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4. Kapitel.
Heidetage.

Du hast nach Frieden und Ruh'
Ein großes, tiefes Verlangen,
Weil ehern des Todes Schritt
Durch deinen Frühling gegangen!

Mir hängt mein Gärtelein voll
Von lichten, blühenden Zweigen,
Durch all meine Tage zieht
Ein jauchzend Reigen und Geigen!

Sag', warum wohnt denn die Not
So nahe bei Glück und Freude?
Ich dacht', unsre kleine Welt
Hätt' nimmer Raum für sie beide!

Hochsommerschönheit über der Heide! Der unbeschreibliche Zauber still blühender, wundersamer Landschaft, jenes Königskindes, das so lange das Bettlerkleid getragen!

Meilenweit die wellenförmigen Hochflächen, vom zarten Schimmer später Blüte überhaucht, ein endlos sich breitendes, rosendurchwirktes Brokatgespinst! Nach Osten gebogene, riesenhafte Wacholder ragen in den sonnigen Abend, verwitterte Kiefern strecken ihr zerzaustes Gezweig gespenstisch in die Lüfte. Ein verfallener Schafstall, efeuumsponnen und vergessen, ein Immenstand im purpurnen Kraut, und fern eine langsam dahinziehende Staubwolke – Schnucken mit ihrem Hirten.

Näher und näher kommen sie, – eine dunkle Silhouette am dämmernden Himmel.

Durch den braunen Boden schlängelt sich ein Sandweg, silbern, glitzernd. Ab und an verschwindet er hinter den Heidhügeln, taucht wieder auf und spielt mit dem Wanderer Versteck. Der weißstämmigen Birke grüner Schleier weht über seiner stillen Spur, dichter umgibt ihn das ernste Grün der Kiefer. Forst und Heide gehören zusammen.

Der Heidewald hat etwas Wunderbares an sich, etwas Unvergeßliches. Er ist schön, wie der Traum eines Künstlers, still, wie das einsame Hirtengrab drüben im Moor unter dem Steinkreuz. Farbe und Licht kommen hier in seltenem Verein zur stärksten Entfaltung. Bunt leuchtet der Boden. Glockenblumen, knospende Erika, goldgelber Ginster stehen duftend beisammen, Thymian glüht in später Sonne, Kronsbeeren überwuchern den Grund. Darüber an moorigen Stellen des Wollgrases wehende Silberbüschel und die feurigen Doldentrauben der Eberesche. Stolze Eichkronen spiegeln sich im Waldbach, schwarzblaue Kiefern träumen über grüner Farnkrautwildnis. Die Birke leuchtet, und der Abend webt seine dämmernden Bilder. – –

Hochsommerschönheit über der Heide! Der unbeschreibliche Zauber still blühender, wundersamer Landschaft, jenes Königskindes, das so lange das Bettlerkleid getragen!

Auf einem Stein, inmitten der blühenden Erika, saß eine Gestalt in tiefem Sinnen. Ein Weib, jung und lieblich, das blonde Haupt in die Hand gestützt. Keine Tochter der Heide. Eine, die von draußen gekommen aus Großstadtunrast und Straßenenge.

Ein schweres Leid schien auf ihr zu lasten. Ihre Haltung drückte tiefen Schmerz aus. Das schlichte, schwarze Kleid redete von der Trauer um einen Toten. An der herabhängenden, zarten Hand glänzten zwei goldene Ringe. – Trug ein verwitwetes Weib seinen Jammer in das Schweigen der Heide?

Ein heißes, bitterliches Weinen entrang sich der gequälten Brust, ein Schluchzen aus allen Quellen der Seele.

Es mußte weh tun, solch Weinen mit anzuhören. Aber keine Menschenseele war in der Nähe. Nur der Wald vernahm's. Ganz still hörte er zu, und seine Zweige schienen sich auf das große Leid herabzuneigen, auf das Grab in dem jungen Leben. Es mochte nicht das erstemal sein, daß ein Menschenkind seine Not in das Schweigen der Heide trug, – nicht das erste- und nicht das letztemal.

Und doch hatte sie nie den Anspruch erhoben, eine Trösterin in des Lebens Tiefen zu sein. Viele sagten es von ihr. Sie irrten. Sie vergaßen, daß die Natur göttlichem Willen ihren Ursprung dankt und darum auch die ihr innewohnenden Kräfte transzendente Gaben sind, kein Ureigentum. Daß auch die Natur, gleich dem Menschen, ins Grab sinkt, daß nur das Ewige den Todesschmerz heilt: Gott.

Aber dies junge Menschenkind suchte seinen Trost nicht im Vergänglichen, es suchte nur Einsamkeit und Stille in der Heide. Der grüne, verschwiegene Platz erinnerte die verwaiste Braut an ihr verlorenes Glück. Hier hatte sie mit dem Geliebten gesessen, hier hatte er sie zum ersten Male ans Herz genommen und geküßt, – heut' saß sie allein in der roten Erika. Wie das Leben wechselte! Vor kaum einem Jahre hatte sie mit tiefster Weibessehnsucht in seinen Armen gelegen, – heute rüstete sie sich, in treuer Arbeit Frieden zu finden, für den großen Beruf der Missionsärztin.

Und die Wunde blutete und blutete. – –

Das Antlitz in den Händen bergend, weinte sie in ihr Tüchlein hinein. Tagelang verhaltener, tapfer niedergerungener Schmerz machte sich in quellenden Tränen Luft.

Das heiße, rückhaltlose Weinen war eine Wohltat für sie, welche ihr die Last, die ihre zarte, sensitive Natur erdrücken wollte, erleichterte, wenn auch nur vorübergehend.

Vom Dorf herüber klang der Ruf einer Kirchglocke. Abendläuten. Sie trocknete ihre Tränen. Mit großen, weitgeöffneten Augen blickte sie in die grüne, dämmernde Stille. Ihre Seele wanderte auf weiten Wegen.

In ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Neues Testament, abgegriffen und viel gebraucht. Auf das erste Blatt hatte eine zitternde, todmüde Hand mit schwankenden Buchstaben einen letzten Gruß geschrieben: › Death can hide, but he cannot divide, thou art but on Christ's other side!Der Tod kann verbergen, aber er kann nicht scheiden, man kommt durch ihn nur auf Christi andere Seite.

Sinnend ruhten die schönen Augen darauf. An den Wimpern glänzten die letzten Tränen.

»Der Tod kann verbergen, aber nicht scheiden,« sagte sie leise vor sich hin, und ihre Hand umschloß das Erbe des Geliebten.

Stiller und stiller ward ihr Antlitz. Wie Verklärung lag's über dem großen Schmerz. Unsichtbare Hände schienen diese Seele immer wieder an den dunkelsten Tiefen des Todes vorüberzuführen. Ruhig erhob sie sich und schritt langsam den Waldweg entlang.

