Karl May
Weihnacht
Karl May

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Einleitung

Weihnacht!

Welch ein liebes, liebes, inhaltsreiches Wort! Ich behaupte, daß es im Sprachschatze aller Völker und aller Zeiten ein zweites Wort von der ebenso tiefen wie beseligenden Bedeutung dieses einen weder je gegeben hat noch heute giebt. Dem gläubigen Christen ist es der Inbegriff der heißersehnten Erfüllung langen Hoffens auf die Erlösung aller Kreatur, und auch für den Zweifler bedeutet es eine alljährlich wiederkehrende Zeit allgemeiner Festlichkeit, der Familienfreude und der strahlenden Kinderaugen. Jenem leuchtet in der tiefsten Tiefe seines Herzens der Wahrspruch »Jesus Christus gestern und heut und derselbe in alle Ewigkeit!« und dieser stimmt wohl unwillkürlich auch mit ein oder läßt wenigstens seine Kinder einstimmen in den Frohgesang

»Welt ging verloren,
Christus ward geboren;
Freue dich, o Christenheit!«

Unter Palmen ging der längst erwartete Zweig Isais, des Bethlehemiten, auf, und über Bethlehem strahlte der Stern, welcher die Weisen aus dem Morgenlande zu der Weihnachtskrippe leitete. »Ehre sei Gott in der Höhe!« sangen die himmlischen Heerscharen über diese Stadt, von welcher ein Strahl des Lichtes ausgangen ist, der alle Welt erleuchten und beglücken soll. »Friede auf Erden!« erklang es nach dem himmlischen Gloria, und der Friede, dessen Sinnbild noch heut die Palmen sind, hat sich von dorther ausgebreitet über alle Länder und in alle Herzen, welche seinem Einzuge offen standen. Und wo im Norden keine Palmen wehen, da haben ihre Wedel sich in Tannenzweige verwandelt, welche Sterne und Lichter tragen in der schönen seligen Zeit, welcher die Worte des Propheten gelten: »Mache dich auf, und werde Licht, denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn geht über dir auf!« Da glänzt der Weihnachtsbaum im Palaste und in der Hütte; da schallen Glockenklänge, um die Geburt des Erlösers zu verkünden, durch die stille Nacht, und von allen Kanzeln und Altären, von Mund zu Mund erklingt der Engelsruf: »Siehe, ich verkündige Euch große Freude, die allen Nationen widerfahren wird, denn Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Davidsstadt!«

Zwei Bibelworte sind es vorzugsweise, welche, als ich noch ein kleiner Knabe war, aus dem Munde der alten, frommen Großmutter einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf mich machten. Lag es an der Erzählerin oder an dem Inhalte dieser Worte selbst, ich weiß es nicht, aber Thatsache ist, daß diese Verse noch heut zu meinen Lieblingsbibelsprüchen zählen. Der eine Spruch lautet Hiob 19,25: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt, und er wird mich aus dem Grabe auferwecken«, und der zweite ist eben die Verkündigung des Engels: »Siehe, ich verkündige Euch große Freude – – denn Euch ist heute der Heiland geboren – –«. Der Eindruck dieser Stellen auf mich war ein solcher, daß ich – in noch ganz unreifem Alter – beide komponiert und über die zweite auch noch ein Gedicht – fast möchte ich sagen, verbrochen habe.

Daß ich dies hier nicht etwa erwähne, um mich zu brüsten, habe ich durch die Altersangabe und das Wort »verbrochen« bewiesen, vielmehr werden meine lieben Leserinnen und Leser bald bemerken, daß diese Erwähnung einen ganz andern und zwar bessern Zweck verfolgt. Einstweilen sei nur gesagt, daß die Worte »Ich verkündige Euch große Freude« mir damals auch in ganz besonderer Beziehung zu einer wahren Weihnachtsbotschaft wurden.

Ich, der ärmste unter den Schülern meiner Klasse, liebte die Musik glühend und nahm außer dem gewöhnlichen Unterrichte noch Privatstunden in der Harmonielehre u.s.w., was mich auf trockenes Brot setzte, denn ich ernährte mich durch Unterrichtgeben à Stunde 50 Pfennige und mußte also die Stunde Harmonielehre zu einem Thaler mit sechs Stunden meiner Privatzeit bezahlen. Das that ich aber gern, und der Hunger von damals hat mir bis heute noch nichts geschadet.

In der Theorie – nicht etwa praktischen Komposition – bei der Motette angelangt, setzte ich mich eines Tages mit der nur durch meine Jugend zu entschuldigenden Idee hin, über das Lieblingsthema »Ich verkündige Euch große Freude« eine Weihnachtsmotette zu komponieren. Wie gedacht, so gethan! Das opus operatum sollte freilich tiefes Geheimnis bleiben, war aber schon bald nach seiner Vollendung aus meinem Kasten verschwunden. Später erfuhr ich, daß ein mir übelwollender Mitschüler es mir wegstibitzt und, um mich zu blamieren, es meinem Lehrer, einem alten, braven Kantor, durch die Post zugeschickt hatte. Ich suchte lange nach dem verlorenen Heiligtume und gab es endlich auf, es jemals wiederzufinden.

Wie nun selten ein Unglück allein kommt – und das eigenmächtige Überschreiten der einem Schüler gezogenen geistigen Grenzen kann leicht zum Unglück für ihn werden –, kam mir grad zu jener Zeit ein Unterhaltungsblatt zu Gesicht, in welchem eine Konkurrenz, ein Weihnachtsgedicht betreffend, mit drei Preisen zu 30, 20 und zehn Thalern ausgeschrieben wurde. Mein Lieblingsthema, meine Armut und wer weiß was sonst noch für gute oder nicht gute Gründe, »drückten mir«, wie berufene Dichter zu sagen pflegen, »Die Feder in die Hand«; ich setzte mich abermals hin und brachte ein Gedicht von 32, schreibe und sage mit Worten: zweiunddreißig vierzeiligen Strophen zu Papier. Es ist jedermann, besonders aber jedem Redakteur bekannt, daß ein Gedicht, je länger es ist, desto leichter in den Papierkorb wandert, und auch ich wußte wenigstens, daß der Wert eines Poems nicht mit seiner Länge zu wachsen pflegt; aber nach der Disposition, die ihm zu Grunde lag, hatte es eben nicht kürzer werden können; im Gegenteile, wenn ich alle Gedanken, die mir gekommen waren, niedergeschrieben hätte, wären es wohl tausend Zeilen geworden. Ich fertigte also das verlangte Motto an, steckte dieses mit dem Gedichte in ein Couvert für 3 Pfennige, siegelte es mit für 5 Pfennige Rotlack zu, klebte mein letztes Geld in Gestalt von Briefmarken in die Ecke rechts über der Adresse der Redaktion und trug den Brief in höchst feierlicher Stimmung bis zur übernächsten Straße, wo der Briefkasten hing. Als er mit hohlem Geräusch hineingefallen war, sah ich den Kasten noch lange an. Er kam mir jetzt ganz anders vor, als er früher ausgesehen hatte. Das war aber auch sehr leicht zu erklären, denn zweiunddreißig Strophen auf einmal zu verschlingen, das hatte wohl noch kein vernünftiger Mensch von ihm verlangt.

Aber auch mit mir ging eine Veränderung vor. Wer mich beobachtete, der mußte unbedingt bemerken, daß ich ein schlechtes Gewissen hatte. Meine Haltung kam mir unmännlich und mein Gang schlottrig vor; die Augen verloren ihre bisher nach vorn gerichtete Direktion und begannen, sich vorzugsweise und verstohlen bald nach rechts und bald nach links zu richten, ob mir die zweiunddreißig Strophen vielleicht anzusehen seien. Kein Brot, selbst das ganz trockene, wollte mir mehr schmecken; der Schlaf streikte, und wenn er seine Pflicht einmal that, so träumte ich von allerlei Ungeheuerlichkeiten, z.B. von einem großen Briefkasten, welcher in Gestalt einer blauen Riesenkröte auf mein Bett gekrochen kam und mich so lange drückte, bis ich mit einem Schrei erwachte.

Meine Arbeiten fertigte ich mit derselben Gewissenhaftigkeit wie vorher, aber sie wurden mir schwerer als früher; meine roten Wangen wurden blaß; ich magerte ab und wurde wortkarg wie eine Stimmgabel, die auch nur dann erklingt, wenn man ihr einen Stoß versetzt. Es war eine schwere, eine schlimme Zeit! Und sie dauerte übermäßig lang. Ende Juli hatte ich dem Briefkasten mein Schicksal vorzeitig anvertraut, denn die »Galgenfrist« ging erst am ersten Oktober zu Ende, und am ersten November sollte die Entscheidung fallen. Wenn ich doch meine »Zweiunddreißig« wieder hätte; ich wollte nicht nur auf jeden, selbst den dritten Preis verzichten, sondern das heilige Versprechen ablegen, nie wieder einen Reim zu schreiben! Das war viel, sehr viel gesagt, weil Reime mir nicht die geringste Schwierigkeit bereiten und mir auch der dritte Preis, zehn harte, blanke Thaler, als ein kleiner Schatz erschienen wäre.

Daß mir nichts beschieden sei, also eines negativen Erfolges, war ich vollständig überzeugt, aber diese Angelegenheit konnte auch eine positive und zwar sehr unangenehme Wirkung für mich haben. Ich konnte nämlich den Gedanken nicht los werden, daß die »löbliche« Redaktion mein Gedicht nicht an mich zurücksenden, sondern es mit einigen besondern Randbemerkungen unserem strengen »Alten« zur Nachachtung zustellen werde. Wer Gymnasiast entweder war oder noch ist, der weiß, wen ich mit diesem »Alten« meine, und wird mein heimliches Grauen zwar nicht ermessen und nachfühlen aber doch wenigstens ahnen können. Seiner gestrengen hatte mir zwar immer wohlgewollt und manche Härten meiner Lage zu mildern gesucht; er ließ mich sogar seinem Sohne wöchentlich zwei Stunden Nachhilfsunterricht erteilen, wofür ich Sonnabends in der Küche Reis mit Rindfleisch bekam und dann als Nachgenuß der Lieblingskatze seiner Frau den Rücken krabbeln durfte; aber falls die »Löbliche« meine Befürchtung zur Wahrheit werden ließ, so war für nichts mehr, weder für den Reis noch für die Katze einzustehen!

So also türmten sich die Wetterwolken immer schwärzer und drohender über mir zusammen, und als der erste November kam, war er, wie ich heut noch weiß, ein zwar kalter aber sonniger Herbsttag, in meinem Innern aber schneite es schwere, große Flocken, nicht hellen Schnee, sondern es war ein ganz anderer und viel dunklerer Stoff. Nun konnte ich die Tage, nein, die Stunden zählen; sie wurden mir zu Ewigkeiten; aber irdische Ewigkeiten gehen vorüber, diese also auch. Und nun kommt es – – – es ist da; das fürchterliche Verhängnis nämlich!

Es war am sechsten November, nach der letzten Vormittagsstunde, als ich zum »Alten« gerufen wurde. Zwei Treppen hinauf, jede zwanzig Stufen, auf jede zwanzig Schläge meines Herzens, macht in Summa achthundert; weniger sind es wahrscheinlich nicht gewesen. Ich klopfte an, trat ein und – – sah nichts, weil meine Augen nebelten. Es vergingen einige Augenblicke; der Nebel teilte sich, und ich sah den Gewaltigen mit Augen, als ob er mich durchbohren wolle, vor mir stehen.

»May!« erklang es in seinem tiefsten Baß.

Ich verbeugte mich. Was ich für ein Gesicht gemacht habe, das weiß ich nicht, denn nur er hat es gesehen und mir nichts darüber angedeutet.

»May!!«

Ich verbeugte mich wieder.

»May!!!«

Dritte Verbeugung; aber nun war ich entschlossen, mich nicht mehr zu bücken.

»Sie – – sind – – ja – – ein – – ganz – –«

Ich sah ihn so scharf an, daß er innehielt; beleidigen wollte ich mich auf keinen Fall lassen. Da lachte er und fuhr in einem ganz andern Tone fort:

»Geht mich eigentlich nichts an, ganz und gar nichts; ist nur Ihre Privatsache, wenn Sie sich mit Blamagen herumriskieren. Warum auch nicht? Sie sprechen ja stundenlang in Knüppelversen, und Ihr Deutsch – – hm! Aber Sie hätten es mir doch wenigstens vorher zur Durchsicht geben können!«

»Das Gedicht?« fragte ich.

»Natürlich! Ich hätte die Fehler angestrichen, die noch drinstecken und von dem Redakteur gar nicht bemerkt worden sind. So ein Mensch weiß ja gar nicht, was zu einem guten Gedicht gehört; woher sollte er es auch wissen?! Kuh – Muskate – –!«

»Es ist also zurückgeschickt worden?«

»Ja, im Probedruck, so was man Korrektur oder Revision nennt. Dabei ein Brief, nicht an Sie, sondern an mich. Sie bekommen ihn natürlich nicht zu lesen – – fällt mir gar nicht ein! Ich werde antworten, daß zwar Ihr Name, aber sonst weiter gar nichts unter das Gedicht gesetzt werden darf; Sie verfallen sonst dem Tintenteufel, der der schlimmste von allen Teufeln ist. Haben mehr zu thun, als Gedichte zu machen! Junges Bürschchen!«

Ich holte tief, tief Atem. Also meine Zweiunddreißig waren angenommen worden! Dritter Preis zehn Thaler – – –! Mir wollte es wieder vor den Augen nebeln! Da fuhr er fort:

»Was ich sagen wollte: Werde Ihnen die Nachhilfsstunden von jetzt an bar bezahlen, zweimal fünf, also zehn Groschen. Den Sonnabendstisch behalten Sie trotzdem. Werde Sie wegen Ihrer Kühnheit und dem Gedichte später noch extra vornehmen; habe jetzt keine Zeit; muß zu Tische gehen. Hier ist das Geld. Nun gehen Sie!«

Er gab mir ein Couvert in die Hand. Ich bedankte mich mit vor Aufregung heiserer Stimme und schoß zur Thür hinaus, nachdem ich eine ganz besonders tiefe Verbeugung gemacht hatte, der ich doch vorhin fest entschlossen gewesen war, keine mehr zu machen.

Wie ich die Treppe hinunter und dann in meine »Bude« gekommen bin, das weiß ich selbst heut noch nicht. Ich öffnete das Couvert. Was war darin? Ein kurzes Schreiben der Redaktion – – drei Zehnthalernoten! Die schreckliche, große, blaue Kröte hatte, wie jede Kröte im Märchen, Geld für mich bedeutet – – nicht den dritten, sondern den ersten Preis.

Was ich that, als ich wieder ruhig geworden war? Die Antwort ist nicht nötig! Ich habe weder in guten noch in schlimmen Lagen jemals vergessen, daß das Gebet eine heilige Pflicht ist und Erleichterung bringt.

Und wie es – wenigstens dem Sprichworte nach – mit dem Unglücke ist, so ist's auch mit dem Glücke; es kommt niemals allein. Als ich am Nachmittag zum Unterricht bei meinem alten Kantor erschien, zeigte er sich außerordentlich aufgeräumt. Er war zwar stets ein lieber, alter, munterer Herr, heut aber zeigte er sich besonders heiter und gesprächig und ließ einige Andeutungen über »gute Arbeit« und »Buchhändlergeld« fallen, so daß ich mir im stillen sagte, daß er mit dem »Alten« über meinen Glücksfall gesprochen haben müsse. Als ich nach der Stunde, wie ich gewöhnlich that, denn ich borgte nie, den Thaler auf die gewohnte Stelle legte, sagte er:

»Ist nicht nötig, lieber May! Sie können Ihren sauer verdienten Thaler behalten.«

»Dieser hier ist nicht sauer verdient, Herr Kantor.«

»Nicht? Wieso? Vielleicht ein Geschenk?«

»Nein, kein Geschenk. Er ist verdient, aber nicht sauer. Ich habe dreißig Stück bekommen; das wissen Sie doch!«

Er sah mich erstaunt an und fragte:

»Dreißig Stück, dreißig Thaler! Sie Krösus, Sie! Und ich soll es wissen? Keinen Laut, keine Note, keine halbe, keine Sechzehntelnote habe ich davon gehört!«

»Aber Sie haben doch vorhin davon gesprochen!«

»Ich? Nicht daß ich wüßte!«

»Sie sprachen von Buchhändlergeld!«

»Ja, das habe ich freilich gethan; aber das ist etwas, wovon Sie noch gar nichts wissen. Was hat es denn für eine Bewandtnis mit Ihren dreißig Thalern? Oder dürfen Sie es nicht erzählen?«

»Natürlich darf ich es! Und grad Sie, Herr Kantor, sind der, dem ich es am liebsten erzähle!«

Er lief, indem ich es that, ganz aufgeregt in seinem kleinen Zimmer hin und her und rief, als ich zu Ende war:

»Dreißig Thaler, dreißig schwere Thaler für ein Gedicht, für – – wieviel Strophen hat es?«

»Zweiunddreißig vierzeilige.«

»Auch noch bloß vierzeilige! Das macht achtundzwanzig Groschen pro Strophe und sieben Groschen für jede Zeile, für jeden Vers! Dazu die Ehre, den ersten Preis errungen zu haben! Und ich habe Wunder gedacht, was ich da – – – na warten Sie noch! Haben Sie Ihr Gedicht im Kopfe?«

»Ja.«

»Her damit! Ich will auch einmal ein Preisgedicht für dreißig Thaler hören!«

Während er immer noch lebhaft hin und her wanderte, stellte ich mich in die einzige freie Ecke und deklamierte:

»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ!

Jubelnd tönt es durch die Sphären,
Sonnen künden's jedem Stern;
Weihrauch duftet auf Altären,
Beter knieen nah und fern.

Horch, da schallt vom nahen Dome
Feierlich der Glocken Klang,
Und im majestätschen Strome
Schwingt sich auf der Chorgesang:

›Herr, nun lässest du in Frieden
Deinen Diener zu dir sehn,
Denn sein Auge hat hienieden
Deinen Heiland noch gesehn!‹ – –«

»Halt, halt!« unterbrach er mich da eifrig. »Das Gedicht scheint ja gut, ganz gut zu sein, aber zweiunddreißig Strophen, das ist mir zu lang, viel zu lang. Ich muß Ihnen etwas sagen und kann nicht damit warten, bis Sie zu Ende sind. Da, sehen Sie sich einmal das hier an! Kennen Sie das?«

Er hielt mir ein gedrucktes Notenheft hin und sah mir dabei mit dem Ausdrucke größter Spannung in das Gesicht. Es war die Partitur einer Motette, in welcher die separat gedruckten Stimmen lagen. Ich las den Anfang des Textes: »Siehe, ich verkündige Euch große Freude – –«

»Nicht hier lesen, nicht hier, sondern den Titel, den Titel!« drängte er ungeduldig.

Ich that es und erschrak, aber in freudiger Weise, denn es war meine Motette, die mir auf eine so unerklärliche Art abhanden gekommen war.

»Nicht wahr, das ist etwas, das ist auch etwas?« fragte er triumphierend. »Eine gedruckte Komposition ist mehr, viel mehr wert als ein gedrucktes Gedicht. Ein Gedicht kann jeder machen, der die Reime dazu aus der Luft hergreift; aber eine Komposition, das ist etwas ganz anderes; das kommt nicht aus der Luft, sondern wo anders her! Da muß man etwas gelernt und ganz besonders einen tüchtigen Lehrer gehabt haben. Und gute, tüchtige Lehrer können nur die Herren Kantores sein, welche die Orgel schlagen und den Kirchengesang leiten. Der Kirchengesang ist die höchste – –«

»Aber bitte, Herr Kantor,« unterbrach ich seinen Redefluß »Sie sehen mich im höchsten Grade erstaunt. Diese Motette habe ich nicht komponiert, daß sie gedruckt werden soll; sie ist eine Übungsarbeit, die im Kasten liegen bleiben sollte; plötzlich aber war sie weg. Wie ist sie in Ihre Hände gekommen, und woher wissen Sie, daß sie von mir ist? Auf dem Originale hat mein Name nicht gestanden.«

»Das ist wahr, sehr wahr,« lachte er. »Aber denken Sie denn wirklich, daß ich Ihre Handschrift nicht kenne und auch die von Krüger nicht?«

»Krüger?« fragte ich. »Welchen Krüger meinen Sie?«

»Dumme Frage! Natürlich Krüger, der Ihnen damals wegen Ihrer Arbeit über die Quintseptaccorde die erste Censur abtreten mußte. Er hat sich rächen wollen, wird aber nun durch mich bestraft, daß er sich blauärgern soll!«

»Ich verstehe Sie noch nicht.«

»Immer noch nicht? Sie sind doch sonst nicht so schwer von Begriffen. Da muß ich Ihnen doch gleich noch zweierlei zeigen, worüber Sie sich, wenigstens über das eine, wahrscheinlich wundern oder aber auch ärgern werden. Da, zunächst das. Wessen Handschrift ist das?«

Er gab mir ein großes, abgestempeltes Couvert, auf welchem sein Name stand. Ich brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um antworten zu können:

»Das hat Krüger geschrieben; man sieht es sofort.«

»Ja; der Kerl hat sich nicht einmal Mühe gegeben, seine Hand zu verstellen. Er hat wahrscheinlich gedacht, daß ich das Couvert wegwerfe, ohne es anzusehen. Nun aber das. Sehen Sie es sich genau an!«

Es war meine Partitur der Motette. Indem ich die Systeme nur flüchtig überblickte, fand ich nicht, was er meinte; da machte er mich darauf aufmerksam:

»Halten Sie das Papier gegen das Licht, so werden Sie die radierten Stellen finden.«

»Was! Er hat radiert?«

»Ja, er hat radiert, um Fehler hineinzumachen; die Absicht können Sie sich wohl denken!«

»Das wäre eine Schlechtigkeit, eine Gemeinheit, die –«

»Lassen Sie das!« unterbrach er mich. »Ich habe die Sache schon selbst in die Hand genommen. Ich habe ihn vorgehabt, und er hat es eingestehen müssen; die Sache wird noch vor die Konferenz kommen. Inzwischen habe ich eine Abschrift, natürlich ohne die hineingemachten Fehler, genommen und die Motette dann dem Buchhändler eingeschickt, Ihnen zuliebe und diesem Krüger zum Ärger. Er hat sie angenommen, und wissen Sie, welches Honorar er Ihnen zahlt?«

»Honorar? Also Geld, auch hier Geld?«

»Natürlich! Geschriebene Noten gegen Banknoten oder klingende Münze; anders thue ich es nicht. Er hat einstweilen fünfhundert gedruckt und dafür fünfundzwanzig Thaler bezahlt. Sie bekommen also zwar bloß fünfzehn Pfennige für das Exemplar, aber das ist doch immer besser, als wenn die Motette in Ihrem Kasten läge und gar nichts brächte. Er schickte Papiergeld; ich habe es aber umgewechselt, weil Silber besser klingt. Es ist ein ganzer, großer Haufen Geld. Da haben Sie ihn! Lassen Sie nichts davon fallen!«

Er zog den Tischkasten auf, griff mit beiden Händen hinein und hielt sie mir dann, gefüllt mit Thalerstücken hin. Ich war beinahe bestürzt über diese zweite, so ganz unerwartete Gabe des Glückes. Er schob mir das Geld lachend hüben und drüben in die Hosentaschen und rief dabei:

»Nehmen Sie nur, nehmen Sie! Wer weiß, ob Ihnen in Ihrem ganzen Leben wieder einmal eine Komposition auch nur einen Groschen einbringt; drum greifen Sie jetzt zu; Sie können es ja brauchen! Übrigens wird die Motette eingeübt und hier in der Kirche gesungen; der Krüger muß platzen vor Ärger, das heißt, wenn er nicht schon vorher fort muß, denn die Gemeinheit, welche er hier bewiesen hat, verdient eine so exemplarische Bestrafung, daß ich überzeugt bin – –«

»Bitte, Herr Kantor,« fiel nun ich ihm einmal in die Rede. »Sie sind mir immer freundlich gesinnt gewesen, und ich denke, daß Sie mir auch jetzt die Erfüllung eines Herzenswunsches nicht abschlagen werden.«

»So? Hm, ich ahne schon! Was ist das für ein Wunsch?«

»Bringen Sie Krüger nicht vor die Konferenz! Ich bin heute so glücklich und würde die ganze Freude an diesem Glück verlieren. wenn er in Strafe käme.«

»Ist das nicht zuviel verlangt?«

»Wohl nicht. Er ist ja die eigentliche Ursache der frohen Überraschung, die Sie mir bereitet haben. Sie hätten gewiß keinen Verleger für die Motette gesucht, wenn er sie Ihnen nicht eingeschickt hätte, um mich in Ihrer Meinung herabzusetzen.«

Da gab er mir die Hand und sagte, jetzt ernster als vorher:

»Sie machen mir eine doppelte Freude. Nämlich erstens, daß Sie für Krüger bitten. Ich habe ihn nur deshalb noch nicht zur Anzeige gebracht, um ihn mit meinem Verweise und einem tüchtigen Ärger davonkommen zu lassen. Darum habe ich gewartet, bis die Motette gedruckt worden ist. Hätten Sie die Anzeige gewollt, so wäre sie erfolgt; nun aber soll er noch einen kräftigen Rüffel unter vier Augen bekommen und dabei erfahren, daß er die übrige Straflosigkeit nur Ihrer Fürbitte verdankt. Er wird sich blau und schwarz darüber ärgern, daß die Motette im Druck erschienen ist, daß sie Ihnen Geld eingebracht hat und daß er sie nun sogar mitsingen muß.«

»Soll er das?«

»Ja; anders thue ich es nicht; er hat eine gute Stimme und soll sogar, grad zu seinem Ärger, ein Solo bekommen, nämlich, wissen Sie, den dreistimmigen Solosatz in As-dur mit dem Texte: ›Drum gehet hin nach Bethlehem; da werdet Ihr finden das Jesuskind in einer Krippe liegen.‹ Das war der erste Punkt, über den ich mich um Ihretwillen freue. Der andere Punkt bezieht sich auf Ihre Einsicht, daß ich Ihre Komposition ohne den angegebenen Grund wohl keinem Verleger angeboten hätte.«

