Guy de Maupassant
Ein Menschenleben
Guy de Maupassant

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XIV

Da ging sie nicht mehr aus und bewegte sich nicht mehr vom Fleck. Jeden Morgen stand sie zur selben Stunde auf, sah aus dem Fenster nach dem Wetter, dann ging sie hinab und setzte sich ins Wohnzimmer an das Kaminfeuer. Dort blieb sie unbeweglich sitzen, starrte in die Flammen, ließ ihre traurigen Gedanken umherschweifen und dachte an all ihr Unglück. Allmählich ward es dunkel in dem kleinen Raume, ohne daß sie eine andere Bewegung gemacht, als etwas Holz nachzulegen. Dann brachte Rosalie die Lampe und sagte:

– Liebe Frau Johanna, rütteln Sie sich einmal auf, sonst haben Sie heute abend keinen Hunger.

Oft kamen ihr fixen Ideen, die sie beherrschten, und sie wurde gequält durch Kleinigkeiten, die in ihrem Kopfe eine unendliche Wichtigkeit annahmen. Sie lebte nur noch in der Vergangenheit, in der frühesten Vergangenheit, in den ersten Zeiten ihres Lebens und in der Erinnerung an die Hochzeitsreise dort unten in Korsika. Landschaftsbilder dieser Insel, die sie längst vergessen, stiegen plötzlich wieder vor ihr auf in der Glut des Kamins. Sie erinnerte sich aller Einzelheiten, aller Kleinigkeiten, aller Menschen, denen sie dort begegnet. Das Gesicht des Führers Johann Ravoli verfolgte sie, und sie meinte manchmal seine Stimme zu hören.

Dann dachte sie an die süßen Kinderjahre Pauls, wie sie hatte säen und pflanzen müssen und wie sie neben Tante Lieschen auf dem fetten Boden gekniet und, um sich bei dem Kinde einzuschmeicheln, versucht hatten, sich gegenseitig den Rang streitig zu machen.

Und leise murmelten ihre Lippen: »Pullchen, mein kleines Pullchen«, als ob sie mit ihm gesprochen hätte. An diesem Worte blieben ihre Träume hängen. Manchmal versuchte sie stundenlang mit dem ausgestreckten Finger in der Luft zu schreiben, die Buchstaben seines Namens zu kritzeln. Langsam zog sie sie, am Feuer sitzend, und bildete sich ein, sie sähe ihn, meinte dann plötzlich sich geirrt zu haben und begann wieder das P mit vor Müdigkeit zitterndem Arme, indem sie sich zwang, den Namen bis zu Ende zu schreiben. Wenn sie dann fertig war, begann sie von neuem.

Endlich konnte sie nicht mehr, verwechselte alles, schrieb andere Worte und wurde nervös bis zum Wahnsinn. Alle Eigentümlichkeiten in der Einsamkeit lebender Menschen kamen über sie. Der geringste Gegenstand, den man an eine andere Stelle setzte, brachte sie außer sich. Rosalie zwang sie oft dazu, zu gehen, sie schleppte sie auf die Straße, aber Johanna sagte nach zwanzig Minuten:

»Rosalie, ich kann nicht mehr« – und setzte sich an den Grabenrand.

Bald ward ihr jede Bewegung unangenehm, und sie blieb so lange wie möglich im Bett liegen. Seit ihrer Kindheit hatte sie nur immer an einem festgehalten, aufzustehen, sobald sie ihren Milchkaffee getrunken hatte. Übrigens legte sie auf dieses Getränk einen außergewöhnlichen Wert, hätte sie es entbehren müssen, so wäre ihr das fühlbarer geworden als irgend etwas anderes. Jeden Morgen wartete sie darauf, daß Rosalie erschien, mit fast sinnlicher Ungeduld, und sobald die volle Tasse auf dem Nachttisch stand, setzte sie sich und trank sie gierig aus, dann warf sie die Bettdecke ab und begann sich anzukleiden.

Aber allmählich gewöhnte sie sich daran, nachdem sie die Tasse auf die Untertasse zurückgesetzt ein paar Sekunden zu träumen, dann streckte sie sich wieder im Bett aus, endlich verlängerte sich von Tag zu Tag diese Faulheit, bis zum Augenblick, wo Rosalie wütend zurückkehrte und sie fast mit Gewalt anzog.