Traumhaft schön war der Abend mit seinen duftigen Schleiern über den roten Hügeln. Um Mittag war ein Regenschauer niedergegangen; nun dampften Kraut und Moor, und ein feuchter Glanz zauberte jene satte, glühende Farbenpracht hervor, die der Morgen nicht kennt. Nähe und Ferne lagen in flimmerndem Glanz, es war, als müsse die Erde das eingesogene Sonnenlicht wieder ausstrahlen, als durchleuchte die Heide ein inneres Feuer. Über dem funkelnden Bronzeton des Bodens wehten die langen Schleier der Birken, dem Goldhaar einer Waldfrau gleich, die im Abendfrieden durch den Ginster wandelt. Nur der Zauber des Südens bringt ähnliche Farbenglut hervor. Im Norden ist das große, stille Leuchten das Wunder der Heide. – –

Am Stamm einer Birke lehnte das einsame Menschenkind und schaute und schaute. Hatten Engel die ewigen Pforten geöffnet und verkündeten leuchtenden Angesichts der Menschheit die Geburtsstunde eines neuen Himmels und einer neuen Erde? Spannte nicht dort eine Brücke die strahlenden Bogen über den Strom der Zeit, lag nicht drüben, greifbar nahe, eine lichte Stadt? Und es war ihr, als winke ihr einer hinüberzukommen, und eine Stimme, die sie unter tausenden erkannt haben würde, spräche: ›Der Tod kann verbergen, aber nicht scheiden!‹

Ein Windhauch strich durch die Wacholder. Die Nacht kam über das Moor. Ihr schwarzblauer, sternendurchwirkter Mantel schleppte über das purpurne Kraut. Die Hand über die Augen gebreitet, schaute sie auf die sinkenden Wolken und das Goldgespinst der Birken. Auf ihrer Stirn lagerte Schwermut. Der Druck täglich wiederkehrender Finsternis. Ein Seufzer hob ihre Brust. Mit müder Hand löste sie das schimmernde Stirnband und breitete den flutenden Schleier über das Land. Glanz und Glut waren erloschen auf Erden.

Aber ein Sonntagskind hatte die Wunder der Heide geschaut und einen glänzenden Funken aufgefangen. Den trug es heim.

Im Mondlicht lagen die Höfe. Unter der Linde vor dem Heidhaus saß eine wartende Frau. Gedankenvoll blickte sie in die einsame Stille hinaus auf die träumende Parklandschaft. Eigentümlichkeit der Heide.

Da klang ein leichter Schritt. Eine dunkle Gestalt schritt auf sie zu.

»Endlich, Kind! Wo warst du denn so lange?«

»Im Wald.« Eine eigentümliche Weichheit lag im Ton der jungen Stimme, eine heimliche Bitte: ›Frag' nicht weiter!‹

Und die Mutter fragte nicht. Sie wußte, es gab Plätze auf Erden, die das Menschenherz allein besucht. Sie sagte nur: »Du kommst spät; es ist einsam draußen!«

Da schmiegte sich eine zarte Wange an die ihre, und Frieda Händler sprach ein Wort, das seit Monaten nicht über ihre Lippen gekommen war: »Das tut mir gut.«

Über den hallenden Heidboden klang Hufschlag und das Rollen eines leichten Gefährts. Da ward's drinnen auf der Diele lebendig. Weiße Sommerkleider huschten durch den hellerleuchteten Raum, Mädchenlachen klang, heimliches Kichern. Dazwischen ein seltsamer Singsang, übermütig und froh, und doch voll Lebensernst. Ein höchst modernes Liedchen. In die stille, verträumte Heide paßte es nicht. Draußen in der großen Welt war's geboren, das merkte man.

»Herrlich lebt es sich zu zwei'n,
Lebt ein jedes hübsch allein!«

trällerte die junge Stimme.

Die Frauen unter der Linde lauschten.

»Was ist das wieder für ein Unsinn!« sagte Dorothea Händler, »der ist sicher Asta Rilles krauser Phantasie entsprungen!«

Die Tochter zuckte die Achseln. »So denken sie doch heute alle, Mutter!«

Zwei Gestalten kamen den mondhellen Pfad entlang.

»Da sind sie!« rief die Hausfrau und erhob sich, um Mann und Kind entgegenzugehen. »Und zu Fuß! Ich hörte den Wagen auch nicht mehr! Willkommen in der Heide!«

Den Reisenden den ersten Gruß winkend, trat sie in den Mondschein hinaus.

Warm ruhte Geheimrat Händlers Auge auf der blühenden Frau, die ihm die Lippen zum Kusse bot.

»Guten Abend, Thea!« Er zog sie an sich und blickte sie an, als hätten sie sich ein halbes Jahr lang nicht gesehen. »Wie geht es dir?«

Glücklich hob sie das Antlitz zu ihm empor. »Gut, Karl Heinrich!« Sie löste sich aus seinen Armen und wandte sich Rose zu, die ihr die Hand küßte.

Händlers sorgender Blick suchte seine blasse Älteste. Mit stillem Lächeln nickte Frieda dem Vater zu.

Es war eine glückliche Familie, die sich in des Lebens ernsten Stunden um so fester zusammenschloß, weil sie in unvergänglichen Gütern Trost und Kraft fand.

Roses lebhaftes Plappermäulchen konnte die schwere Geduldsprobe nicht länger ertragen. »Mutter,« unterbrach sie das Schweigen, »wir bringen eine riesig interessante Neuigkeit mit …«

»Rose, du sollst nichts vorweg erzählen!« rief der Geheimrat. »Du weißt, daß ich das Ereignis im Familienkreise feierlich proklamieren will, also bitte …«

Rose machte einen koketten Knix. »Ich habe ja noch gar nichts verraten. Aber stelle meine Geduld auf keine zu harte Probe, sonst stehe ich für nichts ein. Wo sind denn die anderen?«

»Die scheinen auch eine Überraschung zu planen,« antwortete Thea, ihr weißes Kleid aufnehmend und ins Haus tretend.

Wie gebannt blieb sie auf der Schwelle stehen. Dort standen im Halbkreise ihre jüngeren Töchter und deren Freundinnen in bunten Korpsmützen. Aus ihrer Mitte aber trat ein bildhübscher, junger Student im vollen Wichs und bat, sich ehrerbietig verneigend, ums Wort.

Alles blickte sich an und lachte. Aber der junge Mann ließ sich nicht einschüchtern und trug in wohlgesetzten Worten sein Anliegen vor. Es herrsche so viel Vorurteil gegen die akademische Laufbahn des weiblichen Geschlechts, daß er als Student nicht umhin könne, eine Lanze für die Frauenbewegung zu brechen. In längerer Ausführung trat er mit glühender Begeisterung für Frauenfleiß und Frauenstudium ein.

