßig vorgezeichneten Weg. Vor der Klarheit seines Denkens, vor der Folgerichtigkeit seiner Versuche waren die Hindernisse Zug um Zug gesunken. Es war tatsächlich ein geniales Schachspiel gewesen, in dem er den König Tod immer weiter und weiter in der Richtung auf eine »Matt«-Stellung gedrängt hatte.

Dr. Santifaller hingegen arbeitete mit wenig Erfahrung, mit wenig klar vorgezeichnetem Plan, aber in seinen Versuchen blitzte oft und oft ein wunderbarer Funke genialer Erkenntnis auf.

Wenn dieser Dr. Santifaller gesund wurde, welche schier unwahrscheinlichen Erfolge mußte er auf dem Weg erzielen, auf dem der Professor die Bahn gebrochen hatte.

Was bedeutete er, Dr. Pasch, mit seinen geringen Fähigkeiten, trotz allem Fleiß und allem guten Willen gegenüber diesem Mann!

Und der sollte sterben müssen?

Sterben, weil …

Ein Seufzer stieg aus Dr. Paschs Brust auf.

Wie hatte er dieses Mädchen geliebt. Wie war sie ihm als die Erfüllung seines Traumes von einem fürsorglichen, liebevollen, sanften und liebenswerten Weib erschienen!

Wenn er alles in seinem Leben verwand. Diese Enttäuschung würde er nie überwinden können.

Er wußte ja wohl, daß er Josefa an Dr. Santifaller verloren hatte. Er hatte ihr wohl nie mehr bedeutet als ein guter Kamerad, mit dem sie gerne einmal ein wenig spazierenging, ein Theater besuchte.

Den anderen hatte sie geliebt, geliebt wohl mit aller Kraft ihrer Seele, bis …

Konnte das aber eine gesunde Liebe sein, die zu einer solchen Tat fähig war …?

Er stöhnte wieder auf. An diese Tat zu glauben, nein, nicht zu glauben, bloß an sie zu denken, verursachte ihm regelmäßig einen fast körperlichen Schmerz.

»Josefa!«

Er hatte den Namen unwillkürlich laut gesprochen.

Aber da war plötzlich noch ein zweiter Laut im Raum. Er kam nicht von ihm, nein, der kam von dem Kranken her.

Hatte sich der Bewußtlose gerührt?

Ja! Er bewegte sich. Er stöhnte.

Dr. Pasch erhob sich rasch. Jetzt konnte der Augenblick kommen, in dem es sich um Leben oder Tod handelte, der darüber entschied, ob …

Dr. Pasch konnte den Gedanken nicht mehr zu Ende denken.

Denn Dr. Santifaller schlug die Augen auf.

Die wanderten einen Augenblick lang unruhig über die Decke des Zimmers, dann blieben sie auf ihm haften. Sie waren klar und verständig, diese Augen.

Und Dr. Santifaller öffnete mühsam den Mund und sagte: »Wasser, bitte, Herr Doktor, Wasser!«

Zwei Minuten später sank Dr. Santifaller mit einem glücklichen Aufseufzen in seinen Polster zurück.

Seine Lippen murmelten noch einige unverständliche Worte, sie mochten wohl einen Dank bedeuten, dann hatte er die Augen geschlossen und lag wieder regungslos.

Aber es war deutlich, daß er ruhig atmete.

Sollte, konnte das den ersehnten Umschwung bedeuten?

Hinter Dr. Pasch ging die Tür.

Der Professor trat ein. »Das Ergebnis ist in hohem Grad günstig. Die Rückbildung macht die besten Fortschritte. Wenn jetzt der Doktor …«, er hielt mitten im Reden inne und sah den Schlafenden starr an.

»Er schläft ruhig«, sagte er erstaunt. Seine Augen wanderten zu Dr. Pasch hinüber.

Der nickte und berichtete kurz von dem anscheinend glücklichen Umschwung.

Aber wenn er erwartet hatte, daß sich die Züge des Professors aufhellen würden, dann hatte er vergebens gehofft. Der Professor hielt, während Dr. Pasch sprach, die Augen geschlossen und hörte etwa in der Haltung zu, in der Blinde der Stimme anderer horchen, den Kopf emporgereckt und das Kinn erhoben.

In dieser Haltung verharrte er auch, als Dr. Pasch geendet hatte. Erst nach einer längeren Weile atmete er tief auf und hob die Augenlider. Mit einer fast scheuen Gebärde trat er an das Lager Dr. Santifallers und lauschte dessen gleichmäßigen Atemzügen.

Er stützte, sich tief herabbeugend, beide Fäuste auf den Bettrand und nickte langsam vor sich hin, immer langsamer und langsamer, und dann sah es einen Augenblick so aus, als suche er einen Halt, um nicht über dem Kranken zusammenzubrechen. Endlich stemmte er sich empor.

»Die Krisis ist überwunden«, flüsterte er. »Er … er … wird es überstehen, er … ja!«

»Dann werden Sie einen großen Sieg errungen haben«, meinte Dr. Pasch. Er wollte noch ein anerkennendes Wort hinzufügen. Er kam nicht dazu.

Denn der Professor hatte grell aufgelacht. »Einen Sieg?« Er schüttelte den Kopf, indem er das Wort wiederholte: »Einen Sieg?« Ein Fieberfrösteln lief über seine Gestalt.

»Mir ist kalt«, hauchte er fast unhörbar. »Mir ist so kalt …«

»Sie haben sich furchtbar überanstrengt, Herr Professor«, suchte ihn Dr. Pasch zu begütigen. »Gehen Sie doch jetzt in ihre Wohnung und schlafen Sie ein wenig.«

»Schlafen …?« murmelte der Professor. »Schlafen … wie soll ich schlafen?«

Dr. Pasch sah sich um, als müsse er irgend jemand zu Hilfe rufen. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Professor. Warum sollen Sie nicht schlafen können, wenn doch jetzt …?«

Der Professor hob die linke flache Hand wie zur Abwehr. Wieder ging das Frösteln über seine einst so hohe und jetzt so gebeugte Gestalt, ein geistesabwesender Blick flog an Dr. Pasch vorbei ins Leere. Und dann bewegten sich seine Lippen.