Sie hatte fast keinen Willen mehr, und jedesmal wenn die Dienerin sie um Rat fragte, ihre Ansicht hören wollte, antwortete sie:

– Thu was Du willst.

Sie meinte, sie sei vom Unglück so verfolgt, daß sie fatalistisch wurde wie ein Orientale, und da sie immer ihre Träume und Hoffnungen vernichtet gesehen, wagte sie schließlich gar nichts mehr zu unternehmen und zögerte tagelang, nur das Geringste zu beginnen, fest überzeugt, daß sie jedes Mal auf einen falschen Weg geraten und es schlecht ausgehen würde.

Immer sagte sie:

– Ich habe kein Glück im Leben gehabt. Dann rief Rosalie:

– Was würden Sie denn sagen, wenn Sie um ihr Brot arbeiten müßten, wenn Sie jeden Tag um sechs Uhr aufstehen müßten, um auf Tagelohn zu gehen. Das müssen doch sehr viele, und wenn sie zu alt werden, sterben sie im Elend.

Johanna antwortete:

– Denke doch nur, daß ich ganz allein bin, daß mein Sohn mich verlassen hat.

Da ward Rosalie wütend:

– Nun, das ist was Rechtes! Wie ist es denn mit denen, die beim Militär dienen müssen, und mit denen, die nach Amerika gegangen sind?

Amerika war für sie ein unbestimmter Begriff, ein Land, wohin man geht um sein Glück zu machen, und von dem man nie wiederkehrt.

Sie fuhr fort:

– Einmal muß man sich doch trennen. Alt und jung ist nicht dazu gemacht, um ewig zusammen zu hocken! – Und mit wildem Ausdruck schloß sie dann:

– Was würden Sie denn sagen, wenn er tot wäre?

Da antwortete Johanna nichts mehr.

Sie schöpfte wieder Kräfte, als in den ersten Frühlingstagen die Luft etwas wärmer ward, aber sie benutzte diese Rückkehr ihrer Beweglichkeit nur dazu, mehr und mehr in düstere Gedanken zu versinken.

Als sie eines Morgens auf den Boden gegangen war, um etwas zu suchen, öffnete sie zufällig eine Kiste voll alter Kalender, die man dort aufgehoben, wie es vielfach auf dem Lande Sitte.

Es war ihr, als fände sie die vergangenen Jahre selber wieder, und seltsame Bewegung ergriff sie angesichts dieses Haufens viereckiger Papierblätter.

Sie nahm sie mit hinunter. Da gab es alle Formen, große und kleine, und sie ordnete sie den Jahren nach auf dem Tisch. Plötzlich fand sie den ersten wieder, den sie nach Les Peuples gebracht.

Sie betrachtete ihn lange, die Striche, die sie am Morgen, als sie von Rouen fortgefahren, gemacht, den Tag nach ihrer Rückkehr aus dem Kloster, und sie weinte, weinte Thränen der Trauer, armselige Thränen als alte Frau, die ihr ganzes elendes Leben vor sich auf dem Tisch gebreitet sieht.

Und ein Gedanke kam ihr, der sie bald unausgesetzt peinigte und quälte: sie wollte Tag um Tag wiederfinden, was sie je gethan hatte.

Sie nagelte die verblichenen Karten an den Wänden eine neben der andern fest, und stundenlang brachte sie vor einem oder dem andern zu und fragte sich immer:

– Was habe ich den Monat doch gethan?

Sie hatte die besonders wichtigen Tage ihres Lebens angestrichen, und manchmal konnte sie einen ganzen Monat so wieder herstellen, indem sie alle kleinen Begebenheiten, die vor oder nach einem besonders wichtigen Ereignis stattgefunden, einzeln sich wieder in Erinnerung brachte.

Durch peinliches Nachdenken, und indem sie ihr Gedächtnis anstrengte, gelang es ihr beinahe ganz genau, die ersten beiden Jahre, die sie in Les Peuples zugebracht festzustellen. Die fernerliegenden Ereignisse ihres Lebens kamen ihr mit wundersamer Leichtigkeit, als wären sie plastisch, zu Sinn.

Aber die folgenden Jahre schienen sich ihr im Nebel zu verlieren, sich zu vermischen, und manchmal saß sie unendliche Zeit da, den Kopf auf einen Kalender gebeugt, angestrengt an die Vergangenheit denkend, ohne sogar imstande zu sein sich zu erinnern, ob das und das gerade in diesem Jahr geschehen.

