Eugenie Marlitt
Reichsgräfin Gisela
Eugenie Marlitt

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Auf dem kleinen, von einer halbzerfallenen Lehmmauer eingefriedigten Kirchhof zu Neuenfeld waren Frau von Zweiflingens sterbliche Überreste vor wenigen Tagen eingesenkt worden. Hier sah man freilich nicht ein einziges jener graubemoosten Zeichen, wie sie in aristokratischen Familiengrüften mit steinerner Zunge reden von ewigen Vorrechten und unübersteiglichen Schranken zwischen den Menschenkindern. Ganz entgegengesetzt dem Zwecke dieses Bilderschmuckes, der selbst angesichts der zerfallenen Erdenherrlichkeit noch Ehrfurcht für das moderne Geschlecht erzwingen will, denken wir nur daran, daß die armen Seelen unverhüllt und maskenlos in Gottes Hand zurückkehren mußten, in der sie anders wiegen als auf dem kleinen Erdenball, wo die Mitwelt götzendienerisch genug ist, weltlichen Besitz und ein Wappenschild in die Wagschale zu werfen...

Jetzt freilich breitete sich die Schneedecke alles einhüllend über die wenigen Hügelreihen des armseligen Dorfkirchhofs, in ihrer weißen Eintönigkeit nur selten unterbrochen durch ein vom Wind halb umgeblasenes schwarzes, schmuckloses Holzkreuz, den Ruheplatz einsamer Krähen – im Sommer aber, da kamen Waldesschatten und Waldesduft über die Mauer, die bergansteigend hart an die letzten Buchen stieß. Da floß und flutete Leben in dem fetten Grün des Haseldickichts, das in den vier Mauerecken wucherte, in den Adern der flinken Grasmücken und Rotkehlchen, die in dem Gebüsch ungestört nisteten, in den Brombeerranken, deren lange Arme vom Waldboden herüber lustig durch die Breschen der zerbröckelten Lehmwand krochen und eine ganze Last saftstrotzender, schwarzer Beeren auf die einsame, gemiedene Rasendecke legten; und der Sonnenstrahl lief emsig hin und her und zog ein buntes Blumenhaupt nach dem anderen aus der Saat des Todes – da klang das majestätische Auferstehen überzeugender als in den Mausoleen, wo Verwesung und Moder die Herren sind...

Vielleicht dieser Gedanke, noch mehr aber wohl der glühende Haß gegen ihre Standesgenossen hatten Frau von Zweiflingen dieses einsame Grab wünschen lassen.

Noch an demselben Tage, an dem das dunkle Erdreich sich über dem ausgeglühten Herzen der Blinden schloß, hatte Jutta am Arm des Hüttenmeisters das Waldhaus verlassen und war in die Neuenfelder Pfarre übergesiedelt; dort sollte sie bleiben bis zu dem Augenblick, wo sie als junge Frau in die Hüttenmeisterwohnung einziehen konnte... So furchtbar auch die Gegenwart auf dem jungen Manne lastete – daheim lag sein Bruder, den er Tag und Nacht allein pflegte, fast hoffnungslos am Nervenfieber, und die Frau, die ihm mütterlich zugetan gewesen war, lebte nicht mehr – bei dem Gang durch den Wald hatte dennoch ein Gefühl unaussprechlichen Glückes alles Leid, alle Sorgen verdrängt. Das blasse Mädchen an seiner Seite, der Abgott aller seiner Gedanken, hatte auf der weiten Gotteswelt nun niemand mehr als ihn, und wenn sie auch schweigend, mit tiefgesenkten Wimpern neben ihm her geschritten war, so still und in sich gekehrt, wie sie ihm nie erschienen, wenn auch die sonst so unruhige, flinke Hand bewegungslos, wie von Marmor, auf seinem Arm gelegen hatte, all dies scheinbar Fremde und Neue in ihrem Wesen hatte ja doch nur den einen Grund, der sie sogar mit einem neuen Nimbus umgab: das Leid um die tote Mutter... Er wußte ja, daß sie an seinem Herzen den starren, tränenlosen Schmerz endlich ausweinen würde, daß ihre junge Seele allmählich jene Frische und übersprudelnde Lebendigkeit wieder erlangen müsse, die ihn, den ernsten, schweigsamen Mann, so unwiderstehlich bestrickten. Wie wollte er sie hegen und behüten!... Er glaubte an sein Glück so unerschütterlich wie an die Tatsache, daß die Sonne über ihm scheine. Hatte ihm Jutta nicht unzähligemal beteuert, daß sie ihn »unendlich liebe« und daß sie sich kindisch darauf freue, als seine kleine Frau im Hüttenhause schalten und walten zu dürfen?...

Die Pfarrerin hatte der jungen Dame das einzige heiz- und bewohnbare Stübchen im oberen Stockwerk des uralten, sehr baufälligen Pfarrhauses eingeräumt. Einige Möbel und das Klavier waren aus dem Waldhause herübergeschafft worden; denn bei »Pfarrers« gab es nicht ein einziges überflüssiges Stück Hausgerät – sie waren mittellos, wie nur je der bescheidene Seelsorger eines armen Thüringer Walddorfes, der als unbemittelter Kandidat ein noch ärmeres Mädchen geliebt und es nach Erlangung der ersten heißgewünschten Pfarrstelle frischweg geheiratet hat... Die kostbaren Möbel aus dem düsteren Turmzimmer mußten sich somit eine abermalige Degradierung gefallen lassen, denn sie standen an weißgetünchten Kalkwänden; allein diese eintönigen Wandflächen waren von einem zarten Gespinst langer Immergrünranken überzogen, und jeder Strahl der Wintersonne, der draußen durch die Schneewolken lugte, kam durch eines der Eckfenster herein und legte goldglänzende Streifen über den lustig grünenden Wandschmuck und die rissigen Dielen des Fußbodens. Freilich lag die köstliche Waldlandschaft vor den Fenstern jetzt unter Schnee und Eis; allein die im Sommer den Blick sehr beschränkenden Laubmassen waren auch unter den Winterstürmen gesunken und ließen manches auftauchen, was sonst wie verschollen hinter grünen Wänden steckte. Dorf Neuenfeld und vor allem das Eckstübchen im Pfarrhause hatten deshalb zur Abendzeit ein selten gesehenes Schauspiel.