Dr. Pasch beugte sich vor. Was hatte er gesagt?

Hatte es nicht geklungen, als hätte er »Josefa!« gemurmelt?

Und jetzt, jetzt klang es noch einmal ganz deutlich mit einem erschreckenden Unterton von Qual: »Josefa … Jo … se … fa …«

In einer Aufwallung warmen Mitleids trat Dr. Pasch an den Professor heran und stützte den Wankenden.

Nie hätte er den Professor für fähig gehalten, daß er einer solchen Regung unterlag. Hatte er das Mädchen so hoch eingeschätzt oder gar … wie wunderlich … so geliebt, daß er ihre Tat so quälend empfand?

Wie eisig kalt sich die Hand des Professors anfühlte!

»Kommen Sie, Herr Professor«, sagte er gutmütig, »ich begleite Sie hinunter.«

Damit machte er einen Schritt gegen die Tür, den Professor mit sich ziehend.

Aber da erwachte dieser aus seiner Geistesabwesenheit. »Was ist? Was wollen Sie?« Er schüttelte die Hand Dr. Paschs ab.

»Weiter gar nichts«, gab der geduldig zurück, »ich wollte Sie hinunterführen.«

»Hinunterführen?« Der Professor fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Nein. Ich gehe schon. Ich kann schon allein gehen …« Er neigte plötzlich den Kopf vor und sah auf das Winkelwerk der sich kreuzenden Parketten. »Mein Weg …«, murmelte er, »mein Weg …, wo ich gehe, da … da … soll niemand mit mir …«

Er brach jäh ab und starrte, den Kopf wendend, Dr. Pasch an. »Es ist nichts. Legen Sie der Sache keine Bedeutung bei. Es … es geht ja vorüber. Ich danke Ihnen.«

Er reckte sich auf und schritt, beinahe wie in der Zeit seiner besten Kraft, aus der Tür.

Dr. Pasch sah ihm betroffen nach und wäre vielleicht noch lange in dieser verwunderten Haltung verblieben, wenn sich die Tür nicht neuerlich geöffnet hätte.

Es war der Professor. »Ich nehme noch eine Blutprobe mit …«, sagte er in dem gewohnten herrischen Ton. »Rufen Sie mich nach einiger Zeit im Hausfernsprecher an. Ich werde Ihnen das Ergebnis mitteilen.«

*

Eine Stunde später knarrte das Meldewerk des Hausfernsprechers auf dem Schreibtisch des Professors im Laboratorium.

Der Professor hob den Hörer ab. »Die Sache ist in Ordnung, Herr Kollege«, sagte er. »Die Blutprobe bestätigt den Verlauf. Wir können Doktor Santifaller als gerettet betrachten. Geben Sie ihm in der bei uns üblichen Weise morgen eine abgeschwächte und übermorgen eine Vierteldosis, Herr Kollege. Leben Sie wohl.«

Schwester Käthe, eine ältere Person, die an Stelle von Albertine den Dienst im Laboratorium übernommen hatte, horchte auf. Das war wieder die Art des Professors. Was für ihn nicht weiter von Interesse war, das schob er den anderen zu. Der Fall Santifaller war demnach für ihn erledigt.

»Es ist fünf Uhr«, sagte der Professor, »rufen Sie Lorenz.«

Der Alte erschien.

»Sie haben sich in der letzten Zeit sehr gut gehalten, Lorenz«, sagte der Professor, an ihm vorbeisehend. »Ich werde das zu würdigen wissen. Sie verdienen sich nach dieser Leistung Ruhe. Wir brechen heute frühzeitig ab. Sie können Ihre Sachen zusammenräumen und gehen. Auch Sie, Schwester Käthe.«

Lorenz lispelte etwas wie ›Aber durchaus nicht nötig, er könne gewiß noch …‹

Aber die Schwester nahm ihn an der Hand und drängte ihn durch die Tür hinaus.

»Danken Sie Gott, daß er Sie laufen läßt. Sie sind doch ohnehin schon halb tot, Herr Lorenz. Und glauben Sie, ich habe Lust zusammenzufallen wie Albertine? Packen Sie Ihre sieben Zwetschken. Gehen wir.«

Als Lorenz eine Viertelstunde später die Tür zum Laboratorium vorsichtig öffnete, sah er den Professor schreiben. »Ich gehe jetzt, Herr Professor.«

»Ist gut, Lorenz.«

Der Alte schloß die Tür und ging, nachdem er Hut und Mantel aus seinem Kleiderkasten genommen hatte, zum Ausgang.

»Merkwürdig«, sagte er im Selbstgespräch, »er muß sehr kaputt sein, daß er so früh Schluß macht. Eigentlich bliebe ich lieber …«

Er zögerte. Aber dann sperrte er sorgfältig ab und schlürfte davon.

*

»Wie stehen Sie mit der Untersuchung im Falle Kronlachner, Herr Kollege?« fragte der Gerichtspräsident den Untersuchungsrichter.