Von einem zum andern schritt sie im Zimmer hin, das rings behängt war mit diesen Tafeln der Vergangenheit, als wären es die Stationen auf einem Wallfahrtswege.

Vor einem davon blieb sie dann plötzlich stehen, setzte sich und starrte bis zum Dunkelwerden unbeweglich das Kartenblatt an, in ihrem Suchen verloren.

Da plötzlich, als alle Säfte unter dem Einfluß der warmen Sonnenstrahlen erwachten, als auf den Feldern die junge Saat zu sprießen begann, die Bäume grün wurden, als die Apfelbäume in den Höfen wie große, rote Kugeln in Blüte standen und ihren Duft hinaussandten in die Ebene, kam eine große Erregung über sie.

Sie konnte nicht mehr an einem Fleck bleiben, sie irrte umher. Zwanzigmal am Tage ging sie aus, kam wieder ins Haus zurück, lief längs der Bauernhöfe hin und regte sich auf in einer Art fieberhaften Bedauerns.

Der Anblick eines Maßliebchens, das irgendwo im Grase blühte, eines Sonnenstrahls, der durch die Blätter brach, einer Pfütze in einer Räderspur, in der sich das Blau des Himmels spiegelte, bewegte sie, stimmte sie ganz weich, schüttelte sie, und ferne Sehnsucht zog ihr ins Herz, wie ein Echo ihrer Mädchenträume.

Als sie einer Zukunft hoffend entgegensah, hatte sie genau so gezittert und die Süße der lauen, wonnigen Tage eingesogen. Nun, wo sie abgeschlossen hatte, fand sie all das wieder, sie genoß es noch einmal in ihrem Herzen, aber zugleich litt sie dabei, als ob die ewige Freude der erwachten Welt, indem sie in ihre verdorrte Haut, ihr träges Blut, ihre niedergebeugte Seele drang, nur noch einen schwachen schmerzlichen Reiz in ihr erwecken konnte.

Und ihr war es auch, als wäre um sie herum alles anders geworden. Die Sonne mußte wohl weniger warm scheinen als in ihrer Jugend, der Himmel schien ihr weniger blau, das Gras weniger grün und die Blumen, die ihr farblos zu sein dünkten und nicht so stark dufteten, berauschten sie nicht mehr so sehr wie einst.

Aber manchmal überkam sie doch eine solche lähmende Freude, daß sie wieder begann zu träumen, zu hoffen und zu erwarten. Kann man denn nicht, trotz unausgesetzter Mißgunst des Schicksals immer noch hoffen, solange die Sonne scheint?

Stunden- und stundenlang ging sie ihres Weges, als peitschte sie eine Erregung der Seele. Dann blieb sie plötzlich stehen, setzte sich an der Straße nieder, um nachzudenken über traurige Dinge. Warum hatte sie nicht gelebt wie andere Menschen? Warum hatte sie nicht die Freuden eines ruhigen Daseins genossen?

Manchmal vergaß sie wieder einen Augenblick, daß sie alt war, daß nichts mehr vor ihr lag als einige düstere einsame Jahre, bis ihr Leben beendet. Und wie einst mit sechzehn Jahren träumte sie wieder süße Träume. Die Zukunft erschien ihr im rosigen Licht, aber dann überkam sie plötzlich das Gefühl der Wirklichkeit, und gebeugt stand sie auf, als wäre eine schwere Last auf sie niedergefallen und zermalmte ihr den Rücken. Langsam ging sie dann nach Hause und flüsterte:

– Ich alte verrückte Frau! Ich alte verrückte Frau!

Jetzt sagte Rosalie alle Augenblicke:

– Aber bleiben Sie doch ruhig, Frau Gräfin, warum regen Sie sich nur so auf?

Und Johanna antwortete traurig:

– Weißt Du, ich bin wie Massacre in seinen letzten Tagen.

Eines Morgens trat die Dienerin früher ins Zimmer als sonst und stellte den Milchkaffee auf den Nachttisch:

– Trinken Sie schnell, Denis erwartet uns vor der Thür, wir müssen nach Les Peuples, ich habe dort zu thun.

Johanna war so erschüttert, daß sie meinte, die Besinnung verlieren zu sollen, so verstört und erschrocken bei dem Gedanken daran, ihr liebes altes Haus wiederzusehen.

