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Dritte Abteilung


 

1.

Als Frau Margueritte ihre Enkelin zu sich heimkehren sah, sagte sie nichts; aber Helene begriff wohl, daß es, wenn sie sich nicht offen aussprach, nicht deshalb geschah, weil sie keine Bemerkungen zu machen, keine Einwendungen zu erheben gehabt hätte.

Aus den halben Worten, aus den Anspielungen, welche die alte Frau bei ihrer bäuerischen Vorsicht und Rückhältigkeit fallen ließ, erriet Helene nicht unschwer, was sie zu bemerken und einzuwenden hatte.

Ihr war unverständlich, daß ihre Enkelin derart in Schrecken versetzt werden konnte; denn Helene hatte, wenn sie auch nicht die volle Wahrheit eingestand, ihr doch erzählen müssen, daß sie Courtomer verließ, um nicht den Nachstellungen Guiscards ausgesetzt zu sein. Ihrer Ansicht nach waren solche Nachstellungen nicht so bedenklich; zwei oder drei tüchtige Ohrfeigen würden dem Herrn Grafen von Courtomer den Kopf zurecht gesetzt haben, und wenn er gesehen hätte, in welcher Weise man ihn empfangen, so würde er sich das haben gesagt sein lassen; wenigstens hätten in ihrer Jugendzeit die Dinge einen derartigen Verlauf gehabt.

Und beinahe noch weniger faßbar war ihr, daß man in einer Lage, wie Helene war, so sehr empfindlich und stolz sein könne: die Reichen mögen die Nase hoch tragen; aber die Armen hätten ihren Rücken zu krümmen.

Für Helene war es kein geringer Kummer, sich in dieser Weise getadelt zu fühlen; ihr würde so wohl gethan haben, wenn sie Zustimmung und Lob und dadurch eine Erleichterung gefunden hätte, um nicht allein die Verantwortlichkeit für diese Lage, welche die Umstände und nicht ihr Wille geschaffen, tragen zu müssen.

Gleichwohl erwähnte sie hiervon zu ihrer Großmutter nichts, nahm sie ihre Anspielungen, ohne etwas zu entgegnen oder sich zu beklagen, hin. Was sie gesagt hätte, würde vielleicht nicht verstanden worden sein: eine alte Frau hat eine andere Anschauungsweise als ein junges Mädchen; eine Bäuerin besitzt nicht das Zartgefühl, welches die Frucht der Erziehung und des Lebens in der Gesellschaft ist; endlich war die arme Großmutter unglücklich genug, um das Recht zu haben, nicht gerecht oder billig zu beurteilen, und bloß die Pein der gegenwärtigen Not in Betracht zu ziehen.

Überdies hatte Helene etwas Besseres zu thun, als sich zu verteidigen oder zu kränken: sie mußte sich nach einem Erwerbe umsehen, ihren früheren Plan betreffs des Lehrfaches wieder ausnehmen, und das nahm sie vollauf in Anspruch; war es schon vor ihrem Eintritte in das Schloß Courtomer schwierig gewesen, so war es dies jetzt in noch höherem Grade geworden.

Weshalb hatte sie denn diese Stelle, die doch sicherlich eine einträgliche, herrliche für sie war, aufgegeben? Jedermann stellte sich diese Frage. Hatte sie denn ein etwas unfügsames Wesen? Oder erhob sie wohl Ansprüche, die man nicht erfüllen konnte? Oder hatte es sonst ein Häkchen …? Man trat mit einer Menge von Fragen an sie heran, und sie vermochte nicht viel zu antworten, vielleicht noch weniger auf die, welche von Wohlwollen zeugten, als auf jene, woraus Böswilligkeit zu entnehmen war.

Dem Professor Bonjean hatte sie die Wahrheit oder mindestens einen Teil der Wahrheit – denn die Scham verwehrte ihr, alles zu sagen – einbekennen müssen; aber auch bei ihm stieß sie fast auf die nämliche Tadelsucht, wie bei ihrer Großmutter.

