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Achtes Kapitel.

Wie Lady M– schon früher bestimmt hatte, brachen wir am andern Tag nach Harking-Castle, ihrem in Dorsetshire gelegenen Familiensitz, auf, und es that mir nicht leid, mich nach dem Lärm und Gewühl einer Londoner Saison wieder der ländlichen Ruhe hingeben zu können. Lady M– hatte ganz Recht gehabt, wenn sie sagte, ihre Töchter würden durch die späten Abendgesellschaften in heißen Zimmern ganz abgehetzt; aber sie hatten kaum eine Woche auf dem Lande zugebracht, als sie zusehens wieder aufblühten. Sie waren in der That hübsche, liebenswürdige Mädchen, dabei verständig und ohne allen Stolz, so daß ich sie bald sehr lieb gewann. Ich leitete ihre musikalischen Uebungen und sie machten große Fortschritte. Ich lehrte sie auch die Kunst, aus Wachs Blumen anzufertigen, die ich in letzter Zeit meiner Freundin, Madame Gironac, abgelernt hatte. Dies war Alles, was ich für sie thun konnte, die sanften Vorstellungen etwa ausgenommen, die ich ihnen machte, wenn ich in ihrem Benehmen oder in ihrer Haltung etwas bemerkte, was mir als ungehörig vorkam. Lady M– schien vollkommen zufrieden zu sein; sie behandelte mich sehr rücksichtsvoll, und ich fühlte mich eine Weile recht glücklich in meiner neuen Stellung.

Während des ersten Monats kamen keine Besuche ins Haus; dann aber wurden Einladungskarten ausgeschickt. Lady M– hatte erklärt, daß sie einer vierwöchentlichen Ruhe bedürfe, um sich von der Erschöpfung, welche eine Londoner Saison zurücklasse, zu erholen, und ich zweifelte nicht daran, daß sie der Ansicht war, ihren Töchtern müsse eine gleiche Abgeschiedenheit eben so zu statten kommen – eine Annahme, in der sie vollkommen Recht hatte. An einem Montag wurde die erste Gesellschaft erwartet, und am Freitag mußte Auguste, die älteste Tochter, ein neues Kleid, mit welchem die beiden Kammerjungfern eben fertig geworden waren, anlegen, um sich unten in ihrem Putze sehen zu lassen. Als Auguste eintrat, musterte ihre Mutter den Anzug und sagte:

»Er gefällt mir nicht ganz, Auguste, und doch weiß ich nicht zu sagen, wo der Fehler sitzt. Es muß etwas an dem Kleide geändert werden, denn die Falten fallen nicht schön.«

Während sie so sprach, las ich eben in einem Buche und blickte jetzt natürlich von meiner Lektüre auf. Die Aenderung, welche an dem Kleide nöthig war, fiel mir sogleich in die Augen. Ich deutete sie an und bewirkte durch einige Stecknadeln, daß der Anzug trefflich saß.

»Ei, dies ist ja ein ganz neues Talent, meine liebe Mademoiselle de Chatenœuf, von dem ich auch nicht entfernt eine Vorstellung hatte, obschon ich zugeben muß, daß sich Niemand eleganter kleidet, als Ihr,« sagte Lady M–. »Wie sehr bin ich Euch zu Dank verpflichtet, daß Ihr Euch so viele Mühe gebt.«

»Ich schätze mich glücklich, wenn ich Euch in irgend etwas einen Dienst erweisen kann, Lady M–, und Ihr mögt stets über mich gebieten,« versetzte ich. »Man rühmt mir nach, daß ich eine geschickte Putzmacherin sei.«

»Ich glaube, Ihr versteht Euch auf gar Alles,« entgegnete Lady M–. »Auguste, geh zu Benson hinauf und zeig' ihr die nöthigen Abänderungen; sie soll unverweilt sich daran machen. Im Grunde« – fügte Lady M– gegen mich bei – »ist es eine schlechte Ersparniß, wenn man seine Kleider zu Hause machen läßt, aber ich kann in der That die ungeheuren Preise nicht erschwingen, die sich Madame Desbelli bezahlen läßt. Die Rechnungen sind maßlos, und doch würde ich sie gerne bezahlen, wenn es nicht über meine Kräfte ginge. Ein schönes Kleid macht eine solche Veränderung im Aussehen, daß ich, wenn ich könnte, nie einen Anzug zu Hause verfertigen ließe. Aber die Ersparniß ist erstaunlich – fast zwei Drittheile, kann ich Euch versichern.«

»Wenn Ihr mir erlauben wollt, Euren Kammerjungfern ein wenig ins Handwerk zu greifen, gnädige Frau,« erwiederte ich, »so denke ich, Eure Kleider sollen zu Hause so gut ausfallen, als wenn Ihr sie bei Madame Desbelli verfertigen laßt. Ich glaube, hierin Euch nützlich werden zu können.«

»Ihr seid sehr gütig, Mademoiselle de Chatenœuf; aber dies hieße Euch allzusehr in Anspruch nehmen.«

»Durchaus nicht, Lady M–, wenn ich nur Eure Genehmigung dazu habe.«

»Ihr sollt hierin ganz nach Eurem Gefallen handeln, meine Liebe,« versetzte Lady M–. »Ich gebe Euch unbedingte Vollmacht über den ganzen Haushalt, wenn Ihr es wünscht. Aber in der That, ich denke, die Benson wird Euch dankbar sein für jeden kleinen Wink, den Ihr für passend haltet, und jedenfalls bin ich Euch dafür sehr verpflichtet. Doch der Wagen steht vor der Thüre – wollt Ihr ausfahren?«

»Ich danke Euch; heute nicht, gnädige Frau,« entgegnete ich.

»So will ich Hortense und Amy mitnehmen, während Auguste bei Euch zurückbleibt.«

Nachdem sich Lady M– entfernt hatte, ging ich in das Zimmer hinauf, wo die Kleidermacherinnen an der Arbeit saßen. Ich änderte die Anordnung von Auguste's Kleid so, daß es ihrem Leibe sich gut anschmiegte, und schnitt auch die Anzüge für Hortense und Amy zu. Um Lady M– eine Gefälligkeit zu erweisen, arbeitete ich selbst an dem Kleide ihrer ältesten Tochter und war damit fertig, noch eh' Lady M– von ihrer Spazierfahrt zurückkam. Auguste war entzückt und eilte der Mutter entgegen, um sich derselben in ihrem neuen Putze zu zeigen. Als ich zum Diner hinunterkam, wußte Lady M– ihres Lobes kein Ende zu finden, und wie die beiden andern Anzüge fertig waren, ärndteten sie den gleichen Beifall. Von dieser Zeit an bis zu meinem Austritte wurden alle Kleider, nicht nur die der Töchter, sondern auch die der gnädigen Frau zu Hause verfertigt, indem man dabei meinen Geschmack und mein Urtheil zu Rathe zog. Ich hielt es für meine Pflicht, mich nach allen meinen Kräften nützlich zu machen, und gefiel mir vielleicht auch selbst in den Complimenten, welche meinem Geschmack in reichlichem Maße gespendet wurden. Die Zeit verschwand. Während der Jagdsaison wurde Augusten, der ältesten Tochter, ein sehr achtbarer Heirathsantrag gemacht, der bereitwillige Annahme fand, und um Weihnachten erging ein zweiter an die zweite Tochter, Hortense, der gleichfalls als sehr vortheilhaft erschien. Lady M– war entzückt über diesen Erfolg.

»Ist es nicht sonderbar, meine liebe Mademoiselle de Chatenœuf, daß ich mich während zweier Saisonen Tag und Nacht abplagen mußte, um für meine Mädchen Männer zu gewinnen, und nun ich allein und so zu sagen von der Welt abgeschieden bin, hat sich für Beide eine treffliche Versorgung gefunden. In der That, ich glaube, daß ich dies ganz allein Euch und der geschmackvollen Weise zu danken habe, in der Ihr sie kleidetet.«

»Ich möchte eher glauben, die Veranlassung dazu liege darin, daß erstlich die Landluft einen so günstigen Einfluß auf ihr Aeußeres übte,« versetzte ich, »und dann, daß die Gentlemen nun Gelegenheit fanden, ihre in Wahrheit schätzbaren Eigenschaften zu entdecken, während dies bei Allmack und anderen Partieen der Londoner Saison nicht wohl möglich war.«

»Ihr mögt immerhin dieser Ansicht sein,« entgegnete Lady M –, »aber ich lebe der Ueberzeugung, daß sie ihr gutes Glück nur ihrem geschmackvollen Anzug zu danken haben. Jedermann bewundert die Eleganz ihrer Kleider und wünscht die Muster zu erhalten. Nun, ich habe jetzt nur noch für Amy zu sorgen, und ich denke, die hohen Verbindungen, in welche ihre Schwestern eintraten, werden mir behilflich sein, auch sie bald vom Halse zu kriegen.«

»Amy ist ein sehr liebenswürdiges Mädchen,« erwiederte ich, »und wenn ich an Eurer Stelle wäre, Lady M –, so thäte es mir nicht so gewaltig Noth, mich von ihr zu trennen.«

»Meint Ihr? Aber mir wohl,« sagte Lady M–. »Ihr wißt nicht, wie kostspielig Mädchen sind, und mein Witthum ist nicht sehr groß. Ich darf mich übrigens nicht beklagen. Glaubt Ihr nicht, Amy nehme sich in Lila besser aus als in irgend einer andern Farbe?«

»Sie ist schön fast in jeder Farbe, die sie trägt,« lautete meine Antwort.

»Ja, mit Eurem Geschmack – dies gebe ich zu,« versetzte Lady M–. »Ihr wißt doch, daß wir in vierzehn Tagen nach London gehen? Wir müssen uns nach den trousseaux umsehen. Gestern wurde die Uebereinkunft getroffen, daß beide Trauungen im Februar stattfinden sollen. Amy wird natürlich eine von den Brautjungfern sein, und ich hoffe, meine liebe Mademoiselle de Chatenœuf, es gelingt Euch, im Hinblick auf diese Gelegenheit etwas besonders Distinguirtes für sie zu erfinden. Wer weiß, ob sie dabei nicht auch abgeht. Aber es ist spät – deshalb gute Nacht.«

Lady M–'s augenscheinliche Begier, ihrer Töchter los zu werden, wollte mir nicht gefallen, obschon sie sicherlich eine derartige Entlastung für die größte Nothwendigkeit hielt, welche während der ganzen Zeit meines Aufenthalts im Hause ihr Dichten und Trachten Tag und Nacht in Anspruch genommen hatte. Es war allerdings natürlich, daß sie wünschen mußte, ihre Kinder gut versorgt zu sehen; aber sie hatte dabei für nichts einen Sinn, als für eine angesehene Verwandtschaft und für die Mittel zum Wohlleben; der Charakter des Gatten kam durchaus in keinen Betracht.

Vierzehn Tage nach Weihnachten begaben wir uns insgesammt nach London, wo uns, wie Lady M– bemerkt hatte, die trousseaux voll in Anspruch nahmen. Eines Tages kam der Tafeldecker auf mein Gemach und meldete mir einen jungen Gentleman, der im Frühstückzimmer unten warte und mich zu sprechen wünsche. Verwundert, wer dieser Besuch wohl sein möchte, ging ich hinab und fand zu meiner großen Ueberraschung Lionel, den Pagen der Lady R–, in einfacher Kleidung, aber ganz mit dem Aussehen eines Gentleman. Er verbeugte sich bei meinem Eintritt sehr achtungsvoll, wie er es als Page der Lady R– nie gewöhnt gewesen, und redete mich folgendermaßen an:

»Miß Valerie, ich habe mir die Freiheit genommen, Euch zu besuchen, da ich, als wir uns trennten, Grund zu der Vermuthung zu haben glaubte, Ihr fühlet einiges Interesse für mich und es dürfte Euch nicht unangenehm sein, zu hören, was weiter vorgefallen ist. Seit unserem Abschied sind vier Monate entschwunden, die ich in England zubrachte – eine Zeit, welche von mir auf's Eifrigste benützt wurde.«

»Es freut mich in der That, Euch zu sehen, Lionel, obschon es mir leid thut, daß Ihr Lady R– verlassen habt. Indeß hoffe ich, daß Ihr mit dem Ergebniß Eurer Nachforschungen zufrieden seid.«

»Die Geschichte ist etwas lang, Miß Valerie, und wenn Ihr sie zu hören wünscht, so erweist mir den Gefallen, Platz zu nehmen, während ich sie Euch erzähle.«

»Ich hoffe, sie ist nicht allzulang, Lionel, denn man erwartet von mir, daß ich in einer Stunde oder so Lady M– bei einer Ausfahrt begleite. Doch ich bin bereit, Euch zu hören,« fügte ich bei, indem ich seiner Bitte gemäß einen Stuhl nahm.