»Es sind durchaus nicht alle Studentinnen emanzipiert,« schloß er feurig. »Ich möchte sogar sagen, das ist ein überwundener Standpunkt. Die Blaustrümpfe, die sich gehenlassenden Ausländerinnen, kommen selten vor. Frisch vom Abitur zieht's auf der Alma mater ein, wissensdurstig, fleißig, zielbewußt, mit fröhlicher Neugier auf das Leben. Warum sollte dem Weibe auch all das Große und Schöne vorenthalten bleiben?«

Mit einer ungemein graziösen Bewegung wandte der jugendliche Gönner der studierenden Frau bei diesen Worten das rosige Gesicht den Kolleginnen zu.

Im selben Augenblick faßten die jungen Mädchen sich an den Händen, schlossen einen Kreis und tanzten singend um das Händlersche Paar. Jubelnd klangen die hellen Stimmen in den Herbstabend hinaus:

»Medizin, Philosophie,
Sternenkunde und Chemie, –
Vieles and're Wunderschöne,
Früher war's nur für die Söhne.
Doch die Frau von heut' begehrt
Mehr als einen Küchenherd,
Mehr als einen Fensterplatz,
Wo sie wartet auf den Schatz! –
Liebe ist ein herrlich Ding!
Keiner achte sie gering!
Doch von größter Wichtigkeit
Ist auch hier Persönlichkeit.
Herrlich lebt es sich zu zwei'n.
Lebt ein jedes hübsch allein.
Er ist Doktor der Chemie,
Sie studiert Biologie.
Alles geht hier nach der Uhr,
Denn es winkt die Professur! – –
Still, Papachen! Du sollst seh'n.
Alles endigt wunderschön!
Sei nur mal recht lieb und gut,
Und schenk' mir zum Doktorhut
Ein paar braune Lappen, –
Dann wird alles klappen!«

Mit dem letzten Ton flog die kaum sechzehnjährige Lilla ihrem Vater um den Hals und küßte ihn stürmisch: »Nicht wahr, du erlaubst mir's?«

Der Geheimrat hielt das zierliche Figürchen fest. »Lilla, bist du verhext? Du willst doch nicht etwa …«

Lilla machte sich lachend frei. »Hab' doch keine Angst, Vater! Ich will überhaupt noch lange nichts! Später: möchte ich allerdings auf ein Konservatorium. Aber erst, wenn Jutta erwachsen ist! So lange bleibe ich eure gute Haustochter.«

Noch einmal flogen die Mädchenfüße über die weißen Dielen, dann eilten die hellen Gestalten die Treppen hinan, – allen voran der frauenfreundliche Hallore. Auf der hölzernen Galerie über dem Kamin standen sie und schwenkten noch einmal ihre Korpsmützen, dann war das bunte Bild, das wie ein Traum über die Bretter gehuscht, verschwunden.

Zehn Minuten später hatten sich alle um den großen Eßtisch versammelt. Nur der Student fehlte. Aber ein selten anmutiges junges Mädchen, das eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihm hatte, saß im weißen Kleide, das wundervolle, kastanienbraune Haar in vollem Knoten aufgesteckt, ein Heidesträußchen im Gürtel, neben dem Hausherrn. Eine leichte Befangenheit erhöhte ihren Liebreiz.

»Wer hat denn das schöne Gedicht verfaßt, das der Hallore uns eben zum besten gab?« fragte der Geheimrat. »Leider glänzt er durch Abwesenheit.«

Die Jugend kicherte.

»Das Gedicht?« fragte endlich ein allerliebster Backfisch. »Da brauchen Sie nicht weit zu gehen, Herr Geheimrat! Wir sind hier ganz in der Verwandtschaft.«

Mit gut gespieltem Erstaunen wandte sich Händler zu der rechts neben ihm sitzenden Asta Rille.

»Mein gnädiges Fräulein, das hätte ich mir denken können! Rose hat mir öfter Gedichte von Ihnen gezeigt. Der Student ist jedenfalls ein naher Verwandter von Ihnen, die frappante Ähnlichkeit …«

Das junge Mädchen hatte seine Befangenheit überwunden und erwiderte scherzend: »O ja, wir sind recht nahe verwandt!«

»Ihr Herr Bruder?«

»Nein, auch kein Vetter.«

»Ja, – was bleibt dann übrig?«

»Sehr viel.«

Der Gelehrte zuckte amüsiert die Achseln.

»Etwas ganz Unpersönliches, aber sehr Wichtiges!« rief Asta lebhaft. »Etwas ganz Abstraktes! Erst das Leben macht es im Einzelfalle konkret. Der Hallore war eine Erscheinung des Jahres 1912, ebenso das Bild der Studentin – 1913 ist es voraussichtlich schon wieder ein anderes, – und in hundert Jahren? Ach du liebe Zeit! Da heißt's: die verdrehten Frauenzimmer!«

»Das heißt es vielerorten jetzt schon,« wisperte es unten am Tisch.

»Und die Verwandtschaft?« fragte Lilla Händler.

»Die ist doch sehr klar. Student und Studentin gehören zusammen, Kinder einer Zeit, Menschen gleichen Ziels. Zudem – ich bin ja doch erkannt!« Sie lachte. »Warum soll ich's nicht einfach zugeben, daß ich der Hallore war, oder vielmehr, daß ich das Studententum von 1912 repräsentierte?« Ihre Augen blitzten. Sie war allerliebst in ihrem Eifer.

»Sag mal, Asta, zu welchem Studium hast du dich eigentlich entschlossen?« fragte Frieda vom anderen Ende des Tisches herüber. »Als wir uns zum letztenmal sahen, warst du dir noch nicht darüber klar.«

»Archäologie,« war die prompte Antwort.

»Ausgerechnet Archäologie?« Das kluge Auge des Arztes ruhte sinnend auf der zarten Mädchengestalt. Aus seinem Blick sprach der Zweifel.

Fräulein Rille merkte es. »Sie haben Bedenken, Herr Geheimrat? Physische, psychische oder psychophysische?« fügte sie mit komischem Ernst hinzu.

»Ach, Vater hat immer alle möglichen Bedenken,« enthob Rose den Geheimrat der schwierigen Antwort. »Ich habe auch erst ein paar Schlachten schlagen müssen, bis er mir das Gesundheitsattest ausstellte, und ich bin doch ein Hüne gegen dich, Asta! Über meine sonstigen Fähigkeiten hat er sein Urteil noch nicht abgegeben!« Ein Seitenblick streifte Händler. »Übrigens, Vater, wenn du jetzt nicht bald die Verlobung proklamierst …«

Sie kam nicht zu Ende.

»Welche Verlobung? Das sagt ihr jetzt erst? Rose, erzähl doch, bitte!« so schwirrte alles durcheinander.