Dr. Lenninger hob leicht die Achseln. »Ich bin im großen und ganzen eigentlich fertig, Herr Präsident. Es steht lediglich noch die Vernehmung des Professors Kröner aus.«

»Und warum dauert das so lange?«

»Professor Kröner hat um Aufschub gebeten, da er alles daransetzen wolle, den vergifteten Doktor zu retten. Er behauptet, daß er Tag und Nacht an Versuchen sei und die Hoffnung habe, sein Ziel zu erreichen. Ich habe, da sonst keine Bedenken bestehen, die Angeklagte alles eingestanden hat und der Fall ohnehin klar liegt, keinen Grund gesehen, den Aufschub zu verweigern.«

Der alte Herr senkte zustimmend den von einem Strahlenkranz weißer Haare umgebenen Kopf. »Und die Angeklagte?«

»... verhält sich vollkommen ruhig. Der Wärter meldet – ich habe es übrigens auch einmal beobachten können –, daß sie Tag für Tag und Stunde für Stunde auf ihrem Bett sitzt, den Kopf an die Wand gelehnt und einen Punkt auf der gegenüberliegenden Wand der Zelle beobachtet, mit einem eigentümlich starren Blick. Selbst wenn er ihr das Essen bringt, verharrt sie in dieser Stellung.«

»Von Reue keine Spur?«

»Von der in solchen Fällen regelmäßig eintretenden Zerknirschung habe ich merkwürdigerweise nichts bemerken können. Sie ist überhaupt die schweigsamste Person, die ich bisher in solchen Lagen kennengelernt habe. Sie wiederholt einförmig ihr Geständnis, mit ähnlichen Worten, beinahe so, als hätte sie es eingelernt.«

Der alte Herr hob den Kopf. »Eingelernt?«

Dr. Lenninger machte eine leise Verbeugung und richtete sich die Hornbrille auf der Nase zurecht.

»Jawohl, Herr Präsident. Ich habe das auch im Anfang für verdächtig gehalten. Aber die Überprüfung aller Angaben hat bis in die kleinste Kleinigkeit hinein gestimmt. Das Verbrechen war raffiniert angelegt und wäre nie zu entdecken gewesen, wenn sie nicht selbst gestanden hätte. Die Rasur auf dem Karteiblatt war nur mit dem Mikroskop zu sehen. Die Ziffer war keine fünf Millimeter hoch und der mit dem Messer herausgekratzte Teil vielleicht ein Viertelmillimeter. Selbst wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, all die vielen Tausende von Karteiblättern auf eine solche Rasur zu untersuchen, es wäre kaum je zutage gekommen.«

»Und welchen Leumund genießt die Person?«

»Ihre Kolleginnen haben ihr ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt. Sie sei dem Professor und dann dem Doktor Santifaller sklavisch ergeben gewesen. Den Schwestern gegenüber habe sie sich unkameradschaftlich verhalten. Außerdem sei sie hochmütig und verschlossen gewesen.

Die in der Heilanstalt Kröner angestellten Ärzte hingegen und der Laboratoriumsdiener erklären, sie könnten es bis jetzt und trotz dem Geständnis des Mädchens nicht glauben. Sie sei … na ja, was Männer in solchen Fällen eben sagen … der reinste Engel gewesen.«

Der Gerichtspräsident hob die Zigarre zum Mund und blies nachdenklich den Rauch von sich.

»Und eine Täterschaft einer anderen Person, Herr Kollege?«

»Kommt nicht in Frage, Herr Präsident. Es gibt nur zwei Schlüssel zu dem Giftschrank. Den einen hatte sie, den anderen hatte der Professor selbst. Er war aber zur Zeit, als das Verbrechen geschah, seit Wochen in Brasilien. Seine Abwesenheit hat ja eben die Angeklagte in dieser raffinierten Weise ausgenützt. Denn sie hat genau gewußt, daß der Professor alles daransetzen werde, den Ruf seiner Anstalt zu wahren und Doktor Santifaller zu retten.«

Der alte Herr hob den Kopf und fuhr sich mit dem Daumennagel der linken Hand über den Nasenrücken. »Wir haben allen Grund, lieber Herr Kollege«, sagte er dann, »den Fall besonders heikel zu behandeln. Es dreht sich um den Ruf einer weltberühmten Anstalt, Professor Kröner ist eine ganz erste Größe auf seinem Gebiet. Aber ich möchte die Angelegenheit nicht allzu sehr in die Länge ziehen. Ich wünsche, daß der Fall erledigt wird. Es wird daher gut sein, wenn Sie die Vorladung des Professors Kröner beschleunigen.«

»Ich war der Meinung, Herr Präsident …« Dr. Lenninger erhob sich mit einer Miene, die deutlich zeigte, daß er aus den Worten des Vorgesetzten einen Vorwurf, eine Rüge herausgehört zu haben glaubte.

Der alte Herr lächelte und unterbrach den kaum begonnenen Satz. »Ich habe Ihnen keinen Vorwurf gemacht, lieber Herr Kollege. Es ist nur eine uralte Erfahrung im Gerichtsleben, daß selbst Fälle, die als abgeschlossen zu den Akten gelegt worden sind, zu einem merkwürdig neuen Leben erwachen. Um wieviel leichter solche, die – wie dieser hier – noch nicht ihren Abschluß gefunden haben.«

Er nickte dem Untersuchungsrichter freundlich zu.

»Ich schreibe noch heute, Herr Präsident.«

*

Der alte Herr sah dem davoneilenden jungen Beamten mit einem leisen Lächeln nach. Dann ließ er sich von seiner Sekretärin die Unterschriftenmappen vorlegen, krakelte seine steife Unterschrift unter die zahlreichen Briefe, entließ das Mädchen mit einem kleinen Scherz und klingelte dem Diener, der gleich darauf mit Hut und Stock in der Tür erschien.

»Ich komme morgen erst …«, begann der Präsident.

Der Fernsprecher unterbrach ihn. Der alte Herr nahm den Hörer auf. »Ich bin eben im Weggehen, Herr Kollege«, hörte ihn der Diener sagen. »Wenn es nicht sehr wichtig ist, lieber nicht, Herr Kollege … Na ja, in Gottes Namen.«

Mit einem leicht ärgerlichen Ton waren die letzten Worte gesprochen. »Ich bleibe noch, Weinzinger!«

Der Diener verbeugte sich und verschwand. Eine Minute später öffnete er mit einem verwunderten Blick Dr. Lenninger die Türe.

Der junge Richter machte einen vollkommen verstörten Eindruck. »Verzeihung, Herr Präsident«, stotterte er, »wenn ich noch einmal störe. Aber … aber …«, er hob die Hand mit einer hilflosen Gebärde …

Mit einer ruhigen Handbewegung bot der Präsident dem Beamten Platz an. »Was hat Sie plötzlich so in Aufregung versetzt, Herr Kollege?«

Dr. Lenninger schien die Einladung, Platz zu nehmen, überhört zu haben. Er hob dem Präsidenten einen Briefumschlag entgegen und sagte tonlos: »Ein Brief von Professor Kröner.«

Der alte Herr streckte die Hand aus, um den Brief entgegenzunehmen.

