Kurt Martens
Der Geiger John Baring
Kurt Martens

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Ich will von einem Manne erzählen, der schon als Knabe starb. Zwar noch lebt er – so scheint es – unter den Menschen und spielt vor ihnen auf seiner Geige; aber als ein Leichnam wandelt er umher, als ein Körper, aus dem die Seele vor langen Jahren entwichen ist.

Man trifft ihn überall: in seinen stillen Räumen, in den Salons, in den Cafés, in den Kneipen sogar. Denn er ist gesellig, und die Menschen, wenn sie ihn auch nicht lieben, sehen ihn doch gern. Oft sind sie entzückt von seinem Spiel, und aufs Plaudern versteht er sich, wenn er bei Laune ist. Die Oberflächlichen vertragen ihn noch am ehesten, weil er scherzt, mit Einfällen voltigiert, ihnen schmeichelt und sie unterhält. Andere finden ihn affektiert oder fatal oder auch langweilig. Die gefestigten Naturen nennen ihn charakterlos, die leichtfertigen pedantisch; die treuherzigen aber, denen das Leben eine ernste Pflicht und eine schwere Aufgabe ist, die verabscheuen ihn wegen der Frivolität, mit der er von ihren heiligsten Dingen redet. Eine Kälte geht von ihm aus, wie sie nur jenen zu eigen ist, die den Menschen nicht mehr als ihresgleichen fühlen.

Sein Spiel aber – sein Spiel stimmt alle versöhnlich.

John Baring gibt nur selten Konzerte. Auf dem Podium zu stehen, ist nicht seine Sache. Wohl vermag er es, das Publikum mit einer Serenade zu rühren oder mit einer Gavotte zu belustigen; doch lieber schon streicht er die Saiten im matt erleuchteten Boudoir eines afternoon-tea, wo die Töne, gedämpft von Teppichen und Portieren, um zierliche Bronzen tanzen, hinter schlanken Säulen, im Schnitzwerk hoher Schränke sich verlieren und Zwiesprache halten mit den Träumen der wenigen Gäste.

Da spielt er die Werke alter italienischer Meister, die süßen Klagen des Corelli oder den Tartini mit seinem feierlichen Pathos.

Eigenes spielt er nur, wenn er zu Hause ist. Und wenige dürfen dabei lauschen. Seine Mutter kennt dieses seltsame Spiel, ein paar der nächsten Freunde und seine Geliebte. Sogar eine Geliebte hat er. Darüber wundern sich mit Recht die Fernerstehenden. Er hat sie zu sich genommen, wie man wohl bei der Wanderung eine Blume achtlos pflückt, bloß weil sie sich anzubieten scheint. Er liebt sie, wie man gelegentlich vom Duft solch einer Blume trinkt, gedankenlos, gleichgültig, weil irgendein Instinkt darnach verlangt.

Gedankenlos, gleichgültig nimmt er die Menschen, nimmt er die Welt. Nicht aus Vorsatz handelt er, sondern aus Laune; was ihn bewegt, sind schwache Stimmungen, keine Gefühle; Zorn und Jubel, Sehnsucht und Reue, alle Heftigkeit der Triebe, alle Leidenschaften sind mit seiner Kindheit abgestorben.

Sein Spiel aber – sein Spiel ruft alles zurück. –

Um die Zeit des Sonnenunterganges steht er in einem Zimmer, mitten in dem großen, dämmrigen Raum, die Geige unter dem Kinn, den Bogen in der Hand, und wartet, bis es anfängt, in ihm zu klingen und zu musizieren.

Und plötzlich überfallen sie ihn, die Vorstellungen einer fremden, rätselhaften Welt, nisten sich ein in seinem trocknen Gehirn, stürzen sich über das ausgekältete Herz, erhitzen das Blut und jagen ihm die fiebernden Pulse.