»Natürlich! Eine Schülerarbeit, mit vielen Unterlassungsfehlern, weiter nichts!«

»Richtig, sehr richtig! Das Wort Unterlassungsfehler ist gut gewählt und bezeichnet genau das, was ich sagen will. Da Sie die Musik nicht als Fachstudium treiben wollen, werden Sie zwar soviel komponieren lernen, wie man, um mich eines Volksausdruckes zu bedienen, für Haus und Küche braucht, mehr nicht; das genügt aber auch für Sie. Aber auch nur so weit sind Sie jetzt noch lange nicht. Sie haben zwar mit dieser Motette aus Zufall einen Treffer gemacht, aber ob Sie jemals wieder einen solchen machen werden, das läßt sich jetzt nicht sagen, denn Sie haben noch viel, sehr viel zu üben und zu lernen. Ich meine, daß Ihnen ernste, fromme Themata am besten glücken werden; das liegt überhaupt auch so in Ihrem ganzen Wesen. Direkte Fehler, sogenannte Begehungssünden, kommen in Ihrer Motette nicht vor; sie ist da sauber geschrieben. Aber die Übung fehlt, die Gewandtheit, die Inspiration. Denken Sie sich einen guten Sonntagsreiter und dann einen Schulreiter im Cirkus! Der Sonntagsreiter in der Komposition sind Sie; es fehlt Ihnen die hohe Schule; Sie kennen Ihr Pferd nicht und auch nicht die verschiedenen Hilfen, die Sie ihm geben müssen. So etwas will nicht nur angeboren, sondern auch gepflegt und geübt sein. Ein geübter Reiter der hohen Schule würde Ihre Motette ganz anders ein- und zugeritten haben. Verstehen Sie mich?«

»Ja, Herr Kantor. Ich sitze zu steif im Sattel und habe zwar körperliche aber nicht auch geistige Fühlung mit dem Pferde.«

»So ist es; ja, so ist es ganz genau! Darum habe ich, wie Sie später wohl merken werden, einigen Ihrer steifen Figuren mehr Gewandtheit verliehen. Sie werden mir das, wenn Sie die Motette erst singen hören, nicht übelnehmen, zumal ich Ihnen von Ihren fünfundzwanzig Thalern nicht einen einzigen dafür in Abzug bringe.«

Der liebe, alte Herr sagte das mit seinem hübschen, herzgewinnenden Lächeln; dann fügte er hinzu, indem er mir die Hand zum Abschiede reichte:

»Ich würde Ihnen, dem armen Teufel, den Unterricht gern umsonst erteilen, aber Sie wissen ja, daß ich das bei meinen Gehaltsverhältnissen nicht kann. Sie werden das überstehen und vielleicht einst wohlhabender werden, als ich bin. Denken Sie dann an Ihren alten Kantor, der Ihrer ersten Motette auf die Beine geholfen hat. Nehmen Sie das Leben auch fernerhin so ernst wie jetzt, und nun für heut, leben Sie wohl!«

Dieser brave Kantor, der mir stets mit gleichem Wohlwollen entgegenkam, gehört zu denjenigen Personen, denen ich noch jetzt, nach langen Jahren, eine unverminderte Dankbarkeit widme. Man wird später erkennen, warum ich diese freundliche Scene von ihm erzählt und dabei keinen Namen genannt habe. Er war ein Ehren- und humaner Mann, verlegte aber seine Welt nur in das kleine Notenzimmer, weil er auf Familienglück hatte verzichten müssen. Man kannte seine Frau als arge Xantippe, die, wie man sich erzählte, den einzigen Sohn, den sie besaßen, durch ihre Härte nach Amerika getrieben hatte. –

Ich war also im Besitze von fünfundfünfzig Thalern; damals welch ein großartiger Reichtum für mich! Es war mir zu viel; ich war ja gesund und konnte arbeiten. Dreißig schickte ich meinen armen Eltern; zwanzig legte ich für unvorhergesehene Bedürfnisse zurück, und fünf bestimmte ich zu einer Weihnachtsreise, auf welcher ich mich ausnahmsweise einmal recht splendid behandeln wollte. Fünf harte Thaler zu einer Reise von höchstens einer Woche, die konnten ja gar nicht alle werden! Noch mehr als zwanzig Groschen pro Tag, das mußte ja das reine Schlaraffenleben werden! Ich munkelte sogar ganz heimlich schon davon, natürlich zu mir selbst, daß ich mir unter Umständen eine halbe Flasche Wein, natürlich so billig und aber auch so gut wie möglich, gestatten werde. Welche Sorte ich wohl wählen und wie hoch im Preis ich gehen dürfe, das beschäftigte mich sehr lebhaft täglich in der halben Viertelstunde, welche dem Einschlafen voranzugehen pflegte! Du glückliche Zeit, wie lange bist du vorüber und niemals, niemals zurückgekehrt!

Der Kantor machte sein Versprechen wahr; die Motette wurde eingeübt und Krüger mußte das dreistimmige Solo mitsingen, wofür er mich mit einem Haß bedachte, der mir manchen Ärger bereitete.

Dann erschien mein Weihnachtsgedicht; jeder Mitschüler wollte es haben; die betreffende Nummer des Blattes wurde infolgedessen in vielen Exemplaren von unserer Buchhandlung bezogen, und als nachher das allmonatliche Freideklamieren stattfand, so genannt, weil jeder sein Gedicht sich selbst wählen konnte, leiteten alle meine dreiundzwanzig Klassengefährten ihre rhetorischen Produktionen folgendermaßen ein: »Weihnacht, Gedicht von Karl May«. Ich war der einzige, welcher einem sogenannten Klassiker die Ehre erwies, auch mit genannt zu werden. Es wurde Mode, mein Gedicht im Notizbuch überall mit herumzutragen, um es bei jeder unpassenden Gelegenheit hervorzunehmen, und ich hatte das zweifelhafte Glück, noch monatelang mit Fragen bestürmt zu werden, warum ich grad diese und nicht jene Wendung gebraucht oder grad diesen und keinen anderen Reim gewählt habe. Es wurden Verse über Verse geschmiedet, bis die ganze Lehrerschaft sich endlich über die »Katheten und Moneten«, »Verbalien und Australien«, »Romulus und Fidibus«, »Multiplikant und Elefant« so erbost fühlte, daß unter dem Vorsitze des bereits genannten »Alten« beschlossen wurde, gegen diesen Unfug ohne Nachsicht vorzugehen. Die nun folgenden Verweise und anderen Strafen erreichten zwar ihren Zweck, hatten aber leider für mich die Folge, daß ich, der vorher so Vielumworbene, nun wie eine Selters- unter lauter Champagnerflaschen gemieden wurde, was den ebenso wohlbegründeten wie unerschütterlichen Vorsatz in mir wachrief, meine etwaigen Gedichte auf alle Fälle erst nach meinem Tode erscheinen zu lassen. Daß ich diesem Entschlusse bis auf einige wenige Ausnahmen treu geblieben bin, macht mich gewiß des Dankes der Mit- aber wohl schwerlich der Bewunderung der Nachwelt wert!

Was die oben erwähnte Weihnachtsreise betrifft, so pflegte ich in allen Ferien eine längere Fußwanderung vorzunehmen. Ich lag zufolge meiner Neigung, meiner Zukunftspläne und aus noch anderen Ursachen mehr über den Büchern als meine Mitschüler und mußte mich darum von Zeit zu Zeit einmal tüchtig körperlich ausarbeiten, was durch eine weite Gehtour am besten geschehen konnte. Dabei schloß sich mir meist ein mir sehr sympathischer Mitschüler an, der, wenn auch nicht so arm wie ich, aber doch ebenfalls zur Sparsamkeit veranlaßt war. Ein fleißiger und ernster Junge, pflegte er, außer mit mir, nicht viel zu sprechen und wurde deshalb Cyprinus Carpio oder kurz weg Carpio genannt, weil Karpfen bekanntlich auch nicht gern viele Worte machen. Wir pflegten unsere beiderseitige Barschaft zwar nicht in eine gemeinsame Reisekasse zu verschmelzen, aber doch der eine mit den Mitteln des andern zu rechnen, was zur Folge hatte, daß der, welcher mehr besaß, sich stets bemühte, heimlich dafür zu sorgen, daß der gegenwärtig Ärmere nicht unter seinem augenblicklichen Proletariat zu leiden hatte. Es kamen da Beispiele von Selbstlosigkeit und Aufopferung vor, welche wirklich rührend waren, obgleich oder vielleicht grad weil es sich dabei um ganz geringe Beträge, um Groschen oder gar nur um Pfennige handelte. Das ganz natürliche Ergebnis dieses Verhaltens war, daß am Schlusse jeder solchen Reise bei beiden der Rest ihres Geldes genau derselbe war. Wenn einer unserer heutigen Finanzminister dabeigestanden und gehört oder gesehen hätte, mit welch einer weisen und bedachtsamen Wichtigkeit wir über die geringste Ausgabe verhandelten, er hätte von uns lernen können. Wir sind sogar einmal über den Fluß geschwommen, um zwei Kreuzer Fährgeld zu ersparen.

Dieser prächtige Junge wollte die von mir geplante Weihnachtsreise gar zu gern mitmachen, glaubte aber, daß ich ihn dieses Mal nicht mitnehmen wolle, weil er nicht mehr als zwei Thaler zusammenbringen konnte; da war ich gegen ihn doch der reine Millionär! Ich machte ihn aber durch die Versicherung glücklich, daß es einem solchen Millionär ein Leichtes sei, einen armen Teufel mit durchzuschleppen. Er mußte mit! Wir konnten die Wanderung nicht gleich mit dem Beginne der Weihnachtsferien antreten, denn es verstand sich ganz von selbst, daß wir die Feiertage bei unseren Eltern verlebten, und als wir dann am bestimmten Orte zusammentrafen – denn wir hatten natürlich wie alle bedeutenden Menschen ein »Rendezvous« verabredet, teilte er mir strahlenden Auges mit, daß sein Vater ihm einen Thaler zugelegt habe. Wir standen also nicht mehr 2 sondern 3 zu 5, und er hatte sich meiner Million ganz bedeutend genähert.

Und wohin sollte unsere Reise gehen?

Gewöhnlich marschierten wir auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen hin. Wir konnten uns da einbilden, die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien oder gar den Himalaya zwischen Tibet und Indien zu durchwandern. Wir hatten da Städte und Dörfer, Berge und Thäler, Felsen und Wiesen, Flüsse und Bäche, Sonnenschein und Regen, kurz, alles, was unser Herz begehrte. Mehr konnten wir nicht verlangen und auch in keiner andern Gegend finden. Dieser Schauplatz unserer Weltreisen war uns lieb geworden, und es gehörte schon ein ungewöhnlicher Entschluß nach einer vorhergehenden langen Konferenz dazu, wenn wir einmal einen andern wählten.

Eigentlich hatte diese treue Anhänglichkeit auch einen weniger psychischen Grund, den ich, nachdem wir ihn so lange geheimgehalten haben, heut doch einmal verraten will. Ich kann das nun ohne größere Gefahr thun, weil wir jetzt doch nicht mehr da oben herumsteigen und also andere, ebenso würdige Menschen von den Vorteilen unseres Geheimnisses profitieren lassen können.

Es gab eine für uns sehr wichtige Ursache, welche uns stetig oder vielmehr unstet zwischen Österreich und Sachsen hin und her pendeln ließ. Diese Ursache hieß: Kurs, der Geldkurs nämlich. Man glaube ja nicht, daß nur wirkliche, faktische Millionäre sich mit den Geldkursen zu beschäftigen haben, o nein; je weniger man besitzt, desto wichtiger wird der Kurs; das haben wir beide an uns selbst erlebt. Damit soll freilich nicht etwa gesagt sein, daß folglich der Kurs für den am allerwichtigsten sei, der gar nichts besitzt, sondern es müssen zwei tüchtige Geldleute zusammentreten, welche gewisse, sichere Fonds besitzen, z.B. der eine drei und der andere fünf Thaler; die machen eine Reise, eine sogenannte Kursreise, von welcher sie, besonders wenn sie dem privilegierten Stande buntbemützter Schüler angehören, ganz ungeahnte Vorteile ziehen können. Aber pfiffig muß man sein, und Schüler muß man sein! Warum, das werde ich gleich erklären.

Wie steht heut der Gulden? So und so! Hm! – – Wenn der gewöhnliche Sterbliche mit Thalern zahlt und Gulden heraushaben will, dann stehn die Thaler schlecht. Zahlt er Gulden und will Groschen haben, so stehen die Gulden schlecht. Und will er sich überzeugen, so ist kein Kurszettel zu haben. Tritt aber ein ungewöhnlicher Sterblicher, also ein Schüler herein, so traut man ihm kein Geld zu, obgleich er entweder drei oder gar fünf Thaler in der Tasche hat. Man sagt ihm ganz ehrlich, wie heut der Gulden steht, und wenn man das nicht weiß, so zieht er selbst einen für ihn vorteilhaften Kurszettel hervor, von welchem leider das Datum abgerissen ist. Er ißt und trinkt, bezahlt und geht dann fröhlich von dannen. Wohin? Ja, darin liegt das großartige Geheimnis. Nämlich steht der Gulden schlecht, so kehrt der Schüler auf sächsischer Seite ein und läßt sich für einen Thaler österreichisches Geld geben; steht der Gulden hoch, so kehrt er auf böhmischer Seite ein und wechselt die Kreuzer in Groschen und Pfennige um. Wenn der Schüler ein bedeutender Kapitalist ist und es also lange genug aushalten und durchführen kann, so ist es ihm nicht schwer, Gewinne von solcher Höhe einzustreichen, daß ein gewöhnlicher Sterblicher, wenn er dies erführe, ihn beneiden würde. Carpio und ich, wir also, haben bei einem Reisegelde von zusammen vier Thaler in acht Tagen böhmischerseits elf Kreuzer und auf der sächsischen Seite sechzehn Pfennige profitiert, was unserm Reiseunternehmen einen vorher ganz ungeahnten Schwung verlieh. Es gehörte aber auch ein gradezu großartiger Aufwand von Scharfsinn und Unternehmungsgeist dazu, die Kursverwickelungen zu durchschauen und jede Chance augenblicklich zu benutzen. Wir sind z.B. in strömendem Regen stundenweit von Sachsen hinüber nach Böhmen oder in umgekehrter Richtung gerannt, um uns für fünfzig Kreuzer Pfennige oder für fünfzig Pfennige Kreuzer geben zu lassen. Der Profit wurde in Powidl, sauren Gurken oder andern nahrhaften Dingen angelegt, und reichte er nicht aus, so war das Kapital ja auch nur da, um nach und nach verbraucht zu werden. Auf diese Weise kam man im Zickzack zwischen Sachsen und Böhmen herüber und hinüber immer vorwärts, hatte geistige und geschäftliche Anregung in Menge, triumphierte über alle Kurse der Erde und fühlte eine wahre Protzenseligkeit, weil man alle Tage von früh bis zum Abende mit Geld nur so um sich warf, was man dann nach den Ferien leider nicht mehr konnte. Wir haben da köstliche Zeiten verlebt, in denen uns kein Talken und kein Zwetschgenbrötchen zu teuer war, die Bauerngüter gar nicht mitgerechnet, in denen man umsonst mit essen und soviel Milch trinken durfte, daß die Kuh hätte brummen mögen!

Im Winter, wo der Schnee da oben im Gebirge zuweilen haushoch liegt, war es freilich schwieriger, dem Kurs hinüber und herüber nachzusteigen; aber wir hatten uns, wie man weiß, mit ganz beträchtlichen Mitteln versehen und konnten nun auch einmal als Kapitalisten reisen, denen der Kurs von Zeit zu Zeit mal Schnuppe ist.

Ausgerüstet waren wir in jeder Weise so vorzüglich, daß wir sofort eine Besteigung des Montblanc hätten vornehmen können, ohne etwas zu vermissen. Regenschirme gab es natürlich nicht; das wäre unmännlich gewesen, Spazierstöcke auch nicht; unsere Wanderstäbe wuchsen, ihrer Erlösung harrend, in irgend einem Busche. Überröcke? Pfui! Wir waren deutsche Jünglinge! Handschuhe? Wenn der Mensch welche tragen sollte, wäre er mit Handschuhen geschaffen worden. Irgend welches Pelzwerk? Nein; das ist für Eskimos da, aber nicht für einen Carpio und seinen fünf Thaler schweren Freund! Aber eine gemeinschaftliche Zeichenmappe hatten wir uns aus fünf Bogen Konzeptpapier zusammengeheftet; Carpio trug sie in einem alten, verwaisten Fernrohrfutterale auf dem Rücken. Es ist leider nichts hineingekommen, denn stets wenn wir einen des Kopierens werten Gegenstand fanden, waren unsere Finger vor Kälte so steif, daß wir den Bleistift nicht regieren konnten. Ich hatte eine Botanisiertrommel umhängen, aber natürlich nicht zum Botanisieren oder Pilzesuchen jetzt im Winter; sie enthielt unser ganzes Reisegepäck nebst allen Toilettenartikeln, welche für uns auszudenken waren; ich werde mich hüten, sie zu verraten! Viele Nummern aber waren es nicht! Zwei Landkarten hatte Carpio auch besorgt, eine von Sachsen und eine von Böhmen, weil wir doch zwischen beiden lust- und schneewandeln wollten; aber schon am ersten Tage stellte es sich heraus, daß sie, wie er behauptete, von seiner Schwester verwechselt worden waren; die eine war von Schweden und Norwegen, die andere von Algier, Tunis und Tripolis. Wir beschlossen einstimmig, sie nicht wegzuwerfen, sondern für spätere Reisen nach diesen Ländern aufzubewahren. Auch Nähzeug war da. Man braucht das auf Reisen, der abgerissenen Knöpfe wegen; aber was eine Häkelnadel dabei wollte, das war mir ein Rätsel.

Mit Cigarren waren wir sehr gut versehen. Jeder hatte zwei Stück à drei Pfennige. Sie waren nur für ganz besonders festliche Gelegenheiten bestimmt, und wir faßten den kühnen Plan, sie nicht zu verzollen, sondern nach Österreich einzuschmuggeln. Wir steckten sie also in die Stiefelschäfte. Als wir sie am Abende hervorholen wollten, waren sie zu Mehl zerrieben; sic transit gloria mundi!

Die übrigen Ausrüstungsgegenstände waren mehr intimer Natur, je nach den individuellen Passionen des Besitzers: Bindfaden, Feuerschwamm; ein Eissporn Carpios, zum abwechselnden Gebrauch für beide Beine; ein Fläschchen Fischthran als Stiefelschmiere; er, oder vielmehr seine Schwester wieder, hatte aber Terpentin erwischt; ein Brennglas, welches ein Erbstück von seinem Großoheim war. Als ich ihn fragte, zu was es jetzt im Winter dienen solle, warf er alle meine Kenntnisse durch die herablassende Bemerkung über den Haufen, daß man im Winter ebenso wie im Sommer den Meridian von Komotau berechnen könne. Noch andere Dinge anzuführen, würde indiskret sein. Höchstens darf ich noch erwähnen, daß Carpio ein hölzernes Sicherheitsschloß eigener Erfindung bei sich trug. Es sollte zur Sicherstellung unsers Lebens und mehr noch unserer Kapitalien dienen, falls wir gezwungen sein sollten, in einem fragwürdigen Hause zu übernachten. Als er es gleich im ersten Quartier an die Thür befestigen wollte, hatte er, oder vielmehr seine Schwester, wie er behauptete, die dazu nötigen vier Schrauben daheim gelassen.

Es muß gesagt werden, daß unser Rendezvous das Städtchen Rehau in Oberfranken war. Von da wanderten wir, die vier Cigarren schmuggelnd, nach Asch, und dann ging es auf Eger zu. Mit dieser für unsere Finanzen ganz bedeutenden Großstadt konnten wir uns nicht abgeben, wanderten also hindurch und noch einige Kilometer weit nach Tirschnitz, wo wir nach langem, anstrengendem Marsche abends spät und ermüdet ankamen. Wir zahlten jeder ein Bier, für zwanzig Kreuzer Kartoffeln mit Quark und ließen uns dann unsern Schlafsalon anweisen, welcher die schwere Summe von fünfzig Kreuzern kostete. Hier war es, wo uns die Cigarren die größte der Enttäuschungen bereiteten und dann das Sicherheitsschloß den Dienst versagte. Wir steckten unsere Kapitalien also in den Ofen, aus welchem Carpio aber nach einigem Überlegen seine Einlage wieder herausnahm, um sie in seinem Bette zu verbergen. Er meinte, es sei nicht vorteilhaft, beide Beträge an einem und demselben Orte aufzubewahren, wo dann, falls ein Einbrecher käme, alles verloren sei; man müsse sie vielmehr trennen, damit der Spitzbube nur den einen Teil bekomme, der andere aber gerettet werde. Ich fügte mich seiner überlegenen Weisheit, legte mich nieder und schlief bald ein, wurde aber bald wieder durch ein Geräusch erweckt. Es wurde von Carpio verursacht, welcher mir auf mein Befragen mitteilte, daß er vorhin beim Scheine unserer Zündhölzer ein Stück Ziegelstein hinter dem Ofen habe liegen sehen. Dieses hatte er hervorgeholt und in sein Taschentuch geknotet, wodurch ein höchst brauchbarer Totschläger entstanden war, mit welchem er jedem hoffentlichen Einbrecher den Kopf behämmern wollte. Tief getröstet und beruhigt durch diese uns sichernde Maßregel meines Busenfreundes schlief ich wieder ein und wachte nicht eher wieder auf, als bis Carpio mich an den Armen emporriß und mir im höchsten Zorne die Entdeckung zuschrie:

»Höre, mein Geld ist weg, mein ganzes, ganzes Geld mitsamt dem Portemonnaie! Der Totschläger ist unnütz gewesen; es ist doch so ein Halunke hereingekommen und hat in den Ofen gegriffen! Aber warum er nur mein Geld genommen und das deine liegen gelassen hat, das wird mir ein ewiges Rätsel bleiben! Ich laufe hinab, sofort! Der Wirt muß alles, alles ersetzen!«

»Warte noch! Dein Geld hat im Ofen gelegen?«

»Natürlich!«

»Du hast es selbst wieder herausgenommen und in dein Bett versteckt. Suche nach!«

Er suchte und fand es, holte erleichtert und tief Atem und sagte:

»Das ist ein Glück für den Wirt! Ich hätte weder geruht noch gerastet und ihn nötigenfalls bis zur Auspfändung getrieben. Weißt du, was der Kaffee kosten wird?«

»Zehn Kreuzer ohne Brot.«

»Und das Brot?«

»Zehn Kreuzer ohne Kaffee.«

»So bestellst du Kaffee für dich, und ich laß mir Brot für mich geben; dann teilen wir und zahlen bloß zwanzig Kreuzer. Was wir hier sparen, können wir dem Mittagessen zulegen. Bist du einverstanden?«

»Ja. Nobel ist das zwar nicht, aber wir machen dann schnell, daß wir fortkommen und nicht lange bekrittelt werden.«

»Bekrittelt? Willst du dich nicht für akademisch gebildete Kapitalisten eines bessern Ausdruckes bedienen? Diese Böhmen werden alles, was wir thun, für vornehm halten, wenn sie es auch nicht begreifen können.«

Wir frühstückten also für zwanzig Kreuzer, ließen uns für vornehm halten und reisten dann ab. Unser heutiges Ziel war Falkenau, wo wir gegen Abend lebendig ankamen, obgleich mein Freund das Unglück gehabt hatte, seinen Eissporn zu verlieren; wie das zugegangen war, das wußte er selber nicht und ich noch viel weniger. Er war nicht nur schmerzlich bewegt, sondern sogar tief betrübt über diesen ebenso schweren wie unersetzlichen Verlust, und ich gab mir ihm zuliebe den Anschein, als ob der Eisenstachel auch meinem Herzen teuer gewesen sei. Wir blickten ihm voll Trauer in die Vergangenheit nach und wendeten uns dann mit männlicher Resignation einer einfachen Herberge zu, deren Aussehen mit unserm heutigen Budget zu harmonieren versprach.

Eben wollten wir eintreten, da kam ein Gendarm heraus, der sich darüber zu wundern schien, daß wir dahinein wollten. Er grüßte höflich und fragte dann:

»Sie sind doch wohl Studenten, meine Herren, nicht?«

Ich nickte; Carpio aber zog seinen Schülerpaß aus der Brusttasche, schob ihn dem Sicherheitsbeamten in die Hand und antwortete:

»Ja, wir sind Studenten. Bitte, überzeugen Sie sich!«

Der Gendarm öffnete den Paß, las ihn und gab ihn mit einem eigentümlichen Lächeln und den Worten zurück:

»Wenn Sie das alles sind, was hier verzeichnet steht, so sind Sie ein gemachter Mann, lieber, junger Herr!«

»Das alles bin ich allerdings!« versicherte mein Busenfreund in stolzem Tone. »Es ist sogar der Gymnasialstempel daraufgedrückt.«

»Den sehe ich nicht!«

Carpio sah den Paß nun selbst auch an und fand, daß das, was er in der Hand hatte, ein Verzeichnis der Regierungsjahre der deutschen Kaiser von Karl dem Großen bis auf Franz den Zweiten war. Er suchte eine ganze Zeit lang nach dem Passe und rief, als er ihn nicht fand, entrüstet aus:

»Das ist nun wieder einmal ein Versehen von meiner Schwester, die mir diese Tabelle anstatt des Passes in die Tasche gesteckt hat. Solche Tollheiten können doch unbedingt nur bei Personen vorkommen, welche keine Masculina, sondern entweder Feminina oder Neutra sind!«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen!« tröstete ihn der Polizist. »Ich habe nicht nach Ihrem Paß gefragt; man sieht es Ihnen ja an, daß Sie das sind, wofür Sie sich ausgeben, und wenn es unter besonderen Umständen nötig sein sollte, so wird Ihr Kollege seinen Paß besitzen, welcher Sie dann beide legitimiert.«

»Hast du denn deinen?« fragte mich Carpio.