Ein strahlender Himmel wölbte sich über ihnen, und der Graue setzte sich in fröhlicher Laune ab und zu in Galopp. Als sie in die Nähe von Etouvent kamen, fühlte Johanna, daß sie nur mühsam atmen konnte, so schlug ihr das Herz, und als sie die beiden Ziegelpfeiler des Thores sah, sagte sie mechanisch zwei- oder dreimal vor sich hin:

– Oh, Oh, Oh! Wie wenn einem etwas entgegen tritt, das einem tief in die Seele greift.

Bei Couillards spannten sie aus, und während dann Rosalie und ihr Sohn ihren Geschäften nachgingen, boten die Pächtersleute Johanna an, da die Herrschaft abwesend war, sich einmal das Schloß wieder anzusehen, und man gab ihr die Schlüssel.

Sie ging allein, und als sie auf die Seeseite vor dem alten Schloß kam, blieb sie stehen, um es zu betrachten.

Außen war nichts verändert. Auf die gedunkelten Mauern des weitläufigen grauen Gebäudes warf die Sonne heitere Lichter. Die Läden waren alle geschlossen.

Ein kleiner, dürrer Zweig fiel auf ihr Kleid, sie blickte auf, er kam von der Platane herab. Sie trat an den dicken Stamm mit seiner hellen Rinde, streichelte ihn mit der Hand wie einen Hund. Ihr Fuß traf im Gras ein Stück morsches Holz, der letzte Überrest der Bank, wo sie mit den Ihren so oft gesessen, die Bank, die man an dem Tage gesetzt, als Julius seinen ersten Besuch gemacht.

Dann schritt sie zur Hausthür. Sie öffnete mit Mühe. Der schwere verrostete Schlüssel wollte sich nicht drehen. Endlich wich das Schloß, die Federn knarrten laut, der Thürflügel, der selbst etwas widerstand, ging auf, als sie dagegenstieß.

Johanna ging sofort in ihr Zimmer hinauf, sie lief fast. Sie erkannte es nicht wieder, da es hell tapeziert war, aber nachdem sie ein Fenster geöffnet, blieb sie aufs Tiefste erschüttert stehen, als die geliebte Aussicht, das Wäldchen, die Ulmen, die Heide und das Meer mit grauen Segeln übersäet, die in der Ferne still zu stehen schienen, vor ihr lag.

Da begann sie durch das große, unbewohnte Haus zu irren: auf den Mauern sah sie Flecken, die ihren Augen bekannt vorkamen. Sie blieb vor einem kleinen Loch stehen, das der Baron einmal in den Gypsverputz gestoßen, als er, wie er es gern that, in Erinnerung seiner Jugendzeit, mit seinem Stock wie mit einem Degen herumgefuchtelt hatte.

In Muttings Zimmer fand sie hinter einer Thür, in einer dunklen Ecke beim Bett, eine feine Nadel wieder mit goldner Kuppe, die sie einmal früher, jetzt erinnerte sie sich dessen genau, dort hinein gebohrt und die sie seitdem Jahre lang gesucht. Niemand hatte sie gefunden.

Sie nahm sie wie ein unschätzbares Heiligtum an sich und küßte sie.

Überall ging sie hin, suchte und erkannte beinahe unsichtbare Spuren an den Wänden der Zimmer, die man nicht verändert, sah jene seltsamen Figuren wieder, welche die Phantasie oft den Mustern der Stoffe, dem Marmor, den Schmutzflecken an der Decke verleiht.

Stumm ging sie hin, ganz allein schweigend durch das Schloß, wie über einen Kirchhof. Ihr ganzes Leben lag hier begraben. Sie ging in den Salon hinab, wegen der geschlossenen Läden war es dunkel, und sie brauchte einige Zeit, ehe sie etwas unterscheiden konnte. Als sich ihr Blick an die Dunkelheit gewöhnt, erkannte sie allmählich die hohen Gobelins mit den Vögeln darauf. Zwei Stühle waren am Kamin stehen geblieben, als ob man sie eben erst verlassen, und sogar der Geruch in dem Raum, ein Geruch, den er immer gehabt, wie jedes Wesen einen hat, ein unbestimmter Duft, der dennoch genau zu spüren ist, der süße ungewisse Duft alter Räume schlug Johanna entgegen, umhüllte ihre Erinnerungen und berauschte ihr Gedächtnis. Sie blieb tiefatmend stehen und sog diese Luft der Vergangenheit ein, den Blick auf den beiden Stühlen, und plötzlich in einer jähen Hallucination, die diese fixe Idee gebar, meinte sie Vater und Mutter zu sehen, so wie sie sie oft erblickt, wenn sie am Feuer saßen und sich die Füße wärmten.