Lionel blieb vor mir stehen und begann:

»Wir langten an dem Abende des Tages, an welchem wir von London aufgebrochen waren, in Dover an, Miß Valerie, und Lady R–, welche sich während der ganzen Reise in großer Aufregung befunden hatte, fühlte sich so unwohl, daß sie vier oder fünf Tage verweilen mußte. Wie es besser mit ihr wurde, dachte ich, es sei an der Zeit, daß sie mir mein Buch bereinige und, ehe sie England verließ, mir den rückständigen Lohn auszahle. Ich legte ihr meine Abrechnung vor und setzte Ihr meinen Wunsch mit der Bemerkung aus einander, daß der Betrag schon sehr hoch angelaufen sei.

»›Und zu was willst du denn das Geld haben?‹ fragte sie mich etwas verdrießlich.

»›Ich möchte es an einem sicheren Orte anlegen, gnädige Frau,‹ versetzte ich.

»›Will dies so viel heißen, als du haltest es bei mir nicht für sicher angelegt?‹ entgegnete sie.

»›Nein, gnädige Frau,‹ antwortete ich. ›Aber setzen wir den Fall, es stieße Euch im Ausland etwas zu, würden mir Eure Testamentsvollstrecker Glauben schenken, wenn ich sagte, daß Ihr einem Pagen, wie ich, außer dem Lohne eines Jahres mehr als fünfundzwanzig Pfund schuldig seiet? Sie würden dies für eine Unmöglichkeit erklären und mir das Geld nicht ausbezahlen, überhaupt nicht einmal glauben, daß Ihr mir einen so hohen Lohn ausgeworfen hättet.‹

»›Es liegt etwas Wahres in dem, was du sagst,‹ entgegnete sie, ›und es ist vielleicht am Besten, ich bezahle dich ganz aus. Aber wo willst du das Geld unterbringen, Lionel?‹

»›Ich will die Anweisung bei Händen behalten, wenn es Euch so recht ist, gnädige Frau.‹

»›Dann werde ich sie auf Ordre, nicht auf den Träger, ausstellen,‹ versetzte sie. ›Wenn du sie verlierst, wird sie nicht ausbezahlt, da in diesem Falle deine Unterschrift nöthig ist.‹

»›Ich danke Euch, gnädige Frau,‹ lautete meine Erwiederung.

»Nachdem sie meine Abrechnung geprüft und richtig gefunden hatte, gab sie mir eine Anweisung auf den vollen Betrag. Am andern Morgen sollte das Paketschiff um neun Uhr abfahren. Wir hatten noch Zeit bis dahin, und sobald Lady R– sich an Bord befand, begab sie sich in die Cajüte hinunter. Ihr Mädchen fragte mich nach dem Riechsalzfläschchen, das ich absichtlich im Schiffshotel unter dem Sophakissen zurückgelassen hatte. Ich sagte ihr, wo es wäre, und erbot mich, da die Zeit noch reiche, zurück zu eilen und es zu holen. Gesagt, gethan. Ich wußte es jedoch einzuleiten, daß ich erst wieder zurückkam, als sich das Dampfboot schon vom Kai ab in Bewegung setzte und die Ruder in Thätigkeit waren. Ich rief aus Leibeskräften: ›halt! halt!‹ wußte aber natürlich wohl, daß mein Schreien vergeblich war, obgleich das Dampfschiff sich noch keine zwanzig Ellen entfernt hatte. Wie ich bemerkte, eilte Lady R–'s Kammermädchen zu dem Kapitän und sprach mit ihm – freilich ohne etwas bei ihm auszurichten, und so blieb ich zurück, jeden Argwohn von Seiten der Lady R– vermeidend, als habe ich mit Vorbedacht so gehandelt.

»Ich wartete an dem Kai, bis das Paketschiff sich etwa eine Seemeile entfernt hatte, und verließ dann den Volkshaufen, der mir mit gutem Rathe zusetzte, wie ich es angreifen solle, um in Calais wieder mit meiner Gebieterin zusammen zu treffen. In dem Hotel holte ich denjenigen Theil meiner Kleider ab, den ich nicht an Bord gebracht, sondern dem Hausknecht zum Aufbewahren übergeben hatte, und setzte mich dann in der Schenkstube nieder, um mit mir zu Rath zu gehen, was ich nun weiter thun sollte. Zuerst wollte ich mir die Zuckerhutknöpfe vom Leibe schaffen, da mir das Tragen einer Livree verhaßt war. Ihr seht dies vielleicht für Stolz an, Miß Valerie, aber ich konnte nicht anders. Ich gieng umher, bis ich den Laden eines Kleidertrödlers auffand; da dieser aber nur mit Matrosen Geschäfte machte, so waren nichts als Seemannsanzüge vorräthig. Nach einigem Ueberlegen dachte ich, es dürfte wohl am besten sein, wenn ich mich in die Kleidung eines Matrosen steckte, und fing mit dem Trödler an zu handeln.

»›Ihr wollt vermuthlich auf die See gehen,‹ sagte der Mann, welcher in Anbetracht des Umstandes, daß ich mich kurz vorher geweigert hatte, mich einzuschiffen, ein sehr schlechter Rather war.

»Ich erstand mir übrigens einen ganzen Matrosenanzug, verkaufte dann meine Livree und wechselte in dem Hinterstübchen meine Kleidung. Dann kehrte ich nach dem Gasthaus zurück, ließ mir meine übrigen Kleider geben, nahm auf der Landkutsche einen Außensitz und reiste wieder nach London. Dort angelangt suchte ich Euch auf, hörte aber hier, daß Ihr Euch auf dem Lande befändet, weshalb ich mir vornahm, mich unverweilt nach Culverwood-Hall zu begeben.«

»Ihr müßt für heute abbrechen, Lionel,« fiel ich ihm in's Wort, »denn ich habe jetzt mit Lady M– einen Ausgang zu machen. Kommt morgen früh wieder her; ich werde dann Muße haben, Eure Geschichte vollends anzuhören.«

Am andern Morgen erschien Lionel wieder und fuhr in seiner begonnenen Erzählung fort:

»Miß Valerie, kleine Dinge machen uns oft weit mehr Unlust, als größere. Es kostete mich weit mehr Mühe, als Ihr wohl glauben mögt, bis ich ausfindig gemacht hatte, wo Culverwood-Hall liegt. In dem Wirthshause, wo ich Herberge genommen hatte, fragte ich viele Personen darüber, aber Niemand konnte mir Auskunft geben, und an solchen Plätzen findet man keine geographischen Handbücher, in denen man sich Raths erholen könnte. Ich begab mich nach dem Landkutschen-Bureau und fragte, welche Kutschen nach Essex führen; aber man wollte dann wissen, nach welchem Ort ich zu reisen gedenke, und wenn ich Culverwood-Hall als mein Ziel bezeichnete, vermochte mir Niemand zu sagen, welche Kutsche ich benützen müsse oder welche Stadt in der Nähe liege. Endlich erfuhr ich durch den Pförtner im Mohrenkopf, der Pakete mit dieser Adresse in Empfang genommen hatte, was ich wünschte; er begab sich zu dem Kutscher, welcher diese Route einschlug, und brachte mir die Mittheilung, daß dessen Wagen in der Entfernung von etwa einer Viertelstunde an den Besitzungen des Sir Thomas Moystyn vorbeikomme, welcher in Culverwood-Hall wohne. Ich hatte nie gehört, welchen Namen die gnädige Frau als Jungfrau führte. So bestellte ich denn meinen Platz auf der Kutsche, da ich zuvor schon bei dem Bankier der Lady in Fleetstreet meine Anweisung in Geld umgewandelt hatte, und trat am andern Morgen um drei Uhr meine Reise an.«

»Ich wurde in einem Dorfe, Westgate genannt, abgesetzt. Das Wirthshaus, vor dem ich abstieg, hatte das Moystynwappen zum Schilde. Ich trug noch immer meinen Matrosenanzug und führte gegen die Leute, welche mich auf dem Wagen anredeten, meine Rolle ziemlich gut durch – keine schwierige Aufgabe, wenn man mit Personen zu thun hat, die von einer Sache nichts verstehen. Ich schüttelte meine Hacken oder wie man sonst noch thut und hißte meine Hosen auf, wie ich dies auf dem Theater bemerkt hatte. Der Kutscher bedeutete mir, das Wirthshaus sei der nächste Haltplatz, wenn ich nach der Halle wolle; ich nahm deshalb hier mein Bündel heraus, und der Wagen fuhr weiter. In einem Dorfe ist ein Matrosenjunge stets eine Art Merkwürdigkeit, Miß Valerie, und es wurden viele Fragen an mich gerichtet, die ich meinerseits mit anderen beantwortete. Ich sagte, zu den Zeiten des alten Baronet hätten meine Angehörigen in der Halle gewohnt, ich wisse übrigens nicht viel von ihnen, da dies schon lange her sei. Dann fragte ich, ob nicht noch einige alte Dienstleute im Orte lebten. Die Wirthin ertheilte mir die Auskunft, es wohne noch einer davon im Dorfe, der alte Roberts, aber er sei schon seit mehreren Jahren bettliegerig. Dies war nun gerade die Person, auf welche ich es abgesehen hatte, und ich fragte was aus seiner Familie geworden sei. Die Antwort lautete, seine Tochter habe einen gewissen Green geheirathet und halte sich irgendwo in London auf, sein Sohn aber, der die Kitty Wilson aus dem Dorfe ehlichte, lebe als Forstwart in der Nähe von Portsmouth und erfreue sich eines großen Kindersegens.

»›Darin habt Ihr in der That Recht,‹ versetzte ich lachend. ›Wir sind eine große Familie.‹

»›Wie, seid Ihr der Enkel des alten Roberts?‹ rief die Wirthin. ›Doch ja, wir haben gehört, daß einer davon – der Harry, glaube ich – auf die See gegangen sei.‹

»›Nun, Ihr werdet mir vielleicht sagen, wo ich den alten Gentleman aufsuchen muß,‹ entgegnete ich.

»›Kommt nur mit mir,‹ sagte sie. ›Er wohnt ganz in der Nähe. Und wie wird sich der arme Mann freuen, wenn er mit Jemand ein bischen plaudern kann; er führt ein gar einsames Leben in seinem Bette.‹

»Ich folgte der Frau etwa hundert Schritte weit, und nun machte sie an der Thüre eines kleinen Hauses Halt. Von der Schwelle aus rief sie einer Mrs. Meshin zu, sie solle hinauf gehen und dem alten Roberts sagen, daß einer von seinen Enkeln hier sei. Eine weibliche alte Schnupftabaksnase kam jetzt zum Vorschein, guckte mich durch ihre Brille an und humpelte eine Treppe hinan, die gerade von der Thüre aus in die Höhe führte. Bald nachher ergieng an mich das Aufgebot, hinauf zu kommen, und ich säumte nicht, demselben zu entsprechen. Auf dem Bette traf ich einen silberhaarigen Greis, und die erwähnte Mrs. Meshin strich die Decken zurecht, damit das Krankenlager auch manierlich aussehe.

»›Hellauf! Wie geht's alter Knabe?‹ rief ich in T. P. Cooke's Styl.