Nur auf Frau Theas Antlitz lag das Lächeln einer Wissenden.

»Ruhe im Saal!« rief der Geheimrat, »sonst erfahrt ihr überhaupt nichts!«

»Aber, Vater!« Rose war in die Höhe geschnellt.

»Ruhe!« klang es noch einmal.

»Ja, ja, wir sind schon still!« rief eine helle Stimme.

»Also, Kinder – Professor Schumann hat sich verlobt!«

»Professor Schumann?«

Enttäuschung, Unkenntnis malte sich in den jungen Gesichtern. Die kleine Jutta, Frau Theas liebliches Ebenbild, gähnte verstohlen.

»Änne, du hast ihn gesehen, als du vor einem Jahre bei uns warst,« flüsterte Lilla ihrer Freundin, Astas jüngerer Schwester zu. »Erinnerst du dich nicht des berühmten Augenarztes, der eben seine Frau verloren hatte?«

Änne hatte keine Ahnung mehr.

»Mit wem denn, Herr Geheimrat?« fragte Juttas Erzieherin, Fräulein Konrig, ein feines, sympathisches Mädchen, Mitte zwanzig.

»Mit meiner Schwägerin!«

Jetzt brach der Sturm los.

»Was, mit Tante Maria?«

So hieß sie auch bei den jungen Gästen, die Fräulein von Salten im vergangenen Jahr in der Heide kennen gelernt und der Reihe nach angeschwärmt hatten. Ganz nach alter Backfischmode, die eigentlich gründlich passée war, aber Maria von Salten bezauberte, was ihr in den Weg kam. Kein Wunder, daß der Professor diesem Scharm erlegen, – in dem Punkte waren die Männer sich alle gleich.

Jutta hatte ihren Stuhl dicht an den ihrer Mutter gerückt und das dunkle Lockenköpfchen an ihre Schulter gelehnt. Ihre großen braunen Augen hingen traumverloren an dem roten Heidestrauß, der die Tafel schmückte.

»Vater,« sagte sie endlich, »wird Tante Maria dann Augenärztin?« – Alles lachte.

»Nein, mein Püppchen,« antwortete Händler, »das wird sie nicht. Dazu hat sie zu viel anderes zu tun. Aber sie wird Ehrengards Mama, darüber freust du dich doch?«

Sein Blick ruhte warm auf dem schönen Kinde, dem einzigen, das Thea ihr eigen nannte.

»Tante Maria gibt ihre Kunst auf, könnt ihr das verstehen?« rief Rose, die für sie interessanteste Seite der Sache beleuchtend.

Verwundertes Schweigen.

Die jungen Gäste wagten ihre Ansicht vor der Hausfrau nicht laut werden zu lassen. Frieda philosophierte im stillen über die Handlungsweise ihrer Tante, welche ihr sehr berechtigt erschien. Lilla schwieg aus Respekt. Nur Jutta fragte, ob Tante Maria denn nie wieder Märchen schreiben wolle.

»Doch, Liebling, wenn du sie sehr bittest, aber …«

»Ich denke, wir stehen jetzt auf,« sagte die Hausfrau. »Jutta kommt so wie so viel zu spät ins Bett, und ihr zwei werdet reisemüde sein!« Sie nickte Mann und Tochter zu und erhob sich.

Der Hausherr sprach das Dankgebet. Dann ging alles ins Freie.

Aus der Heide stiegen die Nebel auf, zart und duftig. Gleich feinen weißen Spitzenschleiern hingen sie in Busch und Baum. Riesenhafte Wacholder standen, einem spähenden Wanderer gleich, über den nahen Waldweiher geneigt. In den reglos stillen Herbstabend streckten die Kiefern ihr schwarzes Geäst. – –

Denn mit weicher Hand und titanenhafter Gestaltungskraft, mit einer Phantasie, die der Tag nicht kennt, formt die Nacht ihre seltsamen Gebilde. Einem französischen Garten gleich, liegt ihr barockes Werk nebelumsponnen im Mondlicht. Silhouettenhaft hebt sich eine Gruppe eifrig flüsternder Gestalten vom Nachthimmel, – die naschhaften Schnucken haben die Zypressen tagsüber unten kahl geschoren, so daß man die Stellung der Füße, den Wurf der Gewandung zu sehen glaubt. Weiter ab träumt eine Heidekapelle, von dunklem Hauslaub dicht umsponnen, – ein liebliches Trugbild des Wacholders.

Und kein Laut ringsum. Tiefer Friede über den Höfen.

Schweigend sitzen die Menschen vor den Türen. Es ist kalt, aber die Wunder der Heidenacht bezaubern die Sinne.

Eines Wanderers Schritt geht über den hallenden Boden. Glockenhell klingt das schöne, alte Lied des Wandsbecker Boten durch die feiernde Stille:

»Der Mond ist aufgegangen,
Die güld'nen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar!

Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, laß dein Heil uns schauen,
Auf nichts Vergänglich's bauen,
Nicht Eitelkeit uns freu'n!
Laß uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein.«

Fern in der Heide war der letzte Ton verklungen. ›War das der Hallore?‹ fragte eine Stimme im Schatten der Hofreite.

Keine Antwort kam – die Zeit mochte an die Läden gepocht haben, das Jahr, das sich still zum Abschied zu rüsten begann.

Um den First des Hauses, wo die letzte Schwalbe gesungen, wehte ein Lüftchen. Unten träumte die Heide. Es war, als rüste sich die Natur zum Gebet. Um Glauben und Frieden, um Vaterlandsliebe und Kraft! Daß das deutsche Volk seiner höchsten Güter nicht vergesse! Daß das Lied, das der Wanderer der Heide gesungen, sein kostbares Erbteil verbleibe!

Dann ging sie schlafen. Nur die Nacht schritt lautlos durch die purpurnen Felder und des Vollmonds silberner Glanz lag über der heiligen Schwelle der Heimat.

Der Tag brach an. In rosenroter, taufrischer Schönheit lag die erwachende Heide, – ein Bild aus Glanz und Glut und Herrlichkeit gewoben.

Weithin leuchtete der Bronzeton des Moränenlandes, und der silberne Sandweg schlängelte sich durch das Kraut. Zart und scharf die zerrissene Kiefernsilhouette, sanft und leicht die Horizontlinie, goldgelber Ginster, ein weiß blühendes Buchweizenfeld hinterm Immenstand, vom ewig wechselnden Spiel des Sonnenlichtes umflirrt, – das alte Bild und doch ein neues. Die Freude am Intimen weckte es, zur Kleinmalerei lockte es den Künstler, zum Studium der Type. Heut ist's ein rosenumsponnener, halb verfallener Schafstall, morgen ein malerisch am Waldbach ruhender Stein, übermorgen der weißhaarige Heidjer, der wie ein Kleinkönig auf den altererbten Besitz blickt: ›Dat is all min!‹ Den sein Königsgefühl selbst den Tausch eines armseligen Ackerstückes trotzig ablehnen läßt: ›Dat heft wie jümmer so hatt!‹ – – –

Frau Thea zog die weißen Vorhänge zurück und öffnete leise ein Fenster. Ihr Mann schlief noch.