»War es denn nötig,« – meinte er – »derart scheu zu werden und den Kopf zu verlieren? Ein anständiges Mädchen vermag sich immer Achtung zu verschaffen! Wenn Guiscard auch ein nichtsnutziger Schüler gewesen, so sei er doch ein Edelmann, besitze er feine Lebensart! Und dann verdiente doch eine solche Stelle, daß man sich, um sie zu behalten, Opfer auferlege! Wo ließe sich eine ähnliche finden? Was ihn beträfe, so wüßte er keine, und zudem könnte er nach dem eben Vorgefallenen wahrlich nicht wagen, einen abermaligen Versuch in dieser Richtung zu machen; denn endlich übernähme er hierbei eine Verantwortlichkeit. Alldies wäre wirklich sehr bedauerlich!«

Er hielt inne, aus Höflichkeit, aus Mitleid, denn er hatte noch ein anderes Wort auf der Zunge: »Alldies wäre sehr lächerlich!« Doch war er so schonungsvoll, es nicht fallen zu lassen.

Da Helene von dem Professor nichts zu erwarten hatte, so wandte sie sich an Herrn Malatiré, den Schulinspektor, der, als sie ihr Ansuchen bei ihm vorbrachte, sein Erstaunen nicht verhehlen konnte:

»Wie, Sie haben Ihre Stelle bei dem Herrn Marquis von Courtomer aufgegeben? Das nenne ich eine Überraschung!«

Doch sofort suchte er das Gesagte zu berichtigen:

»Dies will sagen, daß ich erstaunt bin, ohne eigentlich oder mindestens bis zu einem gewissen Grade überrascht zu sein. Ich bin erstaunt, daß Sie die Stelle aufgegeben. Andererseits würde es mich aber Wunder genommen haben, wenn Sie selbe behalten hätten. Denn … weil …«

Er brach ab, da es vielleicht unklug war, hierfür Gründe anzugeben, und von einem Nutzen konnte dabei schon gar keine Rede sein.

»Nun,« – fügte er rasch bei – »das mußte Ihnen widerfahren, wenngleich es nicht unumgänglich nötig gewesen. Jedenfalls befinden Sie sich jetzt in einer Verlegenheit; so viel ist sicher.«

Tatsächlich schien er froh zu sein, etwas Sicheres, das ihm einen festen Halt bot, ausfindig gemacht zu haben: offenbar befand sich Helene in einer Verlegenheit; das konnte nicht bestritten werden.

»Um aus dieser Verlegenheit,« sagte Helene, »zu gelangen, habe ich mir erlaubt, Ihnen mein Ansuchen in das Gedächtnis zurückzurufen und Sie um Ihre Unterstützung zu bitten. Wir gehen den Ferien entgegen; da werden Sie wohl manche Versetzung vornehmen?«

»Das wohl. Insoferne könnte ich Ihnen auch dienlich sein; doch muß ich sogleich hinzusetzen, daß Ihnen damit doch nicht gedient wäre.«

»Weshalb nicht? O ich bin nicht anspruchsvoll!«

»Das weiß ich; dennoch machte ich mir wahrlich ein Gewissen daraus, Sie für die offene Stelle in Vorschlag zu bringen; ja, ich vermöchte sie Ihnen nur anzutragen, um Ihnen zugleich von der Annahme abzuraten.«

Dessenungeachtet drang Helene in ihn.

»Kennen Sie Yvranches?«

»Yvranches-la-Folletiere?«

»Eine hübsche Gegend für den, der sich an Grasweiden nicht satt sehen kann; den Wiesen hat sie auch ihren Wohlstand zu verdanken, und nicht lange wird es dauern, daß derselbe durch Gewerbethätigkeit einen erheblichen Zuwachs gewinnt. Nun, die Gemeindevertretung von Yvranches hat für die ihr gehörige Mädchenschule, worin bisher Nonnen, sogenannte Schulschwestern, den Unterricht erteilt, die Anstellung einer weltlichen Lehrerin beschlossen. Die lieben Schwestern haben sich sehr verdient gemacht; es läßt sich wider sie gar nichts sagen. Allein die neue Gemeindevertretung, in welcher dank der Entwicklung der Industrie, wodurch eine große Anzahl von Arbeitern in diese Gegend, die bis in die letztere Zeit nur Ackerbau getrieben, gelockt wurde, die Fortschrittspartei das Übergewicht erlangte, hat sich für eine weltliche Lehrkraft erklärt. Mein Gott, es ist dies eine Ansicht, die offenbar sich gut verteidigen läßt, andererseits ist sie aber auch angreifbar. Glücklicherweise haben wir uns damit nicht zu befassen …«

»Und für diese Mädchenschule benötigt man also eine weltliche Lehrerin?« rief Helene voll Ungeduld, hierfür sich anzubieten, aus.