»Ja, denn ich verlaß mich nicht auf meine Schwestern, die übrigens ihre Sinne stets beisammen haben. – Kann vielleicht unsereins hier in diesem Hause auch wohnen, Herr Unteroffizier?«

»Hm,« brummte der Mann. »Ich wunderte mich schon darüber, daß Sie hinein wollen, denn es ist eine Herberge für Handwerksburschen. Kommen Sie lieber mit zum Franzl! Ich gehe eben hin und werde Sie führen.«

Diese Aufforderung war jedenfalls recht gut gemeint, aber Carpio fiel schnell ein:

»Hat er ein Hotel, einen Gasthof? Ist es teuer bei ihm?«

Da schlug der Beamte eine breite, behäbige Lache auf und antwortete:

»Der Franzel? Teuer? Zumal gegen die Herren Studenten? Hahahaha! Da müssen Sie ihn kennen lernen! Er ist auch Student gewesen; er hat auf Schulmeister studiert, die Sache aber aufgegeben, weil ihn die reiche Wirtin zum Mann genommen hat. Nun spricht er von nichts lieber als von seinem Studium und hat keine größere Freude als wenn Studenten bei ihm einkehren. Wenn sie ihm gefallen, so ist es dann sein Gaudi, daß er sich nichts bezahlen läßt. Kommen Sie nur; die Sache läßt sich wohl machen!«

Er ging voran, und wir beide folgten ihm; dabei hielt mich mein Freund ein wenig zurück und fragte besorgt:

»Du, ob wir diesem famosen Wirte Franzl wohl gefallen werden?«

»Warum sollten wir denn nicht?«

»Weil jeder Mensch seinen besonderen Geschmack hat. Wenn er seinen Narren an uns frißt, so ist es wohl möglich, daß wir nichts zu bezahlen brauchen; aber wenn er uns erst fein und teuer traktiert und dann hinterher nicht leiden mag, so können wir leicht mit einem einzigen Schlage um dein und mein ganzes Vermögen kommen!«

»Das steht nicht zu befürchten. Man bezahlt doch nichts, was man nicht selbst bestellt hat, und wir werden uns wohl hüten, eine große Rechnung auflaufen zu lassen. Es giebt derartige Menschen, wie der Gendarm den Franzl beschreibt – Schulmeister studirt! – sie besitzen keine akademische Bildung, denken aber vielleicht, noch mehr als das zu können. Wenn man sie bei dieser ihrer Meinung läßt, fließen sie vor lauter Freundschaft über. Dieser Franzel ist vielleicht ein hübscher, junger Mensch gewesen und hat nur aus diesem Grunde eine reiche Frau bekommen. Wir werden ja sehen.«

»Höre, Sappho, du sprichst ja wie ein Buch, und noch dazu gar wie ein gedrucktes! Das hast du während unserer jetzigen Reise noch nicht gethan!«

Sappho! Da kommt es doch ans Tageslicht, was ich verschweigen wollte! Man weiß, daß fast kein Student oder Gymnasiast ohne Spitznamen bleibt; ich war bis vor kurzem so glücklich gewesen, nur bei meinem gewöhnlichen Namen genannt zu werden, aber das war seit meinem Weihnachtsgedichte anders geworden. Man hatte nach einem Dichternamen für mich gesucht, und da dieser doch einen scherzhaften Anstrich haben mußte, war man auf den sonderbaren Gedanken gefallen, mich nicht nach einem Dichter, sondern nach einer Dichterin zu nennen. Man hing mir den Namen Sappho an, und als ich mich sträubte, dies zu dulden, bewies man mir, daß es keinen bezeichnenderen geben könne, weil Sappho die berühmteste Dichterin des Altertums und durch die unübertreffliche Reinheit und Schönheit ihrer Verse ausgezeichnet sei. Was konnte ich nun thun? Ich mußte mich fügen!

Wenn Carpio sagte, daß ich während unserer Reise jetzt zum erstenmal wie ein Buch gesprochen habe, so hatte er wohl recht. Damit er sich auf unserer Wanderung wohlbefinden solle, gab ich mich ganz so, wie er war; ihm war das nur nicht aufgefallen, weil er keine Spur von Beobachtungsgabe besaß. Der mir liebe, immer ernste und stets fleißige Freund besaß einige Eigenschaften, welche leicht seine ganze Zukunft in Frage stellen konnten. Er war zunächst von einer geradezu kindlichen oder gar kindischen Harmlosigkeit, die keine Thatkraft aufkommen läßt und alles womöglich beim Schwanz anstatt beim Kopfe anfaßte. Dabei liebte er es, der einfachsten Sache eine größere Bedeutung, als sie besaß, beizulegen und besonders auf unsern Wanderungen dem nüchternsten Gegenstand oder Vorkommnis eine romantische Färbung zu erteilen. Daher der Eissporn, das Sicherheitsschloß, das Brennglas und andere Gegenstände, welche er mitgenommen hatte.

Eine andere und zwar seine hervorragendste Eigentümlichkeit war eine Zerstreutheit, welcher man bei seinem jetzigen Alter zwar nur die heitere Seite abzugewinnen brauchte, die aber doch schon versprach, später für ihn verhängnisvoll zu werden. Ich hatte mir, soviel es mir möglich war, Mühe gegeben, ihn zur Sammlung anzuspornen, aber leider auch nicht den kleinsten Erfolg gehabt. Im Gegenteile, wenn er auf seine Zerfahrenheit aufmerksam gemacht wurde, steigerte sie sich nur; er wurde ängstlich und beging in dieser seiner Befangenheit noch viel größere Fehler als vorher. Ich gab es also auf, ihn zu ändern; suchte seine Eulenspiegelstreiche soviel wie möglich zu vertuschen und gab mich, wenn ich mit ihm allein war, ebenso kindlich unbeholfen wie er selber. Dadurch hatte ich ihn wahrscheinlich noch fester als früher an mich gekettet. Wir schienen zwei unbedachtsame Kinder zu sein; er war auch eins; ich aber wachte heimlich über ihn und hielt, indem ich mir den Anschein gab ganz in seinem Willen aufzugehen, alle Unannehmlichkeiten möglichst fern von ihm. Er glaubte, selbständig zu handeln; in Wirklichkeit aber war ich es, nach dem er sich richtete, ohne es zu wissen.

Zuweilen aber tauchte doch eine Ahnung in ihm auf, daß ich der Bestimmende und er der Geleitete sei. So auch jetzt, wo ich meine Meinung über den Wirt Franzl äußerte, ohne ihn gesehen zu haben. Ich fügte hinzu:

»Weißt du, Carpio, wenn jemand nicht bei seinem Familien- sondern bei seinem Vornamen genannt und dieser letztere sogar in der Koseform, nicht Franz sondern Franzl gebraucht wird, so ist mit Sicherheit anzunehmen, daß er ein sogenannter guter Kerl ist. So stelle ich mir den Wirt vor, und als einen solchen guten Kerl müssen wir ihn behandeln, ihm dabei aber auch ein bißchen imponieren.«

»Imponieren? Womit? Lateinisch oder griechisch reden?«

»Nein; das würde ihn abstoßen, weil er es wahrscheinlich nicht versteht. Er scheint ein Lebemann zu sein; da müssen wir, so was man sagt, jovial auftreten, so thun, als ob wir seinesgleichen und schon längst mit ihm bekannt seien. Und was das Imponieren betrifft, so – – ah, da denke ich an das, was mir der »Alte« sagte, nämlich daß es mir keine Mühe macht, stundenlang in Reimen zu reden. Du bist ja auch nicht auf den Kopf gefallen und hast mir schon öfters mit ganz passablen Knüppelversen geantwortet. Wollen wir diesen Franzl mit Reimen anulken?«

»Der Gedanke ist nicht schlecht; ich werde mein möglichstes thun. Aber wenn er es sich nun nicht gefallen läßt?«

»Da halten wir inne und werden rasch vernünftig. Also los! Wir scheinen hier am Ziele zu sein.«

Der Gendarm hatte uns durch einige Gassen geführt und lenkte nun zu einem Einkehrhause, zu dessen Thür einige Stufen emporführten. Das Gebäude machte mit der Umgebung, die zu ihm gehörte, einen stattlichen Eindruck. Wir schritten die Stufen hinan und kamen in einen nach Stallduft riechenden Flur, wo der Polizist eine Thür öffnete, einen forschenden Blick in die Gaststube warf und dann heiteren Tones rief:

»Grüß Gott, Franzl! Da bin ich schon wieder und bring famose Gäste mit.«

»Wen denn?« fragte eine fette Stimme.

»Zwei Studenten aus Bayern oder anderswo, die für die Nacht gern ein warmes Nest haben möchten.«

»Studenten? Halloh, herein mit ihnen! Für solche Herrschaften habe ich soviel Nester, wie sie sich nur wünschen können. Ubi bene, ibi patria!«

Wir traten in die Stube, die ziemlich groß aber niedrig war. Links stand eine Frau beim Butterfaß. Sie hatte »gebuttert« und war nun beschäftigt, die Buttermilch – meine Wonne! – durch ein Seihtuch zu gießen. Das war die Wirtin. Rechts von der Thür saßen einige Männer gewöhnlichen Schlages beim billigen böhmischen Schankbier. Aber der Thür gegenüber gab es einen großen runden Tisch, an welchem einige Personen, denen man die Honoratioren ansah, Platz genommen hatten. Einer von ihnen war aufgestanden und sah uns erwartungsvoll entgegen. Ich konnte gar nicht bezweifeln, daß er der Franzl war. Ja, er mußte vor Jahren ein fescher Bursche gewesen sein; noch jetzt trug er sein glänzend eingefettetes dunkles Haar in verlockend gelegte Ringel. Eine blütenweiße Schürze bedeckte den Schmeerbauch; über dem Latze derselben thronte eine sanft quatschelige Unterkehle, die in ein glattrasiertes, volles und rotwangiges Gesicht überging, in welchem wohlwollende Heiterkeit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Als der Blick der freundlichen Augen kurz auf uns geruht hatte, kam der Mann vollends hinter dem Tische hervor, streckte uns die Hand zum Gruße entgegen und sagte:

»Ja, man sieht es der ganzen, vornehmen Haltung an, daß Sie Studenten, wirkliche, echte Studenten sind. Seien Sie uns willkommen; setzen Sie sich hier bei uns an diesem Tische nieder, und sagen Sie, wozu Sie Appetit haben!«

Ich schüttelte ihm die Hand und antwortete unverzüglich mit dem ernstesten Gesichte der Welt:

»Ich bitte, nicht verkehrt zu fragen – – und will die Wahrheit Ihnen sagen: – – Wir haben, wie ein jeder sieht – – nicht Appe- sondern Trinketit!«

Der liebe Franzl fuhr zwei Schritte zurück, riß die Augen weit auf und fragte ganz erstaunt:

»Wie – – wa – – was? Appe – – Trinke – – tit – – tit – –? Sie meinen, daß Sie nicht essen sondern trinken wollen? Gut! Was darf ich bringen?«

»Es läuft aus diesem großen Faß – – hervor ein delikates Naß, – – das in der Stadt und auf dem Land – – als Buttermilch ist weltbekannt; – – wir wollen weder Bier noch Wein; – – schenkt uns davon zwei Gläser ein!«

»Faß – – – Naß – – – Land – – – Kanne – – – Wein – – – ein – – –? Hören Sie, sagen Sie: Sie sind wohl gar ein Dichter, ein wirklicher, unzweifelhafter, ausgebildeter Dichter?!«

»Ich bin ein Dichter, aber nicht – – für jeden mach ich ein Gedicht, – – doch unsers guten Franzls wegen – – kann man sich schon aufs Dichten legen, – – denn er ist ein gar kluger Mann, – – der diese Kunst begreifen kann; – – drum gebt das Glas mit Milch jetzt her; – – auf Franzls Wohl trink ich es leer!«

Zu meiner Freude fiel Carpio auch schnell ein:

»Auch ich trink bis zum Boden aus, – – zum Gruß dem Wirt und seinem Haus, – – und thu ich das um seinetwillen, – – so mag er es auch wieder füllen!«

Wir tranken aus und gaben ihm die Gläser zurück. Er schien das große Glück, unsere Bekanntschaft machen zu dürfen, immer noch nicht ganz begreifen zu wollen; dann aber warf er die leeren Gläser plötzlich in die Ecke auf das Kanapee, nahm uns bei den Händen, zog uns zum Tische hin und rief:

»Ach was, Buttermilch! Wein her, Wein! Wir haben da nicht nur einen sondern gleich zwei Dichter! Fama crescit fundo! So eine Überraschung, so eine Freude! Hol Wein, Anna, Wein! Ich weiß, was man so geistreichen Herren vorzusetzen hat! Setzen Sie sich nieder, immer nur nieder, denn wissen Sie, habenti dabitur et abundabit!«

Ich setzte mich zwar, wehrte aber ab:

»O nein, bringt ja noch keinen Wein; – – es darf nur Buttermilch jetzt sein, – – doch ist der erste Durst gestillt, – – dann sind wir auch zu Wein gewillt!«

»Na, dann meinetwegen Buttermilch, wenn es denn nicht anders sein darf; aber später müssen Sie mir erlauben, Sie als meine ganz besonderen und persönlichen Gäste zu betrachten! Zu bezahlen haben Sie natürlich nichts, keinen Kreuzer, ganz und gar nichts!«

Carpio warf mir einen Blick zu, und als ich diesen nicht beachtete, versetzte er mir einen kräftigen Fußtritt, der freilich deutlicher war. Und nun folgte eine sehr bewegte Scene. Die Gäste, welchen vorhin vor Verwunderung die Sprache ausgegangen zu sein schien, fanden sie jetzt wieder; die, welche am andern Tisch gesessen hatten, blieben nicht länger dort; sie kamen herbei und präsentierten uns ihre Biergläser, die wir natürlich zurückwiesen. Alle sprachen auf uns ein und jeder wollte ganz besonders von uns gehört werden. Die an uns gerichteten Fragen wurden alle von uns mit Reimen beantwortet, was auf Franzl einen solchen Eindruck machte, daß er seiner Frau, die auch ganz entzückt von solchen Gästen war, die Weisung erteilte:

»Höre, Anna, diese hochgeehrten Herren bekommen keine gewöhnlichen Gastbetten, sondern sie schlafen in der guten Stube, wo der Glasschrank steht. Ich weiß, was Bildung heißt. Corvus corvo nigredinem objicit!«

Dieses sein Latein machte mir riesigen Spaß. Da er nur Sprichwörter brachte, nahm ich ihn sehr stark in Verdacht, sie irgend einem alten Verzeichnisse entnommen und sich eingeprägt zu haben, um sie gelegentlich loszulassen und als Lateiner zu gelten. Den lateinischen Text hatte er sich gemerkt, aber nicht den Sinn desselben, und so durfte man sich nicht darüber wundern, daß er sie meist grad dann in Anwendung brachte, wenn ihr Gebrauch zum Unsinn wurde. Es giebt solche eigentümliche Menschen, und er ist nicht der einzige dieser Art, den ich kennen gelernt habe.

Es kann nicht meine Absicht sein, die nun folgende Unterhaltung wiederzugeben; sie wurde von uns mit Reimen und von seiten des Wirtes mit den tollsten Lateineleien gespickt, wodurch er aber den sich sehr zahlreich einstellenden Gästen außerordentlich zu imponieren schien. Welche Schule er besucht und welchen Bildungsgang er hinter sich hatte, das konnten wir nicht erfahren; er schien Gründe zu haben, nicht davon zu sprechen, und wir waren nicht so rücksichtslos, ihm darauf bezügliche Fragen vorzulegen.

Ein kleines Intermezzo darf ich nicht umgehen. Mein Carpio hatte unterwegs bemerkt, daß ihn ein durch die Stiefelsohle gedrungener Nagel in den Fuß stach, und den Stiefel ausgezogen, um ein zusammengefaltetes Stück Papier unterzulegen. Jetzt bemerkte er, daß der Nagel auch in dieses Papier ein Loch gemacht hatte und ihm nun neue Schmerzen bereitete. Er vertraute diese schmerzliche Angelegenheit einem mit anwesenden Schuhmacher an, und da dieser sich bereit erklärte, die vorwitzige Nagelspitze abzustumpfen, so zog er den Stiefel aus, um ihn dem Helfer in der Not anzuvertrauen. Dabei fiel das nun durch die eingedrungene Feuchtigkeit des Schnees sehr unscheinbar gewordene Papier heraus. Es sah wie ein alter, abgebrauchter Guldenzettel aus. Als ich es aufhob, bemerkte ich, daß es Schriftzüge enthielt, welche freilich nicht mehr zu enträtseln waren; aber der noch ziemlich zu unterscheidende Gymnasialstempel belehrte mich, welch ein wichtiges Dokument ich in den Händen hatte. Ich gab es dem Freunde mit den Worten:

»Hier ist die Ehrenrettung deiner Schwester; ich hoffe, daß du ihr den schnöden Verdacht, welchen du ausgesprochen hast, nach unserer Heimkehr abbittest!«

Er faltete den Zettel auseinander, schüttelte den Kopf, gab ihn, nämlich den Zettel und nicht etwa den Kopf, dem noch anwesenden Polizisten hin und sagte:

»Sie sehen, daß ich meinen Paß sehr gut aufgehoben hatte; kein Spitzbube hätte ihn finden können. Ich bitte, sich nun zu überzeugen, daß Sie es wirklich mit den Schülern einer königlichen Bildungsanstalt zu thun haben!«

Als der Beamte sah, in welchem Zustande sich die Legitimation befand, wies er sie mit den freundlichen Worten zurück:

»Oh bitte, bitte, zweifeln Sie doch nicht an meiner Menschenkenntnis, die mir gleich beim ersten Blicke gesagt hat, daß ich es mit geistig hochstehenden und polizeilich unbeanstandeten Personen zu thun habe!«

»Schön!« nickte Carpio. »Wir erkennen Ihren Scharfsinn an und werden jenseits der Grenze an geeigneter Stelle erzählen, daß die Bewohner der österreichischen Länder auf ihre Polizeimacht stolz sein können.«

Indem er den wieder zusammengefalteten Paß in die Westentasche steckte, nickte er dem Gendarm in so gönnerhafter Weise zu, als ob er eine der höchsten Stellen im Wiener Justizministerium bekleide.

Als wir jeder drei Gläser Buttermilch getrunken hatten, wurden wir zum Schankbier avanciert und bekamen dazu Cigarren angeboten, welche der Wirt als zur besten Sorte Österreichs gehörig bezeichnete. Wenn ich mich nicht irre, waren es Virginias, die man zuweilen auch mit dem hochpoetischen Namen »Giftnudeln« zu bezeichnen pflegt. Als Carpio die seinige anbrannte und den lächelnden Ausdruck bemerkte, mit welchem er dabei von rundumher beobachtet wurde, machte er eine hoheitsvolle Handbewegung und sagte in geringschätzigem Tone:

»Ich will Ihren Kaiserstaaten gewiß nicht zu nahe treten, aber was Cigarren betrifft, so sind wir Ihnen in jeder Beziehung über. Diese hier zum Beispiel, welche von vorzüglicher Qualität sein soll, würde mir für den täglichen Gebrauch viel zu schwach sein. Es giebt bei uns eben ganz andere Raucher als hier bei Ihnen, meine Herren!«

Leider aber ließ er seine »Nudel« so oft ausgehen, daß er mit den Zündhölzern immer zwischen ihr und dem Asbestgläschen unterwegs war – es stand nämlich ein sogenanntes Tunkfeuerzeug auf dem Tische. Da ihm dabei der Geruch des Schwefels so oft in die Nase fuhr, zog er, ohne daß ich weiter darauf achtete, ein Papier aus der Tasche, zerriß es in lange, schmale Streifen, um Fidibus aus ihnen zu machen, und holte sich nun mit deren Hilfe das zum Anbrennen nötige Feuer von der in seiner Nähe qualmenden Öllampe. Damals gab es bekanntlich weder Gas- noch gar elektrisches Licht.

Trotz dieser immerwährenden Unterbrechungen war er, als ich die erste Cigarre geraucht hatte, schon mit seiner zweiten fertig. Man bot uns neue an, und als ich da für uns beide ablehnte, schlug Carpio diese Anmaßung in empörtem Tone zurück:

»Mische dich nicht in meine Angelegenheiten, Sappho! Eine Mondscheinnatur, wie die deinige ist, kann freilich nichts vertragen; ich aber bin aus Stahl und Stein gebaut und möchte die Cigarre kennen lernen, die meine Konstitution erschüttern könnte!«

»So ist es recht!« stimmte Franzl bei. »Ein guter Student muß ausgepicht und gegen Nikotin und Spiritus unempfindlich sein. Nummus ubi loquitur, Tullius ipse tacet. Nehmen Sie also immer noch eine!«

Und der Busenfreund nahm noch eine und hatte sie noch nicht aufgeraucht, als seine Fidibus zu Ende waren. Ich sah, daß er, wie ein Orientale sich ausgedrückt hätte, die Morgenröte seines Angesichts verlor, sagte aber nichts, weil ich ihn nicht beleidigen wollte.

Dann brachte die Wirtin das Abendessen herein. Es bestand in einer mächtigen Schüssel Fisolen und einer ebenso großen Schüssel geräuchertem Schweinefleisch. Beim Anblicke der großen, appetitlichen Fleischstücke lief mir, wie es später dem persischen Schah in London ergangen sein soll, das »allerhöchste Wasser seiner Majestät« im Munde zusammen; den Busenfreund aber schien die Lukullität dieses Nachtmahls kalt zu lassen; wenigstens lag, während meine Augen höchst wahrscheinlich vor Freude leuchteten, in den seinen ein entsagungsvoll nach innen gerichteter Blick und in seinen wehmutsvoll zusammengezogenen Mundwinkeln der Ausdruck jener schmerzlichen Resignation, mit welcher ein sonst sehr vernünftiger Bettler einst behauptet haben soll, daß es ihm niemals einfallen werde, einen Hundertthalerschein anzunehmen.

Wenn man bedenkt, daß zu diesen Fisolen und zu diesem Fleische nicht Bier, sondern Wein getrunken wurde, so wird man mir glauben, daß ich mich nicht allzu sehr nötigen ließ. Mein guter Carpio aber wollte, wie Franzl sich auszudrücken beliebte, »gar nicht anbeißen« und erklärte schließlich, als er sich durch teilnahmsvolle Fragen und Zusprüche in die Enge getrieben sah, daß er leider heute mittag zuviel gespeist und infolgedessen jetzt noch gar keinen Appetit habe. Dabei richtete er sein Auge mit der stummen Bitte um Verschwiegenheit auf mich; ich gewährte sie ihm im stillen, wurde aber dafür von ihm mit dem grassesten Undank belohnt, denn als man ihn darauf aufmerksam machte, daß doch ich nicht so ganz appetitlos sei, antwortete er wie aus einer Wolke der Erhabenheit herab:

»Es sind nicht alle Menschen gleich besaitet. Während der eine den Genüssen des Geistes und des Gemütes den Vorzug giebt, liebt es der andere, in materiellen Dingen zu schwelgen und schreckt am Ende sogar nicht davor zurück, seine Seele in Fisolen und Selchfleisch zu versenken. Weiter brauche ich wohl nichts zu sagen; Sie wissen ja: de gustibus non est disputandum, wie der Lateiner sagt.«

»Ja, ja,« nickte der Wirt, erfreut über die Gelegenheit, wieder einen Beweis seines Wissens geben zu können. »Es freut mich natürlich riesig, daß es Ihrem Kollegen so vortrefflich schmeckt, doch weiß auch ich die Vorzüge des Geistes zu schätzen und sage mit den Gelehrten des Altertums: Omne nimium nocet.«

O Franzl, Franzl, wüßtest du, was du mir soeben gesagt hast! So dachte ich, aß natürlich aber trotzdem ruhig weiter, denn ich hatte mich nun einmal so tief in das Materielle versenkt, daß man mir eine schnelle Umkehr aus dieser geistigen Verfisolung nicht zutrauen durfte. All mein psychisches Können und Wollen war, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, in diesem Augenblicke schon so verlottert, daß ich, wenn ich überhaupt beim Essen etwas sagte, schon längst nicht mehr in Reimen sprach, kann aber zu meiner Ehrenrettung den sehr moralischen Grund hinzufügen, daß ich den Wert des delikaten Geselchten weder durch trockene Jamben und Trochäen noch durch ungeräucherte Amphibrachen und Daktylen unvorteilhaft beeinflussen wollte.

Die Stube war bis zum Essen voller Gäste gewesen; nun ich mich aber mit solcher Schweigsamkeit den beiden Schüsseln widmete und mein Busenfreund ebenso still in sein geistiges oder, was wahrscheinlicher war, in sein körperliches Innere hinunter stieg, stockte die Unterhaltung, und der Fleiß, mit welchem wir in diesen Richtungen thätig waren, legte die Vermutung, daß wir so bald nicht wieder genießbar sein würden, in einer Weise nahe, daß sich einer nach dem andern entfernte, um zu Hause dasselbe zu thun, was wir hier thaten, nämlich essen.

So kam es, daß wir noch vor Beendigung des Abendmahles mit den Wirtsleuten allein waren, doch nicht lange, denn es stellten sich neue Gäste ein, welche mein Interesse sofort in vollstem Maße in Anspruch nahmen.

Es war ein alter Mann mit einer jüngeren Frau und einem vielleicht dreizehn Jahre alten Knaben. Sie mußten arm, sehr arm sein, wie ihre Kleidung bewies, welche keinen Schutz gegen die Kälte des Winters bieten konnte. Der weißhaarige, tief gebückte Alte kam mit wankenden Schritten herein und ließ sich vor Ermüdung gleich auf den nächsten Stuhl niederfallen. Da schloß er, ohne uns zu beachten, die tiefliegenden Augen und holte in einer Weise laut und rasselnd Atem, daß ich glaubte, er müsse vollends zusammenbrechen. Der Knabe legte liebevoll und besorgt den Arm um seine Schulter und streichelte ihm mit der andern Hand die zum Erschrecken hagere Wange. Beide hatten, der eine vor Ermüdung und der andere aus kindlicher Unkenntnis, keinen Gruß gesagt. Die Frau aber grüßte, legte das Bündel, welches sie trug, neben dem Alten nieder, faltete die Hände und fragte in flehendem Tone:

»Haben Sie vielleicht einen Platz für uns im Stalle?«

»Bettelvolk, das sich verstellt und nichts thun als vielleicht nur stehlen will,« flüsterte die Wirtin ihrem Manne zu.