Entzückt ruhte ihr Auge auf der morgenschönen Landschaft. Für sie gab's nichts Lieblicheres als die Heide. Jeder größeren Reise mit ihren neuen Eindrücken zog sie den stillen Aufenthalt im Lüneburger Land vor. Denn die wunderbare Type, welche die feine, zarte Stimmung hervorzauberte, stand einzig da. Wie schlicht waren ihre Mittel, wie grandios wirkten sie: Birken und Wacholder am roten Feldrain, schwarzblauer Kiefern krauses Geäst, goldglühender Ginster, eines Sandwegs schmale Spur, der Hof des Heidjers mit der nistenden Schwalbe und dem Hausspruch über dem Eingang – wenig Gegenständliches, aber ein urdeutsches Bild, dessen einfachen Motiven eine seltene wurzelechte Kraft inne wohnte: Licht, Farbe, Silhouette. Kein Mensch hatte hier die Hand im Spiel. Darin lag das Unmittelbare, Überweltliche dieses stillen, verträumten Erdenwinkels.

Die Herbstluft strich kalt zum Fenster herein. Eine Stimmen klangen.

Da fuhr der Städter droben aus dem Schlaf. Vor ihm stand sein Weib, die schlanke Gestalt vom langen, dunklen Haar umflossen.

»Schlaf' wieder ein, Karl Heinrich,« bat sie. »Es ist erst fünf. Du mußt dich in den paar Tagen gründlich ausruhen.«

»Warum stehst du denn auf?« fragte er.

»Ich?« Sie sah zum Fenster. »Ich stehe hier immer um fünf auf. Die Heide ist dann am schönsten. Außerdem fahren die Rilleschen Töchter und ihre Freundinnen um sechs fort. Ich habe Rose und Lilla erlaubt, sie zu begleiten. Sie essen dann bei Rilles in Lüneburg und kommen heute abend zurück. Fräulein Konrig fährt auch mit. Du hast doch nichts dagegen?«

»Nicht das Geringste! Aber daß ich hier oben diesen wunderbaren Herbstmorgen verschlafen soll, ist eine unglaubliche Idee, lieber Schatz, daraus wird nichts!«

»Ich hätte es mir denken können,« lachte sie und trat vor den Spiegel. In fünf Minuten war das prachtvolle Haar zur Flechtenkrone aufgesteckt. »Wenn ich hier einen Ankleideraum hätte, wärst du gar nicht gestört worden,« sagte sie, als sie bald darauf im kurzen Lodenrock und leichter Bluse das Zimmer verließ.

»Ich bin froh, daß ich aufgewacht bin!« rief er ihr nach. – –

Unten labte sich die Jugend an den Erzeugnissen des Landes, frischer Milch, Schwarzbrot und Heidehonig. Wie ein duftiger Rosenkranz saßen acht junge Mädchen um den gedeckten Tisch auf der getäfelten Diele: Rose und Lilla Händler, Fräulein Konrig, Asta und Änne Rille, welche mit ihren Eltern bei Verwandten in Lüneburg zum Besuch waren, zwei Cousinen der letzteren und eine sehr niedliche Freundin der Händlerschen Jugend, Malve Petri, die sich für den akademischen Beruf vorbereitete. Frieda und die kleine Jutta, die länger schlafen sollten, fehlten.

Als Frau Thea eintrat, war eine sehr lebhafte Debatte über die Saltensche Verlobung im Gange. Gestern abend hatte die Gegenwart der Eltern allgemeine Enthaltsamkeit auferlegt. Jetzt war man unter sich, und die modernsten und allermodernsten Ansichten über das seltsame Ereignis, das in seinen Einzelheiten eine höchst prägnante Stellung zur Frauenfrage einnahm, kamen ungehindert zum Ausdruck.

»Nimm's nicht übel, Lilla, es ist eure Tante, und ich finde sie entzückend, – aber diese Verlobung ist wirklich ein Stückchen!«

Mit dem ernsthaftesten Gesicht lehnte sich die achtzehnjährige Änne zurück und wippte, die Stirn in Falten ziehend, auf ihrem Stuhl hin und her.

»Änne, sei nicht so naseweis,« rief die ältere Schwester ärgerlich. »Dieser Ton kommt dir nicht zu! Es würde dir übel ergehen, wenn Vater hier wäre!«

»Wenn!« Die Kleine zuckte die Achseln. »Erstens ist Vater nicht hier, und zweitens brauchst du dich nicht als Gouvernante aufzuspielen. Du verstehst auch nicht mehr von der Frauenfrage wie ich. Aber das wirst du mir zugeben müssen, daß es eine Sünde ist, ein solches Talent um der Ehe willen aufzugeben. Das ist schon mehr wie altmodisch!«

»Ich räume offen ein, daß Fräulein von Saltens Entschluß mir unverständlich ist,« erwiderte Asta, »aber deshalb benehme ich mich noch lange nicht wie ein Backfisch, der die Pension hochnötig zu haben scheint!«

Jetzt sprang die kleine Frauenrechtlerin auf. »Asta, bitte, werde nicht frech!« rief sie drohend.

Asta lachte und strich sich in aller Ruhe eine Honigscheibe. »Sorg' du nur erst für dein Frühstück! Wenn wir zu Hause sind, will ich dir ein Buch über die Kulturaufgaben der Frau geben. Das scheint mir sehr nötig zu sein!«

Änne ballte eine Faust. »Ja, warte, wenn wir zu Hause sind!«

»Liebe Kinder, zankt euch nicht!« rief Lilla, »bedenkt, der Abschied naht! Änne, ich glaube übrigens auch, du kannst diese Dinge noch nicht ganz beurteilen. Das Heiraten ist doch eine besondere Sache. Man weiß vorher nicht, wie man sich selber einmal benehmen wird, wenn man den betreffenden Mann sehr liebt. Deshalb würde ich mich vor verfrühtem Urteil hüten!« Befriedigt lehnte sich die junge Weisheit zurück.