Entsetzt fuhr sie zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Thürfassung und mußte sich daran halten, um nicht zu fallen, während sie immer noch auf die beiden Stühle blickte.

Die Erscheinung war verschwunden.

Ein paar Minuten blieb sie erschrocken stehen, dann faßte sie sich langsam wieder und wollte fliehen, sie fürchtete wahnsinnig zu sein. Zufällig fiel ihr Blick auf die Thürfassung, an die sie sich stützte, und sie sah Pullchens Leiter.

In ungleichen Zwischenräumen kletterten da auf dem gemalten Holz die Spuren empor. Zahlen die mit dem Messer eingeschnitten worden, bezeichneten Alter, Datum und das Wachstum des Sohnes. Manchmal war es des Barons Schrift, etwas groß, hier und da ihre eigene etwas kleiner und dann wieder ein wenig zitterig Tante Lieschens Hand, und es war ihr, als ob wie früher das Kind dort vor ihr stünde, mit seinem blonden Haar und sich gegen die Wand lehnte, um gemessen zu werden.

Der Baron rief:

– Johanna seit sechs Wochen ist er um einen Centimeter gewachsen.

Da küßte sie das Holz mit liebender Inbrunst.

Aber sie ward hinausgerufen. Rosalies Stimme klang:

– Frau Johanna! Frau Johanna! Man erwartet Sie zum Frühstück.

Ganz verwirrt ging sie fort, und sie verstand nichts von dem, was man mit ihr sprach. Sie aß, was man ihr vorsetzte, hörte zu, ohne zu wissen was, antwortete wohl auch den Pächtersleuten, die nach ihrem Befinden fragten, ließ sich umarmen, küßte selbst die Wangen, die man ihr bot, und stieg wieder in den Wagen.

Als das hohe Dach des Schlosses zwischen den Bäumen ihr aus den Augen schwand, war es ihr, als zerrisse etwas in ihrer Brust. Sie fühlte in ihrem Herzen, daß sie ihrem Vaterhause für immer Lebewohl gesagt.

Man kam nach Batteville zurück.

Im Augenblick, als sie in ihre neue Wohnung eintreten wollte, sah sie etwas Weißes unter der Thür leuchten. Es war ein Brief, den der Briefträger in ihrer Abwesenheit darunter geschoben. Sie erkannte sofort Pauls Handschrift und öffnete ihn zitternd.

Er lautete:

»Meine liebe Mama! Ich habe Dir nicht eher geschrieben, weil ich nicht wollte, daß Du unnütz nach Paris kämst, da ich Dich längst hätte besuchen müssen. Ich stehe in diesem Augenblick einem großen Unglück gegenüber und befinde mich in schwierigster Lage. Meine Frau liegt im Sterben, nachdem sie heute vor drei Tagen von einem kleinen Mädchen entbunden worden ist.

Ich habe nicht einen Pfennig. Ich weiß nicht, was ich mit dem Kinde anfangen soll, das unsere Portiersfrau, so gut wie sie es kann, mit der Flasche aufzieht. Aber ich fürchte, das Kind zu verlieren. Kannst Du nicht dafür sorgen? Ich weiß wirklich nicht was ich thun soll, und habe kein Geld um es zu einer Ziehfrau zu geben. Antworte postwendend. Dein Dich liebender Sohn Paul.«

Johanna sank auf einen Stuhl, sie hatte kaum mehr die Kraft, Rosalie zu rufen. Sobald die Dienerin da war, lasen sie zusammen den Brief noch einmal durch. Dann blieben sie lange schweigend vor einander stehen.

Endlich sagte Rosalie:

– Ich werde die Kleine holen, Frau Gräfin. Dort kann sie nicht bleiben.

Johanna antwortete:

– Geh, Rosalie!

Sie schwiegen noch, dann sagte das Mädchen:

– Frau Gräfin setzen Sie Ihren Hut auf, wir wollen nach Goderville zum Notar, wenn die da drüben stirbt, muß sie Herr Paul vorher heiraten, es ist wegen der Kleinen, für später.

Und Johanna setzte ohne ein Wort zu sagen ihren Hut auf.