Sie war nicht so gutmütig wie er, der gar nicht auf diese Worte hörte, sondern die drei Personen mit mitleidigen Augen betrachtete und sich dann erkundigte:

»Warum im Stalle und nicht im Bett?«

»Weil wir nicht bezahlen können,« antwortete die Fremde mit einem schweren Seufzer.

»Warum kommt ihr da zu uns? Hier ist keine Herberge für Handwerksburschen und Leute, wie ihr seid!« fiel die Wirtin schnell ein.

»Wir haben nach der Herberge gefragt, aber wir konnten nicht weiter; mein Vater fiel vor Müdigkeit um.«

Die Wirtin wollte noch etwas sagen, aber Franzl winkte ihr mit der Hand, zu schweigen, und forderte die Fremde auf, ihm die Legitimation zu zeigen. Sie zog einen sorgfältig in ein Tuch gewickelten Paß hervor, den sie dem Wirte gab. Er las ihn, schüttelte den Kopf, musterte die drei Personen noch einmal und sagte dann im Tone des Erstaunens:

»So weit kommt ihr her – in diesem Schnee und dieser Kälte! Und nach Amerika wollt ihr – nach Amerika, in diesen Kleidern und ohne Geld! Entweder ist das eine Lüge, oder seid ihr nicht bei Troste!«

»Es ist keine Lüge,« versicherte sie; »der Paß beweist es ja.«

»Aber wer nach Amerika will, muß Geld haben! Die Fahrt auf dem Schiffe hat kein Mensch umsonst!«

»Mein Mann hat uns die Schiffskarten geschickt.«

»Ihr Mann? Ist der schon drüben?«

»Ja. Er ist vor drei Jahren hinüber und hat gearbeitet und gespart, bis er uns die Schiffskarten schicken konnte.«

»Nur die Karten? Man braucht doch auch Geld, um bis nach der Hafenstadt zu kommen!«

»Das hatten wir, denn wir haben alles, was wir besaßen, verkauft. Viel war es freilich nicht, denn wir sind arme Leute, und die Käufer waren ebenso arm wie wir; aber bis nach Bremen hätte es gereicht, wenn mein Vater nicht krank geworden wäre. Er bekam einen Blutsturz, und es dauerte fast zwei Monate, ehe wir weiterkonnten; da ist das bißchen Reisegeld alle geworden.«

»Aber, mein Gott, da hättet ihr doch nicht weiter-, sondern wieder heimgehen sollen!«

»Heim? Was wollten wir dort, wo wir nichts mehr hatten und wo es uns schon vorher schlecht gegangen war? Wir haben doch die Schiffskarten, und drüben wartet mein Mann auf mich.«

»Ja, richtig! Aber es ist doch ein Kreuz und ein Elend, sich so ohne Geld und in einer solchen Kälte bis nach Bremen durchzubetteln! Ich weiß gar nicht, wie lange man da zu laufen hat, um hinzukommen. Wißt denn ihr den Weg?«

»Wir haben gefragt und werden uns auch weiter so durchfragen.«

»Na, sehr weit werdet ihr wohl nicht kommen, wenn der alte Mann so bleibt, wie er jetzt da auf dem Stuhle sitzt!«

»Wir werden uns ausruhen, wenn er es nur noch einen oder zwei Tage aushalten kann. Wir haben droben in Graslitz einen Verwandten, einen Blasinstrumentenmacher, der uns bei sich behalten wird, bis sich der Vater erholt hat.«

»Nach Graslitz wollt ihr? So hoch hinauf, bei diesem Schnee? Leute, ihr seid verrückt!«

»Oder auch sie sind nicht verrückt,« sagte seine Frau. »Man soll nur Mitleid haben. Der Paß wird wohl richtig sein; aber ob sie auch wirklich nach Amerika oder nur so herumzigeunern wollen, das ist eine andere Frage.«

Da begann die Fremde zu weinen, wickelte noch ein Couvert aus dem Tuche, gab es dem Wirte und schluchzte:

»Wir sind nur unglückliche Leute, aber keine Vagabunden. Wenn Sie sich überzeugen wollen, so machen Sie dieses Couvert auf; die Schiffskarten liegen drin!«

»Nein, behalten Sie es nur; ich brauch' es nicht zu sehen,« sagte Franzl, den die Thränen der Frau rührten. »Wollen sehen, was wir mit euch machen. Vor allen Dingen werdet ihr Hunger haben. Setzt euch dort an den Tisch!«

Die Frau warf ihm einen innigen Blick des Dankes zu und folgte seiner Aufforderung; die Wirtin aber stand unwillig brummend von ihrem Stuhle auf und verschwand in der Küche. Als sie hinaus war, raunte uns Franzl in vertraulichem Tone zu:

»Jetzt ist sie wild; aber ich thu doch, was ich will. Mann ist Mann, und wenn er tausend Weiber hat; annus producit, non ager, und nach dem Stalle werde ich diese armen Teufel doch nicht weisen.«

Auch wir zwei fühlten Mitleid mit den Leuten und thaten ungesäumt, was wir, die wir hier nichts zu sagen hatten, thun konnten: Ich trug mein volles Weinglas dem Alten hin, um ihn trinken zu lassen, und Carpius, dessen Teller noch voll war, gab ihn dem Knaben, der sich mit wahrem Heißhunger sofort über das Essen machte.

Es verging eine ziemliche Weile, ohne daß die Wirtin wiederkam; da wurde nun auch Franzl wild; er stand vom Tische auf und ging in die Küche, aus welcher dann die durch die Thür unterdrückten Töne eines sehr unregelmäßig komponierten Duettes zu uns drangen. Im ersten Teile hatte der sehr erregte Diskant die Führung, während der Baß nur zuweilen in besänftigender Weise einfiel; dann aber änderte sich die Stimmführung allmählich, bis sich der Baß in sehr kräftigen Kadenzen produzierte und der Sopran seine Existenz in einem verschwindenden Triller aushauchte, dem wir es deutlich anhörten. daß die Wirtin der Küche durch eine zweite Thür Valet sagte. Dann kam Franzl strahlenden Gesichtes wieder.

»Sie ist zur Nachbarin gegangen, wo nun weiter geblasen wird,« gestand er uns, die wir nicht wenig stolz auf dieses sein Vertrauen waren. »Inzwischen können wir hier machen, was wir wollen. Nun passen Sie einmal auf!«

Er nahm die große, noch halbvolle Fisolenschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm die ebenso noch halbvolle Fleischschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm noch eine ganz volle Weinflasche und trug sie den Leuten hin; er nahm alles, was auf unserm Tische stand und lag, und trug es den Leuten hin, und als es nichts mehr zu nehmen und zu tragen gab, setzte er sich noch selber zu ihnen hin und forderte uns auf:

»Kommen Sie auch her, meine Herren Studenten! Wir wollen uns mit diesen guten Leuten über Amerika unterhalten. Vielleicht können wir Neues von drüben erfahren, da der Mann dieser Frau geschrieben hat.«

»Interessieren Sie sich für Amerika?« fragte Carpio.

Er besaß nämlich eine große Vorliebe für das Land jenseits des atlantischen Oceanes, denn es wohnte ein Verwandter von ihm drüben, von dem seine Eltern zuweilen einen Brief bekamen. Welchen Grades die Verwandtschaft war, hatte ich nie von ihm erfahren können. Er liebte es, den amerikanischen Vetter so tief wie möglich zu verschleiern, und ließ aus diesem Dunkel nur zuweilen drei einzelne Blitze hervorschießen, die mir nach und nach so bekannt wurden, daß ich sie endlich selber auch hervorschießen lassen konnte: Erster Blitz – – El Dorado! Zweiter Blitz – – Millionär! Dritter und hellster Blitz – – Universalerbe! Ob er diese Blitze auch jetzt erscheinen lassen werde, darauf war ich sehr gespannt.

Franzl gestand aufrichtig, daß ihm die Gegend von Eger bis nach Karlsbad viel bekannter sei als die vielen Staaten und Territorien der United-States of America, und so setzte sich mein alter respektive sein neuer Busenfreund in Positur und ließ denjenigen Abschnitt unsers »Lehrbuches für höhere Schülerklassen« los, welches von den Vereinigten Staaten handelte. Er hatte ihn nämlich wegen der oben erwähnten drei Blitze auswendig gelernt. Er fand für seinen Vortrag in Franzl einen sehr aufmerksamen, in mir einen sehr zerstreuten und in den drei Fremden gar keinen Zuhörer, denn diese waren zu sehr mit sich selbst und der Stillung ihres Hungers beschäftigt, als daß sie auf die trockenen Einwohnerzahlen der verschiedenen See-, Fluß- und andern Städte hätten achten können.

Es war rührend, anzusehen, welche liebevolle Sorgfalt die Frau ihrem Vater widmete und wie auch der Knabe ihm das Beste von dem anbot, was er auf seinem Teller liegen hatte. Der Greis war so schwach, daß er sich kaum aufrecht halten konnte und wie ein Kind gespeist werden mußte. Der Wein that ihm gut, doch essen konnte er nur wenig; er schien vor allem der Ruhe, des Schlafes zu bedürfen, und wenn ich ihm so in das abgehagerte Gesicht blickte, war es mir so, als ob dieser Schlaf sein letzter sein werde.

Die Frau hatte, ehe sie nach dem ersten Bissen langte, laut gebetet, und man sah es ihr dabei an, daß sie das nicht unsertwegen, sondern aus Gewohnheit und Überzeugung that; am Schlusse des Mahles betete sie wieder und bat dann den Wirt, ihren Vater zur Ruhe legen zu dürfen. Da aber schüttelte der Alte den Kopf und sagte mit seiner müden, hohl klingenden Stimme:

»Nein, laß mich noch sitzen, meine Tochter! Wir sind durch Sturm und Schnee und Frost gewandert, als überall in den warmen Stuben die Weihnachtsbäume brannten. Wir mußten weiter, immer weiter, von Ort zu Ort, ohne uns auch mit freuen zu dürfen. Ich habe euch kein Licht anzünden und nichts schenken können; ihr mußtet frieren und hungern während der heiligen Tage, und da ich euch nicht auch noch mit Thränen betrüben wollte, weinte ich sie in mich hinein. Hier aber ist mir wohl; hier sind wir freundlich aufgenommen worden; hier ist es warm, und wir sind satt; hier wollen wir unser Weihnachtsfest feiern!«

Seine Worte waren oft durch einen trockenen, quälenden Husten unterbrochen worden. Jetzt, als er schwieg, faltete er die Hände und bewegte leise betend die Lippen. Die Frau legte ihre Hände auch zusammen und weinte leise vor sich nieder. Der Knabe biß die Zähne zusammen und sah uns an, im Zweifel darüber, wie wir uns verhalten würden, wenn er sein gewaltsam unterdrücktes Schluchzen nicht mehr niederhalten könne. Er war ein wackerer, kleiner Kerl!

Der betende Greis kam mir jetzt nicht mehr wie ein Bettler vor. Wenn die Berge hoch zum Himmel steigen, bedecken sie ihre Häupter mit Schnee, und wenn der Schnee des Alters den Menschen krönt, ist er dem Himmel nahe; Himmelsnähe aber erweckt Ehrfurcht in jeder fühlenden Menschenbrust. Der mit zitternden Lippen um Einlaß in den Himmel bittende Alte, die still weinende Frau und der mit seinen Thränen kämpfende Knabe, sie waren für mich ihrer Bettlerschaft entkleidet und zwangen mich, an die Schriftworte zu denken: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Welchen Eindruck machte die jetzige Situation gegen die kindische Heiterkeit, welche vorher hier geherrscht hatte! Während draußen in der Abendkälte das Elend sich mühsam durch die verschneiten Wege geschlichen hatte, waren wir beschäftigt gewesen, die Zeit mit schülerhaften Witzen totzuschlagen. Ich schämte mich!

Der Wirt schien etwas ähnliches wie ich zu fühlen; er räusperte sich einigemal, wie um aus einer inneren Verlegenheit herauszukommen, und sagte dann:

»Ja, ihr sollt hier Weihnachten feiern; ich thue es; ich hole ihn herein!«

Er ging in den Flur hinaus, und dann hörten wir ihn jenseits desselben eine Thür öffnen, welche, wie wir später erfuhren, in das Wohnzimmer führte. Wer der »ihn« war, den er holen wollte, sahen wir, als er einen buntbehangenen Christbaum getragen brachte, dessen Lichter noch nicht ganz abgebrannt waren. Er stellte ihn auf den Tisch, bat uns, die Lichter anzuzünden, und entfernte sich dann wieder. Der fremde Knabe sprang auf und bat uns mit strahlenden Augen, uns helfen zu dürfen, ein Wunsch, den wir ihm natürlich mit Freuden erfüllten.

Dann kam Franzl wieder. Er brachte einige Kleidungsstücke von sich und seiner Frau, auch einen Kuchen und eine Wurst, welche er unter den Baum legte; dazu fügte er fünf blanke Gulden, indem er sagte:

»Hier, das beschert euch das heilige Christkind, welches eure Thränen gesehen und euer Gebet gehört hat. Bedankt euch bei ihm und nicht bei mir!«

Welch eine Freude gab es jetzt! Die Augen des Greises öffneten sich weit, um das Licht der Weihnachtskerzen in sich aufzunehmen; die Frau weinte jetzt nicht mehr Schmerzens-, sondern Freudenthränen, und der Knabe schlang seine Arme um ihren Hals, um das Schluchzen, welches ihn jetzt von neuem übermannen wollte, an ihrer Brust zu verbergen. Ich konnte nicht anders, ich mußte in die Tasche greifen und einen Gulden herausnehmen, den ich zu den fünf des Wirtes legte. Als Carpio dies sah, sagte er leise zu mir:

»Ja, ihr könnt geben, ihr! Der Franzl hat reich geheiratet, und du hattest fünf Thaler, ich aber nur drei; ich bin der Ärmste und kann nichts – – und doch, doch, ich kann auch etwas geben, wenn auch kein Geld wie du; paß nur auf!«

Er bat um Schweigen, stellte sich neben den Baum und begann zu deklamieren:

»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland Jesus Christ – –«

Wie kam es nur, daß mein eigenes Gedicht mir so fremd vorkam, so, als ob es nicht von mir, sondern von einer ganz andern Person, einem ganz andern Wesen stamme? Je weiter er sprach, desto fremder kam es mir vor und desto tiefer griff es mir in die Seele hinein. Auch die andern hörten voller Andacht zu. Der Greis verwendete keinen Blick von dem Redner; seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. War das der Reflex des brennenden Weihnachtsbaumes? Oder war es der Schein einer höhern Klarheit, welche jetzt sein Herz erleuchtete? Er breitete die auf dem Tische liegenden Hände auseinander und öffnete sie, als ob er, sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung aufrichtend und den vorher so müden Kopf hoch hebend, eine unsichtbare, von oben kommende Gabe ergreifen und festhalten wolle. Er hörte fast ohne Atem zu, richtete sich, als Carpio geendet hatte, langsam auf, so daß er kräftig und kerzengerade am Tische stand, und bat:

»Noch einmal das letzte, noch einmal! Oh bitte, wiederholen Sie es von da an, wo der Priester spricht!«

Carpio kam diesem Wunsche nach, und es war mir auch jetzt wieder, als ob es nicht meine, sondern die Worte eines andern seien:

»Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Toten Haupt:
›Selig, wer bis an das Ende
An die ewge Liebe glaubt!

Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der Lebensquelle strebt
Und noch in der letzten Stunde
Seinen Blick zum Himmel hebt!

Suchtest du noch im Verscheiden
Droben den Erlösungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.

Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch dein Heiland Jesus Christ!‹« – –

Da legte der Alte die ausgebreiteten Hände wieder ineinander, sank auf den Stuhl zurück, schloß, indem ein seliges Lächeln über sein Gesicht ging, die Augen und wiederholte leise, doch so, daß wir sie hörten, die Worte:

»Darum gilt auch dir die Freude, – – die uns widerfahren ist, – – denn geboren wurde heute – – auch dein Heiland Jesus Christ! Das gilt auch mir – – mir – – – mir! Ich habe ihn gesucht – gesucht – gesucht – – und heut ist er gekommen! Ich sehe ihn; ich sehe seinen Stern; ich sehe das Licht, welches da leuchtet auf den Feldern von Bethlehem! Und wie war das, wie? Ich meine das, was Simeon sagte, als er im Tempel den Heiland sah.«

Ich nickte Carpio zu, und dieser antwortete:

»Herr, nun lässest du in Frieden
Deinen Diener zu dir sehn,
Denn sein Auge hat hienieden
Deinen Heiland noch gesehn!«

»Ja, ja, so ist es; ich sehe ihn!« fuhr der Alte fort, noch immer geschlossenen Auges. Er bewegte die Lippen wieder wie früher, jetzt aber nicht betend; das sah man deutlich; er schien nach Worten zu suchen, nach Worten, welche er gehört hatte und in ihrem Zusammenhange nicht wiederfinden konnte. Dann fragte er: »Und wie, wie heißt es in dem Gedichte von dem Sünder? Wie sagte er, als er um Erbarmen flehte?«

Diesesmal antwortete Carpio, ohne meinen Wink erst abzuwarten:

»Betend faltet er die Hände,
Hebt das Auge Himmel an:
›Vater, gieb ein selig Ende,
Daß ich ruhig sterben kann!

Blicke auf dein Kind hernieder,
Das sich sehnt nach deinem Licht;
Der Verlorne naht sich wieder;
Geh mit ihm nicht ins Gericht!‹« – –

»Blicke auf dein Kind hernieder,« wiederholte der Greis,- – »das sich sehnt nach deinem Licht; – – der Verlorne naht sich wieder; – – geh mit ihm nicht ins Gericht! – – – Nicht, nein, nein! – – nicht ins Gericht!« rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem angstvollen Blicke rund um sich starrte. Dann schloß er sie wieder; der Ausdruck der Angst verschwand; ein leises, uns zu Herzen gehendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und dann kam es flüsternd und immer leiser und langsamer werdend über seine Lippen: »Suchtest du noch im Verscheiden – – droben den Erlösungsstern – – wird er dich zur Wahrheit leiten – – und zur Herrlichkeit des Herrn – –! Wahrheit – – Herrlichkeit, oh Herrlichkeit – –! Ich bin müde; ich will schlafen, schlafen gehen – – schlafen gehen – – schlafen!«

Er legte den Kopf hintenüber und ließ ihn dann zur Seite nach der Schulter fallen.

»Mein Gott, er stirbt – er stirbt!« sagte der Wirt besorgt.

»Nein, er stirbt nicht,« beruhigte ihn die Frau. »Er ist nur müde von dem weiten, schweren Wege und von der innern Erregung jetzt. Er hat oft solche doppelte Müdigkeit. Aber schlafen muß er jetzt. Bitte, sagen Sie mir, wohin ich ihn bringen soll!«

»Bringen? Sie werden ihn tragen müssen?«

»Halb geht er, und halb halte ich ihn.«

»Ich werde Ihnen helfen. Wir haben oben eine Stube mit drei Betten. Ihr Sohn mag dort das Licht nehmen!«

Sie griffen dem Alten unter die Arme und zogen ihn empor; er kam wieder zu sich und schritt, von ihnen unterstützt, doch ohne die Augen zu öffnen, zur Thür hinaus. Als ich nun mit Carpio allein war, sagte dieser:

»Das war eine unerwartete Weihnachtsfeier, unerwartet und ergreifend, wie ich noch keine erlebt habe! Aber, Sappho, was sagst du dazu? Diese Leute sind keine gewöhnlichen Leute; ich glaube nicht, daß sie dem gewöhnlichen, dem Arbeiterstande angehören.«

Der allerwegs zerstreute Freund pflegte dergleichen Beobachtungen sonst nicht zu machen; ich war ganz seiner Ansicht, erkundigte mich aber:

»Warum denkst du das?«

»Sie haben eine Weise, sich auszudrücken, welche auf einen bessern als den gewöhnlichen Arbeiterstand schließen läßt. Und sodann hat der Alte die Disposition, den Gedankengang deines Gedichtes so schnell begriffen und sich einzelne Strophen so leicht gemerkt, daß ich darauf schwören möchte, er habe es früher mehr mit geistiger als mit anderer Arbeit zu thun gehabt. Oder bist du anderer Meinung?«

»Nein. Ich vermute sogar noch mehr.«

»Was?«

»Daß diese Familie unter einem sehr schweren Schicksale gelitten hat.«

»Verdienter Weise?«

»Ob verdient oder nicht verdient, das kann ich natürlich nicht wissen. Der angstvolle Blick, mit welchem der Greis so plötzlich aufgerissenen Auges um sich schaute, giebt auch keinen Anhalt. Diese Angst kann sich sowohl auf eigene wie auch auf erlittene Missethaten beziehen. Doch, das geht uns nichts an. Ich stimme dir aber darin bei, daß es wirklich eine ergreifende Weihnachtsfeier war, die ich nicht so leicht vergessen werde.«

»Ich auch nicht. Du hast recht: Diese Leute gehen uns eigentlich nichts an; aber ich möchte doch gar zu gern wissen, wer oder was sie sind oder vielmehr früher gewesen sind.«

Jetzt kam der Wirt, um die bescherten Gegenstände zu holen und hinaufzutragen. Als er dann wieder zurückkehrte und sich zu uns setzte, sagte er:

»Der Abend hat so lustig angefangen und so ernst geendet; für uns drei aber darf er noch nicht zu Ende sein. Ich freue mich, solche Leute, wie Sie sind, einmal bei mir zu haben. Wir trinken noch eine Flasche Wein und bleiben so lange wie möglich auf. Und morgen lasse ich Sie erst recht noch nicht fort!«

»Aber Ihre Frau – –?« fragte ich.

»Oh, die hat Verstand! Nämlich, was gebildete Menschen, besonders Studenten betrifft, weil ich auch einer gewesen bin. Da schwelgt sie auch gern mit in meinen Erinnerungen und meinen Gefühlen. Das alte, gute Wort Multis ictibus dejicitur quercus ist ihr ebenso gut wie mir bekannt. Aber Bettler, Bettler und sonstiges Gesindel, das mag sie gar nicht leiden; da schimpft sie über jeden Kreuzer, den ich gebe; ich aber gebe gar zu gern, weil ich nämlich früher auch nichts gehabt habe, meine klassische Bildung natürlich abgerechnet.«

»Wird sie, wenn sie von der Nachbarin zurückkehrt, hier hereinkommen?«

»Nein.«

»So kann der Baum, der zum Verräter würde, hier stehen bleiben?«

»So lange wir aufbleiben, ja; dann trage ich ihn hinüber.«

»Aber sie wird morgen sehen, daß die Lichter vollends abgebrannt sind!«

»Alle Bomben! Ja, das ist wahr!« rief er aus. »Das giebt dann eine Hetz, die ich vermeiden möchte. Was ist da zu thun? Ich weiß mir keinen Rat! – – Halt, halt, ich hab's, ich hab's! Sind Sie klug genug, es zu erraten, Herr?«

»Nein.«

»Ich steck' nachher neue Lichte in die Dillen; die brennen wir an und löschen sie wieder aus, wenn sie halb herunter sind. Da denkt sie, es sind die alten. Pfiffig muß man sein, pfiffig, sag ich Ihnen, Herr – – – Sa – – Saff – – – Wie heißen Sie eigentlich? Ich kann mir diesen Namen gar nicht merken. Karb – – Karb – – und Saff – – Saff – –!«

Ich erklärte ihm, daß Carpio und Sappho nur unsere Studentennamen seien, und nannte ihm unsern richtigen. Mein Freund nahm daraus die Veranlassung, seine Gründlichkeit zu zeigen, und sagte:

»Ich kann Ihnen sogar Schwarz auf Weiß beweisen, daß ich den genannten Namen mit vollster Berechtigung trage. Hier ist mein Reisepaß!«

Er griff in die Westentasche, wo er, wie er sich genau erinnerte, die Legitimation in sichere Verwahrung gebracht hatte, zog aber die Finger leer zurück. Nun suchte er in der andern Westentasche, dann in allen Rock- und Hosentaschen, vergeblich; der Paß war wieder einmal verschwunden.

»Wo er nur hingekommen sein mag?« fragte er bestürzt. »So ein Papier, welches noch dazu gestempelt ist, kann doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwunden sein!«

»Sollte etwa wieder deine Schwester – –?« erkundigte ich mich zart andeutungsvoll.

»Die?« antwortete er, ohne meine arglistige Verworfenheit zu ahnen. »Diesesmal ist sie unschuldig, wirklich unschuldig, denn ich habe den Paß ja im Stiefel gehabt. Alle Wetter, sollte ich ihn etwa wieder hineingesteckt haben? Das wäre ja eine Zerstreutheit, und die kommt bei mir niemals vor. Der Schuster hat die Nagelspitze ja doch abgezwickt! Aber besser ist besser; ich werde nachsehen. Welcher Stiefel war es denn? Weißt du es, Sappho?«

»Nein,« antwortete ich, den ewigen Gesetzen der Wahrheit leider ganz zuwider.

»So muß ich in alle beide Stiefel gucken; dann ist der richtige auf alle Fälle dabei.«

Er zog sie einen nach dem andern aus; der Paß war nicht da. Er zog der Sicherheit wegen dann auch die Strümpfe aus, überzeugte sich aber, daß auch sie ihm keinen Unterschlupf geboten hatten. Nun war guter Rat teuer. Wir suchten schließlich unter dem Tische, an welchem wir vorhin gesessen hatten, und da sah ich die weggeworfenen Reste der Fidibus, mit denen er sich seine Cigarren so oft in Brand gesteckt hatte. Ich wickelte sie auf, und richtig – – –!

»Hier, lieber Carpio, schau her!«

Als er die Rudera seiner polizeilichen Existenzberechtigung in Augenschein genommen hatte, wurde sein Gesicht länger und immer länger.