Es ist eine Art Sonate, eine Reihe wechselvoller Sätze, die sich gegenseitig durchdringen, variieren oder widersprechen. Zugleich aber ist es ein Werk ohne Anfang und ohne Ende, jedesmal die Fortsetzung von etwas früherem, dasselbe Stück, das er in seiner Kindheit stammelnd begann, das dann immer voller, immer reifer sich entfaltete, und von dem er in seiner letzten Stunde nur wie von einem Prélude Abschied nehmen wird. Wie ein wundertätiger Heiland ruft es ihn aus dem Grab zurück und gibt ihm die entflohene Seele wieder; einen ekstatischen Glanz zaubert es in sein Auge und stille Verklärung über seine welken Züge. So gibt er sich ganz den fremden Gewalten hin, die durch ihn als durch ein willenloses Medium sich offenbaren. Was sie verkünden, ist der Sinn des Lebens. Die Hörer ahnen ihn nur von ferne; in John Baring aber nimmt er die Gestalt der letzten Erkenntnis an. Auf ihren Schwingen verläßt er das Gefängnis Erde. Was an ihm selber irdisch ist, bleibt dort zurück: der Verächter John Baring, der Zyniker, der Plauderer, jener zufällig noch vegetierende Rest.

Der breite, reiche Strom von Harmonien, der aus der Geige sich ergießt, der ist das Leben selbst: bald schreitet es ernst und wuchtig daher, das maestoso der unerbittlichen Tyche, bald überstürzt es sich brausend im forte heroischer Taten, dann wieder quillt es leise, eine Sehnsucht oder ein Idyll, murmelt wie ein Bach im Walde, sprudelt Munterkeit, dämpft sich zum schwärmerischen harpeggiando, schwillt an zum frenetischen Jubel, ein schäumender Gischt, Töne perlend und funkelnd gleich dem Wassergestäub in der Sonne.

In einem Winkel aneinandergeschmiegt lauschen die Mutter und die Geliebte. Sie halten sich bei den Händen wie zwei scheue Kinder, die, dunklen Kammern entflohen, sich auf einer bunten, zauberhaften Flur begegnen. Keines weiß recht aus noch ein, aber bleiben möchten sie, um gemeinsam all die Herrlichkeiten zu bewundern und durch die zärtlich verschlungenen Finger sich die Schauer ihres stillen Entzückens mitzuteilen.

Ach, wie froh ist die Geliebte, daß der Mann, dem sie sich unterwarf, an den sie glaubte, doch kein bloßes Trugbild war! Oft hat die Angst sie beschlichen, als sei sie getäuscht, vermählt mit einem grauenvollen Rätsel. Seine Umarmungen waren schwach und fröstelnd wie die eines Kranken; wenn er küßte, strich Grabesluft über sie hin. Nun aber spürt sie sein Leben in allen Fibern. Seine Stimme redet in Melodien, süßer als Schmeichelworte. Trunkener als Schwüre ewiger Leidenschaft, trauter als Liebesgeflüster naht sich ihr im Gewand der Töne des Geliebten Seele selbst, aller Gefühle übervoll.

Indessen ist den Freuden der Mutter ein wenig Furcht und eine Art von Reue beigemischt: als sei sie von jeher verurteilt gewesen, diese Töne zu deuten, und habe es versäumt, weil sie zu schwach war oder auch zu nachlässig, und werde nun, wenn er den Bogen niederlege, mit der Erstarrung ihres Sohnes dafür büßen.

In einem anderen Raume, weiter entfernt, sind die Freunde versammelt. Wie dunkle, trächtige Gewitterwolken nach heißen Sommertagen, so ziehen die Töne über sie dahin. Die Freunde ducken sich und warten auf eine Entladung, auf eine Lösung des Bannes Leben, auf den letzten versöhnenden Takt, der niemals kommen wird. Nur zuweilen fährt einer oder der andere auf, um sich zu sammeln, mit einfacherer, leichter Erklärung der Dinge seine Erregung abzukühlen.