Aber Dr. Lenninger zog ihn wieder an sich. »Herr Präsident … Herr Präsident … Professor Kröner hat … in der vergangenen Nacht Selbstmord begangen.«

»Oh!« Der alte Herr war nun doch aus seiner bisherigen Ruhe aufgefahren: »Selbstmord?«

»Ja, Herr Präsident! Sein Laboratoriumsdiener, ein gewisser Lorenz, ist da. Vollkommen außer Fassung. Er hat einen Brief vom Professor vorgefunden, in dem ihm dieser auftrug, dieses Schreiben hier unverzüglich in unserem Amt abzuliefern.«

Präsident Grontaler runzelte die Stirne. »Geben Sie mir das Schreiben, Herr Kollege, und veranlassen Sie, daß der Mann sofort hierherkommt.«

»Jawohl, Herr Präsident!«

*

Bleich und zitternd betrat der alte Lorenz den Raum. Seine ohnehin so kümmerliche Gestalt schien ganz in ihre eigene Nichtigkeit zusammengesunken. Seine Augen liefen ohne Ziel im Kreis umher, die Worte, die der alte Herr zu ihm sprach, drangen sichtlich nur langsam zu seinem Gehirn vor.

Nur ein leises Stöhnen drang von Zeit zu Zeit zwischen seinen dünnen Lippen hervor.

»Sie sind Laboratoriumsdiener bei Professor Kröner?«

Der alte Mann schrak auf, sah entsetzt um sich und hob die Hände beschwörend vor sich in die Höhe.

»Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr … Herr …«

»Lorenz, zu dienen, Andreas Lorenz, hoher Gerichtshof.«

»Sie sind jetzt nicht vor Gericht und haben keine Aussage zu Protokoll zu geben, Herr Lorenz. Ich will jetzt bloß wissen, unter welchen Umständen Sie zu diesem Brief von Professor Kröner gekommen sind.«

Der Alte schluckte auf und fuhr sich dann über die Stirne.

»Zweiundzwanzig Jahre, Herr Richter, bin ich jetzt …«

»Ganz kurz, Herr Lorenz. Keine lange Erzählung. Seit wann wissen Sie von diesem Brief?«

»Seit zwei Stunden, Herr Richter. Seit zwei Stunden. Ich war ganz ruhig bei meiner Arbeit im Vorzimmer vom Herrn Professor. Auf einmal hörte ich einen Schrei. Gott verzeih mir, Herr Richter«, der Alte begann wieder zu zittern, »ich habe noch nie im Leben so schreien gehört. Eine weibliche Stimme war es.«

»Woher kam der Schrei?«

»Aus der Privatwohnung vom Herrn Professor, Herr Richter. Die Schwester Käthe war es, die was jetzt im Laboratorium Dienst macht, seit … seit … unsere Josefa …«, der Alte schluckte wieder auf.

»Was haben Sie getan, als Sie den Schrei hörten?«

»Ich … ich bin gelaufen, so rasch ich nur konnte. Da ist sie mir auch schon entgegengekommen, die Schwester Käthe. ›Lorenz!‹ hat sie geschrien, ›Lorenz!‹, und hat gegen die Wohnung hingedeutet und ist mit mir umgekehrt und hat mich mitgerissen. Ich habe gar nicht so rasch laufen können. Und dann waren wir im Zimmer vom Herrn Professor … und da … da … ist er gelegen. Schrecklich!«

Der Alte machte eine Bewegung, als beutle er eine schwere Last ab.

»Er hat eine ganz furchtbare Dosis Schlafmittel genommen und dazu noch von einem der schnell wirkenden Gifte ebenfalls eine ganz große Dosis.« Der Alte schüttelte den Kopf und flüsterte weiter. »Er war schon ganz kalt … Der Tod muß rasch eingetreten sein. Schon in der Nacht.«

»Wie kommt es, daß Sie erst um vierzehn Uhr …«

»Herr Richter«, der Alte richtete sich auf. »Der Herr Professor hat viele Nächte nicht geschlafen, nahezu vierzehn Tage hindurch. Wir alle haben geglaubt, er wird es nicht überstehen können. Er hat ja nur immer wieder Versuche gemacht, um den Doktor Santifaller zu retten, bis … ja, bis es ja jetzt gelungen ist …«

»Tatsächlich?« Die beiden Herren hatten es wie aus einem Mund gerufen.

»Jawohl. Der Herr Doktor Santifaller ist auf dem Weg der Besserung. Der Herr Professor hat das Gegengift geschaffen. Es wirkt … jawohl, es wirkt … und jetzt … jetzt hat er … oh, es ist alles gräßlich. Die Frau Professor, die ja geistesgestört ist seit ein paar Wochen, die ist durch das Geschrei auch aufmerksam geworden und ist gekommen. Die sitzt jetzt bei ihm wie eine Bildsäule und spricht kein Wort und starrt ihn nur fortwährend an …«

»Und dieser Brief hier?«

»Jawohl, Herr Richter. Es lagen neben seinem Bett auf dem Tisch eine ganze Menge Briefe, einer war auch für mich dabei.«

Dem alten Mann schnappte wieder die Stimme über. »Mein Gott, dieser Brief … Der Herr Professor hat mir Geld, so viel Geld …«

»Herr Lorenz, das ist für uns jetzt nebensächlich. Um diesen Brief hier dreht es sich, den Sie mir gebracht haben.«

»Ja, der lag auch dort, und in dem Brief an mich da stand, ich solle diesen Brief unverzüglich hierhertragen. Der Herr Polizeikommissär, der oben amtiert, hat es mir auch geraten, Herr Richter.«

»Wir danken Ihnen, Herr Lorenz, Sie können wieder heimgehen.«

Umständlich drehte sich der verzweifelte Alte aus der Tür.