Sobald die Sonne erloschen war, dämmerten drüben in dem ziemlich entfernt liegenden und seit Jahren nicht bewohnten Schloß Arnsberg die Lichter auf, und je dunkler die Nacht hereinbrach, desto höher erglühten die Fensterreihen. In den langen Korridoren brannten mächtige, an der Decke schwebende Kugellampen, die mit ihrem weißen Licht auch die entlegensten Winkel und Ecken durchfluteten – so war selbst zu Prinz Heinrichs Lebzeiten nicht beleuchtet worden. Ebenso durchströmte eine wohldurchwärmte Luft den mächtigen, alten Bau von der Mansarde bis zum weiten, hallenden Vestibül herab, und auf den Treppen und Vorplätzen, wohin der Fuß auch treten mochte, lagen weiche, warme Teppiche. Aus dem Treibhause hatte man die wohlbehütete Orangerie in das Schloß herübergeschafft, und die hohen Orangen-, Myrten- und Oleanderbäume, einst Prinz Heinrichs Stolz und der Gegenstand seiner fast zärtlichen Sorgfalt, standen jetzt wie diensttuende Lakaien an der Mündung der Treppen und in den Vorsälen, um einen leichten Traum von Sommergrün und Sonnenwärme zu erwecken – und das alles um eines Kindes, eines kleinen schwächlichen, verwöhnten Mädchens willen!

Baron Fleury hütete die kleine Gisela wie seinen Augapfel; man hätte fast meinen können, sein ganzes Denken und Sinnen bewegte sich einzig um dies zarte Geschöpfchen und sein Gedeihen. Die Welt schlug ihm diese zärtliche Fürsorge um so höher an, als Gisela nicht sein Kind war... Wie wir wissen, hatte die Gräfin Völdern eine einzige Tochter, die in erster Ehe mit dem Grafen Sturm verheiratet war. Man erzählte sich allgemein, diese Ehe, die aus gegenseitiger glühender Neigung und, wie man wußte, eigentlich gegen den Willen der Gräfin Völdern geschlossen worden war, sei eine sehr unglückliche gewesen und die junge Gräfin habe keine Ursache gehabt, den entsetzlichen Sturz mit dem Pferde zu beweinen, an dessen Folgen ihr Gemahl nach zehnjähriger Ehe starb. Die Gräfin hatte drei Kinder geboren, von denen nur das jüngste, die kleine Gisela, am Leben blieb... Zu derselben Zeit, wo Graf Sturm aus der Welt ging, wurde Baron Fleury fürstlich A.scher Minister. Man munkelte ferner, Seine Exzellenz habe bereits zu Lebzeiten des Gemahls eine heimliche Neigung für die schöne Gräfin gehabt, und diese Behauptung wurde insofern bestätigt, als der Baron nach Ablauf des Trauerjahres um die Hand der Witwe warb und sie auch erhielt. Die boshafte Welt flüsterte freilich, die Bevorzugung verdanke er weniger seinen persönlichen Eigenschaften, als seinem Einfluß am Hofe zu A., durch den sich die Gräfin Völdern den Zutritt habe wiederverschaffen wollen; denn, einmal als die Freundin des Prinzen Heinrich und später erst recht als dessen beglückte Universalerbin, hatte sie lange in Bann und Acht leben müssen... Sie erreichte übrigens durch die zweite Heirat der Tochter ihren Zweck vollkommen, und die Zeit, wo sie am A.schen Hofe wieder erscheinen durfte, galt noch in späteren Jahren in den Augen der Hofschranzen für »eine himmlische«.

Sie hatte einen niegesehenen Glanz um sich verbreitet durch ihre noch immer bezaubernde Erscheinung und ihre Reichtümer, die sie mit vollen Händen ausstreute, um den schlüpfrigen Boden unter ihren Füßen zu befestigen... Diese Triumphe genoß sie indes nicht lange. Die Baronin Fleury starb, nachdem sie einen toten Knaben geboren hatte, im Wochenbett, und drei Jahre später verschied die Gräfin Völdern – »leicht und selig wie eine Gerechte« – sagte der Volksmund und mit ihm Sievert. Sie war nur zwei Tage krank gewesen, hatte, als gläubige Katholikin, regelrecht, in aller Form die letzte Ölung empfangen und war hinübergeschlummert mit einem fast kinderhaft unschuldigen Lächeln, und von nah und fern kamen die Leute, um das engelschöne Wachsbild im Sarge zu sehen, die Frau, die so viel gesündigt und nie – gelitten hatte... Die fünfjährige, nun völlig verwaiste Gräfin Gisela blieb im Hause ihres Stiefvaters und war alleinige Erbin der sämtlichen gräflich Völdernschen Besitzungen, mit Ausnahme von Arnsberg, das sich schon längst nicht mehr im Besitze der Gräfin Völdern befand. Zum großen Erstaunen der Welt hatte nämlich die Universalerbin wenige Monate nach Antritt ihrer Erbschaft das Schloß mit dem dazu gehörigen Areal an Wald und Feld dem ihr damals noch völlig fernstehenden Baron Fleury um die Summe von dreißigtausend Talern, und zwar unter dem allgemein belächelten, sehr empfindsam klingenden Vorwande verkauft, daß ihr diese Besitzung als der Sterbeort ihres Freundes, des Prinzen, allzu schmerzliche Erinnerungen wecke.

Das reichsgräfliche Kind erschien demnach auf seiner Flucht vor dem Nervenfieber nicht als Herrin, sondern als Gast des Stiefvaters in Schloß Arnsberg. Letzterer hatte übrigens Sieverts Voraussetzung nicht wahr gemacht; nach nur zweitägigem Aufenthalt war er abgereist, um sich zu seinem Fürsten zu begeben, der fern von A. auf einem Jagdschloß verweilte... Jutta hatte den Minister nicht wiedergesehen. Am Tage nach dem Hinscheiden der Blinden war Frau von Herbeck in das Waldhaus gekommen, um im Namen Seiner Exzellenz zu kondolieren, und das prachtvolle Bukett, das bei der Beerdigung zu Füßen der Toten lag, stammte aus dem Arnsberger Treibhause – wer der Unglücklichen in ihren letzten Lebensstunden gesagt hätte, daß ein Blumengeschenk von seiner Hand mit ihr in ein und demselben Totenschrein modern würde!...