»Woher nimmt er doch den Mut,« so fragt der eine, »uns, die Zweifler, die Müden, die satt und praktisch Gewordenen noch einmal zu diesen Unklarheiten zu verlocken?«

»Nein, woher kommt uns die holde Torheit,« fügt ein Jüngerer hinzu, »daß wir folgen und genießen?«

»Er langweilt mich mit seinen Dissonanzen!« ruft ein dritter. Aber alle wissen, daß dieser, um seine wohlgefügten Grundsätze zu retten, die Unwahrheit spricht.

»Alles nur Technik!« erläutert derselbe. »Oder schlimmer noch: Talmi-Kunst, unwahr empfunden!«

»Also doch empfunden?« fragt wieder der Jüngere.

»Unfähig ist er, irgend etwas zu empfinden, dieser Mensch!«

»Aber dieser Geiger ist sehr fähig, Empfindungen zu spielen. – Was geht uns der Mensch an; hören wir doch den Geiger!« – –

Und John Baring beginnt eine Suite in F-Dur. Sinnend und feierlich fast setzt die Allemande ein. In gehaltenem Schritt kommt sie wie aus fernen Ebenen daher, eine verschleierte Gestalt, die mit zaghaftem Finger vorwärts tastet. Und so nähert sie sich im crescendo ihrer anfangs kaum hörbaren Takte . . .

Ängstlicher lauscht jetzt die Mutter. Ihr Antlitz, umrahmt vom weißen Haar, durchfurcht von den Spuren nutzloser Sorgen, neigt sich tiefer, und enger schmiegt sie sich an die Gefährtin, deren Liebe heftiger ist und doch nicht glücklicher. –

Jetzt schrickt sie zusammen und zittert leise. Jetzt hat sie erkannt, was er spielt.

Da ist es wieder, das unendlich traurige, qualvolle Stück, mit dem er sie so oft schon, wider Wissen und Willen, marterte! An diesem Aufschluchzen hat sie es erkannt. Ganz nahe tritt die Gestalt jetzt vor sie hin, lüftet den Schleier und zeigt ein abgehärmtes Knabengesicht, die dunklen Leidensaugen ihres Sohnes John, die sie niemals zu trocknen verstand. Sie weiß gar wohl, was er jetzt spielen wird – oh, ihr Gewissen täuscht sie nicht! – die Geschichte seiner Kindheit wird es sein. Wie ein Gespenst wird es in seltsamen Sprüngen vor ihr auf- und niederschweben. Was er fühlte und litt, als er noch lebte, das wird er spielen.

Das sind die Erinnerungen, die immer und immer wieder sich ihm aufdrängen. Sinnend und feierlich fast nahen sie von ferne, um dann unvermittelt in jenes herzerschütternde Schluchzen auszubrechen, das als ein grelles pizzicato immer eindringlicher die langen, vibrierenden Striche seines Bogens zerschneidet. –

So hört denn das Spiel seiner Kindheit, den Tanz seiner Leiden und seines Todes! –

John Baring wuchs auf in einem Garten, wo ihm große Hoffnungen blühten. Er tummelte sich darin, glückselig und wunschlos. Jede Liebkosung seiner Mutter ward ihm zu einer schönen Blume; aus freundlichen Worten, die er vernahm, wand er sich bunte Kränze und flocht seine Spiele hinein. Jedes kleinste Erlebnis, jede Vorstellung hatte für ihn seinen besonderen Duft; die gütigen Menschen über ihm waren wie hohe, schattige Bäume, unter deren Schutz er selbst immer größer und reifer werden würde, bis er ihresgleichen sein und ebenso stolz sich nach der Sonne recken dürfte. Ja, so reich an Verheißungen erschien ihm seine kleine Welt, daß er es gar nicht erwarten konnte, sie zu verlassen. »Wenn ich erst groß sein werde!« das war sein immer wiederkehrender Gedanke. »Wenn ich erst groß sein werde, soll alles mir gehören, die Menschen, weil ich sie lieb habe, und alles übrige, weil ich es sehe und verstehe!« – Gerüstet mit Mut und heller Zuversicht zog er ins Leben, um die Schätze des Lebens zu erobern als ein junger Held.