Bleich stand Dr. Lenninger dem Präsidenten am Schreibtisch gegenüber.

Mit ruhigen Bewegungen öffnete der Präsident den Brief und begann zu lesen. Sobald er einen Briefbogen durchgelesen hatte, übergab er ihn Dr. Lenninger.

So lasen die beiden:

»Dem Herrn Untersuchungsrichter des ›Falles Kronlachner‹.

Angesichts des Todes, dem ich in wenigen Stunden verfalle, habe ich nur noch eine einzige große Aufgabe: zu verhüten, daß eine Unschuldige für eine Tat büßt, die sie nicht begangen hat.

Josefa Kronlachner ist unschuldig. Nicht sie hat Dr. Santifaller das Gift verabreicht, das den Tod bringen sollte. Diese Tat fällt mir zur Last.

Ich will meine Tat nicht entschuldigen, sondern nur erklären.

Bevor Dr. Santifaller mit seinen Untersuchungen die Augen der wissenschaftlichen Welt auf sich lenkte, war ich unumschränkter Herr dieses bisher noch viel zu wenig bearbeiteten Gebietes. Mein Name hatte und hat heute noch Weltruf, mein Urteil war unanfechtbar. Das erfüllte mich mit hohem Stolz. Dieser Stolz war auch mein Glück. Meine Untersuchungen berechtigten mich zu der Hoffnung, es werde mir gelingen, dem Tod jede Beute abzujagen, soweit der Körper des betreffenden Kranken nicht durch Altersschwäche zermürbt war.

Dr. Santifallers Untersuchungen und Erfolge, seine geniale Art des Vorgehens gefährdeten diese meine Stellung. Ich hatte in ihm einen Nebenbuhler zu fürchten, der mich binnen kurzem in den Augen der wissenschaftlichen Welt an die zweite Stelle rücken mußte.

Ich habe seit dem Auftreten Dr. Santifallers keinen ruhigen Augenblick mehr gehabt. Ich versuchte, ihn auf eine andere Bahn zu lenken, ihn aus meinem Geleise zu entfernen, seine Untersuchungen lahmzulegen.

Es gelang mir nicht.

Ich sehe es heute ein, daß ich schon allein damit der Wissenschaft und in weiterer Folge der Menschheit gegenüber eine schwere Schuld auf mich geladen habe. Aber ich konnte nicht anders. Ich war blind, oder besser gesagt, ich sah nur mehr die drohende Gefahr der Untergrabung meines Ansehens.

Als nun Dr. Santifaller auch die Liebe meiner Frau gewann und mir neben dem Glück meiner wissenschaftlichen Erfolge auch das eheliche Glück zerstörte, war es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei. Ich schritt zur Tat.

Ich wählte ein Gift, das, wie ich vermutete, in seiner Wirkung niemand in der Heilanstalt bekannt war außer mir, und suchte die Entnahme dieses Giftes so gut wie nur irgend möglich zu verdecken.

Es ist mir unbekannt, wie sich Josefa in den Besitz dieser Kenntnis hat setzen können, wie es ihr möglich war, die nur mit feinsten Instrumenten erkennbare Rasur zu entdecken.

Ich richtete es so ein, daß ich für nahezu ein halbes Jahr abwesend sein konnte, so daß der Verdacht nicht auf mich zu fallen vermochte. Ich konnte mit großer Sicherheit annehmen, daß Doktor Santifallers Tod einer Unachtsamkeit, einem Unfall, einer kaum merkbaren Infektion zugeschrieben werden würde, um so mehr, als das Gift ›Luri‹ für Europa eine vollkommene Neuheit bedeutete.

Mein Plan mißlang.

Als ich dies erkannte, habe ich alles darangesetzt, meine Tat soweit wie möglich ungeschehen zu machen.

Ich weiß, es wäre größer, wenn ich mich dem Gericht stellte. Das vermag ich nicht. Das erträgt mein Stolz nicht. Auch will ich nicht, daß der Schatten meiner Tat auf die Heilanstalt fällt, die so vielen Menschen das Leben gerettet hat und in Hinkunft retten wird. Ich bitte das Gericht, den Fall um dieser Gründe willen nicht öffentlich zu machen.

Ich habe vor einer Stunde Gift genommen und werde nunmehr eine so starke Dosis Schlafmittel zu mir nehmen, daß eine Gefahr, zu erwachen, nicht mehr besteht.

Meine letzten Worte sollen eine Bitte umfassen.

Man gebe Josefa Kronlachner so rasch wie möglich die Freiheit wieder. Ich beuge mich vor der menschlichen Größe dieses einfachen Landmädchens, das mich durch seine schier unwahrscheinliche Opferbereitschaft besiegt hat.

Ich hatte einmal gehofft, den Tod mattsetzen zu können. Ich war schwach genug, ihn einmal zu rufen, um mir einen Vorteil zu schaffen.

Nun schlägt der gewaltige Gegner zurück und greift nach mir.

Ich strecke die Waffen.

Den Ruf meiner Heilanstalt – ich wiederhole meine Bitte – möge das Gericht schonen.«

*

Der Präsident betrachtete, bevor er den Brief weglegte, noch einmal die kraftvoll zügige Unterschrift des Professors, dann reichte er Dr. Lenninger das letzte Blatt. Während dieser das Schreiben zu Ende las, erhob sich der alte Herr und ging langsam auf und ab.

»Sehen Sie«, sagte er, als der junge Richter das Blatt sinken ließ und ihn stumm anblickte, »sehen Sie. So geht es auf der Welt. Ein Mann, den die Welt groß und berühmt nennt, ist seiner nicht Herr genug, wie ein anständiger Mensch zu handeln, opfert nicht bloß ein Menschenleben durch gemeinen Mord, sondern wagt es, den Fortschritt der Wissenschaft, soweit er seinen eigenen Ruhm beeinträchtigt, nach seinem Belieben aufzuhalten. Ein Genie wahrscheinlich, höchstwahrscheinlich sogar, aber … kein Charakter.