»›Was sagt Ihr? Ich bin etwas übelhörig,‹ versetzte der alte Mann.

»›Wie befindet Ihr Euch, Sir?‹ sagte ich.

»›Oh, ziemlich gut für einen alten Mann. Und du bist also mein Enkel Harry? Freut mich, dich zu sehen. – Ihr könnt gehen, Mrs. Meshin. Schließt die Thüre, und hört – daß Ihr mir nicht am Schlüsselloch horcht!‹

»Die stattliche Dame Mrs. Meshin brummte und verließ das Zimmer, indem sie zugleich mit Macht die Thüre zuschlug.

»›Sie ist sehr wunderlich, Harry,‹ sagte der alte Mann, ›und ich kriege Niemand zu sehen, als sie. Es ist eine traurige Sache, wenn man so bettliegerig ist und nie in die frische Luft hinaus kömmt – noch trauriger aber, wenn man ein widerwärtiges altes Weib zur Pflegerin hat, die nicht reden mag, wenn man es von ihr verlangt, und das Maul nicht halten will, wenn man sie schweigen heißt. Ich bin recht froh, daß du nach mir siehst, und hoffe nicht, daß du sogleich wieder fortgehen wirst, wie dein Bruder Tom that. Es ist mir so gar gefehlt, daß ich Niemand habe, mit dem ich plaudern kann. Und wie gefällt's dir auf dem Wasser?‹

»›Ich halte es lieber mit dem Lande, Großvater.‹

»›So? Nun, ich glaube, es ergeht allen Matrosen so. Und doch möchte ich lieber auf's Wasser gehen, als so den lieben langen Tag hier liegen. Die Schuld liegt daran, daß ich sonst Nacht um Nacht mich im Wald umzutreiben pflegte, wo ich den Wilddieben auflauerte. Damals hatte ich zu wenig Bett, und jetzt habe ich dessen zu viel. Aber die See muß etwas Prächtiges sein – wie die Bibel sagt: ›die auf die großen Wasser gehen, sehen die Wunder der Tiefe.‹

»Ich war sehr erfreut, als ich die Bemerkung machte, daß der alte Mann so vollkommen im Besitze aller seiner geistigen Fähigkeiten war. Ich ließ ihn fortreden und gewann aus seinen Bemerkungen über seinen Sohn und meine vermeintlichen Brüder und Schwestern eine ziemlich genaue Familienkenntniß; dann verabschiedete ich mich von ihm und gab ihm die Zusage, am andern Morgen wieder zu kommen und dann recht lange mit ihm zu plaudern.

»Als ich wieder ins Wirthshaus zurückkam, war ich, Dank sei es der Geschwätzigkeit des alten Roberts, in der Lage, alle die Fragen zu beantworten, die man mir über meine vermeintliche Familie vorlegte; dann erkundigte ich mich nach den Verhältnissen der Familie, die in der Halle wohnte, und erhielt darüber einen unverholenen Aufschluß. Mit dem Einbruche der Nacht kamen viele Leute in das Wirthshaus, und da der Lärmen und der Tabaksqualm mir gar nicht zusagten, so ließ ich mir meine Schlafkammer anweisen und begab mich zu Bette. Am andern Morgen suchte ich den alten Roberts wieder auf, der bei meinem Eintreten eine große Freude an den Tag legte.

»›Du bist ein guter Knabe,‹ sagte er, ›daß du den alten bettliegerigen Mann nicht vergißst, dem sonst vielleicht im Laufe einer ganzen Woche keine Seele nah' kommt. Und nun erzähle mir, was du auf deiner letzten Reise erlebt hast.‹

»›Das letzte Fahrzeug, an dessen Bord ich mich befand,‹ versetzte ich, ›war ein zwischen Dover und Calais hin und hergehendes Paketschiff.‹

»›Na, das muß angenehm sein. So viele Passagiere.‹

»›Ja, Sir – und denkt Euch nur, wen ich erst kürzlich an Bord des Schiffes sah – Jemand, den Ihr kennt.‹

»›Ei, wer wäre das?‹

»›Niemand anders als Lady R–‹ entgegnete ich. ›Sie hatte den jungen Gentleman bei sich, der, wie ich mir sagen ließ, früher als Bedienter bei ihr lebte.‹

»›So – ist's wahr?‹ sagte der alte Mann. ›Dann hat sie ihm endlich doch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich bin froh darüber, Harry – ich bin froh darüber, denn es ist eine Erleichterung für mein Gemüth. Man hat mich darauf verpflichtet, daß ich schweigen solle, und ich habe redlich Wort gehalten. Wenn aber ein Mann mit einem Fuß im Grabe steht, so ist's ihm doch nicht lieb, daß ihm ein solches Geheimniß die Seele belaste. Ich habe mehr als einmal mit meiner Tochter darüber gesprochen –‹

»›Wie, mit der Tante Green?‹

»›Ja, mit deiner Tante Green; aber sie wollte nie auf mich hören. Wir beide haben einen Eid schwören müssen, und sie sagt, dies sei bindend. Außerdem sind wir dafür bezahlt worden. Nun, schon gut; ich danke Gott, denn es ist mir jetzt eine schwere Last vom Herzen genommen.‹

»›Ja, Großvater,‹ versetzte ich. ›Ihr braucht das Geheimniß jetzt nicht mehr länger zu bewahren.‹

»›Und wie ist er aufgewachsen?‹ fragte der alte Mann. ›Sieht er gut aus?‹

»›Recht gut, Großvater,‹ gab ich ihm zur Antwort. ›Er hat ganz das Aussehen eines Gentleman.‹«

Ich konnte ein Lachen über diesen Theil von Lionels Geschichte nicht unterdrücken, obschon ich die Wahrheit seiner Versicherung einräumen mußte. Lionel, der dies bemerkte, hielt mir entgegen:

»Es kann Euch doch nicht wundern, Miß Valerie, daß ich mir selbst ein gutes Zeugniß gab; denn, wie man in der Küche zu sagen pflegt, dies ist Alles, was einem Dienstboten forthelfen muß.«

»Erzählt nur weiter,« versetzte ich.

»›Er war ein recht hübsches Kind, so lang er bei uns lebte; man nahm ihn aber fort, als er sechs Jahre alt war, und seit dem habe ich ihn nicht wieder gesehen.‹

»›Manche Leute wollen bemerkt haben, daß er der Lady R– sehr ähnlich sei.‹

»›Nun, und warum sollte er nicht? Sie war früher eine sehr schöne junge Person.‹

»›Ich habe freilich nie gehört, was an der Sache ist, Großvater,‹ versetzte ich. ›Da nun ein Geheimhalten nimmer nöthig ist, so erzählt Ihr mir vielleicht die ganze Geschichte.‹

»›Nun ja, ein Geheimniß ist's allerdings nicht mehr, wie du sagst,‹ entgegnete der alte Mann, ›und ich denke wohl, daß ich's thun kann. Du weißt, deine Tante Green war die Amme der Lady R– und blieb noch viele Jahre nachher in der Familie; denn der alte Sir Richard Moystyn lag lange an der Gicht und anderen Beschwerden darnieder, und deine Tante Green wartete ihm ab. Sir Richard hatte sich eben von einem sehr schweren Anfall erholt, als Miß Ellen, die eine Schwester von Lady R– und einige Jahre jünger als sie war, sich von dem Obristen Dempster entführen ließ. Dieser Obrist war ein sehr fashionabler, lebenslustiger junger Herr und mit dem nunmehrigen Baronet nach der Halle gekommen, um sich der Jagdlust zu erfreuen. Jedermann war sehr erstaunt darüber, denn es gieng allgemein das Gerede, er werde die ältere Schwester, die jetzige Lady R–, nicht aber die jüngere heirathen. Sie giengen mit einander in's Ausland. Der alte Sir Richard gerieth darüber in großen Zorn und erkrankte aufs Neue; auch Lady R–, die damals Miß Barbara hieß, war ganz trostlos über das Benehmen ihrer Schwester. Nun, es gieng ein Jahr und mehr darüber hin, als Miß Barbara eines Tages zu deiner Tante Green sagte, sie solle sich gefaßt halten, sie auf einer Reise zu begleiten, und Abends brachen sie mit vier Postpferden auf und reisten die ganze Nacht durch, bis sie in Southampton anlangten. Dort machten sie vor einem Hause Halt. Miß Barbara stieg aus, sprach mit der Hausfrau, rief dann meine Tochter aus dem Wagen und befahl ihr, unten zu bleiben, während sie die Treppe hinauf gehe. Meine Tochter bekam endlich das lange Warten satt, denn sie mußte fünf Stunden ausharren, ohne daß Miß Barbara wieder erschien; aber im Hause ging es lebhaft her, und da war fortwährend ein Rennen und Laufen treppauf und treppab. Endlich kam eine ernste Person, die ein Doktor zu sein schien, mit der Hauswirthin in die Stube, in welcher deine Tante Green saß.

»›»Es ist Alles vorüber, Mrs. Wilson,« sagte er. »Nichts konnte sie retten. Aber ich zweifle nicht, daß das Kind wohl davon kommen wird.«

»›»Was ist da anzufangen, Sir?«

»›»Oh,« sagte der Doctor, »die Lady droben hat mir vertraut, daß sie ihre Schwester sei, und so liegt es jetzt natürlich an ihr, alle weiteren Maßregeln zu bestimmen.«

»›Nachdem der Doctor in Betreff des Kindes einige Vorschriften ertheilt hatte, verließ er das Haus, und bald nachher kam Miß Barbara die Treppe herunter.

»›»Ich bin völlig erschöpft, Martha,« sagte sie. »Kommt, wir wollen nach dem Gasthaus eilen so schnell wir können. Ihr habt natürlich den Wagen wieder fortgeschickt. Es wäre mir lieb, wenn wir ihn da behalten hätten, denn ich werde kaum im Stande sein, so weit zu gehen.«

»›Sie nahm Martha beim Arm, und während die Hauswirthin die Thüre öffnete, sagte sie:

»›»Ich will morgen wieder herkommen und wegen des Kindes die nöthigen Weisungen ertheilen, kurz, alles Erforderliche anordnen. Nie habe ich einen so erschütternden Auftritt durchgemacht,« sagte Miß Barbara. »Sie war eine alte Schulfreundin von mir und bat mich, zu kommen und ihr in ihren Nöthen beizustehen. In ihrem Sterben gab sie noch einem Kinde das Leben, und sie hatte wohl eine Vorahnung von diesem unglücklichen Ausgang; denn sie ließ mich rufen und bat mich auf ihrem Todtenbette, das arme Kind zu beschützen, weil sie selbst wegen übler Aufführung von ihren Verwandten verstoßen worden war. Ihr habt wohl nie die Pocken gehabt, Martha – oder?«

»›»Nein, Miß,« versetzte sie. »Ihr wißt ja dies selber.«

»›»Nun, sie wurde um die Zeit, als ihre Entbindung herannahte, von den Pocken befallen und diese waren die Ursache ihres Todes. Hierin liegt auch der Grund, warum ich Euch nicht rufen ließ, damit Ihr mir beistehet.«

»›Meine Tochter gab keine Antwort, da sie Miß Barbara und ihr hochfahrendes Wesen fürchtete, dabei vergaß sie aber nicht, daß der Doctor gegen die Hauswirthin erklärt hatte, Miß Barbara habe sich gegen ihn für eine Schwester der unglücklichen Dame ausgegeben. Schon auf dem Herwege war es deiner Tante aufgefallen, daß Miß Barbara nicht sagen wollte, wohin und zu wem sie gehe, denn sie hatte den ganzen Weg über sich in ihren Mantel eingehüllt und dergleichen gethan, als ob sie schlafe, indem sie sich nur dann aufraffte, wenn sich's darum handelte, die Postillone zu bezahlen. Aber Miß Barbara war von sehr heftiger Gemüthsart, die sich seit der Heirath ihrer Schwester noch verschlimmert hatte. Ja, man sagte ihr sogar nach, sie sei ein wenig überworfen und wandle im Mondschein.