»Hier ist ein Viertel vom Direktorialstempel!« rief er aus. »Das stammt von meinem Passe! Wer hat die Fidibus gemacht?«

»Du selbst.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich kann beschwören, daß deine Schwester nicht hier gewesen ist.«

»Das kann ich auch. Aber mir ist ganz so, als ob du mir die Fidibus gegeben hättest!«

»Fällt mir nicht ein! Ich bin keine Schwester – eine Behauptung, welcher du wohl zustimmen wirst.«

»So bleibt freilich nichts anderes anzunehmen, als daß ich es selbst gewesen bin, der in meine Westentasche gegriffen hat. Unbegreiflich! Eine solche Gedankenlosigkeit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Nun ist der Paß futsch, vollständig futsch! Wenn es nun der Polizei einmal einfällt, mich mit einem gesuchten Raubmörder oder durchgegangenen Bankdirektor zu verwechseln, so kann ich mich nur ruhig einsperren lassen, bis mich mein lieber Vater wieder holt!«

»Mach dir darüber keine Sorge! So lange ich bei dir bin, reicht mein Paß für uns beide aus, denn erstens habe ich keine Schwester, welche alle Dummheiten begeht, zweitens geht bei mir kein Nagel durch die Stiefelsohle, und drittens habe ich es auch noch nicht zum Fidibusfabrikanten en gros gebracht. Übrigens hast du weder mit einem Raubmörder noch mit einem Bankdirektor die geringste Ähnlichkeit.«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil du für einen Bankdirektor viel zu jugend- und für einen Raubmörder viel zu tugendhaft aussiehst. Du wirst also einstweilen noch nicht eingesperrt werden.«

Diese Ausführungen waren von solcher Beweiskraft für ihn, daß er sich beruhigte.

Unser guter Franzl wurde durch die bekannte Association der Ideen von den Fidibus auf die Cigarren geleitet; er offerierte uns von neuem welche. Ich griff zu, warnte aber Carpio, dies auch zu thun, denn die Wirkung der mit dem Reisepaß genossenen war noch nicht vorüber. Er warf die Oberlippe verächtlich auf und würdigte mich keiner Antwort. Gegen den Wirt aber wurde er um so zutraulicher, was so weit ging, daß er ihm versprach, ihn zu den Osterferien, wo wir wiederkommen würden, mit gepaschten Cigarren zu versehen. Als Franzl dies hörte, machte er ein außerordentlich appetitliches Gesicht und fragte:

»Gepaschte? Hm! So etwas raucht man freilich lieber als diese hier; aber verstehen Sie sich denn auch auf dieses Geschäft?«

»Na, und ob!« antwortete Carpio, indem er eine Miene zog, als ob er schon Wagenladungen von Cigarren über die Grenze geschmuggelt hätte. »Wir sind ja diesmal auch nicht so ganz ohne gekommen!«

»Wie? Was? Wirklich? Wo haben Sie denn abgeladen?«

»Gleich hinter Eger. Am ersten Abend, nachdem wir über die Pfähle waren.«

»Bei wem denn?«

»Geschäftsgeheimnis!«

»Viel?«

»Will ich meinen!«

»Auf welche Art haben Sie denn das fertig gebracht?«

»Auf eine höchst – – höchst – –«

Da der Schmugglerhauptmann Carpio vor Verlegenheit ins Stocken kam, fuhr ich an seiner Stelle fort:

»Auf eine höchst lederne Art und Weise. Es hängt das mit dem vorübergehenden Domizile seines Passes eng zusammen.«

»War es bedeutend?«

»Vier.«

»Vier Tausend oder vier Centner?«

»Wir paschen nicht nach dem Tausend und auch nicht nach dem Centner, sondern nach der Qualität, und die war ausgezeichnet, so ungefähr wie ungarisches Weizenmehl Nummer Null. Wenn es uns auf unserer Osterreise in derselben Weise wieder glückt, werden Sie große Augen machen. Mehr kann ich jetzt nicht sagen!«

Der jetzige Gesprächsgegenstand hätte auch ohnedies nicht weitergeführt werden können, weil wir unterbrochen wurden. Die fremde Frau kam wieder zu uns. Sie brachte ihren Knaben mit und sagte, da ihr Vater nun eingeschlafen sei, würde es sie glücklich machen, hier im warmen Zimmer noch ein Weilchen bei uns sitzen zu dürfen. Es wurde ihr natürlich gern erlaubt. Franzl gab ihr noch ein Glas Wein und beschloß, um den Knaben zu erfreuen, die gegen seine Frau geplante Kriegslist schon jetzt gleich in Ausführung zu bringen. Er holte neue Lichter, welche aufgesteckt und angezündet wurden. Dann saß die Frau, ihr Kind zärtlich an sich gedrückt, im Glanze des Weihnachtsbaumes mit wehmütigem Lächeln da, ohne an unserem Gespräch teilzunehmen.

Carpio war infolge des ungewohnten Weines außerordentlich mitteilsam geworden; er erzählte seinen ganzen Lebenslauf oder vielmehr alles nach seiner Ansicht Merkwürdige, was sich auf demselben zugetragen hatte. Diese Merkwürdigkeiten bestanden meist darin, daß ihm durch die unbegreifliche Zerstreutheit anderer Leute die mannigfaltigsten Drangsale bereitet worden waren; besonders spielten seine Schwestern dabei eine große, für ihn verhängnisvolle Rolle, und wenn seine Erlebnisse wirklich so geschehen waren, wie er sie berichtete, so hatte er seine ganze Zeit und alle seine Geisteskräfte nur dazu anzuwenden gehabt, die Gedankenlosigkeit dieser jungen Damen für sich unschädlich zu machen. Als er dann auch auf unsere innige Freundschaft zu sprechen kam, hatte er die freundliche Gewogenheit, meine jungen Vorzüge mit einigen gütigen Streiflichtern zu berühren. Er erwähnte dabei, daß ich auch ein nur mit Sappho zu vergleichender Dichter sei, und daß das vorhin deklamierte Weihnachtsgedicht aus meiner berühmten Stahlfeder stamme. Als die Frau dieses hörte, fragte sie mich:

»Ist das wahr, wirklich wahr? Sind Sie wirklich der Verfasser dieses Gedichtes, Sie junger Mann?«

Ich bejahte diese Frage mit dem bekannten, sanften Erröten, welches ein Zeichen jener verdienstvollen Bescheidenheit ist, die jeden zeitgenössischen deutschen Dichter ziert.

»Wie mich das freut! Denn eigentlich bin ich dieses Gedichtes wegen noch einmal heruntergekommen. Es hat auf mich und ganz besonders auf meinen Vater einen tiefen Eindruck gemacht; ja, es schien, als ob es gerade nur für uns und für keinen andern Menschen gedichtet worden sei. Ich möchte es darum gern, ja gar so gern besitzen, und wollte Sie, der Sie es deklamiert haben, fragen, ob Sie mir es wohl diktieren möchten, falls ein Papier vorhanden wäre.«

Diese letzteren Worte waren an Carpio gerichtet, welcher Busenfreund sofort aufsprang und sein Notizbuch hervorzog. Ich habe bereits erwähnt, daß es eine Zeit gab, in welcher jeder Mitschüler mein Gedicht bei sich trug; Carpio war diesem Brauche treu geblieben. Dieser Busenfreund nahm es aus dem Buche und reichte es der Frau mit jener wundervoll abgerundeten, gentlemanliken Armbewegung hin, welche nur jungen Gymnasiasten eigen ist, wobei er sagte:

»Ich besitze es zweimal, nämlich im Kopfe und hier auf dem Papiere. Nehmen Sie, bitte, die Abschrift, und lassen Sie mir den Kopf, so ist uns beiden geholfen.«

Der gute Mensch schien diesen Worten nach zu fühlen, daß ihr mit seinem Kopfe wahrscheinlich sehr wenig geholfen sei. Sie zögerte nicht, sein Geschenk anzunehmen, und die Art und Weise, wie sie dies that und sich bei ihm und mir bedankte, bestätigte aufs neue unsere Ansicht, daß sie früher nicht das gewesen sei, was sie jetzt war. Dies brachte auf meinen Freund eine so gute Wirkung hervor, daß er ihr in geheimnisvoller Weise andeutete, es sei ihm auch außerhalb dieses Gedichtes möglich, ihr einen vielleicht noch größeren Dienst zu erweisen.

Als sie ihn hierauf stumm fragend anblickte, brannte er sich eine neue Cigarre an und begann dann, von Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci zu erzählen. Er durchflog die Zeit vom Ende des fünfzehnten bis zum Beginn der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit feierlicher Gründlichkeit, überging nichts von allem, was während dieser Zeit in Amerika geschehen war, brachte dann seinen geheimnisvollen Verwandten zur Sprache und ließ dann endlich, worauf ich längst gewartet hatte, die drei bekannten Blitze los – El Dorado, Millionär und Universalerbe. Als er glaubte, sie nun gehörig vorbereitet zu haben, machte er ihr das Anerbieten, ihr ein Empfehlungsschreiben an diesen Verwandten mitzugeben.

Ich war fast starr vor Erstaunen! Mir, seinem Busenfreunde, hatte er ein solches Empfehlungsschreiben noch niemals offeriert, was er doch ganz gefahrlos hätte thun können, weil er mein Ideal, ein Globetrotter zu werden, nicht kannte und also annehmen mußte, daß ich während meines ganzen Lebens nicht in die Lage kommen würde, dieses Schreiben abzugeben. Und hier, wo er hundert gegen eins wetten konnte, daß man es abgeben werde, bot er es einer ganz fremden Person an, deren Busenfreund er nie gewesen war und auch niemals werden konnte!

Und die Frau? Sie ging auf seinen Vorschlag ein, vielleicht nur, um ihn nicht zu beleidigen, denn auf das Empfehlungsschreiben eines jungen Schülers war wohl nur wenig Wert zu legen. Er bat den Wirt um Schreibzeug und Papier und erklärte, als er dies bekommen hatte, der Frau, daß er nun freilich ihren Namen wissen müsse. Sie nannte ihm denselben, und so erfuhr ich, daß sie Elise Wagner hieß. Indem er schrieb, setzte er sich so, daß mein Blick das Papier nicht erreichen konnte. Also eine Fremde durfte die Adresse seines einstigen Erblassers wissen, ich aber nicht! Ich fühlte mich dadurch nicht beleidigt, denn ich war gewohnt, allen seinen Eigenheiten Rechnung zu tragen, und wendete mich ganz von ihm ab, damit er ganz sicher sei, daß ich ihm nicht ins Geheimnis schaue. Er vollendete, während ich mich mit dem Wirte unterhielt, den Brief, welchen er dann der Frau mit der bescheidenen Andeutung überreichte, daß ihr dieses Schreiben von ungeheurem Nutzen sein werde.

Grad als er dies that, wurde die Thür geöffnet, und die Wirtin trat herein. Der liebe Franzl mochte darüber wohl ein wenig erschrecken, beherrschte sich aber unsertwegen so, daß ihm nichts anzumerken war. Mein Busenfreund duckte sich zusammen, als ob er der Schuldige sei. Die fremde Frau sah dem Kommenden mit sichtlicher Bangigkeit entgegen. Franzl brannte sich, um sich für den Kampf zu stärken, eine neue Cigarre an.

Die Wirtin blieb erst ganz verwundert an der Thür stehen; dann kam sie langsam näher, bis sie vor ihrem Manne stehen blieb.

»Was brennst du denn da, Franzl?« fragte sie ihn in einem eigentümlich freundlichen Ton, dessen Bedeutung ich damals noch nicht kannte.

»Den Baum,« antwortete er mit ganz derselben Liebenswürdigkeit.

»Warum?«

»Weil's Weihnacht ist.«

»Für wen?«

»Für mich.«

»Seit wann?«

»Seit kurzer Zeit.«

»So, so, schau, schau! Seit kurzer Zeit! Da sind die Lichte ein Viertel abgebrannt und vorher waren sie schon halb abgebrannt. Woher mag das wohl kommen?«

»Weil es wahrscheinlich eine Sorte ist, die vom Verbrennen länger wird.«

»So eine gute Sorte kenne ich nicht; die möchte ich mir auch gleich kaufen! Es wird aber wohl so sein, daß du erst die halben verbrannt und dann noch neue angezündet hast, damit ich nichts merken soll. Du hast gedacht, daß ich wie gewöhnlich nicht wieder hereinkommen werde. Ist es so, oder ist es nicht so, Franzl?«

»Es ist schon so.«

»Höre, ich will dir sagen: Es ist gut, daß du es wenigstens zusiehst! Also für dich brennst du den Baum?«

»Ja.«

»Nur für dich?«

»Für mich und diese Herren Studenten.«

»Dagegen hätte ich nichts, wirklich nichts, denn du bist auch einer gewesen, worüber wir beide noch heute unsere Freude haben. Also du brennst ihn für sonst weiter gar niemand?«

»Nein.«

»Schön! Jetzt sagst du mir die Wahrheit nicht. Du magst für dich und die Herren Studenten anbrennen, was und wann du willst, Wein trinken und Cigarren rauchen, so viel du willst, aber – aber –« und jetzt stieg ihre Stimme plötzlich um eine Septime höher, und sie stemmte die Hände in die Hüften – – »für wen, frag ich, hat er denn vorhin gebrannt, als die Wurst und der Kuchen und die Kleider und das Geld darunterlagen und dieser Herr Student ein so schönes Gedicht geredet hat, von dem ich jedes Wort verstanden hab'?«

Jetzt sprang Franzl auf.

»Weib,« rief er, »du hast gehorcht!«

»Ja, gehorcht hab ich,« nickte sie triumphierend.

»Wo?«

»Dort am Fensterladen.«

»Grad dort am Fenster, wo der Baum auf dem Tische steht?«

»Ja, grad dort am Fenster, wo der Laden ein großes Astloch hat!«

»Du, das machst du mir nicht wieder!«

»Nicht? Warum sollte ichs nicht wieder machen? Das Haus ist mein; der Laden ist mein, und das Astloch ist also auch mein; ich kann hindurchgucken, wann es mir beliebt. Von dem ganzen Hause ist nicht einmal dieses Astloch dein, und du verschenkst mein Geld und meine Sachen und willst mir auch noch zu befehlen haben?«

»Höre, beleidige mich nicht in Gegenwart von Studenten, sonst zeige ich dir, was Sapienti pauca heißt!«

Er wußte höchst wahrscheinlich ebenso wenig wie sie, was diese beiden Wörter bedeuteten, dennoch verfehlten sie den Zweck, ihr zu imponieren, nicht. Er wollte ihr durch sein Latein nur zeigen, daß er ihr geistig überlegen sei; mochte sie nun dies anerkennen oder dem Worte pauca einen etwas gewaltthätigen Sinn beilegen, kurz und gut, sie antwortete:

»Einverstanden! Pauke deine Sapienti jetzt, aber morgen früh sehen wir uns wieder!«

Sie drehte sich um und ging hinaus.

»Bei allen Heiligen,« seufzte er, indem er sich wieder niedersetzte, »sie hat gelauscht; sie hat alles gesehen und gehört! Dieses Astloch, das verteufelte! Na, morgen nagle ich es zu; ich nehme das dickste Brett und schlage es drauf!«

Die Wirtin aber hatte die Thür nicht zugemacht, sondern nur angelehnt; sie war draußen stehen geblieben und hatte seine Worte gehört. Jetzt kam sie wieder herein, ging auf ihn zu, legte ihm die Hand vertraulich auf die Achsel und sagte lachend:

»Franzl, ich weiß ein Brett, das so dick wie kein anderes ist; du hasts vor deinem Kopf. Nimm das und nagle es vor das Loch; dann geht nicht nur kein Blick, sondern sogar auch keine Kanonenkugel durch! Kennt dieser Mann seine Frau noch nicht! Sollte man das für möglich halten? Bin ich etwa eine Geizkatze, he? Sehe ich dir auf die Finger, wenn du Geld ausgiebst? Ist nicht alles, was wir verdienen, ebenso gut dein wie mein? Aber es ist mir nicht gleichgültig, wer in meinem Hause wohnt, und wenn du eine Christbescherung machst und meine Kleidungsstücke verschenkst, so will ich auch dabei sein und vorher erst gefragt werden! Den Kuchen, den du verschenkt hast, habe ich gebacken, und die Wurst habe ich mir langsam und mit saurer Mühe, weil das Schwein partout nicht fett werden wollte, heranfüttern müssen; da will ichs wenigstens wissen, wenn du etwas davon verschenkst! Also so etwas nicht wieder hinter meinem Rücken machen! Verstanden? Man muß nicht nur geben, sondern auch sparsam sein können! Und nun komm her, du alter überguter, offenhändiger Studente du! Da will ich dir nun auch etwas schenken, wenn es auch keine Speckwurst ist. Hier! Und damit gute Nacht!«

Sie nahm ihn beim Kopfe und gab ihm einen Kuß von solcher Resonanz, daß er eigentlich eine volkstümlichere Bezeichnung verdiente. Dann ging sie wieder fort und machte die Thür nun wirklich hinter sich zu. Franzl sah ihr schmunzelnd nach, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab, schlug dann mit der Faust auf den Tisch und rief:

»Hab ich's nicht immer gesagt, was für eine kreuzbrave Frau ich hab'? Wer eine andere Meinung von ihr hat, der mag nur herkommen; ich haue ihn zusammen, daß er sich selber nicht mehr finden kann! Das ist eine Frau, die sich gewaschen hat! Verstanden? Es giebt ihresgleichen nicht im ganzen, weiten Böhmerland! Wie hat sie mich geheißen? Du alter, überguter Studente du! Ja, die weiß, was für einen Mann sie an mir hat! Nicht so einen, der den Schnitt eines Buches nicht vom Rücken unterscheiden kann, sondern einen hochgebildeten und studierten Mann, der sein Latein versteht. Qui tangit picem, contaminabitur; so ist die Sache. Was sagen Sie dazu, meine lieben, hochgeehrten, jungen Freunde?«

Ehe einer von uns beiden antworten konnte, stand Frau Wagner von ihrem Stuhle auf und sagte, indem sie sich mit der Hand über das schmerzlich verzogene Gesicht strich:

»Auch ich habe gehört, was für eine brave Frau Sie haben und es thut mir leid, daß Sie sich meinetwegen beinahe mit ihr überworfen hätten. Müßte ich nicht Rücksicht auf meinen armen Vater nehmen, so würde ich noch diese Nacht, gleich jetzt, Ihr Haus verlassen; aber er muß und muß heut schlafen, wenn er morgen nicht im Schnee liegenbleiben und erfrieren soll. Dann werden wir Sie keinen Augenblick länger belästigen. Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank, und leben Sie wohl, meine Herren!«

»Aber, was fällt Ihnen ein?« versuchte Franzl, sie zu halten. »Sie haben ja gehört, daß meine Frau gar nichts dagegen hat, daß Sie hier bei uns bleiben. Sie dürfen sich den Kuchen und die Wurst nicht so zu Herzen nehmen; das hat sie nicht so schlimm gemeint, wie Sie es nehmen, und – – Da ist sie fort, hinaus mit ihrem Knaben! Klang das, was sie sagte, nicht etwas stolzer, als so ein nicht bezahlender Gast eigentlich sein darf, meine Herren?«

»Sie thut mir leid, außerordentlich leid« antwortete ich.

»Ich wollte, ich wäre reich, wenigstens wohlhabend genug, ihr helfen zu können. Sie wird früh, wenn wir aufstehen, mit ihrem Vater und mit ihrem Kinde verschwunden sein.«

»Verschwunden? Fällt ihr nicht ein!«

»O doch!«

»Nein. Sie wird ausschlafen und dann Kaffee trinken; hernach werden wir sehen, ob der Alte fortkann oder nicht.«

»Haben Sie nicht gehört, daß sie Lebewohl und nicht Gutenacht gesagt hat?«

»Das ist nicht so wörtlich zu nehmen, wie Sie denken.

Aber, Herr Capp – Carp – Carpio, was ist denn mit Ihnen? Was machen Sie für ein Gesicht?«

Mein Busenfreund hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt und das Gesicht in die Hände vergraben. Als er auf die Frage des Wirtes die Hände entfernte, sahen wir, daß seine Wangen bleifarben und seine Augen matt geworden waren. Die Unterlippe hing ihm weit herab.

»Ihre – – Ihre – – Frau – – Frau!« seufzte er.

»Was ist mit meiner Frau?«

»Die ist schuld!«

»Woran?«

»Mir ist, als – – als – – als ob ich – – sterben müßte!«

»Unsinn! Da ist die Cigarre schuld; die Virginias sind für Sie zu schwer gewesen.«

»Nein – nein – – nein! Über Ihre Frau bin ich – – – so sehr erschrocken – – – aber nicht über die Virginias.«

»Erschrocken? Warum denn eigentlich?«

»Sie kam – – herein wie eine – – eine Furie!«

»Ach was Furie! Meine Frau ist eine Seele von einer Frau und keine Furie. Da, nehmen Sie ein volles Glas, und trinken Sie es aus! Das ist das beste Mittel, wenn einen der Cigarrenteufel in den Magen beißt.«

»Nein, nicht beißt, sondern hebt – hebt – – hebt und sogar um – – um – – umwenden will!«

»Trinken Sie nur! Es hilft; ich weiß es genau.«

Ich wußte nicht, ob das empfohlene Mittel wirklich anzuraten sei, denn meine Bekanntschaft mit dem Weine und seinen Wirkungen war damals genau so tief und umfassend, wie die Kenntnisse eines Eskimo über Datteln und Bananen; aber weil Franzl mit solcher Überzeugung zuredete, unterstützte ich seinen Rat, worauf mein Busenfreund das Glas leerte und dann wie ein Seekranker nach dem Kanapee wankte, um sich auf demselben auszustrecken. Ich bat den Wirt, uns schlafen gehen zu lassen; er aber erklärte lachend:

»Fällt mir gar nicht ein! Wir bleiben noch recht hübsch beisammen. Ich muß die Gelegenheit ausnützen, denn an Ihr Wiederkommen darf ich doch nicht glauben, denn das mit dem Paschen war doch bloß Phantasie?«

»Ja; es versteht sich doch ganz von selbst, daß wir keine Schmuggler sind. Wir haben pro Person zwei Cigarren in die Stiefel gesteckt, obwohl ich wußte, daß man mehr mitnehmen darf. Ich wollte Carpio nicht um das Vergnügen bringen, sich für einen staatsgefährlichen Menschen zu halten.«

Da richtete sich der Genannte kerzengerade vom Kanapee auf und sprach mich mit hohler, drohender Grabesstimme an:

»Ich staatsgefährlich? Ja! Wenn es mir so bleibt, wie es mir jetzt ist, so – – so – – kann es schrecklich werden, denn da – da – da falle ich gleich wieder um!«

Er that, was er gesagt hatte. Franzl lachte lustig auf; ich aber hatte Sorge um den Freund und drang so lange in den unermüdlichen Wirt, bis er, allerdings gegen das Versprechen, morgen noch bei ihm zu bleiben, darauf einging, uns unser Zimmer zu zeigen. Ich zog Carpio vom Sofa auf und umfaßte ihn, um ihn zu führen; er aber riß sich los und sagte:

»Ich brauche keine Stütze. Ich bin nur drehend von den starken Cigarren, die – – die – – ich habe ja nichts, gar nichts gegessen!«

»Ich glaube, der Wein ist auch mit schuld.«

»Möglich! Doch darüber später, wenn wir allein sind. Komm!«

Er nahm mich bei der Hand und wankte, während Franzl uns leuchtete, an derselben hinaus und die Treppe hinauf, wo unsere »gute Stube« lag. Als uns der Wirt in diese geführt hatte, sagte er uns Gutenacht und ging, indem er das Licht zurückließ. Wir sahen uns um.

»Gute Stube!« Jawohl, das war sie allerdings, und zwar eine sehr gute, eine außerordentlich gute Stube! Man weiß, was für einen Raum der Bürgersmann mit diesem Ausdrucke zu bezeichnen pflegt, nämlich eine Stube, in welcher alle möglichen und unmöglichen sogenannten »besseren« Möbeln und sonstige Herrlichkeiten vom Urgroßvater her aufgestellt und zusammengeschachtelt werden, wobei natürlich auch der obligate Glasschrank nicht fehlen darf. Dieses Raritätenkabinett wird selten betreten, noch seltener gelüftet, gilt als Familienheiligtum und darf nur alle Jahrhunderte einmal einem Gaste, den man besonders ehren will, als Schlafzimmer dienen.

Auch die besser situierten Stände haben gute Stuben, allerdings »Salons« genannt. An ihre Einrichtung ist mehr Geld verschwendet worden, als die Mittel eigentlich erlauben; diese teuren Sachen müssen geschont werden; darum sind sie nicht zum Gebrauche sondern zum Prunk, zum Anstaunen da, und selbst wenn der Hausherr es einmal wagen wollte, sich auf einen solchen Stuhl zu setzen oder den Teppich mit seinen Stiefeln zu berühren, würde er von der Dame des Hauses einfach und ohne Anwendung übermäßiger Höflichkeit zur Thür hinauskomplimentiert.