Inzwischen war das Weihnachtsfest herangekommen. Im klingenden Eispanzer, den Saum des schwer nachschleppenden Schneemantels bis an die Fenstersimse der niedrigen Bauernhütten werfend, schritt es über den Thüringer Wald hin; froststarre Tränen hingen an seinen Wimpern, und das Wehen seines Atems scheuchte alles warme Leben hinter die schützenden Türen und Mauern; aber die Tannenkrone über seinem lieben Heiligengesicht blitzte wie ein Königsdiadem – die kalte Wintersonne stand unverhüllt am klarblauen Himmel und weckte bleiche Funken in jedem Eiszapfen – und mit bezeichnendem Finger streifte es hier und da über eine einzelne junge Fichte im Schlag; sie stand da und träumte im dämmernden Winterschlaf von Wachsen und Großwerden, von der Zeit, wo ihr schlanker Stamm sich hoch in die blauen Lüfte hinaufrecken und mit seiner Spitze an die goldenen Sterne rühren würde, von den purpurnen Blüten, die dereinst droben zwischen den Ästen aufglühen und, vom Sonnenlicht umkost, ihre hochgetragene Schönheit in die weite, weite Welt hinausleuchten sollten – und sie erwacht plötzlich, von milder, warmer Luft geweckt; ihr kleiner Wipfel ragt nicht in den Himmel, und die roten Blüten schlummern unverschlossen weiter, wohl aber sind die Sterne von droben herabgesunken und flammen auf den kleinen Zweigen, und das arme, erschrockene Fichtenbäumlein ist selbst zur Blume geworden, zur strahlenden Wunderblume des Winters – o du süße, selige Weihnachtszeit!...

Auch auf dem blühenden Gesicht der Pfarrerin von Neuenfeld lag es wie wahrer Sonnenschein. Diese etwas derben, aber sehr regelmäßigen Züge trugen zwar immer das köstliche Gepräge ungetrübter, fast schelmischer Heiterkeit; allein jetzt lachte auch etwas wie verheimlichte Freude heraus. Die Frau hatte ja sieben Kinder, und diese sieben abgöttisch geliebten Blondköpfchen sollte sie in glückseliger Überraschung unter dem Weihnachtsbaum sehen... Es war diesmal keine leichte Aufgabe gewesen, die Christbescherung zu beschaffen – die Kartoffeln waren nicht geraten, und der Herr Pfarrer hatte einen neuen Winterrock unbedingt nötig gehabt – indes, ein viermaliger Gänsebraten auf dem Tisch eines armen Thüringer Landgeistlichen war sündhafter Luxus, und deshalb ließ die Pfarrerin drei Stück ihrer vier fetten, wohlgeratenen Gänse leichten Herzens gen A. ziehen, wo sie gut bezahlt wurden. Die einzige Kuh im Stalle des Pfarrhauses lieferte zwar nach wie vor dieselbe Menge Milch; dennoch kam jetzt wöchentlich ein Pfund der berühmten Neuenfelder »Pfarrbutter« mehr auf den Markt; die Pastorin aß seit Monaten ihr Frühstücksbrot und die Abendkartoffeln nur mit Salz, und Rosamunde, die alte Magd, übte sich tapfer mit bei diesem Enthaltungssystem. Und endlich kam der Tag, wo die mühsam ersparten Groschen und Pfennige in Gestalt von verschiedenen Paketen nach dem Pfarrhause zurückwanderten. Während die alte, halberfrorene Botenfrau hinter der verriegelten Küchentür mit verklommenen Fingern Stück um Stück der weit hergeschleppten Schätze aus ihrem Tragkorb holte, kauerten drei kleine Mädchen mäuschenstill draußen auf der uralten, ausgehöhlten Schwelle. Die dicken Blondzöpfe fest an die Türritzen gedrückt und ihre kleinen, frierenden Hände unter die Schürze steckend, horchten sie nach echter Evaweise, indes drei wilde Jungen, das Erfolglose des Schlüssellochguckens endlich einsehend, den Genuß der beharrlichen Schwestern durch Zupfen an den Kleidern und Zöpfen zu verkümmern suchten. Da fiel ein Etwas mit leise schmetterndem Geräusch auf den Backsteinfußboden der Küche und rollte weiter. – »Eine Nuß!« jubelte der Chor selbstverräterisch auf, und die Pfarrerin öffnete leise lachend ein Paket und hielt es geräuschlos an die Türspalte – ach, Pfefferkuchen! – Wo wäre eine Kinderseele, die sein Duft nicht sofort in die Welt der Weihnachtswunder versenkte!

Von diesem fröhlichen, geheimnisvollen Treiben im unteren Stockwerk wurde Jutta nicht im entferntesten berührt. Sie kam nur zur Tischzeit in die Familienstube. Das neue schwarze Wollkleid mit den Kreppstreifen um den Halsausschnitt fiel in weichen Falten, eine lange Schleppe bildend, auf den Boden nieder und verlieh der Gestalt, die plötzlich sehr beherrschte, hoheitsvolle Bewegungen angenommen hatte, eine Art von stiller Majestät. Dieser Eindruck wurde erhöht durch das lilienweiße Gesicht mit den meist festgeschlossenen Lippen – die reizenden Grübchen, die das Lächeln in den Wangen des jungen Mädchens vertiefte, hatten die Bewohner des Pfarrhauses noch nicht gesehen – und die Sorgfalt, mit der ihre zarten, leuchtendweißen Hände den nachschleppenden Kleidersaum beim Eintritt in die Wohnstube aufnahmen, galt nicht allein dem sandbestreuten Fußboden, es war zugleich ein zwar graziös, aber auch sehr bestimmt ausgedrücktes »Rühr mich nicht an!« für die Kinderschar. Die Kleinen blickten denn auch verschüchtert nach dem stummen, ernsten Tischgast hinüber; das lustige Geklapper der Löffel und Gabeln klang gemäßigter, und die allzeit rührigen Mäulchen schwiegen gedrückt und verlegen.