»›Sobald sie in dem Gasthaus angelangt waren, begab sich Miß Barbara zu Bette und verlangte von deiner Tante, daß sie in demselben Zimmer schlafe, weil sie sich in einem Wirthshause vor dem Alleinsein fürchtete. Martha machte sich, während sie in ihren Federn lag, Gedanken über die Vorfälle des Tages und faßte den Entschluß, der Sache auf den Grund zu gehen. Am andern Morgen stand sie früh auf, gieng nach dem Hause und stellte sich gegen die Frau, welche ihr öffnete, als komme sie im Auftrage ihrer Gebieterin, um nach dem Kind zu fragen. Die Antwort lautete, daß es sich ganz wohl befinde. Martha fing dann mit der Hauswirthin ein Gespräch an und erfuhr daraus, daß die Dame nicht an den Pocken gestorben war, wie Miß Barbara angegeben hatte. Die Hauswirthin fragte meine Tochter, ob sie nicht herauf kommen und die Leiche ansehen wolle. Martha gieng bereitwillig darauf ein, da sie ja in keiner andern Absicht hergekommen war, und als sie oben anlangte, erkannte sie richtig in der Gestorbenen die arme Mrs. Dempster, die als Miß Ellen mit dem Obristen davon gelaufen war.

»›»Ist's nicht Jammerschade, Ma'am?« sagte die Hauswirthin. »Ihr Gatte ist erst vor zwei Monaten gestorben, und wie ich höre, soll er ein so schöner Mann gewesen sein. Ja, dies hat sicherlich seine Richtigkeit, denn hier ist sein Portrait, das die arme Dame um ihren Hals getragen hat.«

»›Nachdem deine Tante sich überzeugt und, da ihr Ellen sehr lieb gewesen war, eine Weile über der Leiche geweint hatte, kehrte sie, so schnell als sie konnte, wieder nach dem Gasthaus zurück, nahm aus der Küche einen Krug warmen Wassers zu sich und gieng auf Miß Barbara's Zimmer. Dort hatte sie eben noch Zeit, Hut und Halstuch abzuwerfen, als Miß Barbara erwachte und fragte, wer da sei.

»›»Nur ich bin's, Miß,« versetzte meine Tochter. »Ich bin eben hinuntergegangen, um für Euch einen Krug Wasser zu holen; denn es ist neun Uhr vorbei, und ich dachte, Ihr werdet zeitig aufstehen wollen.«

»›»Ja, ich muß aufstehen, Martha, da ich im Sinne habe, heute noch nach Hause zurück zu kehren. Es hilft doch nichts, hier zu warten. Laß mir ein Frühstück geben, damit ich dann nach dem Hause hinunter gehen und die weiteren Anordnungen treffen kann. Mittlerweile magst du einpacken, denn du wirst mich doch nicht begleiten wollen.«

»›»Oh, nein, Miß,« entgegnete deine Tante. »Nun ich weiß, daß die Lady an den Pocken gestorben ist, lebe ich in einer wahren Todesangst, weil ich überhaupt nur in dem Hause gewesen bin.«

»›Miß Barbara entfernte sich nach dem Frühstück, blieb zwei oder drei Stunden aus und kehrte mit einem Dienstmädchen zurück, welches das neugeborne Kind mitbrachte. Meine Tochter hatte schon Alles eingepackt, und eine halbe Stunde später befanden sie sich auf dem Heimwege. Deine Tante mußte die Obhut über das Kind übernehmen. Du siehst nun, hätte der Doctor nicht in Martha's Gegenwart jene Bemerkung fallen lassen, so wäre es Miß Barbara gelungen, sie zu täuschen, und sie würde nie erfahren haben, welche Bewandtniß es mit dem Kinde hatte. Aber deine Tante behielt die Sache für sich, da sie überhaupt nicht den Muth hatte, davon zu sprechen.

»›Während der Heimfahrt schwatzte Miß Barbara meiner Tochter viel von einer Mrs. Bedingfield vor, die eine sehr vertraute Freundin von ihr gewesen sei und mit der sie seit ihrem Austritt aus der Schule stets einen Briefwechsel unterhalten habe; ihr Mann sei vor einiger Zeit in einem Duell getödtet worden, ein starker Spieler gewesen und habe auch sonst einen sehr schlimmen Charakter gehabt; gleichwohl habe sie Mrs. Bedingfield auf dem Sterbebette die Zusicherung gegeben, sich ihres Kindes anzunehmen, und sie werde Wort halten. Dann fuhr sie fort: »Es wäre mir lieb, Martha, wenn Eure Mutter das Kind zu sich nähme – meint Ihr nicht, daß sie es thun wird? Aber es muß ein Geheimniß bleiben, denn mein Vater würde sehr ungehalten darüber werden, und außerdem könnte es Anlaß zu üblen Nachreden geben.« Deine Tante versetzte, sie glaube wohl, daß ihre Mutter darauf eingehen werde, und dann machte Miß Barbara meiner Tochter den Vorschlag, sie solle auf der letzten Poststation während des Pferdewechsels mit dem Kinde aussteigen; es sei dann bereits dunkel, so daß Niemand sie bemerken werde, und sie solle mit dem Kinde zu Fuß weiter gehen, bis sie ein Fuhrwerk finde, das sie nach meinem Hause bringen könne.

»›Dies geschah. Das Kind wurde deiner Großmutter gebracht, die jetzt im Himmel ist, und dann theilte uns deine Tante mit, was sie entdeckt hatte und wer das Kind sei. Ich war sehr zornig darüber und würde, wenn ich nicht gerade am Gliederweh gelegen hätte, ohne weiteres zu Sir Alexander gegangen sein, um ihm die ganze Geschichte zu enthüllen; aber deine Großmutter und Martha wußten mir dies auszureden. Deine Tante kehrte dann wieder in die Halle zurück, und wir beschloßen, uns in unsern Aussagen über das Kind ganz an das zu halten, was uns Miß Barbara in den Mund legen würde, wenn sie am andern Morgen zu uns käme.‹«

»Ich muß Euch also dazu Glück wünschen, Lionel, daß Ihr der Sohn eines Gentleman und der Neffe der Lady R– seid. – Von ganzem Herzen,« fügte ich bei, indem ich ihm meine Hand hinbot.

»Ich danke Euch, Miß Valerie. Die Sache verhält sich wirklich so; nur müssen erst die Beweise beigebracht werden. Doch davon nachher.«

»Lionel, Ihr seid die ganze Zeit über gestanden. Ich denke, es wäre sehr unhöflich, wenn ich Euch nicht ersuchte, einen Sitz zu nehmen.«

Lionel entsprach meiner Aufforderung und fuhr dann in der Erzählung des alten Mannes fort.

»›Ungefähr einen Monat nachher kam Sir Richard R– nach der Halle, und etwa drei Wochen später wurde seine Bewerbung um Miß Barbara angenommen. Jedermann hielt dies für eine sehr übereilte Partie, namentlich als man hörte, ein Brief habe die Nachricht von Mrs. Dempsters Tode gemeldet und die ganze Familie in Trauer versetzt. Der arme Sir Richard erholte sich nicht wieder von diesem Schlag und wurde zwei Monate später nach seiner Familiengruft getragen. Deine Tante kam nun zu uns nach Hause und heirathete, wie du weißt, den armen Green, der drei Monate nach der Hochzeit bei einer Streife auf Wilddiebe erschossen wurde. Dann starb deine Großmutter an einer Halsentzündung, so daß nur noch deine Tante Green bei mir zurück blieb, die sich des Kindes annahm und ihm den Namen Lionel Bedingfield beilegte. Es gab allerlei Gerede über den Knaben, und Jedermann hätte gerne wissen mögen, wem er gehöre; doch dies verlor sich, als nach Sir Richards Tod Miß Barbara mit ihrem Gatten fortzog. Und nun habe ich dir für heute genug erzählt, Junge; morgen sollst du den Rest der Geschichte hören.‹

»Vielleicht ergeht es Euch ebenso, Miß Valerie, und seid des Zuhörens müde?« bemerkte Lionel.

»Durchaus nicht; auch habe ich eben jetzt Zeit, über die ich vielleicht ein andermal nicht so gut verfügen kann. Zudem könnte die öftere Wiederholung Eurer Besuche Anlaß zu Nachfragen geben, und ich wüßte dann nicht, was ich sagen sollte.«

»Wohlan denn, so will ich diesen Morgen meine Geschichte zu Ende bringen, Miß Valerie. Am andern Tage fuhr der alte Roberts fort:

»›Ungefähr drei Monate nach Sir Richards Tod kam der neue Baronet nach Culverwood-Hall, und Miß Barbara, die nunmehr Lady R– war, machte ihrem Bruder einen Besuch. Wir hatten deine Großmutter eben erst begraben, und der arme Green war schon über einen Monat todt. Deine Tante, die sich über den Verlust ihres Gatten sehr unglücklich fühlte, war fromm geworden und fing an, meine Ansicht zu theilen, daß es sehr gottlos von uns wäre, wenn wir das Geheimniß, in dessen Einzelnheiten wir eingeweiht waren, länger bewahrten. Außerdem hatte deine Tante das Kind sehr lieb gewonnen, da es sie einigermaßen über den Verlust ihres Gatten tröstete. Lady R– besuchte uns in unserem Häuschen, und wir beide erklärten ihr nun, daß wir die Herkunft des Kindes nicht länger geheim halten wollten, denn dies wäre eine große Ungerechtigkeit, zu deren Fortsetzung wir keine Hand mehr bieten könnten. Lady R– war entsetzt über das, was wir sagten, und bat uns auf's Inständigste, wir möchten sie doch nicht blosstellen, da sie dadurch in der guten Meinung ihres Gatten sowohl als in der ihrer Verwandten zu Grunde gerichtet würde. So setzte sie uns mit Bitten und Beschwörungen zu, bis sie endlich unsere Gewissensbedenklichkeit durch das feierliche Versprechen hob, sie wolle dem Kinde Gerechtigkeit widerfahren lassen, sobald es füglicherweise geschehen könne. Wir gaben ihr deshalb die Zusage, vorläufig davon zu schweigen. Dann legte sie eine Fünfzigpfundnote in die Hand meiner Tochter als Ersatz für unsern Aufwand und als Belohnung für ihre Mühe, indem sie ihr zugleich versprach, dieselbe Summe solle ihr, so lang das Kind bei uns sei, alljährlich ausbezahlt werden.

»›Ich glaube, dies beschwichtigte unsere Bedenklichkeiten mehr als alles Andere. Wir hätten es freilich nicht thun sollen, aber wir waren arm und das Geld ist eine große Versuchung. Jedenfalls hatten wir das Versprechen der Lady R– und ihre Freigebigkeit stellte uns zufrieden. Von dieser Zeit an, bis der Knabe sieben Jahre alt war, blieb er in unserer Obhut, und wir erhielten das Geld pünktlich ausbezahlt. Dann wurde er uns abgenommen und in eine Schule gebracht, so daß wir geraume Zeit nichts mehr von ihm erfuhren. Lady R– benahm sich fortwährend sehr freigebig gegen uns und betheuerte ihre Absicht, das Kind als ihren Neffen anzuerkennen. Endlich wurde meine Tochter nach London beschieden und nach der Schule geschickt, um von dort den Knaben abzuholen; denn Lady R– sagte, da ihr Gatte jetzt todt sei, wolle sie den jungen Menschen in ihr eigenes Haus aufnehmen. Dies machte uns große Freude, denn wir dachten nicht, daß man ihn dort als Bedienten verwenden werde – eine Entdeckung, die deine Tante erst später machte, als sie einmal unversehens nach London kam, um Lady R– zu besuchen. Lady R– versicherte übrigens, daß sie nur zu seinem Besten so handle, und da sie gegen deine Tante sogar noch freigebiger war, als sonst, so wurde uns dadurch der Mund gestopft.