»Regt euch nicht auf um Probleme, die ihr nicht lösen könnt,« rief Rose, welche sich bisher in Schweigen gehüllt, über den Tisch. »Die weibliche Psyche ist, wie wir wieder sehen, unberechenbar. Sehr viel spricht da auch die Weltanschauung mit. Ich für mein Teil brächte es zum Beispiel aus ethischen Gründen nicht fertig, einen Beruf, in dem ich zum Wohl des Ganzen etwas leiste, aufzugeben, um zu heiraten!«

»Rose, Rose!« unterbrach Lilla die Schwester, »noch ist nicht aller Tage Abend.«

»Du weißt doch, wie oft ich schon nein gesagt habe!«

»Weil der Rechte noch nicht gekommen ist!«

»Der Rechte?« Rose zuckte überlegen die Achseln. »Erst kommt die Arbeit, wie sie auch heiße, – dann die Liebe!«

»Abwarten, Tee trinken!« mischte sich Malve Petri in die Debatte.

»Die läßt sich doch nicht einfach beiseite schieben,« meint« Fräulein Konrig.

»Beiseite schieben?« rief Rose temperamentvoll. »Eine Persönlichkeit kann, was sie will. Außerdem sehe ich nicht ein, warum ich als kräftiger, junger Mensch nicht zwei Berufe vereinigen soll. Tante Marias Heirat ist ein anderer Fall. Ich bedauere ihren Entschluß, weil ein großes, schönes Talent dadurch zugrunde gehen wird. Denn so, wie ich Tante Maria in ihrer großen Pflichttreue kenne, glaube ich bestimmt, daß Mann und Kind stets allem anderen vorgehen werden, und was bleibt dann übrig? Ein paar Skizzen, wenn's hoch kommt, eine Novelle, – der große, zeitgeschichtliche Roman aber, Tante Marias Stärke,« – sie zuckte die Achseln – »der wird dran glauben müssen! Denn sie ist allerdings zu zart für beides, auch wird ihr die Zeit für solch umfangreiche Arbeiten später fehlen. Ich möchte sagen: im Schumannschen Hause mehr, wie in jedem anderen. Aus diesem Grunde hätte speziell Tante Maria lieber das Zölibat erwählen sollen.

Man kann da eben nur von Fall zu Fall urteilen. Die Frage ist, wie ich schon sagte, ein Problem und wird es bis zu einem gewissen Punkte vielleicht immer bleiben. Ich für mein Teil kann nur immer wieder sagen, daß ich mir mein späteres Leben ohne berufliche Tätigkeit nicht denken kann. Aber – wat den enen sin Uhl is, is den annern sin Nachtigall!«

Donnerndes Trampeln unter dem Tisch dankte der Rednerin für ihre Worte.

Würdevoll verneigte sie sich.

»Rose, du sprichst ja wie ein Buch!« rief Asta.

»Ich habe ja auch viel gelesen,« erwiderte die angehende Medizinerin.

Lillas Mundwinkel zuckten.

Unten am Tisch zog Malve Petri ihr Taschentuch hervor.

Rose merkte es. »Jedenfalls mehr als ihr alle zusammen!« sagte sie spitz und goß sich ein Glas Milch ein.

Im selben Augenblick öffnete sich die Tür, und Frau Händler erschien auf der Schwelle.

Die jungen Mädchen schnellten von den Sitzen.

»Was geht denn hier vor sich?« fragte sie freundlich.

Asta Rille küßte ihr die Hand. »Wir statteten unserem verehrten Professor unseren akademischen Dank ab, gnädigste Frau,« erwiderte sie mit einem Blick auf Rose.

Thea lachte.

Töchter und Gäste umringten sie. Jedes wollte sie zuerst begrüßen.

Und dann saß sie wie ein junges Mädchen lachend und scherzend unter der Jugend, trotz ihrer fünfundvierzig Jahre immer noch die Hübscheste in dem anmutigen Kreise. Nur Roses auffallende Schönheit stellte alles in den Schatten. Aber Frau Theas Bild bedurfte keines besonderen Schmuckes. Die lieblichen Züge der glücklichen Frau und Mutter spiegelten die Seele wider. ›Sommerzeit möcht' ich unter dies Porträt setzen!‹ hatte der junge Künstler geäußert, als er Geheimrat Händler das eben vollendete Pastellbild seiner Gattin übergab.

Draußen fuhren die Ponys vor. Lilla sprang auf. »Kinder, habt ihr bald fertig getafelt? Der schöne Morgen geht sonst hin.« Sie trat in die offene Tür. »Eine kann neben Franz sitzen und zwei hinten. Die andern müssen gehen. Wir wechseln uns natürlich ab. Mit unseren faulen Ponys halten wir leicht Schritt.« Sie wandte sich an ihre Mutter: »Wenn Franz hier bliebe, hätten wir ja einen Platz mehr. Ich kann sehr gut kutschieren.«

Thea schüttelte den Kopf. »Nein, Kindchen, das geht nicht. Der Weg ist zu lang und einsam.«

»Schade,« meinte Lilla.

Fünf Minuten später war alles im Aufbruch.

Unter dem Hauslaub auf den Steinstufen stand die Zurückbleibende und winkte den Scheidenden glückliche Fahrt.

Halb umgewandt saß Lilla auf dem Strohsack und ließ ihr Tüchlein flattern.

»Sieh mal das hübsche Bild, Asta,« – und sie wies auf das efeuumsponnene Haus mit seinen hellen Fenstern und der Frauengestalt auf der heideumblühten Schwelle.

Asta nickte. »Schade, daß man das nicht gleich malen kann! Die Stimmung ist unvergleichlich!«

Und fort ging's, der hellen Sandspur nach, durch den stillen Kiefernwald und den duftenden Ginster.

Geheimrat Händler saß neben seiner Gattin auf der weißgestrichenen Bank vor dem Hause. Über seiner Zeitung kräuselten sich die Wölkchen einer Importzigarre. Seine Frau stickte. Immen summten in der blauen Luft. Die Heide träumte im Mittagszauber.

Frau Thea ließ die Arbeit sinken und blickte versonnen über die roten Felder. Warum herrschte dieser Frieden nicht überall auf Erden? Die Wochen, die sie im Lüneburger Land verlebte, waren eine Ferienzeit für sie, da nicht nur der Leib ausruhte. Die Seele badete in Sonnenglanz und Feierstille, die Sinne wurden angesichts der weltfremden, wundersamen Herrlichkeit frei, – es war ein Ausruhen und Einsammeln, das für das ganze Jahr köstliche Früchte trug.

Draußen ward ihr Auge gefesselt. In der Erika huschte ein kleiner, weißer Punkt hin und her.

Über ihr Antlitz ging ein glückliches Lächeln.

Unverwandt blickte sie, die Hände im Schoß, den feinen Kopf an den Stamm der Linde gelehnt, auf das emsig pflückende Kind.

Und dann kam's mit großen Sätzen, im flatternden Hängerkleidchen den Sandweg entlang, gerade auf Vater und Mutter zu. Mit glühenden Wangen, das dunkle Lockenhaar verwirrt, das Schürzchen voller Blumen, stand der Wildfang da.