Eine tiefe Freude, die sie sich nicht einzugestehen wagte, durchströmte sie, eine niederträchtige Freude, die sie um alles in der Welt verbergen wollte, ein gemeines Triumphgefühl, über das man errötet, aber das man glühend genießt, im Geheimen der Seele. Die Geliebte ihres Sohnes würde sterben!

Der Notar gab Rosalien genaue Auskunft über alles, und sie mußte jedes mehrmals wiederholen. Dann war sie sicher, keinen Irrtum zu begehen und erklärte:

– Haben Sie keine Angst, ich werde die Sache schon machen.

In derselben Nacht fuhr sie nach Paris.

Johanna verbrachte zwei Tage in einer Gedankenumwälzung, die sie unfähig machte, überhaupt nachzudenken. Den dritten Morgen erhielt sie von Rosalien einen Brief, nur ein paar Zeilen, die ihre Rückkehr mit dem Abendzug anzeigten. Weiter nichts.

Gegen drei Uhr ließ sie den Wagen eines Nachbarn anspannen, der sie an den Bahnhof von Beuzeville fuhr, um ihre Dienerin abzuholen.

Sie blieb auf dem Bahnsteig stehen, immer hinausblickend auf die geraden Linien der Schienen, die sich weit, weit am Ende des Horizonts zu vereinigen schienen. Ab und zu sah sie nach der Uhr. Noch zehn Minuten, noch fünf Minuten, noch zwei Minuten, es war soweit. Nichts näherte sich auf der weiten Strecke.

Da plötzlich sah sie einen weißen Fleck: Rauch, und dann darunter einen schwarzen Punkt, der größer ward, immer größer und mit aller Schnelligkeit heranstürmte. Endlich kam die große Maschine, ihren Gang verlangsamend, pfauchend an Johanna vorüber, die gierig nach den Fenstern des Zuges blickte. Ein paar Thüren öffneten sich, Leute stiegen aus. Bauern in der Bluse, Bäuerinnen mit Körben, kleine Bürgersleute in weichen Hüten, endlich erblickte sie Rosalie, die eine Art Wäschepaket auf dem Arme trug.

Sie wollte ihr entgegen eilen, aber sie fürchtete zu fallen, so schwankten ihr die Kniee. Als ihre Dienerin sie gesehen, ging sie mit ihrer gewöhnlichen, ruhigen Miene auf sie zu und sagte:

– Guten Tag Frau Gräfin, da bin ich wieder, aber leicht ist es nicht gewesen.

Johanna stammelte:

– Und?

Rosalie antwortete:

– Sie ist die Nacht gestorben. Sie sind verheiratet, und da ist die Kleine.

Sie hielt ihr das Kind entgegen, das man in seinen Decken nicht sah.

Mechanisch nahm es Johanna. Sie verließen den Bahnhof und stiegen in den Wagen.

Rosalie sagte:

– Herr Paul wird kommen, sobald das Begräbnis gewesen ist, ich glaube morgen so um die Zeit.

Johanna flüsterte:

– Paul!

Weiter sagte sie nichts.

Die Sonne sank am Horizont hinab, indem sie die grüne Ebene, die hier und da unterbrochen war durch blühenden goldenen Raps und blutroten Mohn, mit ihrem Licht überflutete. Unendliche Ruhe lag auf der stillen Erde, aus der die Keime schossen. Der Wagen fuhr schnell dahin, der Bauer schnalzte mit der Zunge, um seine Pferde anzutreiben.

Johanna blickte gerade vor sich empor zum Himmel, den die Schwalben im Bogenflug, wie Raketen, durchschossen, und plötzlich durchströmte ihre Kleider eine süße Wärme, die Wärme des Lebens und drang ihr ins Fleisch. Es war die Wärme des kleinen Wesens, das auf ihren Knieen schlief.

Da kam unendliche Bewegung über sie. Schnell entschleierte sie das Gesicht des Kindes, das sie noch nicht gesehen: die Tochter ihres Sohnes. Und als das zarte Geschöpfchen, wie es das helle Licht traf, die blauen Augen aufschlug und den Mund bewegte, hob es Johanna in den Armen und bedeckte es mit Küssen.

Aber Rosalie störte sie, zufrieden und doch etwas brummig:

– Na, na Frau Johanna, lassen Sie mal gut sein. Sie wird gleich schreien.

Dann fügte sie hinzu, wohl ihre eignen Gedanken wiedergebend:

– Sehen Sie, das Leben ist niemals so schön, aber auch niemals so schlimm, wie man glaubt.

 


 


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