»›Vor drei Jahren verließ deine Tante unser Dorf, um in London ein Unterkommen zu suchen, und hat sich seitdem als Spitzenwäscherin fortzubringen gewußt. Es muß ihr gut gehen, denn sie schickt mir oft Geld, so daß ich dadurch recht wohl im Stande bin, den Aufwand zu bestreiten, der für die Bequemlichkeit eines bettliegerigen alten Mannes nöthig ist. So, Harry – jetzt habe ich dir die ganze Geschichte erzählt, und es freut mich, daß ich's endlich thun durfte, nachdem sie dem Jungen hat Gerechtigkeit widerfahren lassen. Es ist mir dadurch eine schwere Last von dem Gewissen genommen – denn wenn ich meine Bibel las, mußte ich sie oft niederlegen und seufzen.‹

»›Aber,‹ sagte ich, ›wißt Ihr auch gewiß, daß sie ihn als ihren Neffen anerkannt hat?‹

»›Ei freilich! Hast du es nicht eben selbst gesagt?‹

»›Nein; ich sagte nur, daß er bei ihr war und in ihrer Gesellschaft die Reise machte.‹

»›Gut; aber – ich habe dich so verstanden, als ob jetzt Alles im Reinen sei.‹

»›Vielleicht ist dies der Fall,‹ entgegnete ich; ›aber wie kann ich es wissen? Ich habe sie nur bei einander gesehen, und da ist es denn eben so gut möglich, daß sie noch immer ihr Geheimniß bewahrt hat. Es nimmt mich nicht Wunder, daß diese Geschichte Euch schwer auf dem Herzen liegt, denn in Eurer Lage könnte ich keine Nacht mehr schlafen. Ja sogar das Bibellesen erschiene mir als eine Gottlosigkeit, wenn ich mir dabei fortwährend sagen müßte, ich habe mich dazu hergegeben, einen armen Knaben um seinen Namen – vielleicht auch um sein Vermögen – betrügen zu helfen.‹

»›Ach du mein Himmel – du mein Himmel! Es sind mir oft auch solche Gedanken gekommen, Harry.‹

»›Ja, Großvater, und dies noch obendrein mit Einem Fuß im Grabe, wie Ihr sagt. Wer weiß, ob Ihr nicht vielleicht schon in dieser Nacht abgefordert werdet.‹

»›Ja, ja, wer weiß, Junge,‹ versetzte der alte Mann, indem er mit verschüchterter Miene umherschaute. ›Aber was soll ich thun?‹

»›Ich weiß, was ich thun würde,‹ lautete meine Entgegnung. ›Ich würde mir mit einemmale reine Brust machen und zu diesem Ende nach einem Geistlichen und einer Magistratsperson schicken, um vor ihnen mein Zeugniß in der Sache abzulegen. Dann erst – früher nicht – werdet Ihr Euer Gemüth erleichtert fühlen, und es kann Euch wieder wohl werden.‹

»›Gut, mein Junge; ich glaube, du hast recht. Ich will mich darüber besinnen. Verlaß mich jetzt.‹

»›Denkt an Euer ewiges Seelenheil, Großvater – denkt an die Gefahr, in der Ihr schwebt, und nehmt keine Rücksicht auf Lady R–. Dem Akte der Ungerechtigkeit, den sie begieng, kann nichts Gutes zu Grunde liegen. Ich will in einer Stunde wiederkommen, Großvater, und Ihr könnt mir dann Euren Entschluß mittheilen. Denkt an das, was die Bibel von denjenigen sagt, welche Wittwen und Waisen betrügen. Vor der Hand Gott befohlen.‹

»›Nein, halt, Knabe – ich bin schon mit mir im Reinen. Du kannst zu Mr. Sewell, dem Geistlichen, gehen, der oft herkommt, um nach mir zu sehen. Mit dem kann ich sprechen, und ich wills ihm sagen.‹

»Ich wartete nicht ab, bis der alte Mann seinen Sinn wieder geändert hatte, sondern eilte, so schnell ich konnte, nach dem Pfarrhause, das keine hundert Schritte entlegen war. Ich läutete an der Thüre und fragte nach Mr. Sewell, der sodann zu mir herauskam. Ich theilte ihm mit, daß der alte Roberts ihn sogleich zu sprechen wünsche, da er ihm ein wichtiges Geständniß abzulegen habe.

»›Geht es denn mit dem Mann ans Sterben?‹ fragte er. ›Ich habe doch nicht gehört, daß sein Zustand gefährlich sei.‹

»›Nein, Sir, sein Befinden ist so ziemlich wie sonst; aber er hat eine schwere Last auf seinem Gewissen und läßt Euch bitten, daß Ihr ihn doch unverweilt besuchen möchtet, denn er will Euch ein wichtiges Geheimniß enthüllen.‹

»›Gut, mein Junge; so geh zurück und sage ihm, ich werde nach zwei Stunden bei ihm eintreffen. Du bist sein Enkel, glaube ich?‹

»›Ich will zu ihm eilen und es ihm sagen, Sir,‹ versetzte ich, in dieser Weise der letztern Frage ausweichend.

»Ich kehrte zu dem alten Roberts zurück und theilte ihm mit, daß der Geistliche in einer oder zwei Stunden zu ihm kommen werde; indeß machte ich die Bemerkung, daß der alte Mann schon wieder zu zaudern und zu zweifeln anfing.

»›Du hast ihm aber doch nicht gesagt, was ich von ihm wolle? denn vielleicht –‹

»›O freilich. Ich sagte ihm, Ihr hättet ihm ein wichtiges Geheimniß anzuvertrauen, das schwer auf Eurem Gewissen laste.‹

»›Dies ist mir eine arge Verlegenheit,‹ versetzte der alte Mann nachsinnend.

»›Ei,‹ entgegnete ich, ›wenn Ihr in Verlegenheit seid, so ist es bei mir nicht derselbe Fall, und wenn Ihr nicht gestehen wollt, so muß ich es thun. So ein armer Bursche ich auch bin, mag ich doch mein Gewissen nicht mit einer solchen Last beschweren, und werde nicht zugeben, daß man die Waisen beraube, wenn Ihr auch Willens seid, mit dieser schweren Sünde auf Eurer Seele in die Ewigkeit zu gehen.‹

»›Ich will es sagen – will Alles sagen; dies ist am Ende doch das Beste,‹ erwiederte der alte Roberts nach einer Pause.

»›Und das Beste, was ich thun kann,‹ sagte ich, ›wird darin bestehen, daß ich Feder, Dinte und Papier herbeischaffe und Alles aufschreibe, damit Mr. Sewell es lesen kann, wenn er kömmt. Ihr habt dann nicht nöthig, die Sache selbst herzuerzählen.‹

»›Ja, ja – mach es so; denn ich könnte dem Geistlichen dabei nicht ins Gesicht sehen.‹

»›Wie müßte es Euch erst sein, wenn sich's darum handelte, vor das Angesicht des Allmächtigen zu treten?‹ entgegnete ich.

»›Du hast recht – ganz recht,‹ sagte er. ›Hol nur das Papier.‹

»Ich begab mich nach dem Wirthshaus, verschaffte mir dort Schreibmaterialien und kehrte wieder zurück, um im Hause des alten Roberts die Geständnisse aufzuzeichnen, die ich Euch eben mitgetheilt habe, Miß Valerie. Ich war eben damit fertig geworden, als Mr. Sewell anlangte, und sagte ihm, ich hätte Alles zu Papier gebracht, so daß er es nur zu lesen brauche. Mr. Sewell las und wurde von dem Inhalt des Bekenntnisses ebenso überrascht, als erschüttert. Dann sagte er zu Roberts –

»›Ihr habt recht gethan, dieses Geständniß abzulegen, Roberts, denn es kann von der größten Wichtigkeit werden. Aber Ihr müßt jetzt die Wahrheit Eurer Angaben vor mir und einer Magistratsperson beschwören. Ihr werdet natürlich nichts dagegen einzuwenden haben?‹

»›Nein, Sir; ich bin bereit, zu schwören, daß jedes Wort der Wahrheit gemäß ist.‹

»›Wohlan denn, so laßt mich sehen. Es ist keine andere Magistratsperson in der Nähe, als Sir Thomas Moystyn, und da die Sache seinen Neffen betrifft, so könnten wir keine geeignetere Person finden. Ich will ohne Zögerung nach der Halle hinauf gehen und ihn fragen, ob er nicht morgen früh mit mir hieher kommen wolle.‹

»Mr. Sewell that, wie er gesagt hatte; am andern Morgen kam er mit Sir Thomas Moystyn in dessen Phaeton angefahren und ging zu dem alten Roberts hinauf. Ich machte mich ein wenig bei Seite, damit der Mann, in welchem ich jetzt meinen Onkel vor mir sah, wenn ich ihm seiner Zeit regelmäßig als Neffe vorgestellt würde, in mir nicht den Matrosenknaben erkennen möchte, der als Enkel des alten Roberts gegolten hatte.«

»Ihr räumt also ein, daß Ihr Euch hier mit einem recht hinterlistigen Spiel abgegeben habt?«

»Allerdings, Miß Valerie. Ich habe ein Gewissen und gebe zu, daß man mein Benehmen in dieser Angelegenheit als ein unwürdiges bezeichnen könnte; aber wenn man ins Auge faßt, wie viel für mich dabei auf dem Spiele stand und wie lange ich durch die Hinterlist Anderer meiner Rechte beraubt wurde, so denke ich wohl Entschuldigung dafür zu verdienen, daß ich sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen suchte.«

»Ich gestehe, daß in Euren Bemerkungen viel Wahres liegt, Lionel; weiter weiß ich nichts darauf zu erwiedern.«

»Ich blieb vor der Thüre draußen, während Roberts die Schrift unterzeichnete und seinen Eid leistete. Sir Thomas stellte nachher noch viele Fragen an ihn, namentlich im Betreff des Aufenthalts seiner Tochter, der Mrs. Green, und dann entfernte sich Pfarrer und Friedensrichter. Sobald sie fort waren, ging ich zu dem alten Roberts hinein und sagte zu ihm:

»›Nun, Großvater, fühlt Ihr Euch nicht glücklicher, nachdem Ihr dieses Geständniß abgelegt habt?‹

»›Ja,‹ versetzte er. ›Es ist mir wohler ums Herz; aber doch kann ich mich eines ängstlichen Gefühls nicht erwehren, wenn ich an Lady R– und an deine Tante Green denke. Sie werden sehr zornig werden.‹

»›Ich habe mir die Sache überlegt und meine, es sei am Besten, wenn ich selbst zu Mrs. Green gehe und sie auf die Sache vorbereite,‹ versetzte ich. ›Zuverlässig wird sie sich zufrieden geben, wenn ich ihr den Hergang auseinander setze. Uebermorgen hätte ich ohnehin wieder fort müssen, und so will ich denn den morgigen Tag auf einen Besuch in London verwenden.‹

»›Vielleicht ist's gut, wenn du's so hältst,‹ entgegnete der alte Roberts, ›und doch wäre es mir lieb, wenn du bleiben und mit mir plaudern könntest. Es ist so gar Niemand da, der mir Gesellschaft leistet.‹

»Ich dachte, ich hätte ihn schon genug für meinen Zweck plaudern lassen, und hatte keine Lust, länger an seinem Bette zu sitzen. Gleichwohl behauptete ich meine Rolle bis auf den letzten Augenblick und brach am nächsten Morgen nach London auf. Ich langte daselbst drei Tage vor meinem ersten Besuch bei Euch an und benutzte diese Frist, um meinen Matrosenanzug gegen den umzuwandeln, welchen ich jetzt trage. Bei Mrs. Green bin ich noch nicht gewesen, denn ich wollte zuerst mit Euch sprechen und Euch um Rath befragen. Und nun, Miß Valerie, habt Ihr meine ganze Geschichte.«

»Ich wünsche Euch nochmals Glück aus dem Grunde meines Herzens,« versetzte ich, indem ich Lionel meine Hand darreichte.