Der Pfarrer ehrte Juttas »tiefe, wortlose Trauer«, er begegnete ihr um derentwillen mit erhöhter Achtung und Rücksicht; der Blick einer Frau und Mutter dagegen ist schärfer – die Pfarrerin sah oft verstohlen und prüfend von ihrem Teller auf –, das war nicht Seelenschmerz, was dem Gesicht dort das Gepräge vornehmer Unnahbarkeit aufdrückte und den Blick der jungen Dame eisig kalt und teilnahmslos über die doch gewiß unwiderstehliche Lieblichkeit der kleinen, blonden Lieblinge hingleiten ließ; die »stille, wortlose Trauer« flieht auch bang und scheu jedes lautere Geräusch – Jutta aber hatte bereits ihre Klavierübungen wieder aufgenommen und »raste« oft stundenlang über die Tasten. Indes, der echte, brave Frauencharakter sucht stets nach einem Entschuldigungsgrund für mißfällige Wahrnehmungen am eigenen Geschlecht, und demgemäß folgerte die Pfarrerin, Jutta sei verzeihlicherweise verstimmt, weil sie den Bräutigam fast gar nicht sehen durfte. Der junge Bertold schwebte noch zwischen Leben und Tod, und wenn auch Sievert die Pflege mit übernommen hatte und Tag und Nacht nicht aus dem Hüttenhause wich, so hielt doch die Besorgnis, den Ansteckungsstoff weiter zu tragen, den Hüttenmeister von häufigen Besuchen in der Pfarre zurück – er war bis jetzt nur einmal gekommen, allein erst, nachdem er in der Gießerei den Anzug gewechselt hatte und stundenlang im Freien umhergelaufen war.

Dagegen suchte Frau von Herbeck in Begleitung des gräflichen Kindes fast täglich die Trauernde in der Eckstube auf. Im unteren Stockwerk kehrte sie nie ein, aber sie erlaubte der kleinen Gisela, wenn auch nur für Augenblicke, hier und da in die Kinderstube zu gehen, während sie in unermüdlicher Plauderei bis zur einbrechenden Nacht bei Jutta saß.

Nun war der Heilige Abend da. Die harten, unvermischten Farbentöne, die den klaren Wintertag charakterisieren, rannen allmählich in das matte Grau der Dämmerung zusammen. Es war sehr kalt; der lebendige Atem wurde zur Dampfsäule in der strengen Luft, und der hartgefrorene Schnee krachte unter den Wagenrädern und Menschentritten. Trotzdem war Frau von Herbeck mit der kleinen Gräfin in die Pfarre gekommen – Gisela wollte den Christbaum brennen sehen; der ihrige sollte erst am morgenden Feiertag angezündet werden.

Im kleinen eisernen Ofen des Eckstübchens trommelte und brauste ein wohlunterhaltenes Feuer. Einige Körner feinen Rauchpulvers lösten sich auf der heißen Platte, und ihre Dunstwölkchen mischten sich mit dem starken Aroma, das aus der auf dem Sofatisch stehenden kleinen Kaffeemaschine strömte. Noch brannte kein Licht. Die dichten Kattunvorhänge ließen den letzten ungewissen Schein des vergehenden Tages nur als schmalen, bleichen Streifen auf die Dielen fallen, während an den Wänden hin tiefe Schatten huschten. Aber aus dem Zugloch und der schlechtverschlossenen Tür des Ofens floß ein intensiver Glutschein und hauchte rötliche Tinten auf das elegante Klavier und das weiße Atlasgewand des darüber hängenden mütterlichen Bildes. Ein fraulicherer Raum als diese in Winterluft und Abendschatten hineinragende Ecke ließ sich wohl nicht denken.

Die kleine Gisela kniete auf einem Stuhl am Fenster. Sie konnte noch nicht in die Kinderstube, weil die Kleinen gebadet wurden. Einstweilen begnügte sie sich, einen hungrigen Raben zu beobachten, der auf einem nahen Birnbaum umherhüpfte und mit seinen schwarzen, hängenden Flügeln ganze Schneeladungen von den Ästen stieß. Auf dem kleinen, unschönen Gesicht lag jedoch keineswegs jenes oberflächliche Interesse, mit dem das gewöhnliche Kinderauge lediglich der raschen Beweglichkeit eines Vogels folgt. Dieser junge Kopf verbarg unverkennbar den Keim zur nachdenklichen Grübelei, zu jenem Insichversenken, das mit leidenschaftlicher Hartnäckigkeit dem Ursprung und Ausgangspunkt aller Dinge nachgeht und dabei für Augenblicke alle Beziehung zur Außenwelt verliert. Die Kleine mit dem tiefnachdenklichen Blick hörte demnach sicher nicht ein Wort von dem Geplauder der beiden Damen, die hinter ihr auf dem Sofa saßen.

Frau von Herbeck hatte den Arm um Juttas feine Taille gelegt. Die Dame war, trotz ihrer ziemlich vorgeschrittenen Jahre, noch sehr hübsch; das ließ sich gerade in diesem Augenblick feststellen, wo sie sich neben der unvergleichlichen Schönheit des jungen Mädchens recht gut behauptete. Für den feinen Kenner weiblicher Reize waren wohl diese Körperformen zu kolossal und üppig, und manches feinfühlige, reine, weibliche Gemüt mochte sich instinktmäßig von dem oft eigentümlich lächelnden und zugleich schwimmenden Blick abwenden; allein jene Körperfülle erschien so kerngesund und rosig frisch, und die großen, ein wenig vorstehenden Augen konnten in geeigneten Momenten auch wieder so ernsthaft und ehrenhaft dreinblicken, daß das öffentliche Urteil diese Frau einstimmig schön, respektabel und sehr liebenswürdig nannte... Sie war die kinderlose Witwe eines armen, altadligen Offiziers und war bereits zu Lebzeiten der Gräfin Völdern als Giselas Erzieherin im Hause des Ministers tätig gewesen. Stets unbedingt und gewandt auf die Absichten der Großmutter bezüglich des zu erziehenden Kindes eingehend, war sie von der ersteren noch auf dem Sterbebette als diejenige bezeichnet worden, die als »vollkommen passend« die Führung und Ausbildung der Kinderseele in der Hand behalten sollte.