Das Zimmer, in welchem wir schlafen sollten, war nicht gebrauchsunfähig und dennoch, zumal nach unserer persönlichen Ansicht, eine gute Stube im wahrsten Sinne des Wortes. Es standen da zwei breite Betten, so breit, daß jedes von ihnen drei Personen genügend Platz geboten hätte, der schon erwähnte Glasschrank, ein Tisch, ein Kanapee und zwei Stühle. Mehr als diese Möbel aber interessierte uns ein dreibeiniger hölzerner Schragen, welcher wohl ein Dutzend Äpfel-, Käse-, Quark- und andere Kuchen trug. Noch entzückender war der Anblick des Himmels über uns. In diesen, nämlich in die hölzerne Zimmerdecke, waren zahlreiche Haken eingeschraubt, an denen Schinken, Räucherspeck, sonstiges Fleisch und alle möglichen Sorten von Würsten hingen. Diese Herrlichkeiten erfüllten die gute Stube mit einem kräftigen Dufte, dessen Wirkung sich nicht nur auf die Geruchs-, sondern auch auf alle übrigen Nerven zu erstrecken schien, denn Carpio, der eben noch so hinfällige, richtete sich zu seiner vollen Länge empor, sog den Geruch mit Wohlbehagen ein und sagte:

»Freund Sappho, ein gütiges Geschick hat uns in das Elysium geführt; Franzl ist das Geschick, und wo sich das Elysium befindet, das brauche ich dir wohl nicht zu sagen. Es weht ein Odem überirdischen Behagens hier, dem jede Krankheit weichen muß. Ich werde die letzten zwei Stunden in meinem ganzen Leben nicht vergessen; es war mir unbeschreiblich schauderhaft zu Mute. Ich fühlte mich nicht mehr als Mensch, sondern ich kam mir wie ein großer, dicker Sack voll Jammer und Elend vor. Ich habe alle zehntausend Niederträchtigkeiten des Erdenlebens in diesen beiden Stunden durchgemacht und bin davon so vollständig befriedigt worden, daß ich satt genug für immer bin. Das Nikotin ist ein Drache, der mich niemals wieder in seine Krallen bekommen soll, und das Alkohol eine Schlange, die ich zähmen werde, weil man doch nicht für immer von ihr loskommen kann, denn sie taucht in hunderterlei Arten auf, die oft gefährlich, zuweilen aber auch nützlich sind. In meiner höchsten Qual und Not nahm ich mir vor, dir, meinem Freunde, an Eides statt ein heiliges Versprechen abzulegen, nur wußte ich noch nicht in welcher Form. Nun ich aber hier in dieser guten Stube die verloren gegangene Lebensfreude wieder finde und auch fast wieder logisch denken kann, verspreche ich dir bei diesen Schinken und Würsten, welche die erlaubten, die wahren Genüsse des Lebens repräsentieren, daß ich mich niemals wieder von einem heuchlerischen, hinterlistigen Genusse verlocken lassen werde, auf meine Menschenwürde, wenn auch nur für eine Stunde, zu verzichten. Es ist nicht Scherz, sondern mein vollster, wahrster Ernst. Nie wieder soll der Tabak meine Lippen berühren, und jedes Getränk, welches Alkohol enthält, sei mir fortan nur als Arznei erlaubt. Ich habe mein Versprechen bei diesen ehrlichen Schinken und hochachtbaren Würsten abgelegt; du bist dessen Zeuge und sollst mich vor jedermann für einen ehrlosen Menschen erklären, wenn du mich jemals rauchend oder gar berauscht zu sehen bekommst. Hier, meine rechte Hand darauf!«

Der sonst so wortkarge Freund pflegte nur gegen mich, zumal während unsrer Wanderungen, aus seiner Schweigsamkeit herauszutreten; jetzt hatte er gar eine Rede gehalten, was mir als unumstößlicher Beweis dafür diente, daß es ihm völliger Ernst mit seinem Versprechen war. Ich will übrigens gleich jetzt und im voraus bemerken, daß, wie meine lieben Leser später auch selbst noch sehen werden, er dieses Versprechen stets gehalten hat.

Ich nahm die mir dargereichte Hand, schüttelte sie ihm herzlich und sagte:

»Es freut mich, daß du die Lehre, welche du erhalten hast, beherzigen willst. Die Virginias wachsen nicht für Knaben, sondern nur für erwachsene Männer auf den Tabaksbäumen Österreichs.«

»Du nennst mich, deinen Busenfreund, einen Knaben?!«

»Ja.«

»Und denkst wohl aber, du selbst seist ein Mann?«

»Ja.«

»Wohl etwa nur darum, weil die Cigarren dich nicht elend gemacht haben wie mich?«

»Ja, denn es war eine höchst männliche Selbstbeherrschung von mir, daß ich dieses Kraut des Teufels mäßig genossen habe, während du grad wie ein kölner Funke geräuchert und gestopfholzt hast.«

»Dafür hast du aber mehr Wein getrunken als ich!«

»Weil ich merkte, daß ich ihn vertragen konnte!«

»Ja, leider bist du in dem glücklichen Besitze eines Magens, dem es ganz gleichgültig ist, ob er jetzt drei volle Tage hungern und gleich darauf einen ganzen Berg voll Kieselsteine, Beißzangen und Ofengabeln verdauen muß! Das ist aber gar kein Beweis der Männlichkeit, mit welcher du dich brüstest. Wer einen Knaben seinen Busenfreund nennt, ist selbst noch ein Knabe; das merke dir. Nicht du selbst bist mir über, sondern nur dein Magen ist besser als der meinige; das ist die ganze, bevorzugte Stellung, welche du in der heutigen Weltgeschichte einnimmst.«

»Mein Sohn, ich habe dich vor den Folgen des Tabaks gewarnt, und wer einen andern Menschen warnt, der beweist damit, daß er ihm über ist. Ich habe sogar jetzt wieder eine Warnung, eine sehr ernste, eindringliche und berechtigte Warnung auf den Lippen.«

»Welche?«

»Bist du bereit, sie zu vernehmen?«

»Ja.«

»Und wird deine Moralität auch kräftig genug sein, sie zu beherzigen?«

»Ich hoffe es.«

»So sage mir: Wie lautet das siebente Gebot, mein lieber Sohn?«

»Du sollst nicht stehlen,« antwortete er ernsthaft, als ob er ein Examen zu bestehen hätte. »Hältst du mich etwa für fähig, ein Dieb zu sein?«

»Ja.«

»Mensch, ich fordere dich!«

»Das ändert nichts an der Sache. Wer moralisch so heruntergekommen ist, daß er bayrische Cigarren nach Böhmen schmuggelt, der ist jeder Schandthat fähig.«

»Also du auch, mein ehrwürdiger Vater! Kannst du mir beweisen, daß ich schon einmal gestohlen habe?«

»Ob ich das kann, ist hier gleichgültig; die Hauptsache ist, daß du höchst wahrscheinlich heut in der Nacht gestohlen haben wirst, ehe der Hahn zum drittenmal kräht.«

»So sage mir doch endlich, was mich reizen soll, eine solche Sünde gegen dein bescheidenes Eigentum zu begehen!«

»Ich spreche nicht von meinem, sondern von dem Eigentume unsers hochherzigen Gastgebers Franzl. Schau um dich, und schau über dich! Wende ganz besonders deinen Blick nach oben!«

»Ach, jetzt verstehe ich!« lachte er.

»Lache nicht, oh du mein armes Schmerzenskind! Wer bei dem Gedanken an die Sünde so leichten und fröhlichen Herzens sein kann, wie du bist, der ist ihr bereits verfallen. Du hast weder am Mittag noch am Abend etwas gegessen; es wird die Pein des Hungers über dich kommen und dich aus dem Schlafe wecken. Wenn du dann den erquickenden Duft der Fleischer-, Schlächter-, Selcher- und Wurstler-Gilde verspürst und dein geistiger Blick sogar zu gleicher Zeit nach jenen lieblichen Kuchenschragen gerichtet wird, so steht dir die schwerste Versuchung nahe, da in jeder Wurst ein Satan wohnt und der oberste der Teufel die Gewohnheit hat, grad die frömmsten Herzen mit geräuchertem Schinken zu bombardieren. Es ist meine Pflicht, dich zu warnen; nun sorge du dafür, daß meine wohlgemeinten Worte nicht auf den Felsen oder unter die Dornen fallen, wo sie nicht aufgehen und Früchte tragen können! Halte fest an deiner Pflicht, und bleibe ein ehrlicher Mensch! Und nun Gutenacht, mein teurer Sohn!«

»Gute Nacht, lieber Urgroßvater! Willst du dich wirklich schon schlafen legen?«

»Ja, denn es ist für die Gesundheit stets besser, der Nachtwächter zu sein, der die Nachtwacht in der Vormitternacht gewacht gehabt hat, als der Nachtwächter, der die Nachtwache in der Nachmitternacht gewacht gehabt hat. Auch das kannst du dir merken!«

»Ich wollte dich nur fragen, ob ich unsers Geldes wegen die Thür verriegeln soll?«

»Thue es, oder thue es nicht; das ist ganz egal, da wir nicht wissen, ob sich hier im Zimmer oder außerhalb desselben die gefürchteten diebischen Gelüste regen werden.«

»Hast du Zündhölzer bei dir?«

»Ja, ein ganzes Päckchen und das Fläschchen dazu.«

»So lege sie dir zu Hand! Ich werde zwar zuschließen, aber man weiß nicht, ob es fest genug ist. Schläfst du rechts oder links?«

»Auf beiden Seiten, denn ich pflege mich öfters umzudrehen.«

»Ich meine, in welchem Bette du schlafen willst!«

»Jedenfalls nicht in dem, in welches du dich legen wirst.«

»Schrecklicher Mensch! Ich nehme das hier rechts.«

»Wo grad die schönsten Würste darüber hängen? Nein, mein Sohn, das nehme ich. Leg du dich in das andere; da ist der Himmel leer!«

»Höre, Sappho, ich glaube, daß du mich vor dem Diebstahle gewarnt hast, nur um ihn selbst zu begehen!«

»Das beweist, daß du mit Muhammed, der auch einen falschen Glauben gepredigt hat, auf der gleichen Stufe stehst. Nun aber laß mich ruhen! Nochmals Gutenacht!«

»Gute Nacht, edler Meergreis; Schlaf wohl!«

Ich löschte das Licht aus, setzte es auf meinen Stuhl und legte mich nieder. Als ich grad am Einschlafen war, hörte ich Carpios Stimme:

»Höre, ob sie es wohl abgeben wird?«

»Was?«

»Nun, mein Empfehlungsschreiben.«

»Ach so! Ja, wo lebt denn dein Verwandter?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was ist er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie heißt er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Höre, lieber Freund, wenn dein Verwandter etwa nur in deiner Phantasie zu suchen ist, so war es eine Schlechtigkeit von dir, dieser armen Frau weiszumachen, daß – –«

»Schweig!« unterbrach er mich. »So ein Halunke bin ich natürlich nicht. Mein Verwandter existirt wirklich, aber nur für solche Leute, für welche ich ihn existiren lassen will.«

»Also für mich nicht?«

»Nein.«

»Für andere Mitschüler, wie ich erfahren habe, auch nicht?« »Nein.«

»Danke!«

»Bitte! Fühlst du dich etwa beleidigt?«

»Natürlich! Das nennt sich Busenfreund!«

»Hm! Sappho, ich will dir etwas sagen: Ich habe einen guten Grund, gewisse Menschen nicht über diesen meinen Verwandten aufzuklären.«

»Wer sind diese gewissen Leute?«

»Alle Personen männlichen Geschlechtes, welche ungefähr in meinem Alter stehen.«

»Warum grad dieses?«

»Das ist natürlich tiefstes Geheimnis, worüber ich ein ewiges Schweigen bewahren werde; dir aber will ich es enthüllen. Ich hoffe, daß du das für einen unanfechtbaren Beweis meiner Freundschaft halten wirst!«

»Selbstverständlich! Also – –?«

»Kein Masculinum meines Alters erfährt etwas über meinen Verwandten, weil – – weil – – hm, weil – – –«

»Nun – – weil – – –? Heraus damit!«

»Weil – – weil – – na, ich will es dir also sagen: Weil der Kerl dann hinüberfahren und sich für mich ausgeben könnte, um mich zu beerben.«

»Alle Donner! Carpio, bist du verrückt?«

»Nein. Grad dieses mein Verhalten muß dir beweisen, daß ich im Gegenteile ganz bei Sinnen, sogar ganz bei Scharfsinn bin.«

»Das bist ganz du! Bei dir wird eben alles zum Roman! Wer das thäte, was du sagtest, der wär ein Halunke!«

»Halunken giebt's genug!«

»Er müßte falsche Papiere haben!«

»Falsche Papiere giebt's genug!«

»Und ein ungeheurer Lügner sein!«

»Lügner giebt's genug!«

»Er müßte auch dich und eure Verhältnisse kennen!«

»Solche Kenner giebt's genug! Du siehst, daß du mich mit deinen Gegengründen nicht zu schlagen vermagst. Nein, nein, eine solche Erbschaft laß ich mir nicht wegschnappen! Du mußt nämlich wissen, daß mein Verwandter in einer Gegend wohnt, die ein wahres Eldorado ist!«

Aha! Das war ja der erste Blitz! Ich war überzeugt, daß er nun nicht eher einschlafen könne, als bis er auch die beiden andern Blitze losgelassen hatte.

»Hast du es gehört?« fragte er.

»Ja.«

»Ein wahres Eldorado ist es.«

»Falsch!«

»Falsch? Wieso?«

»Es muß heißen: ein wahres Dorado. El ist der Artikel.«

»Was geht mich der Artikel an, wenn nur die Sache richtig ist! Du weißt doch, was Eldorado bedeutet?«

»Ja.«

»Ein Land voll lauter Gold und Edelsteinen. Da kannst du dir denken, daß mein Verwandter Millionär ist!«

Millionär – – zweiter Blitz!

Da ich nicht antwortete, fragte er nach einer Weile:

»Schläfst du schon?«

»Nein, aber ich möchte schlafen!«

»So warte nur noch einen Augenblick! Ich muß dir nämlich sagen, daß mein Verwandter keine Verwandten hat.«

»Nicht? Wenn er dein Verwandter ist, hat er doch welche!«

»Wen denn?«

»Dich und deine Familie.«

»Ach so – – richtig! Wir sind aber auch seine einzigen Verwandten. Weißt du, was daraus folgt?«

»Nun, was?«

»Daß wir uns als seine Universalerben zu betrachten haben. Hast du das verstanden?«

Universalerben – – dritter Blitz. Jetzt waren alle drei heraus, und nun ließ er mich wahrscheinlich schlafen.

»Das habe ich verstanden,« antwortete ich. »Aber etwas anderes kann ich nicht verstehen.«

»Was?«

»Daß du mich als deinen einzigen wahren Freund betrachtest und doch gegen mich dasselbe Schweigen bewahrst wie gegen alle andern männlichen Personen deines Alters.«

»Das thue ich nur dir zuliebe.«

»Wieso?«

»Du bist ein braver, ehrlicher Kerl, und grad darum möchte ich dich vor Versuchungen bewahren.«

»Unsinn!«

»Höre, das ist kein Unsinn! Wenn in einem Eldorado ein Millionär wohnt, dessen Universalerbe man werden kann, so ist das eine so ungeheure Versuchung, daß selbst der treueste Busenfreund in Gefahr steht, ihr zu erliegen. Du bist mir lieber als alle andern Menschen, die ich kenne; aber grad diese Liebe ist der Grund, daß ich dich auch vor der kleinsten Versuchung bewahren will!«

»So bewahre mich also, und sei still. Gutenacht!«

»Schlaf wohl!«

Es verging wieder eine Weile; da fragte er:

»Bist du noch wach?«

»Nein; ich schlafe!«

»So muß ich dir doch noch eins sagen, nur noch eins. Es ist mir nämlich eben jetzt eingefallen daß – –«

»Du hast dir jetzt gar nichts mehr einfallen zu lassen!« unterbrach ich ihn. »Ich will schlafen!«

»Aber es ist ganz kurz!«

»Kurz oder nicht; das ist ganz egal! Wenn du mich nicht in Ruhe lässest, so lange ich mir einen Schinken von da oben herunter und werfe ihn dir an den Kopf!«

»Thue das, lieber Sappho! Ich hänge ihn gewiß nicht unangeschnitten wieder hinauf, denn ich habe Hunger, riesigen Hunger. Er ist gekommen wie ein gewappneter Mann und geht wie ein brüllender Löwe in meinem Bette um!«

»Ach, wenn du brüllende Löwen im Bette hast, so bin ich ja gerettet!«

»Gerettet? Wie meinst du das?«

»Da hast du so mit diesen Bestien zu thun, daß du dich nun wohl nicht mehr mit mir beschäftigen wirst.«

»Na, wenn dich ihr Gebrüll nicht aufweckt, so magst du ruhig schlafen. Ich werde dich nicht mehr molestieren!«

Er hielt Wort; ich schlief ein, wurde aber nach ungefähr einer halben Stunde wieder aufgeweckt, denn ich hörte ihn ängstlich rufen:

»Sappho, Sappho, wach auf! Wach auf, und nimm mich herunter! Schnell, schnell!«

Die Stimme kam nicht von seinem Bette, sondern aus einer andern Gegend her; es klang wie von oben herab.

»Wo bist du denn?« fragte ich.

»Ich hänge hier oben!«

»Wo denn?«

»An der Wurst. Mach nur Licht! So lange kann ich mich schon noch halten. Der Stuhl ist umgestürzt.«

Er hing an einer Wurst! Ich sagte lachend:

»Aber, Mensch, wenn man das Leben auch noch so überdrüssig hat, braucht man sich doch nicht grad an eine Wurst zu hängen!«

»Mach keine dummen Witze, sondern beeile dich, sonst reißt die Schnur; obgleich sie vierfach ist!«

»Was?« fragte ich. »Die Wurst hängt gar an einer vierfachen Schnur?«

»Die Wurst nicht, sondern ich!«

»Ist sie noch oben?«

»Ja, beide sind wir noch da! Hilf mir herunter!«

Jetzt brannte das Licht, und ich konnte die Situation überblicken. Er hing wirklich an einer Wurst, oder vielmehr nicht an, sondern neben derselben. Unter ihm lag das ausgebreitete Deckbette und auf diesem der umgefallene Stuhl.

Es muß bemerkt werden, daß das Zimmer höher als gewöhnliche Bauernstuben war und daß die meisten der eingeschraubten Haken die Stärke von Lampenhaken hatten. An einem dieser starken Haken hing die dicke Magenwurst, auf welche Carpio es abgesehen gehabt hatte; er trug zu gleicher Zeit die vierfach zusammengelegte Schnur, welche Carpio in beiden Händen hielt, während er das andere Ende sich unter der Achselhöhle durchgezogen hatte. Er hing an ihr höher, als der umgefallene Stuhl gewesen war, was ich zunächst nicht begreifen konnte. Er war übrigens kein schlechter Turner, sonst hätte er es nicht so lange, bis ich ihm zu Hilfe kam, aushalten können.

Ich nahm Kniebeuge und ließ ihn auf meiner Schulter Halt fassen, von wo er dann auf das Bett heruntersprang. Die mit herabgezogene Schnur in den Händen, warf er einen bedauernden Blick nach oben und sagte in wehmütigem Tone:

»Sie war die größte und verlockendste von allen; nun stehe ich wieder hier unten, und sie, sie hängt noch oben!«

»Dieb! Wurstspitzbube! Schinkenräuber! Ich habe dich gewarnt. Du konntest Hals und Beine brechen!« fuhr ich ihn sehr ernst an, obgleich ich, wie ich zu meiner Schande gestehe, innerlich lachen mußte.

»Was geht es mich an, ob mein Hals und meine Beine ganz bleiben oder nicht, da ich die traurige Gewißheit habe, daß ich diese Nacht nicht überleben werde!«

»So groß ist dein Hunger?«

»Schauderhaft! Du hast mir grad das Bett geraubt, worüber der Himmel das Aussehen einer vollgestopften Räucherkammer hatte, während über dem meinigen alles leer ist. Auf dein Bett konnte ich nicht treten, weil dich das aufgeweckt hätte; darum suchte ich mir da vorn, ehe du das Licht auslöschtest, diejenige Wurst aus, welche in Beziehung auf ihre Größe und Wohlgestalt meinem heimlichen Zwecke zu entsprechen schien. Um jedes, auch das leiseste Geräusch zu dämpfen, legte ich meine Zudecke unter, auf welche ich den Stuhl stellte. Aber das reichte, wie ich bald bemerkte, leider nicht aus, denn ich durfte die Wurst nicht abschneiden, sondern ich mußte sie empor- weil aus dem Haken heben. Eine Unterlage auf den Stuhl konnte ich im Dunkeln nicht finden, und so – – –«

»Hättest du doch ein paar Käsekuchen von dort untergelegt!« fiel ich ihm in die Rede.

»Schweig, gefühlloser Mongolenhäuptling!« antwortete er. »Durch diesen hochverräterischen Vorschlag, den ich mir übrigens merken werde, verrätst du, daß du von tungusischen oder ostjakischen Urahnen abstammst! Also – – ich konnte nicht hoch genug steigen; darum nahm ich mir vor, mich hoch genug zu ziehen. Du weißt doch, daß ich stets eine Anzahl Reiseschnuren bei mir führe?«

»Reiseschnuren! Dieser Ausdruck ist gut, sehr gut!«

»Wieso? Spottest du?«

»Nein. Ich denke dabei an ungarische, russische und andere Pferdediebe, welche auf ihre Reisen Halfter mitzunehmen pflegen, in denen dann, ehe man die Hand umdrehe, fremde Pferde zu stecken pflegen. Also wie war es mit deinen Reiseschnuren, die eigentlich heimliche oder verkappte Wurstschnuren zu sein scheinen?«

»Ich legte sie, damit sie mich halten könnten, vierfach zusammen, band mir das Ende unter der Achsel fest, weil man da am wenigsten empfindlich ist, wie z.B. das Turnen an den Schwingen beweist. Dann stieg ich wieder auf den Stuhl und warf die vierfache Schnur so in die Höhe, daß sie sich in den Haken fing.«

»Ein Kunststück ohne Licht!«

»Es gelang freilich nur nach wiederholtem Versuche. Ich hing also an der Achsel, und die Schnuren liefen oben über den Haken. Indem ich sie um die eine Hand wickelte und mit der andern weiter- und höhergriff, konnte ich mich emporziehen und dann die Wurst aus dem Haken heben. Ich zog und zog; es ging, denn ich half unten dadurch nach, daß ich den Fuß auf die Querleiste der Stuhllehne setzte. Dabei aber stieß ich den Stuhl um; die Nachhilfe fehlte nun, und ich kam nicht weiter; ich mußte dich um Hilfe rufen.«

»Das war nicht notwendig.«

»O doch!«

»Nein. Du brauchtest doch nur die Schnur fahren zu lassen und herunterzuspringen!«

»Kann man eine fest um die Hand gewickelte Schnur, an welcher man hängt, so leicht fahren lassen? Übrigens konnte ich nicht sehen, wo der Stuhl lag; ich konnte mir, auf ihn fallend, Schaden thun. Nein, ich mußte dich rufen. Schau meine Hand! Sieh diese blauen Streifen! Wärst du nicht gleich erwacht, so hätte die Schnur das Fleisch bis auf den Knochen durchschnitten!«

Er hatte recht; ich zog es aber vor, ihm ohne Bedauern zu sagen:

»Das hast du verdient! Ein Pferdedieb wird in Amerika am Halse, ein Wurstdieb in Böhmen aber an der Achsel und den Händen aufgehängt! Und, Mensch, sag, wie hast du dir das denn eigentlich gedacht? Der Wirt oder seine Frau hätte morgen früh doch gleich mit dem ersten Blicke gesehen, daß grad ihre schönste Wurst den Weg aller Würste – –«

»Nichts hätten sie gesehen, gar nichts!« fiel er schnell ein.

»Du wolltest ein Stück abschneiden?«

»Nein.«

»Sie ganz aufessen?«

»Nein, obgleich mein Hunger so groß ist, daß ich mich anheischig mache, zwei oder auch drei solche Magenwürste verschwinden zu lassen.«

»Nicht abschneiden, aber auch nicht ganz verzehren? Ein drittes ist doch gar nicht möglich!«

»Für ein so harmloses und wohlgenährtes Wickelkind, wie du bist, freilich nicht. Aber der hungrige Löwe, welcher vorhin in meinem Bette brüllte, macht erfinderisch. Ich hatte mir das ganz schön ausgedacht. Sieh die Wurst an! Sie ist nach allen Seiten mit einer Schnur umwickelt, jedenfalls deshalb, daß sie beim Kochen im Wurstkessel nicht zerplatzen sollte. Meinst du nicht auch?«

»Meinetwegen! Ich halte dieses Problem nicht für hoch und würdig genug, in einer so wichtigen Stunde, wie die jetzige ist, meine Gedanken zu beschäftigen. Lassen wir die Schnur also drumgewickelt! Übrigens sind wir jetzt in Österreich, da heißt es nicht Schnur, sondern Spagat.«

»Schön, also Spagat! Ich wollte diesen Spagat vorsichtig heruntermachen und dann einen Triangel in die Wursthaut schneiden, vorsichtig, unendlich vorsichtig natürlich. Diese Hautdreiecke hätte ich geöffnet und dann aus dem Innern der Wurst soviel herausgeholt, wie nötig war, den Löwen zu füttern, der meinen Magen jetzt als Raubtierkäfig benutzt. Wenn er dann satt war, wollte ich – – hm!«

»Was wolltest du? Heraus damit!«

»Lieber Mongole, du siehst doch ein, daß die Wursthaut wieder gefüllt werden mußte?«

»Natürlich mußte sie das! Aber womit? Ich bin neugierig, was du dazu nehmen wolltest.«

»Ja, diese Frage war freilich schlimmer als die orientalische. Dir durfte ich mich nicht anvertrauen; etwas Eßbares, was ich erreichen konnte, gab es nicht als nur die Kuchen dort. Hätte ich ein Stück abgeschnitten und in die Wurst gestopft, so wäre die Lücke bemerkt worden. Nicht?«

»Ja. Die Kuchen sind leider alle ganz; es ist keiner von ihnen angeschnitten.«

»Das ist ja die Sache, die mir Schmerzen macht!« sagte er grimmig; dann fügte er in vertraulichem Tone hinzu: »Weißt du, Sappho, wer sich über die Kuchen machen will, der muß gleich einen ganzen essen; das wird nicht so leicht entdeckt, als wenn man ein Stück herausschneidet!«

»Du, Carpio, du hast doch nicht etwa in dieser Beziehung Gedanken, die mir schrecklich wären?!«

»Fällt mir gar nicht ein! Ich bin ein Ehrenmann; das weißt du doch!«

»Ja, ein Ehrenmann, welcher Triangel in die Würste schneidet! Also womit wolltest du sie füllen?«

»Mit – – mit – – ich habe nämlich bemerkt, daß mein Kopfkissen ein Loch hat. Am Inlet scheint eine Naht aufgegangen zu sein, denn die Federn kommen unten aus dem Überzug heraus. Ahnst du es nun, Sappho?«

»Carpio, Mensch, Wurst- und Federdieb! Welch ein Gedanke! Du hast die Wurst mit Bettfedern ausstopfen wollen?«

»Ja, mit Bettfedern,« antwortete er, ich weiß nicht mehr, ob kleinlaut oder triumphierend.