Er küßte sie achtungsvoll, und während dies geschah, öffnete eines von den Kammermädchen die Thüre, um zu melden, daß Lady M– mich schon geraume Zeit zu sprechen wünsche. Ich glaube, daß ich erröthete, obgleich kein Grund dazu vorhanden war. Dann sagte ich Lionel Lebewohl und lud ihn ein, mich am Sonntag Nachmittag wieder zu besuchen, da ich zu Hause bleiben und ihn erwarten wolle.

Dieses Zusammentreffen mit Lionel hatte am Donnerstag stattgefunden, und am Sonnabend erhielt ich einen Brief von Lady R–'s Sachwalter, der mir die erschütternde Nachricht mittheilte, daß die gnädige Frau in Caudebec, einer kleinen Stadt an der Seine, gestorben sei; er nehme sich die Freiheit bei mir anzufragen, ob ich diesen Nachmittag ihn empfangen könne, da ihm daran gelegen sei, mit mir Rücksprache zu nehmen. Ich ließ ihm durch den Ueberbringer des Schreibens zurücksagen, daß ich ihn um drei Uhr erwarte, und der Rechtsgelehrte stellte sich zu der angedeuteten Stunde bei mir ein. Aus seinem Berichte entnahm ich, daß Lady R– Havre in einem Fischerboot verlassen habe, um auf diesem wunderlichen Fahrzeug ihre Reise nach Paris zu beendigen; da ihr aber der offene Kahn keinen Schutz gegen das Wetter bot, so blieb sie einen ganzen Tag lang dem Einfluß eines starken Regens ausgesetzt, ohne die Kleider wechseln zu können. Zu Caudebec angelangt, wurde sie von einem Fieber befallen, welches – Dank sei es der Unwissenheit der Fakultätsherrn, welche jenen Ort unter ihrer Geißel hielten – einen verhängnißvollen Ausgang nahm. Ihre Kammerjungfer hatte Mittheilung hierüber gemacht und die amtliche Beglaubigung der Thatsachen beigeschlossen.

»Ihr wißt wahrscheinlich noch nicht, Miß Valerie, daß sie Euch zur Vollstreckerin ihres Testaments ernannt hat.«

»Zur Vollstreckerin ihres Testaments?« rief ich im größten Erstaunen aus.

»Ja,« versetzte Mr. Selwin. »Ehe sie London verließ, traf sie eine Abänderung in ihrem letzten Willen und bedeutete mir, Ihr würdet im Stande sein, die am meisten darin betheiligte Person ausfindig zu machen; auch hättet Ihr ein Dokument in Händen, welches Alles erklären werde.«

»Sie hat einem Paket an mich ein versiegeltes Papier beigeschlossen und dabei den Wunsch ausgedrückt, daß ich es nicht öffnen möchte, bis ich Nachricht erhalte von ihrem Tod oder sie mir die Erlaubniß dazu ertheile.«

»Vermuthlich ist dies das Dokument, auf das sie sich bezieht,« versetzte der Sachwalter. »Ich habe das Testament in meiner Tasche und will es Euch vorlesen, weil Ihr es ja doch zu vollziehen habt.«

Mr. Selwin zog die Urkunde heraus, und ich erfuhr, daß sie ihren Neffen Lionel Dempster zu ihrem einzigen Erben eingesetzt hatte. In einem Codicill traf sie noch die weitere Verfügung, daß sie um der Liebe willen, die sie zu mir hege – so lautete der Ausdruck – mir als ihrer Testamentsvollstreckerin fünfhundert Pfund sammt all ihren Juwelen und ihrer ganzen Garderobe vermacht haben wolle.

»Ich wünsche Euch Glück zu diesem Legat, Miß de Chatenœuf,« fügte der Sachwalter bei. »Und nun könnt Ihr mir vielleicht sagen, wo ich diesen Neffen aufsuchen muß; denn ich gestehe, daß ich heute zum erstenmal etwas von ihm höre.«

»Ich glaube Euch die geeignete Weisung geben zu können, Sir,« versetzte ich. »Aber vermutlich finden sich die wichtigsten Belegstücke in dem Papier, das ich noch nicht gelesen habe.«

»So will ich, wenn es Euch genehm ist, Eure Zeit nicht länger in Anspruch nehmen,« sagte Mr. Selwin. »Wenn Ihr wünscht, daß ich wieder bei Euch vorsprechen soll, so braucht Ihr mir es nur sagen zu lassen, oder mich durch die Stadtpost davon zu unterrichten.«

Die Entfernung des Sachwalters gereichte mir zu einer wahren Erleichterung. Ich sehnte mich, allein zu sein und meinen Gedanken nachhängen zu können; auch wünschte ich das Dokument zu lesen, das mir die arme Lady R– anvertraut hatte. Die Todespost wirkte erschütternd auf mich, um so mehr, wenn ich ihrer Freigebigkeit gegen mich und des Vertrauens gedachte, das sie mir nach einer so kurzen Bekanntschaft geschenkt hatte. Indeß ließ sich etwas der Art von ihr erwarten; denn welcher andern Person, als der Lady R–, hätte es einfallen können, ein schutzloses und mit Geschäften völlig unbekanntes Mädchen, das noch obendrein eine Ausländerin war, zur Vollstreckerin ihres letzten Willens zu machen? Und dann ihr Tod, der durch einen solchen tollen Einfall herbeigeführt worden war – und Lionel, welchem jetzt seine Stellung und sein Vermögen zurückgegeben wurde – Alles dies wirkte so überwältigend auf mich, daß ich mir nach einiger Zeit durch Thränen Luft machen mußte. Ich hatte noch mein Taschentuch vor den Augen, als Lady M– in das Zimmer kam.

»In Thränen, Miß Chatenœuf?« sagte die gnädige Frau. »Gelten sie wohl dem Scheiden einer theuren Person?«

Es lag eine Art Hohn in ihrem Gesichte, als sie diese Worte sprach, und ich erwiederte darauf:

»Allerdings gelten sie dem Scheiden einer theuren Person, gnädige Frau, denn Lady R– ist nicht mehr.«

»Barmherziger Himmel – was Ihr da sagt! Und wer waren die Gentlemen, die Euch besuchten?«

»Der Eine ist ihr Sachwalter, Madame,« versetzte ich, »und der Andere ein Verwandter von ihr.«

»Ein Verwandter? Aber was hat wohl ihr Sachwalter mit Euch zu schaffen gehabt, wenn man sich die Freiheit nehmen darf, zu fragen?«

»Es handelt sich um keine Geheimnisse, gnädige Frau. Lady R– hat mich zur Vollstreckerin ihres Testaments ernannt.«

»Zur Testamentsvollstreckerin? Wahrhaftig, jetzt glaube ich, daß Lady R– toll gewesen ist!« rief Lady M–. »Ich hätte es gerne gesehen, wenn Ihr auf mein Boudoir gekommen wäret, damit Ihr uns wegen des rothen Atlaskleides mit Eurem Rath behilflich sein könntet; ich fürchte aber, Euer wichtiges Amt läßt Euch jetzt keine Zeit, und so will ich Euch verlassen, bis Ihr Euch ein wenig erholt habt.«

»Ich danke Euch, gnädige Frau,« versetzte ich. »Morgen werde ich ruhiger sein, und dann stehe ich Euch gerne zur Verfügung.«

Lady M– verließ nun das Zimmer. Ihr Benehmen gefiel mir gar nicht, da es sehr gegen die Höflichkeit abstach, mit der sie mich sonst behandelte. Ich befand mich jedoch in keiner Gemüthsstimmung, um alle ihre Worte und die Art, wie sie dieselben vorbrachte, abzuwägen. Ich eilte auf mein Zimmer und suchte das Papier hervor, welches mir Lady R– vor ihrer Abreise als Einschluß zugestellt hatte. Der Inhalt, welchen ich meinem Leser nicht vorenthalten will, lautete folgendermaßen:

 

»Meine liebe Valerie!

»Ich will es nicht versuchen, mir die ungemeine Vorliebe zu erklären, die ich – beziehungsweise eine alte Frau – zu Euch faßte, eh' ich noch eine Stunde in Eurer Gesellschaft zubrachte. Manche Gefühle sind von so räthselhafter Art, daß sie sich nicht zergliedern lassen, und so fühlte ich mich so zu sagen magnetisch zu Euch hingezogen, mit einer Sympathie, die ich schon bei unserer ersten Begegnung nicht zu bewältigen vermochte und die sich mit jedem Tage unseres Umganges steigerte. Es war nicht die Liebe einer Mutter zu einem Kinde – wenigstens kam sie mir nicht so vor – denn es mischte sich eine Scheu, eine Art Ahnung darin ein, als müßte mir etwas Schlimmes begegnen, wenn wir uns je wieder trennten. Es war mir, als seiet Ihr mein Schicksal – und dieses Gefühl hat mich nie verlassen. Im Gegentheil, nun wir uns trennen sollen, ist es mächtiger geworden, als je. Wie wenig wissen wir von den Geheimnissen des Geistes sowohl, als des Körpers! Nur so viel ist uns bekannt, daß wir furchtsame und neugierige Geschöpfe sind. Indeß habe ich die zuversichtliche Ueberzeugung, daß es Einflüsse und Anziehung giebt, die sich eben so wenig erklären lassen, als man ihnen widerstehen kann. Oft habe ich darüber nachgedacht und auf meinem Lager mich hin und her geworfen, bis sich das Gehirn ›fast bis zum Wahnsinn‹ erhitzte, ohne daß ich im Stande gewesen wäre, den Schleier zu lüften. – (Ach, dachte ich; arme Lady R–, ohne Zweifel stand dir der Wahnsinn näher, als du selbst wußtest!) – Stellt Euch daher meinen Schmerz, mein Entsetzen vor, als ich fand, daß Ihr, meine theure Valerie, Euch entschlossen hattet, mich zu verlassen. Diese Ankündigung klang mir wie ein Todesurtheil! Aber ich fühlte, daß ich nicht widerstehen konnte; es war mein Schicksal, und wer kann sich seinen Beschlüssen entziehen? Sicherlich würde es Euer edelmüthiges junges Herz tief geschmerzt haben, wenn Ihr gewußt hättet, was ich litt und wie tief mir Euer Weichen von mir in die Seele schneiden mußte. Aber ich habe es für ein Gottesurtheil angesehen – als eine gerechte Strafe für die Verbrechen meiner frühern Jahre, die ich Euch jetzt vertrauen will, da ich sonst zu Niemand Vertrauen fassen kann. Möge dadurch dem Wesen Gerechtigkeit widerfahren, dem ich so schweres Unrecht gethan habe. Ich möchte nicht in die Ewigkeit gehen, ohne wieder gut gemacht zu haben, was noch möglich ist, und in Eure Hände will ich diese Vergütung niederlegen, da ich wohl weiß, sie würde nur schwer durchzuführen sein, wenn nicht meine eigene Feder dazu mitwirkte. Ich muß Euch jedoch zuerst mit der Ursache des Verbrechens bekannt machen, und zu diesem Ende ist es nöthig, daß Ihr die Geschichte meines früheren Lebens erfahret.