Und ihm gegenüber dieses einfache Landmädchen, das, um den geliebten Mann zu retten, alles, aber auch wirklich alles, was es besitzt, aufs Spiel setzt, seine Ehre, seine Freiheit, vielleicht sogar sein Leben. Vielleicht kein Genie, das Mädchen, höchstwahrscheinlich sogar, aber ein Charakter.

Aber jetzt genug der Worte, Herr Kollege. Wir haben jetzt noch eine Pflicht: dem Mädel zu sagen, daß seine Enthaftung bevorsteht. Ich freue mich, das Mädel bei dieser Gelegenheit kennenzulernen. Veranlassen Sie, Herr Kollege, daß die Staatsanwaltschaft Stellung nimmt und daß das Mädchen, bis die Formalitäten bereinigt sind, alle denkbaren Erleichterungen genießt.«

Dr. Lenninger machte eine zustimmende Verbeugung.

Aber sein Gesicht lag noch immer in Kummerfalten.

Der Präsident legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. »Kränken Sie sich nicht, Herr Kollege. Solche Dinge sind schon älteren Herren als Ihnen zugestoßen. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf.«

»Ich mir aber selbst, Herr Präsident.«

Der alte Herr hob leicht die Achseln. »Das muß jeder mit sich selbst abmachen, lieber Herr Kollege.«

»Ich werde jedenfalls trachten gutzumachen, was noch gutzumachen ist.«

*

Dr. Lenninger kehrte tief betroffen in seine Amtsräume zurück und ließ den Aufseher kommen.

»Ist das Zimmer Nummer sechzehn frei?«

»Jawohl, Herr Doktor.«

»Dann bringen Sie die Angeklagte … will sagen die Josefa Kronlachner von Zelle hundertsechsunddreißig auf Zimmer sechzehn …, haben Sie verstanden?«

Der Aufseher nickte, aber er schien etwas auf dem Herzen zu haben. »Derf i no was sagen, Herr Doktor?«

»Ja!«

»Die Angeklagte auf Nummer hundertsechsunddreißig. Ja, der Herr Doktor hat mir doch aufgetragen, daß i alle Beobachtungen mitteilen soll …«

»Ja, was ist mit ihr …?« Mit ängstlicher Sorge in der Stimme fragte es Dr. Lenninger.

»Bis gestern, Herr Doktor, ist sie den ganzen Tag auf ihrem Bett gesessen und hat auf die Wand hingschaut. Kaum, daß sie das Essen angrührt hat, wann i ihr's bracht hab. I hab so was noch net gsehn ghabt.«

»Nun, und jetzt?«

»Ja, Herr Doktor. Seit heute früh liegt sie auf dem Bett und rührt sich net.«

»Aber Mann, warum melden Sie mir das nicht früher …?«

»Ka Angst, Herr Doktor. Schlafen tut s'. Fest, ganz fest. So wie halt junge Menschen schlafen tun. I hab s' wecken wollen, wie i ihr 's Essen bracht hab. War net möglich. Da hat s' irgendwas im Schlaf gredt und hat sich umdraht und Schluß. Weitergschlafen hat s'.«

Der junge Richter hatte den Kopf gesenkt. »Merkwürdig«, murmelte er. »Sehr merkwürdig. Heute nacht hat er sich gerichtet, und seit heute schläft sie. War irgendein Besuch bei dem Mädchen?« forschte er.

Der Aufseher verwahrte sich in aufrichtiger Empörung. »Wieso denn, Herr Doktor? Kein Mensch. I mach ganz allein Dienst, und mir kummt nix vur.«

»Schon recht. Dann lassen wir das Mädchen vorderhand noch schlafen, und wenn es erwacht, bringen Sie es auf Zimmer sechzehn.«

*

»Jetzt bin i neidig auf Sie!« Dr. Santifaller lächelte dem vor seinem Krankenbett stehenden Dr. Pasch zu. »Wann i jetzt mit Ihnen fahrn, der Sefi die große Nachricht bringen könnt!«

Dr. Pasch nickte und sah dann stumm auf den Hut, den er, zur Abfahrt bereit, in der Hand hielt.

War er, Dr. Pasch, wirklich so zu beneiden?

Wohl, er brachte Josefa die Nachricht, die ihr den Wandel in ihrem Leben mitteilen sollte, aber … Mein Gott, hatte er sie nicht selbst geliebt und liebte er sie nicht noch?

Und nun war sie ihm ferner als je.

Gleichwohl. Was er tat, tun mußte, war Freundespflicht gegenüber Dr. Santifaller, selbstverständliche Pflicht gegenüber dem tapferen Mädel.

Er ergriff Dr. Santifallers ihm entgegengestreckte Hand.

»Wie steht es mit dem Gefühl in den Fingern?«

»I bild mir ein, es is besser worden«, gab Dr. Santifaller zurück, »so gschwind wird es wohl net gehen, bis i wieder so arbeiten kann wie früher.«

Er bemühte sich, den Händedruck alle Kraft zu geben, deren seine geschwächten Finger fähig waren. »Grüßen S' mir die Sefi. Herkommen soll s', sobald wie möglich. Haben Sie auch die Briefe alle mit?«

»Ja, Herr Kollege.«

*

Der Torwart am Eingang der großen Halle in der Krönerschen Heilanstalt erhob sich.

War das nicht der Herr, der vor drei Tagen nach der Schwester Josefa gefragt und so entsetzt ausgesehen hatte, als er – offenbar durch Dr. Pasch aufgeklärt – das Haus wieder verlassen hatte?

Natürlich! Er konnte sich des kleinen, stämmigen Herrn deutlich entsinnen.

Inzwischen war der Ankömmling näher getreten. »Kann ich Schwester Josefa sprechen?«

»Die Schwester ist im Laboratorium. I werd anfragen, Herr … wen darf ich anmelden?«

»Doktor Müller aus Oberflins, Tirol.«

Der Torwart rief im Hausfernsprecher an.