»Ganz richtig.«

»Ich bitte also darum.«

»O Einfalt der unerfahrenen Jugend! … wenn ich mich derart ausdrücken darf. Sie wähnen, daß die Dinge, weil die Gemeindevertretung sich für den weltlichen Unterricht ausgesprochen hat, einen glatten Verlauf nehmen werden? Das ist ein gewaltiger Irrtum, aus dem ich Sie sogleich reißen muß. Erstlich zählt der Gemeinderat für seine gegenwärtige Ansicht nur eine sehr geringe Mehrheit, und diese Mehrheit ist auch nur durch wenige Stimmen zustande gekommen. Daraus können Sie entnehmen, daß die Gegend in zwei Lager geteilt ist: auf der einen Seite stehen jene, welche den Unterricht bei den Schulschwestern belassen wollen, auf der andern jene, die eine weltliche Lehrerin fordern. Die Anhängerschaft der Nonnen besteht aus den Bürgern, den reichen Leuten, dem alten Yvranches, welchem Grund und Boden gehört; die Parteigänger für die weltliche Lehrerin sind die Vertreter der Arbeiterbevölkerung. Demnach muß es Ihnen klar sein, daß die Schulschwestern, bei so bewandten Umständen, durchaus nicht vom Flecke weichen wollen. Sie haben oder vielmehr man hat für sie ein großes und schönes Haus im Mittelpunkte des Marktes gemietet, worin sie nach den Schulferien ihren Unterricht wieder aufnehmen werden, wogegen die weltliche Lehrerin sich mit einem sehr beschränkten, armseligen Lokale, welches Eigentum der Gemeinde ist, wird behelfen müssen. Überdies wird aber auch der Kampf zwischen den beiden Mädchenschulen entbrennen. Sie erkennen doch die Gefahren, die aus solcher Lage erwachsen?«

»Mein Gott, nein, wenn jedes auf seinem Platze bleibt!«

»Wenn jedes auf seinem Platze bleibt, dann hätten Sie freilich recht! Aber niemand thut das, vielmehr macht jedes, wenn ich mich derart ausdrücken darf, Übergriffe, Ausfälle, mindestens in Zeiten des Kampfes. Und einen heißen Kampf, einen wahren Religionskrieg wird es absetzen, sowie die weltliche Lehrerin in Yvranches eintrifft. Ich frage Sie, mein armes Fräulein, was für eine Aussicht Ihnen damit eröffnet wäre?«

»Mein Brot auf ehrliche Weise zu verdienen, ohne mich in den Parteihader zu mischen.«

»Ist denn das möglich? Das macht ja das Elend unseres Lebens aus, daß man, wenn wir nicht für die einen sind, sofort uns anschuldigt, für die anderen zu sein. An jeder Partei ist doch etwas Gutes, nicht?«

»Gewiß.«

»Des Teufels ist nur, daß das, was bei den einen gut ist, bei den anderen als schlecht gilt! Wie soll man zwischen den Leiden hindurchsegeln? Ich habe mein ganzes Leben lang ein solches Verfahren beobachtet, alle Kräfte dafür eingesetzt; aber, um die Wahrheit zu sagen, ganz unter uns: ich habe dabei den Kompaß verloren. Wie würde es erst Ihnen, einem Weibe, ergehen? Was würden Sie thun?«

»Meine Pflicht.«

»Ja, aber das ist nicht so leicht, seine Pflicht inmitten von Leuten, die miteinander im Kampfe liegen, zu thun. Auf der einen Seite haben Sie die klerikale Partei, deren eigentlicher Führer der Pfarrer sein sollte, jedoch sein Kaplan ist, weil Seine Hochwürden, Herr Houel, der beste Mensch, den ich kenne, bloß Eine Sorge in diesem irdischen Jammerthale hat, nämlich: in Frieden zu leben, und er kleidet sie immer, wenn er jemanden empfängt, in das nämliche Sprüchlein: »Vor allem nur keine Verdrießlichkeiten, keine Streitsachen!« ein. Dagegen teilt sein Kaplan: der Herr Abbé Perichard, auch ein sehr guter, vortrefflicher Mensch, solche Scheu vor einem Kampfe nicht, und stürzt sich mit Ungestüm, mit einer wahren Todesverachtung, in die Schlacht, wodurch er sich an die Spitze der Partei emporschwang; er ist es, der alles aneifert, bei dem man sich Rat erholt; er ist der oberste Befehlshaber … wenn ich mich derart ausdrücken darf.«