»Mein Vater, Sir Richard Moystyn, hatte vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter. Ich war das Erstgeborne; dann kamen meine beiden Brüder, und endlich nach langem Zwischenraum meine Schwester, so daß zwischen mir und Ellen ein Altersunterschied von acht Jahren stattfand. Unsere Mutter starb im Wochenbette, nachdem sie Ellen geboren hatte. Wir wuchsen heran, und meine Brüder wurden zu Eton und auf dem College erzogen. Ich blieb die einzige Gebieterin in dem Haushalt meines Vaters. Meine Stellung, zu der ein von Natur stolzes Wesen kam, die Gewalt, in deren Besitz ich war, die Achtung, welche man mir zollte, und – ich darf wohl ohne Eitelkeit beifügen – meine Schönheit, über die Ihr Euch aus dem angeschlossenen Porträt selbst ein Urtheil bilden mögt, machten mich herrschsüchtig und tyrannisch. Noch ehe ich zwanzig Jahre alt war, wurden mir viele Heirathsanträge gemacht, die ich zurückwies. Meine Macht über meinen Vater war unbegrenzt. Seine Gebrechlichkeit fesselte ihn lange Zeit an sein Zimmer, und mein Wort galt für ihn so gut wie für den übrigen Haushalt als Gesetz. Meine Schwester Ellen, die damals noch ein Kind war, behandelte ich mit Härte – einestheils, glaube ich, weil ihr schönes Aeußere mir eine Nebenbuhlerin in Aussicht stellte, und dann, weil mein Vater mehr Zuneigung zu ihr an den Tag legte, als mir lieb war. Sie hatte ein schüchternes Gemüth und beklagte sich nie. Die Zeit entschwand, und ich fand Gelegenheit, noch manchen Korb auszutheilen. Es wollte mir nicht behagen, meine Stellung gegen die Unterwürfigkeit unter einen Mann zu vertauschen, und so erreichte ich mein fünfundzwanzigstes Jahr, während meine Schwester, ein liebenswürdiges Mädchen, in ihrem siebenzehnten stand. Es sollte anders werden.

»Ein Obrist Dempster besuchte mit meinem ältesten Bruder, der in einem Garderegiment Capitän war, die Halle. Ich muß sagen, daß mir nie ein einnehmenderer Mann zu Gesicht gekommen war, und zum erstenmal fühlte ich, daß ich mit Freuden auf die Oberherrlichkeit in dem Hause meines Vaters verzichten könnte, um dem Glücksstern eines anderen Mannes zu folgen. Wenn meine Zuneigung zu ihm groß war, so hatte ich eben so wenig Grund, mich wegen Mangels an Aufmerksamkeit von seiner Seite verletzt zu fühlen. Er machte mir in der unterwürfigsten Weise den Hof – eine Art, die meinem stolzen Charakter zusagte, und ich gab mich unverholen den Gefühlen hin, die er mir eingeflößt hatte. Eine heiße Liebe entbrannte in mir, und sein Lächeln war mir theurer, als eine irdische Krone. Zwei Monate waren entschwunden. Er hatte die Halle ursprünglich nur für eine Woche zu besuchen beabsichtigt; aber er blieb noch immer. Die Sache wurde nicht nur von mir, sondern auch von Jedermann anders als ausgemacht betrachtet. Mein Vater, welcher sich die Ueberzeugung verschafft hatte, daß er ein Gentleman von guter Geburt und in der Lage war, in einem so kostspieligen Regiment von eigenen Mitteln zu leben, stellte keine weiteren Fragen, sondern ließ die Dinge ihren Lauf nehmen. Aber obgleich nun bereits zwei Monate verflossen waren, machte mir doch Obrist Dempster, wie unermüdlich er mir auch seine Aufmerksamkeit erwies, keinen Antrag, und ich schrieb dies seiner Ehrfurcht vor mir und der Scheu zu, daß er abgewiesen werden könnte. Ein Zögern aus solchem Grunde war mir nicht unangenehm; aber mein Herz ließ mich wünschen, die Angelegenheit zu einer Entscheidung zu bringen, und ich gab ihm jede Gelegenheit, die sich mit Zucht und Sitte vertrug. In den Morgenstunden sah ich wenig von ihm, da er zu dieser Zeit in der Gesellschaft der anderen Gentlemen mit seinem Gewehr auszuziehen pflegte; aber Abends hatte ich ihn stets als aufmerksamen Verehrer in meiner Nähe. Meine weiblichen Bekannten – denn Freundinnen hatte ich nicht – wünschten mir Glück zu meinem Sieg über einen Mann, der bisher als stahlfest gegen den Zauber unseres Geschlechtes gegolten, und ich widersprach nicht, wenn dieser Gegenstand in Anregung kam. Mit jeder Stunde sah ich seiner Erklärung entgegen, als ich – denkt Euch mit welchem Staunen und mit welcher Entrüstung – eines Morgens beim Aufstehen die Kunde vernehmen mußte, daß Obrist Dempster und meine Schwester Ellen verschwunden seien. Man wollte beide in einem Wagen gesehen haben, wie sie in wüthendem Galop davon fuhren.

»Es war leider nur zu wahr. Wie sich nun herausstellte, hatte mein Bruder den Obristen von meinem Charakter und meiner Gemüthsart unterrichtet, und da Mr. Dempster, welcher sich fast beim ersten Anblick in Ellen verliebt hatte, wohl einsah, daß er seinen Besuch nicht ausdehnen konnte, wenn er mir nicht den Hof machte, so verstellte er sich gegen mich, um so in die Lage zu kommen, die Liebe meiner Schwester zu gewinnen. Seine Morgen brachte er nicht, wie ich mir vorgestellt hatte, mit meinem Bruder auf der Jagd, sondern in Ellens Gesellschaft zu, und mein Bruder, welcher der Vertraute seiner Leidenschaft war, half ihm mich hintergehen. In einem Brief an meinen Vater entschuldigte der Obrist den von ihm eingeschlagenen Schritt und bat ihn um Verzeihung für seine Tochter. Das Schreiben lief noch am nämlichen Morgen ein, und als ich es las, sagte mein Vater zu mir: ›Sehr thöricht von ihm, daß er so handelte. Wozu auch Etwas stehlen, das man für ein gutes Wort haben kann? Hätte er mit mir gesprochen, so würde ich ihm Ellen nicht verweigert haben; aber ich war stets der Meinung, er mache dir den Hof, Barbara.‹

»Dieser Brief, welcher die Wahrheit des Gerüchtes bestätigte, war zu viel für mich; ich brach zu den Füßen meines Vaters in einem heftigen Anfall zusammen und mußte zu Bette getragen werden. Am andern Tag wurde ich von einer Gehirnentzündung befallen, und es blieb lange zweifelhaft, ob ich je wieder zum Gebrauch meiner Vernunft kommen werde. Allmählich kehrte sie jedoch wieder zurück, und nach dreimonatlicher Zimmerhaft war ich sowohl körperlich als geistig genesen – theilweise wenigstens, denn ich zweifle nicht daran, daß jener Schlag eine nachhaltige Wirkung auf mich geübt und mich zu dem unstäten Geschöpf gemacht hat, das ich jetzt bin – zu einem Wesen, das nirgends Ruhe finden kann – das nur zufrieden ist, wenn es umherziehen kann, und durch seine Feder sich stets in einer künstlichen Aufregung zu erhalten sucht. Ich glaube, die meisten Personen sind schon ein bischen verwirrt, eh' sie zu schreiben anfangen. Ich will zwar nicht behaupten, daß die Schriftstellerei ein Beweis des Wahnsinns sei, aber so viel glaube ich annehmen zu dürfen, daß die Schreibsucht nicht weit davon entfernt ist. Shakspeare sagt, ›Verliebte, Mondsüchtige und Dichter leiden insgesammt an der Einbildung!‹ Es liegt wenig daran, ob man in gebundener oder ungebundener Rede schreibe, denn in der Prosa ist oft mehr Phantasie und Dichtergeist, als im Vers. Doch um fortzufahren –

»Ich stand von meinem Krankenlager nur mit einem Gefühle auf – dem der Rachsucht. Was sage ich, nur mit einem Gefühle? Ich habe den Haß zu erwähnen vergessen, diesen Vater der Rache. Ich fühlte mich gekränkt und gedemüthigt, grausam hintergangen und verhöhnt. Meine Liebe zu ihm hatte sich jetzt in Abscheu umgewandelt, und Ellen war für mich ein Gegenstand des Hasses. Ich empfand, daß ich ihr nie vergeben konnte. Mein Vater hatte auf den Brief des Obristen noch nicht geantwortet, da die Gicht, welche seine Hand lähmte, ihn daran hinderte; denn sonst würde er nicht damit gewartet haben, bis ich mein Zimmer wieder verlassen konnte. Als ich mich abermals an seiner Seite befand, sagte er zu mir:

»›Barbara, ich denke, es ist hohe Zeit, zu vergeben und zu vergessen. Ich würde den Brief des Obristen längst beantwortet haben, wenn mich nicht das Leiden meiner Hand gehindert hätte. Wir müssen dem Päärlein jetzt schreiben und es bitten, daß es zu uns komme und uns besuche.‹

»Ich setzte mich nieder und schrieb den Brief – freilich nicht in dem liebevollen Tone, der mir aufgetragen worden war, denn ich erklärte dem Obristen, daß mein Vater weder ihm noch Ellen je vergeben werde; sie sollten daher nur alle weitere Correspondenz unterlassen, da sie vergeblich sei.

»›Lies mir vor, was du geschrieben hast, Barbara.‹

»Ich trug ihm einen Inhalt vor, welcher ganz seinen Wünschen angemessen war.

»›So ist's recht, meine Liebe; sie werden jetzt bald genug wieder zurückkommen. Ich sehne mich danach, Ellen wieder in meinen Armen zu halten; sie ist mir stets ein kostbares Kind gewesen, weil sie mir mit dem Leben deiner theuren Mutter erkauft wurde. Ich möchte sie fragen, warum sie davon lief. In der That, ich glaube, es geschah mehr aus Furcht vor deinem, als vor meinem Zorn, Barbara.‹

»Ich gab keine Antwort, sondern faltete und siegelte den Brief. Da ich stets den Postbeutel öffnete, so sorgte ich dafür, daß mein Vater nie einen der vielen Briefe erhielt, in welchen ihn meine arme Schwester um Vergebung anflehte, und bot allen meinen Kräften auf, um seinen Zorn gegen sie zu erregen. Endlich ersah ich aus ihrem Schreiben, daß sie mit ihrem Gatten eine Reise nach dem Festland angetreten hatte. Monate entschwanden. Mein armer Vater härmte sich kläglich ab über Ellens Schweigen und die vermeintliche Zurückweisung aller seiner liebevollen Erbietungen. Dieser unglückliche Gemüthszustand wirkte sichtlich auf seinen Körper; er wurde mit jedem Tage schwächer und reizbarer. Endlich traf von Ellen ein Brief ein, der mich – ich erröthe jetzt, daß ich es gestehen muß – mit unaussprechlicher Freude erfüllte. Er enthielt die Nachricht von dem Tode ihres Gatten – eine unbedeutend scheinende Daumenverletzung hatte einen Wundstarrkrampf herbeigeführt, welcher dem Leben des Obristen ein Ende machte.

»›Er ist also todt,‹ dachte ich. ›Nun, wenn ich ihn auch verloren habe, so besitzt doch sie ihn nicht länger.‹

»Ach, welch ein böser Geist hatte mich damals besessen! In dem erwähnten Briefe deutete Ellen noch ferner an, daß sie auf der Rückreise begriffen sei und ihrer Entbindung entgegensehe. Das Schreiben war an mich, nicht an meinen Vater adressirt. Der Tod des Gatten hatte meinen Haß gegen die Schwester nicht gemindert; im Gegentheil, ich fühlte, daß ich sie jetzt in meiner Gewalt hatte und in der Lage war, meine Rache an ihr zu vollenden. Nachdem ich über den einzuschlagenden Weg mit mir zu Rathe gegangen war, beschloß ich, ihr zu schreiben. Ich that es und gab ihr die Versicherung, daß sich die Erbitterung des Vaters noch immer nicht gelegt habe, obschon ich allem aufgeboten, um seinen Zorn zu beschwichtigen; er werde mit jedem Tag schwächer, und es komme mir vor, als sei ihr übereiltes Benehmen die Ursache von seinem schnellen Dahinschwinden; ich glaube nicht, daß es noch lange bei ihm währen könne, und wolle daher den Versuch machen, eine weitere Fürbitte für sie einzulegen, da die Nachricht von dem Tode ihres Gatten wahrscheinlich einen günstigeren Erfolg in Aussicht stelle.