Das Leben der Kinder ist die Schule. Ein weiteres Leben war John Baring nicht beschieden. Denn als er die Schule verließ, hatte seine Seele bereits andere Wege genommen. So ist er nie dazu gelangt, die Menschen kennen und lieben zu lernen. Nur Lehrer und Schüler haben auf ihn gewirkt. Und denen freilich kam er mit vollem Herzen entgegen. War es doch sein Ziel, sie alle für sich zu gewinnen. Er schickte sich an, die Kameraden im Sturm zu nehmen. Alle waren ihm fremd, und doch wurde jeder ihm sofort in gleichem Maße teuer. Jeder sollte ihn zum Freunde haben. Bereit, alles mit allen zu teilen, allen zugleich sich hinzugeben, allen sich aufzuopfern, offenbarte er diesen Knaben einen unerhörten Reichtum junger Gluten.

Und bald genug erfuhr er auch den Lohn für solches Übermaß. Man sah ein fremdes Element in ihm, nichts weiter. Sein Vertrauen und seine Dienste wurden mißbraucht, seine Zärtlichkeiten verspottet, seine Güte als Falschheit ausgelegt. Wenn er von Träumen und Hoffnungen sprach, so wandten die Gleichgültigen sich ab, und die Mutwilligen lachten. Enthusiasmus erntete Hohn, Widerstand Schläge. – Da zog sich John Baring erschrocken zurück und meinte, mit dem Lernen wichtiger Dinge sich entschädigen zu können. Aber die Lehrer, von denen er alle Herrlichkeiten erwartete, waren nur arme, mißmutige Tagelöhner. Die tausend Fragen, die ihn bedrängten, empfanden sie nur als Störung, und wo es ihm auf die Antwort am meisten ankam, da schienen sie am ärgerlichsten. Je älter er wurde, desto weniger genügten ihm ihre Worte. Was das Pensum vorschrieb, trugen sie als unumstößliche Wahrheit vor; fremde Sitten, fremder Glaube, fremde Anschauungen waren verboten und verpönt. Irgendwo hörte John Baring, daß es schöne Künste gäbe; aber niemand sagte ihm, wie sie zu genießen wären. Er hörte auch, daß der Plato, den diese Lehrer erklärten, tiefe Weisheit enthielte und der Homer den ganzen Glanz der alten Welt. Er suchte darnach mit brennender Stirn, aber niemand verhalf ihm zur Entdeckung. Überall: in der Geschichte, in den Dichtungen, in den religiösen Lehren, die man vortrug, ahnte er verborgene Schätze hinter fest verschlossenen Pforten, deren Schlüssel man ihm vorenthielt. – Es gab Vergnügungen, an denen er sich hätte trösten können, Zechgelage mit den Kameraden, Ausflüge und Tanzkränzchen der jungen Leute, Verkehr in der guten Gesellschaft. John Baring fand kein Gefallen daran; denn abgesehen davon, daß es dort überall laut und leer zuging, war es auch verboten, sich offen zu geben, zumal ihm, dem fremden Element. – Oft warf er sich in die Arme seiner Mutter und überschüttete sie mit verzweifelten Fragen: »Warum bin ich so?« – »Warum muß man so werden wie die übrigen?« – »Ist denn alles, alles anders als ich es gedacht?« – »Braucht man denn nichts Besseres von mir als Geplauder und Lügen?« – Die Mutter lächelte dazu begütigend und strich ihm mechanisch das Haar aus der Stirn: »So ist das Leben nun einmal, mein Sohn; wir müssen uns darein schicken. Sei bescheiden, mein Sohn, und glaube nicht, daß deine Art die bessere ist.« –