»Was liegt daran, wenn er, wie Sie sagen, ein vortrefflicher Mensch ist?«

»Ein vortrefflicher Mensch ist eigentlich zu wenig gesagt; er ist der würdigste Mann von der Welt; aber, wenn er ein gutes weiches Herz hat, so hat er auch eine derbe, kräftige Hand, mit der er auf seine Widersacher losschlägt. Sie dürfen überzeugt fein, daß er für die Seinigen mannhaft eintreten und seine Gegner angreifen wird. An deren Spitze, wie ich Ihnen bereits erwähnt, steht die freisinnige Mehrheit der Gemeindevertretung, die auch vortreffliche, würdige Leute in ihrer Mitte zählt. Ihr Führer ist der Bürgermeister: Herr Amette, der ebenfalls der beste Mensch von der Welt ist, der aber seines Friedens wegen weit besser gethan hätte, sich nicht auf dieser Galeere einzuschiffen. Aber was wollen Sie? Das Streben nach Volksgunst! Zweifelsohne ein sehr edles Streben; doch es führt weit. Zudem hat Herr Amette, der ein unansehnlicher Tierarzt war, eine reiche Witwe geheiratet, und liegt es ihm, um seine Gattin zu blenden, ihr zu beweisen, daß er jemand ist, gar sehr daran, vor ihr mit der dreifarbigen Schärpe um den Leib zu erscheinen; er vermeint, dadurch ein schönerer Mann zu sein, und dann hat er eine Leidenschaft, der er als Haupt der Ortsobrigkeit nach Herzenslust zu fröhnen vermag: er »redigiert« nämlich außerordentlich gern; so nennt er selbst das Abfassen von Schriftstücken, und demnach redigiert er soviel, alles, was er nur kann: Beschlüsse, Umlaufschreiben, Briefe an den Unterpräfekten, an die Gemeindegenossen, an jedermann. Derart ist es um Yvranches und seine Würdenträger zu dieser Zeit bestellt, wenn der Kampf dort entbrennen und sein Brand über dem Haupte der weltlichen Lehrerin zusammenschlagen wird. Und Sie möchten diese Lehrerin werden!«

»Ich muß es wohl.«

»Aber, unglückliches Kind, die Stelle ist vier oder fünf Personen angetragen worden; keine hat sie gewollt.«

»Weil sie eben eine andere hatten.«

»Das allerdings.«

»Ich habe aber keine, und ich werde diese mit Dank annehmen.«

»Sie wissen nicht, in welche Gefahr Sie sich stürzen!«

»Was hat man, wenn man seine Schuldigkeit thut, zu fürchten?«

»Alles – das heißt: nichts – ei ja doch: viel. Sie flößen mir eine zu große Teilnahme ein, als daß ich mich zum Mitschuldigen an Ihrem Selbstmorde machte.«

»Dann bleibt mir nichts übrig, als bei dem Herrn Referenten mein Anliegen vorzubringen.«

»Das werden Sie nicht thun.«

»Morgen, ohne weiteren Verzug.«

Sie sagte dies in einem Tone der Entschlossenheit, der Herrn Malaitiré ganz verdutzt machte. Wie konnte man nur mit solcher Entschiedenheit sprechen! Und noch dazu ein Weib! –

»Wenigstens,« sagte er, wie Helene aufstand, um sich zu verabschieden, »erwähnen Sie, wenn Sie schon durchaus den Herrn Referenten besuchen wollen, meiner mit keiner Silbe bei ihm; es hätte ja gar keinen Nutzen. Auch habe ich keinesfalls vorgreifen wollen; mit einem Worte: ich habe Ihnen gar nichts gesagt.«

 

2.

Helene stattete nicht dem Referenten über das Volksschulwesen, sondern dem Deputierten Mérault, der am selben Morgen aus Paris eingetroffen, einen Besuch ab.

Wie sie nämlich aus der Wohnung des Herrn Malatiré trat, befand sie sich dem Professor Bonjean, der sich eben nach seinem Lehrsaale begab, gegenüber.

»Ich sehe, daß Sie Schritte machen,« sprach dieser sie an. »Sie haben recht; nur wenn man die Leute überläuft, erreicht man von ihnen etwas. Nun, unser Inspektor hat Ihnen doch Hoffnung gemacht, mindestens bis zu einem gewissen Grade, wenn ich mich derart ausdrücken darf?« Und er brach über diesen Scherz in Lachen aus.

Helene erzählte in wenigen Worten, was Herr Malatiré ihr soeben auseinandergesetzt hatte.