»Welch verderbte, lasterhafte Welt! Ich sage dir, daß dieser dein Gedanke von einer Bosheit ist, die mich geradezu schaudern läßt! Ich sehe im Geiste den guten Franzl mit seiner Frau am Tische sitzen und die Magenwurst anschneiden. Da quellen Federn heraus! Welche Gesichter! Welch ein Aufwand an Geist und Scharfsinn, um dem Wunder, daß ein Schwein keine Borsten, sondern Federn hat, auf die Spur zu kommen!«

»Sie hätten die Lösung des Rätsels, nämlich das hineingeschnittene Triangel bald gefunden, aber wohl schwerlich die Schuld auf uns geworfen.«

»Auf uns! Das ist es ja, was mich so sehr empört, nämlich, daß ich, der Unschuldige, bei der Entdeckung auch in die Gefahr käme, als Dieb betrachtet zu werden!«

»Beruhige dich, hochverehrter Busenfreund! Dein sittlicher und strafrechtlicher Widerwille ist nur deshalb so groß, weil du keinen Hunger hast! Also ich hätte die Federn in die Wurst gestopft, die Haut an den Triangelschnitten etwas übereinander gelegt und dann die Schnur wieder darumgewickelt. Hing sie dann oben an ihrem heimatlichen Haken, so wäre beim hellsten Tageslichte nicht zu sehen gewesen, daß ich bei nachtschlafender Zeit allhier die Fütterung meines Löwen vorgenommen habe. Leider ist nichts daraus geworden, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als weiterzuhungern!«

»Es ist schon drei Uhr nachts; du wirst es bis zum Kaffee aushalten müssen und wohl auch können. Hättest du es Franzl noch vor dem Schlafengehen gesagt, so lägst du jetzt als gesättigter und zufriedener Bürger in den Armen des Schlafes der Gerechten. So aber wirst du unter den Geißelhieben der Furien nicht einschlafen können bis zum Grauen des Morgens, welche Bezeichnung heute doppelt richtig ist, weil es ihm vor dir graut!«

»Ich wollte, diese Hiebe bekämst du! Ich verzichte auf deine Furien, denn ich habe an meinem Hunger genug. Komm, wollen uns wieder niederlegen!«

»Ja, stecke deine berühmten Reiseschnuren ein; laß den Stuhl auf seinen eigenen Füßen stehen, und leg das Bett dahin, wohin es gehört. Und das sage ich dir noch: Wenn du mich wieder wecken solltest, um dich vom Haken herunterzuholen, so lasse ich dich hängen und gehe an meinem Wanderstabe ohne deine hungrige Begleitung weiter!«

Ich blies das Licht wieder aus und kehrte zu Morpheus zurück, dem mich der Busenfreund so rücksichtslos entrissen hatte. Als ich erwachte, war es zehn Uhr vormittags. Carpio lag mit offenen Augen im Bette; er stöhnte leise vor sich hin und war vor Hunger bleich wie Konzeptpapier.

»Aber, Carpio, was liegst du noch?« fragte ich erstaunt. »Du scheinst schon längst wach zu sein? Warum bist du bei deinem Hunger nicht aufgestanden und hinuntergegangen, um zu essen?«

Er holte tief, tief Atem und seufzte:

»Ich – – ich – – habe keinen Appetit!«

Diese ganz und gar unerwartete Antwort veranlaßte mich, sofort aufzuspringen, um sämtliche Räuchersachen einer gründlichen Ocular-Inspektion zu unterwerfen. Ich fand nichts, was meinen Verdacht bestätigte.

»Du denkst wohl, ich bin noch einmal aufgestanden und habe mich mit den Sachen da oben beschäftigt?« fragte er mich in müdem Tone. »Ist mir nicht eingefallen! Ich sage dir, Sappho, der Geruch dieser Würste und Schinken ist mir jetzt zuwider!«

»Wirklich?« fragte ich erstaunt.

»Ja. Auf Ehrenwort, ich könnte keinen einzigen Bissen davon essen!«

»Das begreife ich nicht.«

»Weil du meine Konstitution nicht kennst. Weißt du denn nicht, daß es Menschen giebt, welche, wenn sie den Hunger einmal übergangen haben, dann für lange Zeit nicht imstande sind, auch nur die geringste Kleinigkeit zu genießen? Sie sind ganz satt, wie vollgestopft.«

»Mit Bettfedern?«

»Mach keinen dummen Witz! Zu diesen Vollgestopften gehöre ich auch. Daß ich heute nacht den Hunger übergehen mußte, wird mir gar nicht gut bekommen; glaube mir, ich bin innerlich wie zugeleimt! Wer weiß, welche lange Zeit vergehen wird, bis ich etwas essen kann. Mein Leib ist ganz hart; ich kann kaum Atem holen!«

»Das sind aber doch Symptome des strikten Gegenteiles vom Hunger!«

»Das verstehst du nicht. Es sind die Symptome eines sehr stark übergangenen Hungers!«

»Aber ich habe doch schon ziemlich oft gehungert, doch davon nie einen solchen Leib und Atembeschwerden gehabt wie du!«

»Das kommt davon, daß deine Konstitution eine ganz andere Struktur hat als die meinige. Mein Hunger ist ein Löwe, der deinige ein Rhinoceros, also zwei Tiere, welche zu ganz verschiedenen Klassen gehören. Ich habe jetzt – –«

Er wurde unterbrochen, denn Franzl klopfte an die Thür und forderte uns auf, nun endlich doch hinunterzukommen, sonst werde der Kaffee so dick wie Pflaumenmus.

»Ich bliebe am liebsten liegen,« seufzte mein Busenfreund. »Es liegt mir wie Blei in den Gliedern. Komm, zieh mich in die Höhe!«

Ich that das. Er sah wirklich ganz elend aus. Seine Wangen waren jetzt aschfahl und eingefallen; die Augen hatten einen stieren, wie abwesenden Blick.

»Du, Carpio, wollen doch zu einem Arzt gehen,« schlug ich vor. »Das kann unmöglich vom übergangenen Hunger sein; das sieht vielmehr ganz so aus, als ob eine Krankheit im Anzuge sei!«

»Unsinn!« lächelte er matt. »Den Anzug zieh ich selber an; da lasse ich keine Krankheit hinein.«

»Na, wenn du noch imstande bist, solche lebensgefährliche Witze loszulassen, dann darf man ja alle Hoffnung haben, daß du noch nicht ganz tot bist!«

»Es wird schon wieder werden; ich kenne mich. Hilf mir nur, ich kann mich nicht gut bücken!«

Ich war schnell mit mir fertig; bei ihm aber ging es außerordentlich langsam; es war, als ob er sich gar nicht mehr drehen und wenden könne. So schwerfällig und apathisch wie heute hatte ich ihn noch nie gesehen. Auch die Treppe hinunter ging es so langsam mit ihm, als ob ihm die Kniegelenke eingefroren seien.

Unser Franzl saß mit der Wirtin im Gastzimmer beim zweiten Frühstücke. Sie blühte wie eine Rose und begrüßte uns mit einer Freundlichkeit, welche bewies, daß ihr die uns bewiesene Gastfreundschaft aus dem Herzen kam. Von Abreise durften wir gar nicht sprechen. Wir erfuhren, daß Franzl per Schlitten nach Maria Kulm müsse, und beide hielten es für ganz selbstverständlich, daß wir mitzufahren hätten. Es fiel uns auch gar nicht ein, eine Einwendung dagegen zu machen. Was gern gegeben wird, nimmt man gern an, und wir freuten uns, den berühmten Wallfahrtsort kennen zu lernen.

Mein kranker Busenfreund war leider nicht imstande, dieser Freude einen so lebhaften Ausdruck zu geben wie ich. Er trank nur einen einzigen Schluck Kaffee und nahm keinen Bissen zu sich. Franzl beobachtete ihn unter wiederholtem Kopfschütteln; er wollte nicht glauben, daß ein übergangener Heißhunger den Appetit mit solcher Gründlichkeit verderben könne.

Natürlich erkundigte ich mich nach den drei Fremden von gestern abend.

»Undankbare Gesellschaft!« antwortete die Wirtin kurz.

Auf mein Warum erklärte Franzl:

»Die sind schon fort, ehe wir aufgestanden waren; der Knecht hat sie hinauslassen müssen.«

»Also doch, wie ich dachte! Ich habe es Ihnen gestern vorausgesagt, als die Frau nicht mit Gutenacht, sondern mit Lebewohl grüßte.«

»Warten Sie nur; die Hauptsache kommt erst noch: Als meine Frau in der Stube, wo sie übernachteten, nachsah, lagen die geschenkten Kleidungsstücke, der Kuchen, die Wurst und sogar meine fünf Gulden auf dem Tisch. Sie haben das alles nicht mitnehmen wollen.«

»Fünf Gulden? Nicht sechs?«

»Nur meine fünf; den Ihrigen haben sie behalten. Was sagen Sie zu so einer Undankbarkeit und Schlechtigkeit?!«

Ich war damals noch sehr jung und durfte von Menschenkenntnis nicht sprechen; aber dennoch kam mir der Gedanke, daß ich an Stelle der Frau wahrscheinlich nicht anders gehandelt hätte als sie. Es war Stolz, ob Bettelstolz oder – –? Ich hütete mich natürlich, meine Meinung zu äußern, mußte aber während des ganzen Tages an die armen Menschen denken und an die tiefe Wirkung, welche das Gedicht auf den Greis hervorgebracht hatte. Am liebsten wäre ich ihnen nachgegangen, um ihnen zu sagen, wie sehr sie mir durch die Zurücklassung der Geschenke imponiert hatten. Bei ihrer traurigen Lage war diese Verzichtung ein Opfer, dessen Größe unsere Gastfreunde leider nicht begriffen.

Wir saßen bis Mittag mit Franzl allein zusammen, weil seine Frau das Essen zu bereiten und auch sonst in der Wirtschaft zu thun hatte. Einmal rief sie ihn in die Küche. Wir hörten sie draußen laut und herzlich lachen, und als er dann wiederkam, kniff er das eine Auge zusammen, was ihm einen außerordentlich gutmütig pfiffigen Ausdruck verlieh, und fragte mich:

»Heut giebt's Kartoffelklöße, so groß wie mein Kopf; das stopft! Essen Sie mit?«

»Natürlich, denn die sind mein Leibessen!« antwortete ich.

»Und Sie?«

Er richtete diese Frage offenbar mit größerer Spannung an Carpio, welcher sich schüttelte und dann antwortete:

»Sappho mag nur nicht von Leibessen reden, denn er hat lauter Leibessen; alles, was gegessen werden kann, ist sein Leibessen! Aber ich, mit meinem zarten Magen! Klöße! Brrr! Das schüttelt mich förmlich!«

»Ja ja, Klöße!« nickte jetzt der Franzl mit komischem Ernste vor sich hin. »Aber könnten Sie Quark mit Kartoffeln essen?«

»Quark? Keine Spur! Keine Messerspitze! Ich müßte hinaus, müßte ausreißen!«

»Schaun Sie an! Aber früher konnten Sie Quark essen?«

Ich wußte nicht, warum er so fragte, und antwortete schnell an Carpios Stelle:

»Gleich mit Löffeln hätte er ihn gegessen! Noch vorgestern haben wir welchen gehabt!«

»Schau, schau! Da muß ein übergangener Hunger freilich eine schlimme Sache sein. Ich habe das noch nicht erlebt und mag's auch gar nicht kennen lernen.«

Ich fühlte es wohl heraus, daß diese Worte irgend eine besondere Bedeutung hatten, fand aber keine Zeit, nach ihr zu forschen, weil er gleich von etwas anderem zu sprechen anfing.

Die Klöße mundeten mir vortrefflich; Carpio aber setzte sich gleich gar nicht mit an den Tisch. Er erklärte, seinen Heißhunger nur durch die allerstrengste Diät wieder herstellen zu können: Similia similibus curantur, Ähnliches mit Ähnlichem, Gleiches mit Gleichem, Hunger mit Hunger!

Gleich nach Tische begann die Schlittenfahrt, welche mir große Freude machte. Ich wußte, daß es auch für Carpio kein größeres Vergnügen geben konnte als so eine Schlittenpartie, und bedauerte es herzlich, daß sein Unwohlsein ihn hinderte, dieses Vergnügen so vollauf wie ich zu genießen. Franzl aber, der doch sonst so menschenfreundliche Mann, schien das Leiden seines Gastes mehr ironisch als tragisch zu nehmen, was den Busenfreund so verstimmte, daß er zuletzt kein Wort mehr sprach und nur kurz erklärte, daß er sich nach der Heimkehr sofort schlafen legen werde.

Das ging aber doch nicht so schnell, wie er gedacht hatte, obgleich wir so spät ankamen, daß schon alle Gäste fortgegangen waren. Die Wirtin sagte uns nämlich, daß sie unter dem Kopfkissen des Bettes, in welchem die fremde Frau geschlafen hatte, etwas Wichtiges gefunden habe, und gab es ihrem Manne. Wir sahen sogleich, daß es das Couvert mit den Schiffskarten war. Dieser Verlust konnte unschwer erklärt werden: Sie hatte dem Wirte den Paß vorzeigen müssen und ihn dann wieder in ihr Tuch gewickelt. Später war uns von ihr das Couvert gezeigt worden, welches sie dann jedenfalls nicht so sorgfältig wie vorher den Paß eingeschlagen hatte. Beim Schlafengehen war sie so vorsichtig gewesen, das Tuch mit den beiden wichtigen Gegenständen unter ihr Kopfkissen zu legen. Dabei oder während ihrer Bewegungen im Schlafe oder vielleicht auch erst früh beim Wegnehmen des Tuches war das Couvert herausgerutscht und unter dem Kissen liegen geblieben.

Jetzt wußte der Wirt nicht, was er mit dem Fundgegenstande anfangen sollte, während ich sofort im stillen entschlossen war, ihn der Eigentümerin zuzustellen.

»Ich werde das Couvert morgen früh der Polizei übergeben,« meinte er.

»Nein, das werden Sie nicht,« sagte ich.

»Warum nicht?«

»Weil es so blutarmen Leuten, welche von der Mildthätigkeit anderer leben müssen, jedenfalls sehr unangenehm ist, wenn sie mit der Polizei auch nur in Berührung kommen müssen. Man würde sie nach allem ausfragen, und das Ergebnis könnte sein, daß sie als Landstreicher eingesperrt und dann per Schub nach ihrer Heimat transportiert würden, wohin sie, wie wir wissen, nicht wieder wollen.«

»Sie sind wohl auch weiter nichts als Landstreicher!«

»Nein, sie sind brave, unglückliche Menschen, deren Not man nicht noch vergrößern darf.«

»Aber was soll ich sonst thun? Das Couvert mit der Post nach Graslitz schicken, denn dorthin wollten sie?«

»Das geht auch nicht an, denn Sie kennen ihre dortige Adresse nicht, und die Karten dürfen nicht allen möglichen Zufällen oder gar der Gefahr ausgesetzt werden, verloren zu gehen.«

»Aber nach Graslitz müssen sie doch!«

»Allerdings. Ich schlage vor, sie sicheren Leuten anzuvertrauen, welche nach diesem Orte gehen und Frau Wagner dort aufsuchen werden.«

»Das würde allerdings das Klügste und Sicherste sein; aber ich weiß keinen Menschen, der grad jetzt die Absicht hat, nach Graslitz zu gehen. Und warten, bis irgend jemand zufällig auf diesen Gedanken kommt, dazu giebt es keine Zeit, denn diese Angelegenheit ist eilig.«

»Wenn Sie nicht, so kenne ich zwei Personen, welche bereit sind, diesen Botengang zu übernehmen.«

»Sie? Wer ist das?«

»Ich und Carpio.«

»Sie selbst? Sie wollen nach Graslitz? Ich denke, Ihr Weg führt Sie nach Karlsbad und weiterhin?«

»Wir haben eigentlich gar keine festgestellte Tour. Wir wandern, um zu wandern, ohne eigentliches Ziel. Das einzige, was wir dabei zu beachten haben, ist, daß bei uns der Unterricht am siebenten Januar wieder beginnt; da müssen wir daheim sein. Ob wir nach Karlsbad oder nach Graslitz gehen, ist gleichgültig.«

»Aber die Tour nach Karlsbad ist bequemer; Sie haben da stets vortreffliche Straße, während der Weg über Berg und Thal nach Graslitz hinauf jetzt im Winter so beschwerlich ist, daß wenigstens ich ihn nicht gehen möchte. Oder wollen Sie fahren?«

»Nein. Erstens sind unsere Mittel dazu zu gering, und zweitens müssen wir mit in Rechnung ziehen, daß wir die Gesuchten leicht noch unterwegs treffen können; wir müssen uns also für dieselbe Transportgelegenheit wie sie entscheiden, nämlich für Schusters Rappen.«

»Schade, jammerschade! Sie gefallen uns, und wir rechneten darauf, daß Sie noch einen oder zwei Tage bei uns bleiben würden. Wenn Sie wenigstens morgen noch bleiben, kann es leicht möglich sein, daß Sie der Frau die Karten hier geben können.«

»Wieso?«

»Weil sie, wenn sie ihren Verlust bemerkt, schnell umkehren und wieder zu uns kommen wird, um die Karten zu holen.«

»Das bezweifle ich, denn sie wird glauben, sie unterwegs verloren zu haben. Wenn sie nicht die feste Überzeugung hätte, sie von hier mitgenommen zu haben, wäre sie wahrscheinlich jetzt schon wieder da.«

»Es ist möglich, daß Sie recht haben. Also Sie sind wirklich entschlossen, diesen Leuten trotz ihrer Undankbarkeit nach Graslitz nachzulaufen?«

»Ja. Was Ihnen als Undank erscheint, ist vielleicht eine Folge von Gründen, die Sie und wir nicht kennen. Also, wir machen einen Ausflug, weil wir Bewegung brauchen; wohin wir fliegen, wohin wir uns bewegen, das ist, wie schon gesagt, sehr gleichgültig; fliegen wir also nach Graslitz!«

»Na, vom Fliegen wird da wohl keine Rede sein können. Es fängt an zu schneien, und wenn es in dieser Nacht so fortschneit, sind für Sie morgen früh alle Wege zu.«

»Das macht uns heut noch keine Sorge; unsere einzige Sorge ist jetzt nur die, ob Sie uns das Couvert mit den Karten anvertrauen werden.«

»Warum denn nicht? So braven Burschen, wie Sie sind, wird man doch Vertrauen schenken, und ich bin überhaupt froh, daß ich diese Sachen los werde.«

»So brechen wir morgen früh auf, sobald es hell geworden ist. Wir werden wohl jemand finden, der uns den Weg beschreiben kann.«

»Da brauchen Sie nicht weit zu suchen, denn ich stamme aus Bleistadt und kenne ihn ganz genau. Ich werde ihn nachher auf ein Papier zeichnen, welches Sie mitnehmen können.«

»Abgemacht, beschlossen und genehmigt!«

»Nur langsam!« sagte Carpio. »Du thust doch, als ob du dich ganz allein auf der Erde befändest! Du bestimmst, was geschehen soll, und thust das ganz nach deinem Gutdünken, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu fragen. Ich bin aber auch noch da, verehrter Sappho!«

»Das weiß ich. Ich glaubte, allein sprechen zu müssen, weil du die Sprache verloren zu haben scheinst, und war überzeugt, daß du einverstanden sein würdest, wenn es gilt, armen, unglücklichen Menschen zu ihrem Eigentume zu verhelfen.«

»Daß ich gern dabei bin, versteht sich ganz von selbst, nur weiß ich nicht, ob mein übergangener Heißhunger mir morgen schon erlauben wird, einen so beschwerlichen Weg zu machen.«

»Grad darüber brauchen Sie nicht zu sorgen,« fiel Franzl heiter ein. »Ich kenne ein ganz sicheres Mittel, Sie bis morgen früh wieder gesund zu machen. Sie müssen dieses Mittel noch heute abend verzehren.«

»Was ist es?« fragte Carpio neugierig.

»Vier oder fünf Stückchen Quarkkuchen.«

»Quark – – ku – – chen?« dehnte der Busenfreund schaudernd. »Ich würde auf der Stelle sterben, wenn ich meinem Magen das Herzeleid anthäte, auch nur ein einziges zu essen!«

»Aber ich bin überzeugt, daß Sie doch früher dieser Sorte von Kuchen nicht abgeneigt gewesen sind!«

»Früher und jetzt, das sind zwei sehr verschiedene Zeiten. Sie kennen doch das lateinische Sprichwort von den Zeiten und den Menschen, die sich ändern?«

»Gewiß kenne ich es. Es heißt: Saepe luet porci facinus porcellus adulti. Und wenn Sie heut nichts genießen wollen, so werden Sie mir erlauben, dafür zu sorgen, daß Sie wenigstens unterwegs nicht Hunger leiden. Jetzt will ich Papier holen, um Ihnen den Weg aufzuzeichnen.«

Als er das gethan und uns den Weg auch noch sehr eingehend erklärt hatte, gingen wir schlafen. Oben angekommen bemerkte ich, daß der Schragen mit den Kuchen nicht mehr in der guten Stube stand. Dieser Umstand fiel mir keineswegs auf, denn Kuchen hebt man doch nicht in einem Raume auf, in welchem geschlafen wird, und auch der Busenfreund meinte:

»Laß ihn fort sein; ich werde um so besser schlafen, wenn ich diesen Quarkkuchen nicht riechen muß, der mir so zuwider ist, wie ich gar nicht sagen kann!«

Als wir am andern Morgen zeitig Kaffee getrunken hatten, brachte die Wirtin ein großes, schweres Paket Lebensmittel, welches wir mitnehmen sollten. Wir wollten es zurückweisen, weil es uns zuviel schien; sie ging aber nicht darauf ein. Franzl gab uns das Couvert mit den Schiffskarten und noch ein zweites, kleineres. Er sagte:

»Den Abschied wollen wir uns nicht gar so schwer machen, denn ich bin überzeugt, daß Sie auf dem Rückweg wieder bei mir einkehren werden. Bis dahin gebe ich Ihnen ein kleines Andenken an mich mit. Sie haben uns bei Ihrem Kommen so mit Reimen überschüttet, daß ich mir gegen Sie wie ein Schuljunge vorgekommen bin. Da habe ich denn gestern abend, als Sie schliefen, mir Mühe gegeben, auch einen Reim zu machen. Es hat wohl an die zwei Stunden gedauert, bis er fertig war. Sehen Sie, ob er etwas taugt; aber öffnen Sie das Papier nicht eher, als bis Sie aus der Stadt hinaus sind. Darf ich Ihnen noch ein paar Virginias und einige Stücke Quarkkuchen mitgeben?«

Da streckte Carpio, der sich heute wieder wohl fühlte, beide Hände abwehrend aus und rief:

»Ich rauche im Leben niemals wieder, und wenn Sie wollen, daß ich Ihnen ein treues und dankbares Andenken widmen soll, so sprechen Sie das andere Wort, so lange wir noch da sind, ja nicht wieder aus!«

Der Abschied war zwar kurz, aber um so herzlicher. Wir mußten versprechen, auf dem Rückwege, wenn nur immer möglich, ja wieder vorzusprechen und noch einen Tag zu bleiben; dann wanderten wir zur Stadt hinaus. Draußen vor derselben stand ein Einkehrhaus. Als ich an demselben vorüber wollte, hielt mich Carpio an und sagte:

»Lieber Wanderer, geh nicht weiter! Da drinnen lächelt wieder edle Gastlichkeit!«

»Schon einkehren? Wir machen doch keine Bierreise und haben kaum erst zweihundert Schritte gethan!«

Aber der Busenfreund wußte mich zu überreden. Er bewies mir mit mathematischer Schärfe, daß wir unbedingt das mitbekommene Paket untersuchen müßten, was doch unmöglich unterwegs im Freien geschehen könne. Auch müßten wir das Gedicht lesen; ein Bier koste nur sechs Kreuzer und reiche für uns beide – ergo!

Die Stube war leer; dann kam eine Frau, schenkte uns das Bier ein und ging dann wieder hinaus. Wir waren allein. Nun wurde das Paket mit großer Feierlichkeit geöffnet. Es enthielt ein ganzes Stück Butter, einen Käse, ein Stück Schinken, eine halbe Magenwurst, einige Stücke Rosinenkuchen und etwas in Flanell gewickelt. Als wir dies öffneten, fielen zehn blanke Gulden und ein Papier heraus, auf welchem zu lesen stand:

»Für die Visite schulden
Wir Ihnen diese Gulden.
Ihr treuer Franzl.«

Wir ließen unserer frohen Überraschung zehn Minuten lang freien Lauf; als Carpio dann allerlei Vorschläge machte, wie dieses Geld unterwegs zu verwenden sei, sagte ich:

»Es wird nicht ausgegeben, sondern aufgehoben. Unser Reisegeld muß langen.«

»Was hast du da?« fragte der Busenfreund, als er den Lederbeutel sah, den ich auf meinem jungen Herzen trug und jetzt unter der Weste hervorzog.

»Das ist mein geheimer Geldschrank, in welchem die zwanzig Thaler stecken, die ich mir von meinem Honorar für unvorhergesehene Fälle aufbewahrt habe. Hier hinein kommen diese zehn Gulden.«

»Denkst du nicht, daß ein Einbrecher auf den Gedanken kommen kann, daß du diesen Beutel bei dir hast?«

»Hier unter meiner Weste bricht mir niemand ein; darauf kannst du dich verlassen! Du, steckt nicht da zwischen dem Kuchen auch ein beschriebenes Papier?«

»Es scheint so.«

Er zog es heraus und wir lasen:

»Warum es Rosinen- und kein Quarkkuchen ist, wird Ihnen mein Reim sagen.«

»Was dieser Franzl nur immer mit seinen Quarkkuchen hat!« sagte ich.

»Ist auch mir ein Rätsel,« behauptete der Busenfreund in sehr gleichgültigem Tone, wobei aber eine holde Röte auf den Stellen erschien, wo die Schnurrbartspitzen später auf den Backenbart zu treffen hatten.