Darauf kroch John Baring in seine dunklen, heißen Träume zurück wie ein verfolgtes Wild in seine Höhle und kehrte seine Gluten wider sich selbst, zerfleischte und zermarterte seine zwecklose Seele, die er zu hassen begann, weil sie das Leben nur störte. Zur selben Zeit erhoben sich in ihm noch heftigere, qualvollere Instinkte, die gleichfalls allzu zügellos sich gebärdeten, als daß er sich daran ergötzen durfte: Was anderen Knaben vorläufig noch ein Spiel der Sinne und angenehmer Kitzel war, das ballte sich in ihm bereits zu fürchterlichen Wogen, gärend, aufschäumend zu einem Meer von Leid und unersättlichen Wünschen. Die kleinen Fräulein, die bereit gewesen wären, mit ihm zu tändeln, erschraken vor dem finstern Antlitz seiner Leidenschaft, und wenn er Eifersucht litt, so war es ihnen wie ein Scherz. Auf leichte Galanterie verstand er sich nicht, noch weniger auf die Künste der Verführung. Deshalb wandten sie sich alle achselzuckend von dem Knaben ab.

Vielleicht wäre es ihm später gelungen, mit der Erfahrung und der Kraft des Mannes nachzuholen, was dem Kinde versagt blieb. Inzwischen aber erschöpften sich jetzt, in diesen unfruchtbaren Leiden, seine frühgereiften Kräfte. Die Erkenntnis der ewigen Kluft zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit, die mit dem Alter zur Resignation sich dämpft, nahm dem Kinde auch den Glauben an ein künftiges Glück. Die Enttäuschung, die seinen jungen Jahren überall entgegentrat, daß das Gute unmöglich und das Schöne verboten sei, raubte ihm den Mut für immer.

Kläglich oder schimpflich hätte John Baring enden müssen, wenn er nicht schon längst auf ein kleines, kindisches Trostmittel verfallen wäre, das ihm von Tag zu Tag lieber und endlich zur unentbehrlichen Gewohnheit wurde. Eines Abends, als er einsam durch die Felder wanderte und ihn die Sehnsucht nach Schönheit und Liebe besonders heftig überfiel, gingen plötzlich seine Seufzer in ein leises, melodisches Summen über, das seiner Brust sich wider Willen fast entrang. Doch gab er nach und lauschte nun in einem seltenen Behagen, wie die Töne quollen, wie sie aus den Tiefen seiner Stimmung aufstiegen gleich schillernden Blasen und zersprangen. Deutlich empfand er es als Erleichterung, so in unterdrückten Melodien auszuströmen, was ihn bewegte. Die Stimmungen wechselten und mit ihnen Tonart und Farbe seines wunderlichen Summens. Es gelang ihm seine Schwermut zu gestalten wie seine Sehnsucht, Zärtlichkeit in moll und Zorn in dur, in hastigem Tempo sein Suchen nach Wahrheit, als adagio den Verzicht. Er gelangte dahin, daß, sobald nur irgendein Gefühl von ferne sich zeigte, er es unverzüglich auflösen konnte in diesen improvisierten Gesang. Der schaffte ihm Luft; der war wie ein Ventil, durch das er alle schmerzlichen, unfruchtbaren Regungen von sich stieß. –

Seine Mutter hatte ihm Unterricht im Geigenspiel erteilen lassen, weil sie der Ansicht war, daß ein geselliges Talent die jungen Leute fördere. Er trieb es gern, doch ohne besondere Wärme. Immerhin war sein Fleiß lebendig genug gewesen, ihm eine feine, sichere Technik zu verschaffen, die er bei tüchtigen Lehrern weiterbildete.