Nun saß sie da im eleganten, dunkeln Seidenkleid, das schöne, volle Haar von geschickten Kammerjungferhänden modern und geschmackvoll geordnet, und erzählte Episoden aus dem Leben und Treiben der großen Welt, und von dem jungen Geschöpf, das sich weich und hingebend an die stattliche Frau schmiegte, war das starre Gepräge der »tiefen, wortlosen Trauer« spurlos weggewischt. Das war wieder die Lebenslust atmende Gestalt, die wir im Brautkleid der Mutter, mit den Tazetten im Haar, vor dem Spiegel gesehen haben – unverwandt und sprühend hingen die dunkeln Augen an dem roten, leichtgeschwellten Mund der Erzählerin, die ein farbenreiches, verlockendes Bild nach dem anderen aufrollte. Die junge Dame war der Wirklichkeit, dem engen Stübchen so gut entrückt wie das denkende Kind am Fenster; nur dann und wann fuhr sie empor und warf einen zornigen Blick nach der Tür. Da draußen lag die alte Rosamunde, die qualmende Küchenlampe neben sich, auf den Dielen und scheuerte mit wahrer Inbrunst Vorsaal und Treppe, als letzten Rest ihrer Weihnachtsarbeiten – sie kannte die Füßchen der »kleinen Panduren« viel zu gut, um nicht zu wissen, daß sie am liebsten schnurstracks aus Pfützen und Straßenschmutz über den frischgescheuerten Fußboden liefen, und deshalb warf sie auf jede neugewaschene Stelle mit unglaublicher Vehemenz ganze Salven schützender Sandbrocken.

Da kamen rasche Schritte über den Vorsaal, und die Pfarrerin trat in das Zimmer. In der Linken trug sie ein brennendes Licht und auf dem rechten Arme ihren in ein dickes, wollenes Tuch gewickelten jüngsten Knaben. Die ganze große, kräftige Frau mit den glühenden Wangen und energischen Bewegungen war das Bild angestrengter Tätigkeit. Sie bot einen freundlichen guten Abend und stellte das Licht auf das Klavier, da beide Damen die Hand über die geblendeten Augen hielten.

»Heute geht's scharf her in der alten Pfarre, nicht wahr, Fräulein Jutta?« meinte sie lächelnd, wobei zwei Reihen kerngesunder, fest zusammengefügter Zähne sichtbar wurden. »Nun, morgen sollen Sie dafür einen recht stillen Feiertag, ein ruhiges, leeres Haus haben. Mein Mann hält die Filialpredigt in Greinsfeld, und meine kleine, wilde Gesellschaft drunten geht auch mit hinüber – die alte Muhme Röder hat sie zum Kaffee eingeladen... Fräulein Jutta, ich möchte Ihnen gern für eine halbe Stunde mein Herzblättchen da lassen – Rosamunde scheuert noch drauf und drein und wird gern brummig, wenn man sie von der Arbeit abruft, und mit den Kindern ist heute absolut nichts anzufangen; sie laufen von einem Schlüsselloch zum anderen, gucken nach dem Himmel, ob er nicht bald dunkel wird, und darüber kann der kleine Schelm da, der gern an den Stühlen aufsteht, zehnmal auf die Nase fallen. Mir aber wären heute zehn Hände nicht zu viel – die Kinder horchen schon auf die Klingel, und es liegt noch nicht ein einziges Stück auf dem Weihnachtstisch.«

Sie wickelte den Kleinen aus dem Tuch und setzte ihn auf den Schoß der jungen Dame. »So, da haben Sie ihn!« sagte sie und strich mit der großen, kräftigen Hand glättend über die weißen Flaumhaare des Köpfchens, die sich unter dem Tuch zu lauter Löckchen gekrümmt hatten. »Er kommt eben aus dem Bade und ist so weiß und frisch wie ein Nußkernchen. Viel belästigen wird er Sie nicht – es ist mein artigstes Kind.«

Voll von der unerschütterlichen Zuversicht der Mutterliebe, die ihr Kind unwiderstehlich findet, war es ihr nicht eingefallen, auch nur einen forschenden Blick auf Juttas Gesicht zu werfen; ihr Auge hing vielmehr unverwandt mit zärtlichem Stolz an dem kugelrunden Geschöpfchen, das gutwillig auf dem Schoß der jungen Dame sitzen blieb und mit seinen vier nagelneuen Zähnchen tapfer in den Zwieback biß, den die Mutter in die kleine Hand gedrückt hatte.

Die Pfarrerin schritt hurtig nach der Tür zurück, allein diese zwei blauen, lustigen Augen besaßen einen wahren Feldherrnblick im Hauswesen; sie fahndeten selbst in der größten Eile auf jede Gesetzwidrigkeit, und so blieb die Frau plötzlich stehen und ergriff einen der Immergrünzweige, die sich nach Frau von Zweiflingens Bild emporrankten und vom Kerzenlichte bestrahlt wurden – die jungen Triebe hingen matt und halb verdurstet am Stengel.

»O weh, ihr armen Dinger!« rief sie mitleidig, während sie nach einer gefüllten Wasserflasche griff und die steinharte Erde in den Töpfen begoß. »Fräulein Jutta«, wandte sie sich freundlich ernst an die junge Dame, »das Immergrün da müssen Sie mir mehr in Ehren halten! Als ich meinen ersten Geburtstag als junge Frau hier in der Pfarre feierte, da ging es knapp genug bei uns zu – der Storch war da gewesen, und so war der Geldbeutel schmal geworden –, mein Mann hatte keinen Groschen mehr in der Tasche, aber da kam er in aller Frühe aus dem Walde und stellte mir die Töpfe aufs Fensterbrett, und ich sah zum erstenmal in meinem Leben, daß er geweint hatte... Ich hab' sie nicht mit leichtem Herzen da heraufgegeben«, fuhr sie aufrichtig fort, indem ihre flinken Hände die niederhängenden Ranken wieder an den Schnüren befestigten, die an der Wand hinliefen; »aber mit Tapeten sieht's windig bei uns aus, die kann weder mein Mann noch die Gemeinde bezahlen, und die kahlen weißen Wände waren mir denn doch nicht schön genug für meinen lieben Gast.«

Ihr Gesicht hatte bei den letzten Worten wieder den Ausdruck unbekümmerter Heiterkeit angenommen. Sie setzte das Licht auf den Sofatisch, nickte ihrem Knaben zu und verließ rasch das Zimmer.