»Mutti, die sind für dich!« Sie schüttete Frau Thea ihre Schätze in den Schoß. »Ich hol' noch mehr! Darf ich den Tisch schmücken?« und fort war sie.

Händler hatte die Zeitung sinken lassen und blickte der hellen Gestalt seines Kindes nach.

»Die denkt wenigstens noch nicht an Studieren!« sagte er, das Blatt zusammenlegend, mit einem Seufzer.

Thea schwieg. Ihre Augen folgten ihrem Liebling.

»Hätte mir einer vor dreißig Jahren das Weltbild von heute entworfen, ich hätte geschworen, es sei verzeichnet,« fuhr ihr Mann fort. »Und jetzt? Ich möchte sagen: Alles ist selbstverständlich! Der Hosenrock, der perverseste Monismus, die unglaublichsten Zustände auf allen Gebieten. Eine goldene Mittelstraße gibt es nicht, denn im Gemäßigten steckt schon der Keim der Dekadenz. Ich bin neugierig, wie weit wir noch kommen! Übrigens, – wo hatten die Mädels gestern die Studentengarderobe her?«

»Die Rilleschen Töchter haben neulich auf einem Polterabend ein kleines studentisches Lustspiel aufgeführt, daher stammten die Sachen. Ich ahnte nicht, daß Asta sie mitgebracht hatte. Nur Lilla war eingeweiht. Warst du sehr chokiert?«

»Was hätte mir das genützt? Ich würde allerdings nicht sehr erbaut sein, wenn Rose und Lilla sich im Hallorenwichs vor fremden Herren zeigten, aber mein Himmel! es ist der Geist der Zeit, – und schließlich, ich bin ein alter Philister, der Asta als Kind gekannt. Man darf nicht engherzig sein! Solange ich sie nicht im Hosenrock bei Kempinsky treffe, will ich Gnade für Recht ergehen lassen.«

»Sie war bildhübsch im Wichs!« sagte Thea.

»Reizend, aber das wußten wir auch!«

Beide schwiegen. Endlich begann Händler aufs neue: »Ich möchte einmal mit dir über Rose sprechen, Thea. Sie macht mir Sorge. Ich fürchte, durch meinen Grundsatz, der werdenden Persönlichkeit volle Freiheit zu lassen, mitschuldig geworden zu sein, wenn das Kind in ein verkehrtes Fahrwasser geraten ist. Ich weiß, du warst in dem Punkt nie ganz meiner Ansicht, obgleich du mir nicht direkt widersprochen hast.«

»Ich habe dir nicht widersprochen, Karl Heinrich,« sagte Thea sanft, »weil ich mir sagen mußte, du habest bedeutend mehr Erfahrung als ich. Mein Urteil entsprang nur meinem persönlichen, weiblichen Empfinden. Ich glaube, daß die moderne Frau mit der Weiblichkeit auch sehr oft die Religion verliert, besonders die eben der Hut des Elternhauses Entwachsene. Sie wird durch Studium, Umgebung und den Wirrwarr der herrschenden Weltanschauungen in ein ganz neues Milieu versetzt, das sie, ohne daß sie es ahnt, umbildet und die Tendenzen des Elternhauses als rückständig hinstellt. Die Vielseitigkeit auf ethischem und religiösem Gebiet wirkt schon auf einen älteren Menschen faszinierend, wie viel größerer Gefahr ist die Jugend ausgesetzt, die unerfahren und wissensdurstig alles Moderne für bare Münze nimmt. Ich meine deshalb nicht, daß man einen Menschen wie Rose ganz von dergleichen Dingen zurückhalten soll. Deine Ansicht von der freien Entwicklung der Persönlichkeit halte ich im Prinzip für richtig, zumal du dir stets die Zeit nimmst, an der Weiterbildung deiner Töchter zu arbeiten, und gerade Rose könnte dir am wenigsten Vorwürfe machen. Du hast keine Gelegenheit unbenutzt gelassen, um ihr einen klaren Gesamteindruck über die heutigen Weltanschauungen zu geben. Aber da du mich fragst, lieber Mann, sage ich ganz offen, daß ich ihr an deiner Stelle manchmal den Brotkorb etwas höher gehängt hätte. Sie ist noch jung und würde bei ihrem raschen Auffassungsvermögen das Versäumte bald nachgeholt haben. Reifer geworden, würde sie vieles auch mit anderen Augen ansehen. Ich hoffe, du mißverstehst mich nicht, Karl Heinrich! Selbstverständlich meine ich nicht, daß erweitertes Wissen auf religiösem Gebiet die Frau in Verwirrung und Glaubenslosigkeit zu treiben braucht – die Gefahr liegt meines Erachtens, besonders für ein ungefestigtes junges Mädchen, in dem Vielerlei unserer Zeit. Was nennt sich zum Beispiel alles Monismus, und welche Ansprüche erhebt diese Weltanschauung! Allein Eduard von Hartmanns Theorie mit ihrer unleugbaren Hinneigung zum Theismus erscheint mir gerade dadurch wie ein lockender Sirenengesang. Das Hauptunglück ist meiner Ansicht nach Wien gewesen. Wir waren vielleicht zu vertrauensselig und hätten damit rechnen müssen, daß ein christliches Haus sich im Milieu einer Großstadt in einem Zeitraum von drei Jahren unter Umständen in ein monistisches verwandeln kann. Aber wer kommt darauf? Ich glaube, wenn diese Zeit nicht gewesen wäre, stünde es nicht so schlimm, wie es steht. Begreifen kann ich Rose aber doch nicht. Wenn sie auch noch jung ist, konnte sie doch wissen, was sie am Christentum hat.«

»Sie ist noch durch keine große Not gegangen, es ist noch nicht ihr persönlicher Besitz,« sagte ihr Mann.

Sie nickte. »Ja, das ist wahr! Und doch – wenn ich zum Beispiel an das apologetische Seminar in Wernigerode zurückdenke, – was konnte man da mitnehmen! Und welche Macht zur Verteidigung unserer höchsten Güter empfängt man bei solchem Erleben!« Ihre Wangen glühten, die dunklen Augen strahlten.

Mit Entzücken ruhte sein Blick auf ihr. Ganz Weib, ganz Mutter, und doch die Seele den höchsten Fragen des Lebens geöffnet – das war seine Frau. Und in solchen Augenblicken, wo sie ihm ihr Herz weit auftat, liebte es Karl Heinrich Händler, ihr still, ohne Einwurf zuzuhören.