Schon war er auf dem Punkte, in virtuoser Fingerfertigkeit das Ziel des Unterrichts zu erblicken, als er die Kraft in sich entdeckte, die primitiven Laute der eigenen Stimme durch Geigenklänge zu ersetzen. Das war der glücklichste und eigentlich auch schon der letzte Tag seines irdischen Lebens, als er zum ersten Male rein und ohne Rest die Stimmung einiger Augenblicke auf den Saiten wiedergab. So selig war er davon, daß er bis in die tiefe Nacht den Bogen nicht aus den Fingern ließ, sondern immer wieder diese neue, herrliche Fähigkeit erprobte. Nun endlich fand er das jenseitige Leben; das lohnte sich wohl gelebt zu werden! Hier war es ihm vergönnt, in Harmonien sich zu berauschen, wie er sie träumte, Dissonanzen aufzulösen, wie sein Herz es verlangte. Was kümmerte ihn jetzt noch das armselige Leben der Wirklichkeit! Er überwand es in Tönen und warf es hinter sich. Früher empörte ihn der Übermut der Mächtigen; Mitleid mit Hilflosen peinigte ihn. Die Fragen nach Gottes Wesen und dem Zweck der Welt erdrückten ihn. Jetzt ließ er die Saiten der Geige Aufruhr verkünden; es erklangen darin sturmläutende Glocken, das angstvolle Geschrei der Ungerechten, die Jubelrufe der Befreiten. Aus den Saiten sprach Gott, wie der Künstler ihn ersehnt, und eine Welt, zu nichts anderem bestimmt, als zusammenzuklingen mit den Sphären.

Ganz leicht ward es nun John Baring, die Menschen und ihre Geschäfte zu ertragen. Er söhnte sich mit ihnen aus, indem er sie vergaß. Da sie ihm unwichtig wurden, trat er ihnen nicht mehr mit Forderungen gegenüber. Vielmehr schmiegte er sich ihrer Art und Sitte gerne an. Lebte doch sein Selbst, sein Alles, seine Seele endlich herrlich auf im Spiel der Saiten; was er den Menschen zurückließ, waren unwesentliche Manieren. Es focht ihn nicht an, die Leute, die er traf, so wie sie es verlangten, zu belügen, schmeichelnd ihre Ansicht zu vertreten, Torheiten mit ihnen zu plaudern oder auch gelegentlich, weil gar nichts darauf ankam, sie zu verletzen. Lebte doch die heiligste Wahrheit, der ganze feierliche Ernst, der allzu lange schmähliche Fesseln getragen hatte, wieder nur in seiner Geige. Mit satanischem Vergnügen sah er zu, wie seine Triebe, einer nach dem andern untergingen, weil es keine Nahrung weiter für sie gab. Aber aus der Asche jeder einzelnen Empfindung stieg Phönix gleich eine neue Offenbarung seiner Kunst empor. Seine Kunst gewann, was sein Menschentum verlor. Und weil sie gierig war, sein bestes, sein heißestes, sein innerlichstes Wesen an sich zu reißen, blieb vom Menschen John Baring nichts zurück als ein Skelett, dürftig verhüllt mit modischem Plunder.

In den Jahren, wo andere, der Schule entronnen, eben sich rüsten, das Leben zu gestalten und auszubeuten, war es mit John Baring schon aus. Wohl vermochte er, wenn es ihm gut dünkte, sich zornig oder froh zu stellen oder mit anderen Mitteln die Leute den Zwecken seiner Kunst zu unterwerfen. Seinen Körper, dessen er bedurfte, um den Bogen zu führen, pflegte er mit Sorgfalt. Freunde nahm er zu sich und die Geliebte und die Mutter, zur Erholung oder auch damit sie die kleinen, lästigen Alltags-Sorgen ihm abnähmen. Seine Seele aber wußte nichts von ihnen.

Seine Seele, von Tönen aufwärts getragen, zog in seligem Rausche den Quellen des Lebens, den ewigen Harmonien entgegen. Und bisweilen, in ihren höchsten Augenblicken, glaubte sie schon einen Widerhall davon aus der Geige zu vernehmen. In solchen Augenblicken pries John Baring jenes gütige Geschick, das einen Künstler sterben läßt, damit er in seinen Werken lebe.

 


 


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