Als die Tür hinter ihr in das Schloß gefallen war, sah Frau von Herbeck einen Augenblick wie sprachlos vor Erstaunen in Juttas Gesicht, dann brach sie in ein helles, spöttisches Lachen aus.

»Nun, das muß ich sagen, das ist eine Naivität, die ihresgleichen sucht!« rief sie und sank, die Hände zusammenschlagend, an das schwellende Polster der Sofalehne zurück. »Himmel, was Sie für ein klassisches Gesicht machen, Herzchen! Und wie gottvoll Sie sich anstellen als Kindermuhme!... Ich könnte mich totlachen!«

Jutta hatte noch nie ein Kind auf dem Schoße gehabt und selbst als kleines Mädchen nur wenig mit Altersgenossen verkehren dürfen. Als die Zwistigkeiten zwischen ihren Eltern ausbrachen, war sie – kaum zwei Jahre alt – einer in klösterlicher Einsamkeit lebenden Geheimratswitwe übergeben worden, sie sollte nicht durch die schrecklichen Verhältnisse im elterlichen Hause berührt werden. Erst kurz vor dem Tode ihres Vaters durfte sie zu der Mutter zurückkehren und hatte somit den größten Teil ihrer Kindheit fast ausschließlich im Umgang mit der alten Dame verbracht, deren Aufgabe es ja gewesen war, sie einzig und allein für ein zurückgezogenes, anspruchsloses Leben zu erziehen. Übrigens mußte dieser jungen Mädchenseele der Instinkt versagt sein, der das echte Weib unwiderstehlich zu der Kinderwelt hinzieht und dasselbe sofort, ohne irgendwelche Anleitung, zur Pflegerin geschickt macht, denn sie sah, den Oberkörper ängstlich zurückgebogen und die Arme steif an den Seiten niederhaltend, mit einer Art von Entsetzen auf den kleinen, aufgedrungenen Schützling nieder; aber sie war auch innerlich erbittert über die Zumutung, die ihr gemacht worden war – sie runzelte finster die Brauen, und die feinen, bläulichweißen Zähne gruben sich tief in die Unterlippe.

»Ach, und wie vortrefflich Ihnen die ehrliche Landpomeranze zu sagen wußte, welche übermenschlichen Opfer ›dem lieben Gast‹ in diesem gesegneten Pfarrhause gebracht werden!« fuhr Frau von Herbeck noch immer lachend fort, »Gott solch eine vierschrötige, hausbackene Person, und dabei diese Sentimentalität mit dem Grünzeug!... An Ihrer Stelle ließ ich die Töpfe sofort dahin zurückbringen, wo sie der gerührte Gatte einst hingestellt hat – schließlich werden Sie noch für jedes abgefallene Blatt verantwortlich gemacht, und ich kann es Ihnen keinen Augenblick verdenken, wenn Sie nicht Lust haben, die kostbare Orangerie der Frau Pfarrerin zu begießen.«

Die kleine Gisela war von ihrem Stuhl aus mit großer Aufmerksamkeit dem ganzen Vorgang gefolgt. Jetzt glitt sie auf den Boden herab, und ihr großes, kluges Auge richtete sich erregt auf das Gesicht ihrer Gouvernante, während ein helles Rot unter die gelblichweiße, matte Haut der Wangen trat.

»Die Töpfe dürfen nicht fortgeschafft werden!« sagte sie ziemlich heftig. »Ich will es nicht haben – das tut mir zu weh!« Stimme und Gebärden des Kindes zeigten unverkennbar, daß es gewohnt sei, zu befehlen.

Frau von Herbeck nahm die Kleine sofort in ihre Arme und küßte sie voll Zärtlichkeit auf die Stirne. »Nein, nein«, beschwichtigte sie, »sie sollen ganz gewiß da bleiben, wenn mein süßes Kindchen es will... Aber du verstehst das noch nicht, Engelchen – es ist nicht so gut gemeint von der Frau, wie du denkst.«

Währenddessen hatte Fritzchen lustig und unbekümmert seinen Zwieback bearbeitet. Das kaum dreivierteljährige Kind war in der Tat frisch und weiß wie ein Nußkern. Der kleine, runde Kopf mit den blühenden Wangen und dem gespaltenen Kinn ruhte unmittelbar auf der blütenweißen, faltenreichen Hemdkrause, und unter dem fleckenlosen, feuerroten Flanellröckchen hervor guckten ein Paar draller, rosiger Beinchen, denen man es ansah, daß sie eben noch im Seifenschaum gesteckt hatten.

Fritzchen wurde nach dem Prinzip der allgemeinen Menschenliebe erzogen. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er von allem, was ihm gut schmeckte, an Mama, Rosamunde und die Geschwister abgeben mußte, und infolgedessen nahm er unter treuherzigem Lallen den Zwieback vom Munde und stieß ihn mit den ungeschickten Händchen heftig gegen Juttas Lippen – das junge Mädchen fuhr leise aufschreckend zurück, und die Röte des Erschreckens flammte über ihr Gesicht; die kleine Gräfin aber lachte laut auf – der Moment erschien ihr urkomisch.

»Aber, Gisela, mein Kind, wie magst du da nur lachen?« schalt die Frau von Herbeck sanft. »Siehst du denn nicht, daß das arme Fräulein von Zweiflingen zu Tode erschrocken ist über die Zudringlichkeit des kleinen Bengels?... Übrigens sehe ich gar nicht ein, weshalb wir uns das gemütliche Plauderstündchen verderben lassen sollen!« fuhr sie ärgerlich fort. »Ich werde der Sache gleich ein Ende machen!«

Sie stand auf, nahm den kleinen Missetäter von Juttas Schoß und setzte ihn auf die Dielen; in demselben Augenblick kauerte aber auch Gisela neben dem Kinde und legte die kleinen mageren Arme um seine Schultern. Der Ausdruck war wie weggewischt von ihrem schmalen Gesichtchen. »Es war gut gemeint von ihm!« sagte sie, zwischen Trotz und Bedauern schwankend.