»Gestern,« fuhr ich fort, »erwähnte er ihn mehrmals, und zwar, wie ich mich erinnere, mit ganz besonderer Betonung. Sollte vielleicht der Umstand damit zusammenhängen, daß gestern abend der Kuchenschragen verschwunden war?«

»Ich bin ganz ohne alle Ahnung!«

»Wirklich?«

»Ja. Doch, um von etwas anderem zu reden, was sagst du zu dieser halben Magenwurst? Mir kommt sie außerordentlich bekannt vor.«

»So? Ah – ja – es ist möglich, daß es die Hälfte von der ist, von welcher ich dir heruntergeholfen habe. Wahrhaftig, der vortreffliche Franzl hat unsertwegen seine schönste Wurst zerschnitten! Oh Carpio, oh Carpio, wie wären wir nun blamiert, wenn du deinen Vorsatz ausgeführt hättest!«

»Welches Unglück!« stimmte er tief aufatmend bei. »Denke dir – – die Federn!«

»Ja, die – – – Federn! Mensch, wir wären wahrscheinlich deinetwegen alle beide zur Thür hinausgeworfen worden! Solche Schande kann man erleben, wenn man einen Spitzbuben zum Busenfreund hat!«

»Schweig! Es ist ja alles noch gut abgelaufen. Es war nur eine Absicht; die kann dem ehrlichsten Menschen kommen; aber zur wirklichen Ausführung würde so etwas bei mir niemals kommen!«

»Na, na!«

»Niemals!« beteuerte er. »Du wirst mir doch zutrauen, daß ich den Unterschied zwischen Mein und Dein zu respektieren weiß!«

»Schon gut! Jetzt wissen wir, was das Paket enthalten hat; nun wollen wir den Reim lesen!«

»Können wir nicht noch warten, lieber Sappho?«

Dieses »lieber Sappho« klang diesmal so zuckersüß, daß es mir auffiel. Darum erkundigte ich mich:

»Warum sollen wir noch warten? Hast du etwa einen besondern Grund?«

»Einen besondern nicht, aber unsere Spannung würde größer.«

»Ich bin kein Freund von übermäßiger Spannung. Sehen wir also nach!«

Ich zog den Umschlag hervor und öffnete ihn. Da legte er seine Hand auf die meinige und fragte:

»Sappho, du bist mein bester, mein allerbester Freund. Willst du mir einen großen, sehr großen Gefallen thun?«

»Welchen?«

»Lies den Reim heut nicht!«

»Wann denn?«

»Später, später, meinetwegen zu Ostern oder zu Pfingsten, nur nicht heut!«

»Höre, Carpio, mit dir ist etwas nicht richtig; du hast kein reines Gewissen. Ich werde lesen.«

»Da sage – ich dir – – die Freundschaft auf!«

»Gut! Betrachten wir sie schon jetzt als vorüber, denn wenn du zu diesem verzweifelten Mittel greifst, muß ich erst recht wissen, was Franzl geschrieben hat.«

Ich zog den Zettel hervor und las ihn. Oh, nun wurde mir freilich alles, alles klar. Armer Carpio! Ich hätte laut auflachen mögen, bezwang mich aber, zeigte meine ernsteste Miene, schob ihm den Reim hin und sagte:

»Hier – – lies!«

Er las und wurde leichenblaß dabei.

»Das – das – – hätte er nicht – – nicht dichten sollen!« stammelte er.

»Wer sagte denn soeben noch, daß so ein schlechter Gedanke bei ihm niemals zur Ausführung kommen könne? Wer behauptete, den Unterschied zwischen Mein und Dein stets zu respektieren? Wer hat sich verstellt, mich getäuscht, belogen und betrogen? Lies mir den Reim laut vor!«

»Das – – das kann ich nicht!«

»Lies! Zur Strafe! Dann verfahre ich vielleicht gelinder mit dir, du – – du – – du Quarkkuchendieb, du!«

»Versprichst du mir wirklich, nachsichtig zu sein?« fragte er so kleinlaut wie noch nie.

»Ja.«

Da las er, und ich hörte ihn an, wie er sich zwingen mußte:

»Hat Carpio mitten in der Nacht
Einen Kuchen ganz zu Quark gemacht,
So stöhnt er unter Angst und Bangen:
›Ich hab den Hunger übergangen!‹«

»Du hast also, als ich schlief, einen ganzen Quarkkuchen aufgegessen?«

»Ja,« gestand er mit einer wahren Armensündermiene. »Ich habe es dir doch vorhergesagt!«

»Nein! Du hast nur gesagt, daß der Verlust schwerer zu entdecken sei, wenn man ihn ganz aufißt. Einen ganzen, ganzen Quarkkuchen von vier Vierteln und acht Achteln! Das bringt doch höchstens nur ein Elefant fertig! Wie ist es dir denn darauf geworden?«

»Schauderhaft, sage ich dir, schauderhaft! Ich werde noch auf Jahre hinaus zittern, wenn ich das Wort Quark nur höre! Übriglassen durfte ich nichts, und als ich mit Ach und Weh fertig war, begann der hinterlistige Teig in mir aufzuquellen!«

»Da dauerst nicht etwa du mich, sondern der edle Löwe, der elend hat ersticken müssen! Du konntest dir doch denken, daß die Wirtin ihre Kuchen gezählt hatte!«

»Das dachte ich natürlich wohl; aber daß sie dann nachzählen würde, dachte ich nicht. Du kannst es mir glauben, lieber Sappho: Wenn du das Quadrat der längsten Hypothenuse samt den Quadraten ihrer beiden Katheten mit einem ganzen Topf voll Gurkensalat und saurer Sahne verzehrst, wird das, was du dann fühlst, gegen das, was ich empfunden habe, als grenzenlose Behaglichkeit bezeichnet werden müssen.«

»Und,« fuhr er nach einer Weile fort, »der körperliche Jammer war nicht der einzige, den ich empfand, denn wie, wie habe ich auch geistig, seelisch leiden müssen! Dich zum Beispiele die herrlichen großen Klöße essen sehen zu müssen, ohne mitthun zu können, das war eine wahrhaft teuflische Grausamkeit, mit welcher mein Schicksal mich strafte. Dann die Schlittenfahrt! Deine Fröhlichkeit, deine lachenden Augen, während ich wie ein in der Magengegend harpuniertes Walroß dick und angeschwollen hinter dir im Schlitten hockte! Es war mir, als hätte ich hunderttausend Zähne verschluckt, welche alle mit Zahnschmerzen behaftet waren, die nun in meinem Innern zu wüten begannen. Ich gebe dir mein Wort, daß – –«

»Halt ein, halt ein!« mußte ich jetzt laut auflachen. »Die Schmerzen von hunderttausend kariösen Zähnen! Dieser Vergleich ist so pompös, so genial und dabei doch so Mitleid erweckend und nach Erbarmen schreiend, daß ich, ich mag nun wollen oder nicht, dem armen, harpunierten Walroß meine Gnade wieder zuwenden muß.«

»Was!« rief er da, vor Freude aufspringend. »Du wolltest – –? du wolltest wirklich – – lieber Sappho?«

»Ja, ich will!«

»Da – – da – – da könnte ich aus Liebe und lauter Dankbarkeit gleich noch – – noch – – noch – –?«

»Nun, was?«

»– – gleich noch einen Quarkkuchen essen, hätte ich beinahe gesagt, aber natürlich keinen gestohlenen! Armer Sappho! Auch du hast unter dem Verdacht gestanden – –«

»Oh nein,« unterbrach ich ihn. »Franzl war pfiffig genug, deinem berühmten übergangenen Heißhunger sofort anzusehen, daß du allein der Schuldige warst. Du hast ihm und seiner Frau heimlich ungeheuern Spaß gemacht.«

»Ich danke! Mir war es nicht sehr spaßhaft zu Mute! Also, du denkst nicht, daß sie zornig auf mich sind?«

»Nein, das denke ich nicht. Trotzdem aber können wir nicht wieder hin zu ihnen. Es bleibt an deiner Ehre doch immer ein Stück von dem Quarke kleben, welches nicht wegzubringen ist. Wollen die Sache auf sich beruhen lassen und machen, daß wir von hier fortkommen!«

»Gut, brechen wir auf! Also, du bist nicht mehr bös auf mich?«

»Nein.«

»Bist wieder gut, vollständig wieder gut?«

»Vollständig!«

Da schob er mir das Bier hin, von welchem wir noch keinen Schluck getrunken hatten, und forderte mich auf:

»Trink, Sappho!«

»Warum trinkst denn du nicht, Carpio?«

»Weil ich aus lauter Dankbarkeit das große Opfer bringen und dir alles lassen will.«

»Danke! Ich mag nichts.«

»Warum nicht?«

»Ich sehe und rieche schon von weitem, daß es sauer ist.«

»Das rieche ich nicht; aber es ist eine Schwabe drin ertrunken. Siehst du sie nicht?«

»Ach, darum deine große, aufopferungsvolle Dankbarkeit?!«

»Ja. Sogar die Schwabe wollte ich dir allein lassen. Komm, wollen gehen!«

Wir banden unser Paket wieder zusammen und gingen; nach kurzer Zeit war Falkenau hinter uns verschwunden.

Es hatte nicht, wie Franzl gestern abend meinte, die ganze Nacht hindurch geschneit, und so gab es für uns, wenigstens zunächst, eine ziemlich gut gebahnte Straße. Den ungefähr eine Meile weiten Weg bis nach Gossengrün legten wir in zwei Stunden zurück. Auf unsere Erkundigung dort erfuhren wir, allerdings erst nach langem und sorgfältigem Umherfragen, daß die Gesuchten gestern um die Mittagszeit hier angekommen und dann von einem mitleidigen Viehhändler in seinem Wagen mit nach Bleistadt genommen worden waren. Unser Weg ging also nun nach diesem Orte, den wir noch am Vormittage erreichten, obwohl der Schnee hier schon viel höher als in der Falkenauer Gegend lag.

Bleistadt ist nicht groß; darum fanden wir das Schenkhaus sehr bald, in welchem der Händler mit seinem Schlitten angehalten hatte; ja, wir fanden ihn sogar selber, denn er hatte hier übernachtet und war frühzeitig nach Heinrichsgrün gefahren und soeben von da zurückgekommen. Er sagte uns, daß die Frau ein wahrer Engel an Aufmerksamkeit und Hingebung gegen ihren alten Vater sei, der aber wohl nicht mehr lange leben werde, denn er hatte sich selbst im Schlitten kaum auf dem engen Sitze aufrecht erhalten können. Von ihrer Einkehr bei Franzl hatte sie nichts gesagt.

»Ich bin aus Graslitz,« fuhr er fort, »und hätte sie ganz gern bis dorthin mitgenommen, aber ich mußte hier bleiben, um heut nach Heinrichsgrün zu fahren und die nächste Nacht in Neukirchen zu bleiben. Als sie erfuhr, daß ich alle Leute in Graslitz kenne, fragte sie mich nach einem Instrumentenmacher, der mit ihrem Mann verwandt ist. Sie dachte, bei ihm bleiben zu können, weil sie ihn für wohlhabend hielt; leider konnte ich ihr da keine gute Auskunft geben, denn er war nur Gehilfe und wendete seinen ganzen Verdienst dem Branntwein zu. Wegen dieser seiner Trunksucht fand er nirgends mehr Arbeit und hat sich vor ungefähr einem Jahre auf und davon gemacht, wohin, das weiß ich nicht.«

»Ist die Frau von hier weiter?«

»Ja. Der Wirt wollte sie nicht umsonst behalten, und Geld hatte sie nicht; sie dachte, unterwegs eher und leichter gute, mitleidige Leute zu finden, und es ist auch wahr, daß einsam wohnende Menschen gastlicher sind als Bewohner von Orten, wo es Gasthäuser giebt.«

»Da ihre Hoffnung auf den Verwandten nun zunichte ist, hat es eigentlich gar keinen Zweck mehr für sie, nach Graslitz zu gehen; sie ist aber wohl trotzdem hin?«

»Ja.«

»Auf dem gewöhnlichen Wege?«

»Sie wollte sich immer an der Zwoda aufwärts halten; weiter weiß ich nichts. Es ist ein wahres Herzeleid, solche Leute zu sehen! Sie wollen sich nach Bremen durchbetteln; ob sie aber hinkommen, das weiß man nicht; der Alte auf keinen Fall; ich dachte jeden Augenblick, er werde mir im Schlitten sterben. Sie sprach davon, daß sie Schiffskarten hätte; aber wenn es so langsam weitergeht wie jetzt, werden die wohl abgelaufen sein, ehe sie benützt werden können.«

Diese Bemerkung machte mich noch besorgter um die Frau, als ich bis jetzt gewesen war. Ich nahm, ohne dem Händler zu sagen, was es war, das Couvert aus der Tasche und öffnete es; ich glaubte nicht, ein Unrecht damit zu begehen. Richtig! Die bezahlten Schiffslegitimationen waren von einem New-Yorker Agenten des damals erst ein Jahr bestehenden Bremer Lloyd ausgestellt und die Fahrt war für die ersten Tage des Februar festgesetzt. Die Frau hatte das nicht lesen können, weil der Text englisch war.

Wir machten uns wieder auf den Weg, welcher immer am Flüßchen aufwärts führte und ziemlich beschwerlich war, weil der Schnee stellenweise knietief lag. Überall wo es menschliche Wohnungen gab oder wenn uns jemand begegnete, fragten wir und erfuhren so, daß die armen Leute mehreremal um Nachtlager gebeten hatten, aber immer abgewiesen worden waren. Die Bewohner dieser Gegend sind oder waren besonders damals selbst so arm, daß sie, zumal im Winter, kaum genug trockenes Brot für sich selber hatten.

Gegen Abend sahen wir eine kleine, ärmliche, halb verfallene Schneidemühle vor uns liegen, deren ziemlich defektes Räderwerk eingefroren war. Das sah schon von außen ganz wie Hunger aus. Die kaum noch in den Rahmen hängenden Fenster hatten Risse und Löcher, welche mit Papier zugeklebt waren. Ein alter, abgemagerter Hund fuhr, als wir uns näherten, unter einer tiefen Schneewehe, wo er sein Lager hatte, hervor und vollführte mit seiner heiseren Stimme einen Lärm, auf welchen die obere Hälfte der querteiligen Thür geöffnet wurde. Das Gesicht einer alten, wie es schien, abgehärmten Frau war zu sehen.

»Gott zum Gruß, Mütterchen!« sagte ich.

»Grüß Gott,« antwortete sie. »Was wollen Sie?«

»Sind Sie die Müllerin?«

»Nein; die Mühle geht schon längst nicht mehr, denn ihr ist zwar nicht das Wasser aber das Geld ausgegangen. Ich bin nachher eingezogen, weil das Logis nichts kostet. Ich bin nämlich die Botenfrau zwischen Bleistadt und Graslitz.«

»Wir suchen einen alten Mann, eine Frau und einen Knaben, welche gestern in Bleistadt waren und nach Graslitz wollten.«

»Du lieber Gott, die, die suchen Sie? Da kommen Sie zu einer schlimmen Zeit! Mit dem Alten können Sie nicht reden, denn er liegt im Sterben. Was wollen Sie denn von der Frau?«

»Wir bringen ihr etwas, was sie verloren hat.«

»Da kommen Sie herein! Schön werden Sie es nicht bei mir finden, sondern traurig, sehr traurig.«

Sie öffnete nun auch die untere Hälfte der Thür, und wir traten in einen engen, vollständig leeren Flur, dessen Wände im Zerbröckeln waren. Durch eine höchst mangelhaft schließende Thür kamen wir in die Stube, für welche aber der Ausdruck Stall in ihrem jetzigen Zustande eine unverdiente Ehrung gewesen wäre; ich wenigstens hätte weder Pferd noch Kuh hier unterbringen mögen!

Es gab keinen Ofen, sondern einen aus Feldsteinen lose zusammengesetzten Herd, auf welchem ein Holzfeuer brannte, dessen flackernder Schein den sonst, obgleich es draußen noch ziemlich hell war, ganz dunkeln Raum zur Not erleuchtete. Von Wärme war nur wenig zu bemerken. Neben dem Herde ein paar Töpfe und Teller an der bloßen Erde, denn eine Diele gab es nicht. Am Fenster stand ein alter Tisch mit zwei schemelartigen Stühlen, und der Thür gegenüber gab es eine Lagerstätte, welche unsere Augen sofort auf sich zog. Sie bestand aus einem trockenen Laubhaufen, über den ein gewiß schon jahrelang nicht mehr weißes Betttuch gebreitet war. Einige zusammengerollte Fetzen bildeten das Kopfkissen, und die Zudecke präsentierte sich uns als die Reste eines haarlosen Männerpelzes. Auf diesem Bette lag der Greis, zu dessen Füßen der Knabe hockte, während die Frau am oberen Ende auf der Erde kniete und den Kopf ihres Vaters durch ihren untergeschobenen Arm stützte. Sie war so in ihren Schmerz versunken, daß sie sich gar nicht nach uns umblickte. Der Knabe erkannte uns und nickte uns traurig zu. Der Greis lag bewegungslos lang ausgestreckt; ob er die Augen offen hatte, konnten wir bei dem ungewissen Scheine des Feuers nicht erkennen; er sah so aus, als ob er schon tot sei.

Der Ort, wo ein Mensch im Verscheiden liegt, ist eine heilige Stätte, und wenn er auch der allerärmlichste der ganzen Erde wäre. Wir wagten nicht, laut Atem zu holen, und schlichen uns auf den Wink der Botenfrau zu den beiden Schemeln, um uns geräuschlos niederzusetzen. Sie folgte uns und flüsterte uns zu:

»Nicht wahr, es ist sehr ärmlich bei mir? Mein Schwiegersohn ist ein schlimmer Mann, der mich, seit meine Tochter tot ist, nicht mehr bei sich leidet; da habe ich mich hierher gemacht. Ich bekomme von der Gemeinde monatlich vierzig Kreuzer Almosengeld, und was ich sonst gegen den Hunger brauche, verdiene ich mir durch Botengänge. Sparen oder anschaffen kann man da aber nichts!«

»Seit wann sind diese Fremden hier?« fragte ich ebenso leise, wie sie gesprochen hatte.

»Seit Mittag. Sie haben die ganze Nacht im Schnee zugebracht, und das muß der Alte nun mit dem Leben bezahlen. Sie baten um ein Plätzchen zum Ausruhen für ihn; da konnte ich nicht nein sagen.«

»Haben sie gegessen?«

»Nein, denn sie haben nichts, und ich habe heut auch nichts mehr, als nur ein Brot, welches auch schon halb alle ist. Horch!«

Der Sterbende bewegte sich und sprach halblaut abgebrochene Worte vor sich hin:

»Mich friert – – ich will sterben! – – Legt mich ins Himmelbett, und – – deckt mich mit der weichen Seidendecke zu! – – – Wenn ich dann tot bin, unterschreibt nichts, nichts – – sonst bringt er euch noch an den Bettelstab!«

Der Knabe schluchzte zum Erbarmen; seine Mutter regte sich nicht; sie blieb stumm, stumm, wie der Schmerz in seiner größten Tiefe immer ist. Man hörte das Knistern der Flamme, weiter nichts. Nach einer längeren Weile begann der Alte wieder:

»Selig – selig ist, wer bis ans Ende – – an die – – die ewge Liebe glaubt – – –! Suchen – – suchen – – – im Verscheiden – – Erlösungsstern – – zur Herrlichkeit des Herrn – – –!«

Dann stieß er plötzlich einen überlauten Schrei aus, richtete sich in die Höhe, deutete mit der Hand wie in weite Ferne und rief in angstvoller Hast:

»Er schießt, er schießt – – – spring weg, spring weg; er schießt!«

Dann sank er wieder nieder. Nun ging sein Atem laut röchelnd, langsamer, immer langsamer, bis ich glaubte, er sei ganz weggeblieben; da aber hörte ich ihn noch einmal mit ruhiger, deutlicher Stimme sagen:

»Ich gehe jetzt, meine Tochter; aber nur mein Körper scheidet; meine Seele wird bei dir bleiben und dich behüten immerdar. Ich segne dich; ich segne euch. Der Herr sei euer Heil und euer Schirm! An seinem Throne werde ich unaufhörlich für euch beten. Habt Dank – – – lebt wohl – – – lebt wohl, ihr lieben – – lieben – – lieben – – –!«

Das letzte Wort erstarb zur Unhörbarkeit. Es wurde still, stiller als vorher. Nicht einmal das Feuer schien knistern zu dürfen. Da wendete die Frau sich ihrem Sohne zu und sagte in einem Tone, als ob ihr Leben nun auch zu Ende gehe:

»Stefan, dein Großvater ist gestorben; mir und dir ist er gestorben. Weine du; ich kann es nicht!«

Nun erst, nachdem sie sich dem Knaben zugewendet hatte, sah sie uns. Sie stand langsam auf, kam wie eine nur die Füße bewegende Statue auf uns zu und sagte mit seelenloser Stimme:

»Die Gymnasiasten von vorgestern. Was wollen Sie?«

»Sie haben Ihre Schiffskarte in Falkenau liegen lassen, und wir bringen sie Ihnen nach,« antwortete ich.

Ihre Augen waren nicht auf mich, sondern wie durch die Wand hindurchgerichtet, und es klang, als ob sie zu einem Abwesenden spreche:

»Danke; legen Sie sie hier auf den Tisch!«

»Ihre Gültigkeit läuft Anfangs Februar ab,« fuhr ich fort, da ich es trotz der dazu ganz unpassenden Situation für meine Pflicht hielt, ihr diese Mitteilung zu machen. »Nun Ihr Vater gestorben ist, wird Ihnen der Bremer Lloyd den Betrag der auf seinen Namen lautenden Karte zurückzahlen, denn bei Todesfällen verfällt die Summe nicht.«

»Ich weiß nicht, ob ich bis nach Bremen komme,« erklang es kalt und ohne Ton.

»Sie müssen hin. Ein Freund von Ihnen hat mir das für Sie gegeben; stecken Sie es ein!«

Es war, als ob ich gar nicht anders könnte, ich mußte diese Worte sagen und meinen »Geldschrank« unter der Weste hervorziehen, um ihn ihr zu geben. Sie steckte den Beutel ein, ohne ihn anzusehen, ja, ohne ihn, wie es schien, eigentlich in der Hand zu fühlen.

»Geben Sie das aber ja nicht für das Begräbnis her!« fügte ich hinzu. »Sie brauchen es zum Fahren unterwegs.«

»Ich werde es verstecken,« nickte sie wie ein Automat.

»Und hier in diesem Paket ist für Sie etwas zu essen, was ich mitgebracht habe. Gute Nacht, Frau Wagner!«

»Gute Nacht!«

Ich gab dem Knaben die Hand und ging mit Carpio hinaus; die Botenfrau folgte uns. Draußen fragte ich sie:

»Haben Sie alles gehört, was ich zu der Frau gesagt habe?«

»Alles,« nickte sie; »jedes Wort.«

»Sagen Sie ihr alles, aber auch alles wieder, denn sie scheint nicht draufgehört zu haben! Sie muß den Beutel verstecken, daß man ihr das Geld nicht nimmt, welches sie zur Reise braucht. Für das Begräbnis hat die Gemeinde zu sorgen, zu welcher diese Mühle gehört. Und damit Sie etwas für die richtige Ausführung dieses Auftrages haben, halten Sie die Hand auf!«

Sie that es, und ich schüttete ihr mein Reisegeld hinein; dann gingen wir fort, im Halbdunkel des hereingebrochenen Abends den Weg zurück, den wir gekommen waren.

Was ich dabei dachte? Nichts, gar nichts. Ich hatte wie unter einer Eingebung gehandelt und bereute nicht, es gethan zu haben. Der Busenfreund trollte lange Zeit schweigend hinter mir her, bis es ihn doch endlich trieb, das Schweigen zu unterbrechen:

»Du, Sappho, diese alte Mühle und diese Sterbescene werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen! Wieviel hast du der Frau gegeben?«

»Alles.«

»Deine zwanzig Sparthaler und unsere zehn Gulden? Mensch, du bist ein großartiger Kerl! Aber ich nicht minder! Ich hätte es ihr auch gegeben, grad so wie du! Und was hat die alte Frau bekommen?«

»Mein Reisegeld.«

»Das ganze?«

»Ja.«

»Wieviel hattest du noch?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er weiß es nicht! Großartig! Er giebt seinen letzten Pfennig und Kreuzer weg. Was aber machen wir nun, und wovon leben wir nun?«

»Wieviel Geld hast du noch?«

»Ich weiß es auch nicht genau.«

»Ist auch nicht nötig. Zum Übernachten in Bleistadt reicht es auf jeden Fall für uns beide aus.«

»Ja, aber dann?«

»Dann gehen wir wieder nach Falkenau.«

»Etwa zum Franzl?«

»Ja.«

»Potztausend! Der wird den Quarkkuchen nicht so schnell vergessen haben! Können wir das nicht vermeiden?«

Da blieb ich stehen, nahm ihn beim Arme und fragte in meinem feierlichsten Tone:

»Carpio, habe ich schon jemals einen Menschen angepumpt?«

»Nein – – nie – – keinen einzigen!«

»So höre, was ich dir sage! Mit unserer Reise ist es aus, denn unser Geld ist alle. Betteln können wir nicht; ich pumpe also den Franzl an; der muß uns soviel geben, wie wir brauchen, um heimzukommen. Bist du einverstanden?«

»Sag erst, wer es ihm wiederzugeben hat! Du allein oder wir beide.«

»Ich allein.«

»So erteile ich dir meine vollste Genehmigung. Aber du mußt ihn selbst anborgen; ich brächte kein Wort über meine Lippen, schon des übergangenen Heißhungers wegen.«

»Natürlich thue ich es selbst. Jetzt komm!«

»Ich komme schon; ich bin mit allem einverstanden. Aber wenn der Franzl wegen des Pumpes wild wird und uns zum Fenster hinauswirft, lasse ich mich niemals wieder hier in Österreich sehen, sondern suche drüben mein Eldorado auf, wo ich soviel Geld bekomme, wie ich nur haben will!« – –


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