»Vierzehn Tage später erhielt ich die Rückschrift, in welcher meine arme Schwester den Segen des Himmels über mein Haupt herabrief wegen meiner vermeintlichen Liebe und mir die Mittheilung machte, daß sie jetzt wieder in England sei und mit jeder Stunde ihre Niederkunft erwarte; sie fühle sich körperlich und geistig sehr krank und glaube nicht, daß sie diese schwere Stunde überstehen werde. Sie beschwor mich bei dem Andenken unserer Mutter, die mit ihrem Tode ihr das Leben erkaufte, daß ich zu ihr kommen möchte. – Nach den Leiden, welche über das arme Mädchen ergangen waren, hätte sich wahrhaftig mein Haß wohl zufrieden geben können; aber mein Herz blieb verhärtet.

»Nach einiger Erwägung hielt ich es jetzt für passend, meinen Vater von dem Tode des Obristen und von Ellens Rückkehr nach England in Kenntniß zu setzen, desgleichen ihn von dem Wunsche meiner Schwester, daß ich ihr bei ihrer Niederkunft beistehen möchte, und von meiner Bereitwilligkeit, diesem Gesuche zu entsprechen, zu unterrichten. Mein Vater hörte die Kunde mit tiefer Erschütterung an und bat mich mit bebender Stimme, ich möchte doch ohne Zögerung die Reise antreten. Ich versprach ihm dies, ließ mir aber von ihm die Zusage geben, daß er über die Veranlassung meiner Reise gegen Niemand ein Wort verlauten lassen wolle, bis er etwas Weiteres von mir gehört habe; denn es könnte dadurch dem Gesinde Stoff zum Klatschen und Anlaß zu böswilligen Bemerkungen gegeben werden. Er versprach mir dies, und ich reiste mit einer Dienerin ab, die früher meine Wärterin gewesen war und auf deren Verschwiegenheit ich mich verlassen konnte. Was meine Absichten waren, kann ich kaum sagen; nur so viel fühlte ich, daß meine Rache noch nicht gesättigt war, und daß ich keine günstige Gelegenheit entschwinden lassen durfte, sie zur Vollendung zu bringen.

»Ich traf meine Schwester in einem Zustande von Geburtsnöthen, der durch den Kummer über die vermeintliche Unversöhnlichkeit des Vaters und seinen keine Vergebung kennenden Groll auf's kläglichste gesteigert war. Wie leicht hätte ich ihr Elend mildern können, wenn ich ihr nur die Wahrheit gesagt hätte; aber ich war in der That ein böser Geist oder von einem bösen Geiste besessen.

»Sie starb, während sie einem Knaben das Leben gab. Ich war für den Augenblick bekümmert, bis ich des Kindes ansichtig wurde, in welchem ich das treue Ebenbild des Obristen, des Mannes erkannte, der mir so viel Elend bereitet hatte. Wieder erwachte meine Leidenschaft, und ich gelobte mir, daß das Kind nie etwas von seinem Vater erfahren sollte. Meine Begleiterin suchte ich auf den Glauben zu bringen, die Dame, welche ich besucht hatte, sei eine alte Schulfreundin von mir, und ich erwähnte nie des Namens meiner Schwester gegen sie; aber später mußte ich doch die Erfahrung machen, daß ich sie nicht hatte täuschen können. Ich beredete sie, das Kind nach dem Hause ihres Vaters zu bringen, indem ich ihr sagte, ich habe meiner Freundin auf ihrem Sterbebette das Versprechen gegeben, für die Waise zu sorgen; die Sache müsse aber geheim behandelt werden, weil man sich sonst üblen Nachreden aussetze. Dann trat ich die Rückreise nach Culverwood-Hall an, setzte die Dienerin mit dem Kinde unterwegs ab und brachte meinem Vater die Kunde von Ellens Tod, wobei ich natürlich verschwieg, daß ihr Kind noch am Leben war. Sir Richard wurde durch diese Nachricht sehr ergriffen und weinte bitterlich; überhaupt ging er von diesem Tage an schnell seiner Auflösung entgegen.

»Ich hatte jetzt meiner Rache Genüge gethan, und an ihre Stelle trat die Reue über das Geschehene. Alle meine bisherigen Handlungen hatten unter dem Einflusse der Aufregung gestanden; jetzt war sie vorüber und ich fand Zeit zum Nachdenken. Ich fühlte mich elend und hatte einen fortwährenden Krieg gegen mein Gewissen zu führen; aber vergeblich. Je mehr ich brütete, desto mehr wurde ich mir selbst zuwider, und ich würde Welten darum gegeben haben, wenn ich das Geschehene hätte rückgängig machen können.

»Um diese Zeit machte Sir Richard R– einen Besuch in der Halle. Er warb um mich und bot mir seine Hand an, die ich nicht zurückwies, da mir vornehmlich darum zu thun war, aus dem Hause zu kommen. Ich hoffte, eine neue Umgebung und ein Wechsel der Schauplätze könnte mich die Kunst des Vergessens lehren; aber ich hatte mich kläglich getäuscht. Ich ging mit meinem Gatten auf Reisen; aber nun quälte mich eine beharrliche Angst, die in meine Unthat eingeweihte Dienerin könnte mich an meinen Vater verrathen, und ich bat Sir Richard, die beabsichtigte Tour abzukürzen und mir die Rückkehr nach der Halle zu gestatten, da die Nachrichten über das Befinden meines Vaters sehr beunruhigend lauteten. Mein Gatte ließ mir den Willen, und ich hatte mich kaum wieder vierzehn Tage in der Halle aufgehalten, als der Tod meines Vaters mich allen weiteren Besorgnissen in dieser Richtung enthob.

»Nun kam aber ein weiterer Anlaß zur Furcht. Aus dem Testamente meines Vaters entnahm ich, daß er mir fünftausend Pfund und dieselbe Summe auch meiner Schwester hinterlassen hatte mit der Bedingung, daß in einem Todesfalle beide diese Beträge an die überlebende Schwester übergehen sollten. Die nämliche Bedingung stand auch in dem Testamente meiner Großtante, welche mir und meiner Schwester Ellen je zehntausend Pfunde vermacht hatte; die Summen sollten bei unserer Verheirathung für uns angelegt werden; wenn aber eine Schwester vor der Anderen ohne Hinterlassung von Leibeserben starb, so sollte der Antheil der Hingeschiedenen an die Lebende kommen. In beiden Fällen also wurde das Kind durch die Verheimlichung seiner Geburt seines Eigenthums beraubt, und zwar zu meinen Gunsten. Ich wußte allerdings nichts von diesen Testamentsbestimmungen, und kann dies nur beklagen; denn wenn ich davon Kunde gehabt hätte, so würde ich es nicht gewagt haben, das Vorhandensein des Kindes zu verhehlen, damit ich nicht angeklagt würde, aus geldgieriger Absicht so gehandelt zu haben – ein Rechtsgrund, der sicherlich gegen mich geltend gemacht worden wäre, wenn meine Dienerin mich verrathen hätte. Sogar jetzt, als ich den Stand der Verhältnisse genauer überblickte, würde ich den Knaben gerne als meinen Neffen anerkannt haben, wenn ich nur gewußt hätte, wie ich es einleiten sollte; denn mein Gatte war im Besitz des Geldes, und ich wagte es nicht, das Verbrechen einzugestehen, dessen ich mich schuldig gemacht hatte. Wenn je die Wiedervergeltung schwer auf einem Menschen lastete, so war es bei mir der Fall. Mein Dasein war ein Leben des vollendetsten Elends, und ich glaubte, von Sinnen zu kommen, als ich fand, daß meine frühere Dienerin und ihr Vater nicht geneigt waren, das Geheimniß länger für sich zu behalten. Ich setzte ihnen auseinander, daß sie mich dadurch gänzlich zu Grunde richten würden, und gab ihnen die feierliche Zusicherung, Sorge dafür zu tragen, daß dem Kinde Gerechtigkeit widerfahre. Dies stellte sie zufrieden. Mehrere Jahre verbrachte ich ein Jammerleben an der Seite meines Gatten, bis ihn endlich der Tod abrief. Ihr fragt mich wohl, warum ich es jetzt unterließ, das Kind anzuerkennen? Die Wahrheit zu gestehen, ich scheute mich. Ich hatte den Knaben, der damals zwölf oder dreizehn Jahre alt war, in einer Schule untergebracht; jetzt nahm ich ihn in mein Haus auf, um ihn einzusetzen in seine Rechte, weil meine Dienerin und ihr Vater mich an mein Versprechen erinnerten, aber obschon ich ihn bei mir hatte, wußte ich doch nicht wie ich es angehen sollte. Konnte ich wohl seine Geschichte erzählen, ohne meine schwere Verschuldung einzugestehen? Und dies zu thun, hinderte mich mein Stolz.

»So blieb ich unschlüssig und verschob mein Bekenntniß von Tag zu Tage, bis der Knabe, den ich anfangs nur zum Dienst um meine Person verwendete, zur Küche heruntersank. Ja, Valerie, Lionel, der Page, der Lakai, ist Lionel Dempster, mein Neffe. Wie ich schon sagte, konnte ich es nicht über mich gewinnen, meine Schuld einzugestehen, und am Ende beschwichtigte ich mich mit dem Vorwande, daß meine Schritte zum Besten des Knaben geschehen. Ach, wie leicht sind wir zufrieden zu stellen, wenn unser Handeln im Einklang steht mit unsern Wünschen. Ich hatte ihm testamentarisch mein Eigenthum vermacht und ihn erziehen lassen; wenn ich nun an seine untergeordnete Stellung dachte, so tröstete ich mich damit, sie werde ihn vom Stolze heilen und einen besseren Menschen aus ihm machen. Ich räume ein, daß dies nur armselige Beruhigungsgründe waren.

»Valerie, ich habe Euch zu meiner Testamentsvollstreckerin ernannt, da ich auch nach meinem Tode jede Blosstellung möglichst zu vermeiden wünsche. Ich möchte nicht gerne – wäre es auch nur für vierzehn Tage – das Stadtgespräch werden, und sicherlich kann es auch Lionel nichts nützen, wenn die ganze Welt erfährt, daß er bei mir als Lakai gedient hat. Mein Sachwalter weiß nicht, wo mein Neffe ist, und ich verweise ihn deshalb an Euch. Eine kleine Blechkapsel in dem Schranke meines Schlafgemachs wird Euch alle Urkunden an die Hand geben, die zu seiner Identification nöthig sind, auch werdet Ihr darin die Namen und den Wohnort der Personen, welche an der That mit betheiligt waren, desgleichen die Briefe meiner Schwester finden, die ich unterschlagen habe. Ich muß Euch darauf aufmerksam machen, daß Lionel nicht nur zu dem Eigenthum, das ich ihm hinterlassen habe, sondern auch zu dem Vermögen seines Vaters berechtigt ist, das in Ermangelung von Erben an Andere überging. Berathet Euch mit meinem Sachwalter und schlagt die erforderlichen Schritte ein, ohne mich weiter bloszustellen, als unbedingt nöthig ist; muß es aber sein, nun, so laßt lieber der ganzen Welt meine Schande bekannt werden, als daß der Knabe nicht in den vollen Genuß seiner Rechte komme.

»Ich fürchte, Ihr werdet nach dieser traurigen Enthüllung meinem Gedächtniß fluchen; aber vielleicht urtheilt Ihr milder, wenn Ihr bedenkt, wie wahnsinnig ich geliebt habe und wie grausam ich getäuscht wurde. Erinnert Euch zugleich, daß auch zu der Zeit, als ich jenes Verbrechen beging, mein Geist dem Irrsinn nahe war, und nehmt Euch daraus die Lehre, wie schwer es ist, auf den rechten Pfad wieder einzubiegen, wenn man einmal davon abgewichen ist.

»Ihr kennt nun alle meine Leiden, alle meine Verbrechen. Ihr wißt, warum man mich – und zwar nicht ganz ohne Grund – für eine bis zur Thorheit überspannte Person hielt, die gelegentlich sogar an den Rand des Wahnsinns streifte. Verzeiht mir und habt Mitleid mit mir, denn ich bin in der That durch die unablässigen Qualen meines Gewissens hinreichend bestraft!

Barbara R–.«


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