»Pfui, mein Kind – ich bitte dich, rühre den schmutzigen Jungen nicht an!« rief Frau von Herbeck, die Bemerkung des Kindes überhörend.

Die kleine Gräfin antwortete nicht, aber der Blick, mit dem sie zu ihrer Gouvernante aufsah, funkelte in Zorn und Widersetzlichkeit. Diesem Kinde gegenüber hatte die Dame offenbar einen sehr schweren Stand; allein sie war ja »vollkommen passend« und wußte sich demgemäß zu helfen.

»Wie – eigensinnig will mein Liebchen sein?« fragte sie schalkhaft zärtlich. »Nun meinetwegen, bleibe du sitzen, wenn es dir Freude macht!... Was aber wohl Papa sagen würde, wenn er die kleine Reichsgräfin Sturm als Kindermädchen auf dem Fußboden kauern sähe! Oder die Großmama!... Weißt du noch, Engelchen, wie sie zürnte und schalt, weil dir im vorigen Jahr auf deine Bitten die Frau des Jägers Schmidt ihr Kind auf den Schoß gegeben hatte?... Nun ist sie tot, die liebe, schöne Großmama; aber du weißt ja, daß sie im Himmel ist und immer sehen kann, was ihre kleine Gisela tut – in diesem Augenblick betrübt sie sich gewiß recht sehr, denn was du tust, schickt sich ja nicht für dich!«

»Es schickt sich nicht für dich!« das war die Zauberformel, mittels der diese Kinderseele regiert wurde. Nicht daß das aristokratische Element so übermächtig in ihr ausgebildet gewesen wäre, um jedes verpönte Begehren mit seiner Hilfe zu unterdrücken – dazu war das Kind noch zu jung; aber »es schickt sich nicht für dich!« hatte ja »die liebe, schöne Großmama« so oft gesagt, ehe sie in den Himmel gegangen, und sie war und blieb der Inbegriff der Erhabenheit und Unfehlbarkeit für die kleine, verwaiste Enkelin... Noch saß die Falte des Zorns zwischen Giselas Brauen, und ihre Augen hingen beunruhigt an dem kleinen Ausgesetzten auf dem Boden, aber als die Gouvernante mit ihren weichen, weißen Händen sanft die schmale, leichte Gestalt zu sich emporzog, da ließ sie sich willenlos greifen, wie ein Vogel, der keinen Ausweg mehr sieht – Frau von Herbeck kehrte mit ihr zum Sofa zurück und behielt ihre Hand zwischen den ihrigen.

Fritzchen sah sich plötzlich einsam und verlassen. Er warf seinen Zwieback hin, streckte die Ärmchen empor und wollte genommen sein; allein Jutta wandte sich ab – sie war noch immer beschäftigt, ihre etwas in Unordnung geratenen Locken und die verschobenen Falten des Kleides wieder zu ordnen – und Frau von Herbeck machte ihm ein bitterböses Gesicht und drohte heftig mit dem Finger. Der arme, kleine Schelm starrte sie lange erschrocken und unverwandt an – seine großen, blauen Augen füllten sich allmählich mit Tränen, während ein Jammerzug die Mundwinkel herabsenkte – endlich brach er in ein bitterliches Weinen aus.

Sofort eilten die raschen Füße der Pfarrerin die Treppe herauf, und ehe sich die Damen dessen versahen, stand sie in der Tür. Dort saß ihr »Herzblättchen« ausgestoßen und verlassen auf dem kalten Fußboden, und die vornehmen Frauengestalten auf dem Sofa schmiegten sich aneinander wie zusammengehörig, und als könne der Raum zwischen ihnen und dem plebejischen Kinde nicht weit genug sein.

Nicht ein Wort kam über die Lippen der beleidigten Mutter, nur eine tiefe Blässe bedeckte für einen Augenblick das blühende Gesicht. Sie hob ihren Knaben empor und preßte ihn heftig an sich; dann wickelte sie ihn in das warme Tuch und schritt nach der Tür zu. Dieses lautlose Schweigen, die fast königliche Haltung der einfachen Frau, die es unter ihrer Würde hielt, ihrem tiefverletzten Gefühl Ausdruck zu geben, imponierten selbst der gewiegten Welt- und Salondame auf dem Sofa.

»Meine beste Frau Pfarrerin«, rief sie, leicht verlegen, aber mit einschmeichelnder Stimme ihr nach, »Ich bedauere, daß wir den Kleinen nicht besser beschäftigen konnten, aber er war sehr unruhig, und Fräulein von Zweiflingen ist doch noch zu angegriffen –«

»Ich kann es mir selbst nicht verzeihen, daß ich das nicht besser überlegt habe«, antwortete die Pfarrerin einfach, ohne Bitterkeit, und ging hinaus.

»Seien Sie diesem Zwischenfall dankbar, Kindchen!« flüsterte die Gouvernante, als sie auch auf Juttas Gesicht einen Zug der Scham und Verlegenheit bemerkte. »Mit dieser einen Zurechtweisung hab' ich Sie vor einer unabsehbaren Reihe widerwärtiger Zumutungen bewahrt... Das ist auch eine jener ›wackeren deutschen‹ Hausfrauen, die vor lauter Tugend und Vortrefflichkeit unausstehlich werden. Zudringlich mit ihrer Weisheit, fahnden sie förmlich auf junge Mädchenseelen und pressen die unschuldigen Lämmer ohne Gnade in den Pferch der sogenannten ›Weiblichkeit‹, die da nichts erlaubt als Bibel, Kochtopf und Strickstrumpf... Das, was wir eben erlebt haben, war der erste leise Versuch der überklugen Frau – war ich nicht da mit meinem Einspruch, so säßen Sie bereits morgen drunten und flickten den alten Rock des Herrn Pfarrers oder die zerrissenen Höschen der geistlichen Sprößlinge.«

Jutta fuhr empor – in diesem Moment konnte sich das aufglühende Mädchengesicht getrost neben den hochmütigen Zügen des stolzesten Ahnherrn in der Halle des Waldhauses behaupten – das war genau jener kalt zurückweisende Zug um die Lippen, jener verächtlich abwärts zuckende Blitz aus den halbgeschlossenen Augenlidern, der da sagte: »Was nicht neben oder über mir steht, existiert nicht für mich!«

Frau von Herbeck legte den Arm wieder um die schlanken Hüften des jungen Mädchens und zog sie schmeichelnd an sich heran. Dabei ergriff sie mit der Linken die Hand, die schmal und zart, wie ein durchsichtig weißes Blumenblatt auf dem schwarzen Wollkleide lag, und betrachtete sie mit einer Art von zärtlicher Aufmerksamkeit.