Dr. Müller vernahm, daß er seinen, doch gewiß nicht ungewöhnlichen Namen dreimal nennen mußte.

»Die Schwester kommt sofort, Herr Doktor«, wandte sich der Torwart wieder zu ihm. »Bitte, nehmen Sie im Sprechzimmer Platz.«

Dr. Müller ließ sich in einem der bequemen Polsterstühle nieder, zog sein Taschentuch hervor und trocknete sich die Stirne.

Seine Augen waren weit und offen auf die Tür gerichtet.

Wie würde sie aussehen, das Kind? Nach all dem, was sie erlebt haben mußte?

Es war für ihn ein Augenblick tiefsten Erschreckens gewesen, als ihm bei seinem ersten Besuch in der Heilanstalt Dr. Pasch nach langem Drängen vorsichtig und unter Handschlag, von allem zu schweigen, mitgeteilt hatte, Josefa sei in Haft. Daraufhin war er selbstverständlich sofort ins Gefängnis gefahren.

Josefa, das wußte er, der sie kannte, war sicher nur durch einen unglücklichen Zufall in irgendeine böse Angelegenheit verwickelt worden. Er, Dr. Müller, mußte ihr helfen. Das war seine Pflicht.

Im Gefängnis wiederum hatte er erfahren, daß Josefa sich eben beim Präsidenten des Gerichtshofes befinde. Sie werde enthaftet, da sich ihre Unschuld herausgestellt hatte.

Er hatte geduldig gewartet, dann aber seinen Geschäften, die ihn nach Wien geführt, nachgehen müssen. Und heute, als er erneut vorsprechen wollte, da war sie bereits in die Heilanstalt abgefahren.

Er vernahm ein leises Knarren der Parketten vor der Tür und sprang auf.

»Sefi!«

»Herr Doktor! Lieber Herr Doktor!«

Es war wie selbstverständlich, daß er die auf ihn zufliegende Gestalt des Mädchens an sich zog; selbstverständlich, daß sie ihr Antlitz an seiner Brust barg; selbstverständlich, daß sie ihn mit merkwürdiger Kraft umschlang; selbstverständlich, daß sie in dieser Stellung, wie an einer Stätte wahrer Geborgenheit, zu weinen begann.

Eigenartig. Dr. Müller war durch den Dienst in seinem Gebirgsdorf abgehärtet.

Wieviel Leid hatte er als Arzt mit ansehen müssen? Wie oft in seinem gütigen Herzen Mitleid empfunden.

Aber so tief gerührt wie in dieser Stunde hatte er sich nie gefühlt.

Wie es in dem kleinen, zarten Leib, den er umfaßt hielt, tobte, wie er sich von den Zuckungen des Schluchzens erschüttert an den seinen drängte, ihn fast von der Stelle zu drücken suchte, so daß er, Dr. Müller, Anlehnung an dem hinter ihm stehenden Tisch suchen mußte!

Er dachte daran, wie seine Frau damals abgeraten hatte: Sefi solle nicht nach Wien. Das wäre für sie gefährlich.

Was Frauen doch oft für Ahnungen haben!

Das Mädchen hatte wohl Entsetzliches erlebt! Das Schluchzen nahm kein Ende.

Erst als er eine Bewegung machte, um sich einen Sitzplatz zu suchen und Josefa neben sich zu ziehen, da richtete sie sich auf.

»Sefi! Seferl!«

Sie wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht zur Seite, ließ sich aber willig auf den Sitz neben Dr. Müllers Sessel niederziehen.

So saßen sie eine Zeit schweigend, Josefa damit beschäftigt, ihre Tränen zu trocknen und der Erregung in ihrer Brust Herrin zu werden.

Er vermied es zartfühlend, das Gespräch zu beginnen.

Plötzlich ließ Josefa die Hand mit dem Taschentuch sinken und sah ihn an.

Er erschrak vor ihrem blassen Antlitz, vor den übernatürlich großen Augen, die ihn aus dem schmalen Köpfchen ansahen.

Wo war das zarte Oval ihres Gesichtes? Was mußten diese Augen mit dem schweren, fragenden Blick gesehen haben!

»Mein Gott«, flüsterte sie, »daß S' da san! De Freud!«

Er suchte vergeblich nach Worten, vermochte ihr nur freundlich zuzunicken!

»Der Torwart hat mir's gsagt, daß Sie schon einmal da warn. Aber damals war i ja noch …«, sie zögerte. Dann sah sie ihn plötzlich scharf an. »Mein Gott. Was werden S' Ihna denkt ham, Herr Doktor!«

»Das Richtige, Seferl! Daß Du unschuldig da in irgend a Malefizgschicht hineinpatscht bist.«

»Net hineinpatscht, Herr Doktor! Net hineinpatscht.« Sie knüllte ihr Taschentuch zwischen den Fingern. Dann hob sie den Blick und sah ihn an. »Ham S' Zeit, Herr Doktor?«

»Ja, Sefi!«

»Viel Zeit?«

»Ja«, sagte er, obwohl er eigentlich gerechnet hatte, noch an diesem Vormittag Wege zu unternehmen.

Josefa nickte langsam.

»I hab viele Wochen niemand ghabt, mit dem i hätt reden können. Des is auf mir glegen, als wann i unter einer Lawin zsammdruckt wär. Kommen S', Herr Doktor. Gehn mer in den Garten.«

Auf den am Steilhang hingebreiteten Anstaltsgarten goß eine milde Frühlingssonne ihren warmen Goldglanz.

Sie schritten schweigend über die gepflegten Wege hin, an Bänken vorüber, auf denen Leidende müde Gesichter der Sonne entgegenhoben.

Auf einer Bank in halber Höhe, von der man über das Dach der Heilanstalt hinüber auf die Stadt hinabblicken konnte, ließ sich Josefa nieder.

Sie begann sofort zu sprechen, hastig, wie jemand, dem ein lastendes Schweigen durch lange Zeit die Seele zusammengepreßt hat und der nach Befreiung ringt und sie nicht rasch genug erreichen kann.