»Leider stößt man ja neuerdings oft auf Widerspruch,« fuhr sie lebhaft fort. »Ich habe noch kürzlich einer Dame gegenüber diese Kurse verteidigt, die mir, als ich ihr ein apologetisches Buch empfahl, antwortete: ›Dann lese ich doch lieber ein Andachtsbuch!‹ Ja, das ist eben etwas ganz anderes, und die Antwort zeugte von größter Unkenntnis! Ich kann wohl sagen, selten hat etwas befestigender und glaubenstärkender aus mich gewirkt, als die Hunzingerschen Vorträge über das Wunder. (Drittes apologetisches Seminar in Wernigerode 1911.) Noch heute freue ich mich, daß wir uns diesen Genuß nicht entgehen ließen und lieber ein paar Touren aufgaben.«

Er nickte. »Ja, es war gut, daß Pfortens darauf drangen, daß wir hingingen. Ich hätte es sonst vielleicht auch nicht gerade in den Ferien getan.«

»In solchen Stunden bedauere ich immer nur, daß ich kein Gelehrter bin,« fuhr Thea fort. »Wir Frauen urteilen immer zu subjektiv, weil uns die wissenschaftliche Grundlage fehlt. Im günstigsten Falle schöpfen wir die Creme ab und können uns freuen, wenn wir einen kleinen Teil mit nach Hause nehmen, und das, was wir verstanden haben, wirklich ein Erleben für uns bedeutet!«

»Schade, daß nicht alle Frauen so vernünftig denken,« sagte Händler. »Die meisten erklärten damals, alles verstanden zu haben. Ich möchte dagegen sagen: die Frau, welche das behauptet, hat überhaupt nichts verstanden. Denn gewisse Partien waren viel zu theologisch und viel zu philosophisch, um von einem Laien verstanden zu werden.«

»Natürlich, Karl Heinrich. Eine andere Auffassung würde für mich eine innere Unwahrheit sein. Aber das, was ich verstanden habe und was mir durch die Diskussion und durch deine Erläuterungen zu einem immer klareren Bilde wurde, möchte ich lebenslang nicht missen. Ich habe damals nicht nur wie ein Schulkind etwas dazu gelernt, ich habe etwas erlebt. Wie rückte zum Beispiel jener kurze Ausspruch die Wunderfrage in das rechte Licht: ›Das Wunder ist das Erlebnis der Offenbarung Gottes!‹«

»Ja,« sagte der Geheimrat, »wir dürfen nur die Bezeichnung ›Erlebnis‹ nicht mißverstehen. Hunzinger zeigte in schöner Weise, daß das Wunder einerseits in keinem Widerspruch zu den Naturgesetzen steht, andererseits aber das Privilegium des Glaubens ist. ›Das Wunder ist,‹ um seine Worte zu gebrauchen, ›das Aktuellwerden der göttlichen Heilsoffenbarung an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit.‹ A. W. Hunzinger, Das Wunder. Quelle und Meyer, Leipzig 1912. Das Heilswunder ist da, aber ich sehe es nur mit den Augen des Glaubens. Glaube aber ist Gnade. Wer diese Gnade nicht ergreift, lehnt das Wunder nicht nur ab, sondern ist auch außerstande, es als solches zu erkennen. Es ist da und bleibt da, ob er es glaubt oder nicht, aber er hat keinen Teil daran, er kann es nicht erleben und geht des Segens verlustig. Es ist kein Wunder für ihn. Ich möchte diesen Menschen, die so siegesgewiß die göttliche Heilsoffenbarung ablehnen und das Mysterium des Glaubens vom Wissen abhängig machen wollen, immer zurufen: Ihr setzt eure Ewigkeit aufs Spiel – auf eigene Verantwortung!«

Thea nickte still zu seinen Worten.

»Frieda sagte mir neulich,« begann sie endlich, »sie hätte damals längere Gespräche mit Rose über die Vorträge gehabt und sei auf starken Widerspruch gestoßen. Sie hätte die Grenzen historischer Feststellbarkeit ja nicht leugnen können, habe aber immer wieder beanstandet, daß dieselben nicht die Grenzen historischer Geschehensmöglichkeit seien. Schließlich habe sie dem Historiker die Pflicht abgesprochen, Fragen, die keine Methode zu beantworten vermag, offen zu lassen. Ich habe dies alles erst hier erfahren, sonst hätte ich es dir natürlich längst gesagt. Denn es läßt doch leider recht tief blicken!«

Händler fuhr auf. »Was weiß Rose davon! Es ist unglaublich, was junge Mädchen sich heutzutage für ein Urteil über wissenschaftliche Fragen erlauben! Was sie nicht verstehen, fällt einfach fort. Selbst bei einem das Durchschnittsmaß übersteigenden Verständnis, welches man Rose nicht absprechen kann, zeugt dies doch von einer starken Portion Selbstüberhebung. Es ist wirklich etwas viel, und ich hatte es nicht erwartet!« Ärgerlich warf er die Zeitung auf den Tisch. »Ein zwanzigjähriges Mädchen maßt sich ein Urteil über unseren hervorragendsten Apologeten an! Das kommt nur von der verfluchten Monisterei! Die klarsten Köpfe verwirrt sie mit ihren Trugbildern! Du hast ganz recht, der Einfluß in Wien war das Schlimmste! Durch Schumann, der Lenk von früher kennt, hörte ich neulich zufällig, kurz bevor ich her kam, er sei ausgesprochener Monist. Ebenso soll die Frau die Hartmannschen Theorien mit großem Enthusiasmus vertreten. Wie ist es menschenmöglich, wenn man an Margot Lenks Elternhaus denkt!« Er strich sich über die Stirn. »Es ist wirklich eine Kunst in unserer Zeit, seine Kinder zu erziehen! – Die Theorie, einen erwachsenen Menschen ungehindert ausreifen zu lassen, scheint mir nach wie vor richtig. Die Persönlichkeitsfrage ist heutzutage zu stark entwickelt, sie will voll gewürdigt werden, hat auch vieles für sich, – und doch – wenn die Praxis solche Früchte trägt?« Er zuckte die Achseln. »Ich werde mit Rose sprechen.«

Seine Frau legte ihre Arbeit zusammen. »Kommst du noch etwas mit in die Heide?« fragte sie, neben seinen Stuhl tretend. »Es ist noch eine Stunde Zeit vor dem Essen.«

Er antwortete nicht gleich. Seine Gedanken waren bei dem Kinde, dessen kühner Geist in Gefahr stand, sich in der kalten Gletscheratmosphäre einer ziellosen Weltanschauung zu verlieren. Ein Zug tiefer Sorge stand auf der freien Stirn, als er sich erhob.

Sie aber wollte diese Sorge aus seiner Seele bannen. Den Arm in den seinen legend, schritt sie mit ihm in den hellen Mittag hinaus. Dort saß Jutta zwischen blühenden Ginstersträuchern und die Falter gaukelten über dem purpurnen Grund.

Die Freude am Schönen erwachte. Die Liebe zur Natur und ihrer Herrlichkeit.

Und eine treue Hand lag warm und fest in der seinen. Die hatte der Sorge die Tür verschlossen, – ein paar sonnige Heidetage lang.


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