»Es kann mich förmlich unglücklich machen«, sagte sie mit einem Anflug von Groll in der Stimme, »wenn ich eine meisterhafte Form, wie zum Beispiel diese reizende Hand hier, sehe, und mir dabei sagen muß, daß ihre Schönheit unausbleiblich zerstört werden wird durch die Anforderungen einer unangemessenen Lebensstellung... Diese rosigen Nägel, diese Grübchen voll Küchenschwärze! – pfui, ich mag es gar nicht denken!... Hoffentlich verfährt das Schicksal glimpflich mit Ihnen, Kindchen!... Freilich, ganz und gar diesem Los entgehen werden Sie doch nicht als Frau Hüttenmeisterin.«

»Theobald hat mir und Mama versprochen, daß er mich wie seinen Augapfel behüten wolle«, entgegnete das junge Mädchen stockend mit halberstickter Stimme.

»Ja, ja, liebes Herzchen, das ist alles recht schön und gut, und der Hüttenmeister auf alle Fälle ein prächtig lieber Mensch, der im Notfall sein Herzblut für Sie hingibt – in seinen guten Willen setze ich auch nicht den mindesten Zweifel. Aber, aber, solch einem glücklichen Bräutigam fällt es selten ein zu rechnen – das kommt erst nach der Hochzeit... Und was wollen Sie dann machen, wenn Sie einmal drinstecken? Die Familie wird größer, das Einkommen aber nicht, und wenn dann der Mann die Nähterin oder Flickmamsell nicht mehr bezahlen kann, so hilft der Frau kein Wehren und Sträuben – sie muß, wohl oder übel, die groben Strümpfe des Herrn Gemahls über die feine Hand stülpen und – sie flicken.«

Frau von Herbeck hielt inne und sah seitwärts auf Juttas Gesicht nieder, das an ihrer Schulter lehnte. Das junge Mädchen schwieg mit fest zusammengepreßten Lippen, während sein Auge unverwandt und finster auf den Boden starrte, als gewänne die häßliche Schilderung der Gouvernante dort bereits Form und Gestalt... Frau von Herbeck lächelte leise, und der Ausdruck ihrer großen, schwimmenden Augen war in diesem Moment sicher nicht jener ehrenfeste, den sie respektablen Charakteren gegenüber anzunehmen wußte. Sie strich mit der Hand sanft über die gerunzelte Stirne der jungen Dame.

»Ach, wer wird denn gleich ein solch trübes Gesicht machen!« sagte sie ebenso einschmeichelnd beschwichtigend, wie sie mit ihrer kleinen Schutzbefohlenen zu reden gewohnt war. »Meine ich Sie denn etwa speziell mit dieser Schilderung?... I, Gott soll mich bewahren! Ich wäre ja mit dem besten Willen nicht einmal imstande, mir die schöne Jutta von Zweiflingen in einer solchen Lage zu denken, obwohl ich an manchem schönen, gefeierten Mädchen erfahren habe, wohin solche Neigungsheiraten führen können... Sehen Sie, da wird alles, was das Leben schmückt, nach und nach als Ballast über Bord geworfen... Das geliebte Klavier steht verstaubt und verschlossen in der Ecke, die eleganten Bücher und Stickereien verschwinden vom Nähtisch, dafür liegen schmutzige Abc-Bücher und Schreibhefte umher, und ein Korb voll zerrissener Wäsche wartet auf neue Flicken – ich kenne das... Die junge Frau streicht die bewunderten Locken glatt hinter das Ohr oder unter die Haube – das sieht häßlich aus – aber was tut's? Sie braucht nicht mehr schön zu sein, es sieht sie ja niemand!«

Jutta sprang auf, warf wortlos, aber mit einer leidenschaftlichen Gebärde die Locken zurück und trat an das Klavier... Was auch in dieser Brust vorgehen mochte, es war jedenfalls ein heftiger Aufruhr, der sie in fliegenden Atemzügen hob und senkte.

Die junge Dame schlug den Deckel des Instrumentes zurück, und in den Sessel niedergleitend, begann sie eine wildaufbrausende ungarische Volksweise kraftvoll und energisch mit denselben Händen, die vorhin zu »schwach und angegriffen« gewesen waren, das Kind der Pfarrerin auch nur einen Augenblick zu halten... Wie Perlenschnüre rollten die kühnen Passagen; es war ein Gewoge von Tönen, aus denen die Grundmelodie immer wieder auftauchte, und mit ihr wilde Zigeunergesichter, glühend angestrahlt vom Lagerfeuer, nächtliche, über die weite Pußta hinfliegende Reiter, umtobt von mähneflatternden Roßherden, sterbende Helden und kühne Räubergestalten – und diese fremdartigen Gebilde, in denen ein heißes Blut pulsierte, rauschten durch die kleinen Eckfenster hinaus in das keusche, feierliche Schweigen der herabsinkenden heiligen Nacht. Das Gebirge reckte seine dunklen Glieder aufwärts, und der goldflimmernde Himmel spannte sich von einem Bergscheitel zu dem anderen, Kluft und Tiefen ausgleichend, wie der große Versöhnungsgedanke des Gekreuzigten sich breitet über jenes zerklüftete Schöpfungswerk, das wir die Menschheit nennen... Und diese Menschheit? Sie schärft seine milden Worte zu Schwertern, mit denen sie sich selbst zerfleischt. Der Baalsglaube macht jenen Stern des Heils, den einst die Hirten über der kleinen Erde aufgehen sahen, zum stummen Götzen und verfolgt den lebendigen Geist, der von ihm ausgegossen, mit blindem Vandaleneifer – umsonst, er leuchtet! Und mit seinem mächtigen Wort: »Es werde Licht!« hat Gott selbst gewollt, daß die Nacht nie mehr »die Herrschende« werde!


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