»Mein Gott«, begann sie, »i weiß gar net, ob i des alles erzählen derf. Aber, Herr Doktor, Sie erzählen's ja niemand. Net amol Ihrer Frau. Versprechen S' mer des. Sie werden halt a bissel schwindeln müssen. Aber des wern S' schon tun, mir zulieb. I hab auch mein ganzes Leben net gelogen und jetzt … Mein Gott, was hab i lügen müssen. Lügen! Lügen! Aber net für mi, Herr Doktor.

Aber Sie müssen mi von Anfang an erzählen lassen. Sonst verstehen S' mi net, Herr Doktor!«

Sie sprach nicht eigentlich für Dr. Müller, der neben ihr saß. Nein: es war eine Rechenschaft, die sie sich selbst gab. Sie schien vergessen zu haben, daß jemand neben ihr saß. Sie sprach vor sich hin mit fliegendem Atem, ihr Leib bebte wie von Fieber durchrüttelt, wenn sie die Sätze hervorstieß.

Ihre Stimme wurde weich und zärtlich, als sie von Dr. Santifaller sprach, von ihrem Kampf um ihn gegen die stolze Frau des Professors.

Dann aber begann Josefa langsamer zu sprechen. Stockend, zäh entrangen sich ihr die Worte, als sie die Wochen schilderte, in denen sich das gräßliche Ereignis vollzogen hatte.

»Sehen S', Herr Doktor«, sagte sie, jetzt zum erstenmal zu Dr. Müller aufblickend, »da is des a merkwürdige Gschicht gwesen, da in mir drin. Mir is des gwesen, als wenn einer zu mir sagen tät: Josefa, du mußt des tun. Von der ersten Sekunde an hab i so a sonderbares Gfühl in mir ghabt, als wann mir was den Hals zsammwürgen tat. Bis mir eingfallen is, i könnt den Doktor Santifaller vielleicht retten, wann i sag, daß i des war. Da is mir mit einmal leichter gworden. Viel leichter. Und da hab i mi halt dem Gericht gstellt und gsagt: ›I war's‹.«

»Mein Gott«, sagte Dr. Müller erschrocken, »hast du denn nicht überlegt, wie das hätte ausgehen können?«

Sie schüttelte den Kopf. »I hab net viel nachdenkt. I hab müssen, Herr Doktor! Mit dem Denken kommt bei mir net viel außa. I mach des halt a so mit dem Gfühl.«

Dr. Müller griff mit einer fast ehrfürchtigen Bewegung nach Josefas Hand.

Sie überließ sie ihm willig, sah zu ihm auf und lächelte ihn an.

»Wie du schlecht ausschaust, Josefa«, sagte er besorgt. »Komm mit nach Oberflins, kannst bei mir wohnen. Das Zimmerl im Oberstock ist frei.«

Sie lächelte ihm dankbar zu. »I kann net, Herr Doktor«, sagte sie dann einfach. »I derf jetzt net weg von hier. Der Doktor Santifaller braucht so viel Pflege, und der Doktor Pasch is auch noch net recht in allem z' Haus. I muß hier viel helfen. Und außerdem …«, sie stockte.

»Außerdem?« half er fragend nach.

Sie suchte nach Worten. »I weiß noch net, wie das wird. Aber der Herr Professor hat einen letzten Willen hinterlassen …«, sie stockte wieder. »I weiß net recht, ob i's glauben derf …«

»Nun, Sefi?«

»In dem Papier heißt es, er laßt mich bitten, weil er schon nicht darauf rechnen kann, daß ich ihm verzeihe, daß ich …, warten S', wie heißt es nur an der Stelle, daß ich mein weiteres Leben der Anstalt widme, um gutzumachen, was er halt …«, sie suchte offenbar ein Wort zu umgehen, »also kurz und gut, gutmachen soll ich es halt. Und zu dem Zweck hat er mir halt Geld, entsetzlich viel Geld vermacht. I weiß net, ob i's nehmen derf. Aber der Doktor Pasch sagt, i muß, und kein Mensch wird es mir abstreiten, und es war selbstverständlich, daß der Professor das hätt tun müssen.«

»Selbstverständlich, Sefi«, stimmte Dr. Müller bei.

Josefa ließ einen Blick über den Garten streifen. »Vielleicht nimm i's wirklich an. Denn es wär schad um das herrliche Werk. Das braucht wen, der mit dem Herzen dabei is. Aber wirklich mit dem Herzen und der für sich nix will. Gar nix. Nur daß das Werk halt gedeiht.«

»Und wer wird an die Stelle des Professors treten?«

Sie hob den Kopf, und ein Leuchten ging über ihr Antlitz. »Doktor Santifaller«, flüsterte sie. »So steht es auch in dem letzten Willen, und Doktor Pasch meint, das wird auch keine Schwierigkeiten machen; denn Doktor Santifaller is der geborene Nachfolger für den Professor. Er ist ja so ein Genie. Und so ein guter Mensch, so ein guter.« Sie sah mit einem verlorenen Lächeln vor sich hin.

»Ja, wird er denn wieder ganz gesund werden?«

»Ganz vielleicht nicht, Herr Doktor. Aber die Augen werden wieder ihre alte Kraft kriegen, sagt der Professor von der Klinik für Augenheilkunde. Bloß mit den Händen … Aber da bin ja ich da, um ihm zu helfen …«

Dr. Müller hob leise die Hand, in der er die kleine Hand Josefas hielt, und neigte sich vor.

»Um Gottes willen, Herr Doktor. Was tun S' denn?«

Sie wollte ihre Hand zurückziehen.

Aber es war zu spät.

Er hatte einen langen, innigen Kuß auf die schmale Hand gedrückt.

Und als er aufsah, da glänzte es in seinen Augen feucht auf.

»Aber, Herr Doktor«, flüsterte sie.

Er aber schüttelte den Kopf, und dann strich er ihr mit einer ehrfürchtigen Bewegung leise über das Haar.

*


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