»Ich will Sie weder tadeln noch loben; doch da Ihr Entschluß festzustehen scheint, so möchte ich Ihnen raten, unserem Abgeordneten, mit dem ich vor wenigen Minuten, als er vor sein Haus angefahren kam, zusammengetroffen, einen Besuch zu machen; er vermag schon etwas …«

»Ich gehe sofort hin,« erwiderte Helene, ohne weiter auf ihn zu hören.

Und sie eilte nach der Wohnung des Deputierten aus Besorgnis, ihn sonst nicht mehr daheim zu finden.

Wie würde er sie ausnehmen? Eine gewichtige Frage, die ihr Herzdrücken verursachte, und die sie gar nicht in näheren Betracht zu ziehen wagte.

Dieser Abgeordnete war ein ehrenwerter Mann, und was sie über ihn sprechen gehört, war darnach, um Vertrauen einzuflößen: er hatte aus Hang nach Unabhängigkeit die Beamtenlaufbahn aufgegeben und war Advokat geworden; er war ein äußerst zärtlicher Gatte und glücklicher Vater von drei reizenden Kindern. Wie hätte sie, hieran denkend, sich nicht Hoffnung machen sollen! Zwar hatte man ihr auch über den Grafen Prétavoine, bevor sie ihn in Rouvraye besuchte, allerlei, das sie für ihn vertrauensvoll stimmen mußte, berichtet, und dennoch …!

Als man sie in den Salon des Abgeordneten eintreten geheißen, fand sie ihn so sehr von Leuten besetzt, daß sie hätte stehen bleiben müssen, wenn ein junger Mann ihr nicht seinen Sitz abgetreten hätte. Es gab da Leute aus allen Ständen, welche hierher gekommen waren, um ihren Deputierten, »denjenigen, dem sie ihre Stimme gegeben,« daran zu gemahnen, daß er ihre Anliegen oder Wünsche um jeden Preis durchzusetzen habe; sie hatten für ihn gestimmt; sonach müßte er für sie betteln; denn eine Hand wäscht die andere! Beamte ersuchten, daß ihnen endlich die Beförderung, welche ihnen schon seit langem gebühre, zuteil würde; Witwen machten ihre Ansprüche auf Stipendien für ihre Söhne geltend; Bürgermeister führten Klage über ihre Gemeinderäte; Gemeinderäte verschwärzten hinwider ihren Bürgermeister; Bewerber um Tabaktrafiken fehlten ebensowenig, als Streber nach der Ehrenlegion unter diesen Leuten, die samt und sonders der Wahn beherrschte, daß ein Volksabgeordneter den Schlüssel zu den Staatskassen besitze und nicht verweigern könne, von demselben zu Gunsten seiner Wähler Gebrauch zu machen.

Erst nach dreistündigem Harren kam die Reihe an Helene, in das Kabinett des Deputierten zu treten.

Mérault nahm sie kühl oder vielmehr mit der Ermüdung und Überdrüssigkeit eines Mannes auf, der sich einer neuen Mühsal, nachdem er schon so vielfältige ausgestanden, preisgegeben sieht.

Einen Augenblick verlor sie hierüber die Fassung. Aber sie nahm sich zusammen, um nicht aus der Rede zu kommen und ihr Anliegen so klar als möglich vorzubringen. Als sie erklärte, daß sie genötigt gewesen, ihre Stelle in Courtomer aufzugeben, runzelte Mérault die Stirne, doch ohne die Mißbilligung, welche diese Geberde andeutete, in anderer Weise kund zu thun. Im Gegenteile schien er befriedigt, als sie berichtete, was Herr Malatiré ihr über Yvranchesla-Folletière gesagt, und daß sie trotzdem auf ihrem Wunsche, die Anstellung zu erhalten, beharrte.

Ihr entging nicht, daß er sie, während sie sprach, betrachtete, forschend ansah; aber diese Blicke hatten durchaus nichts Beunruhigendes für sie. Sie konnte wohl nicht erraten, was der Deputierte dachte; doch ward sie ihm gegenüber, was er auch immer denken mochte, von keiner unbehaglichen Empfindung beschlichen.

»Herr Malatiré hat Ihnen,« sagte er »bedeutet, daß großer Zwiespalt in diesem Orte herrsche?«

»Allerdings.«

»Und das schreckt Sie durchaus nicht zurück?«

»Es giebt Augenblicke im Leben, wo man vor nichts zurückschreckt.«

»Doch können Sie auch die Schwierigkeiten, auf welche eine Lehrerin dort stoßen wird, ermessen?«

»Ich glaube wohl; aber mir däucht, daß man, welcher Art sie auch sein mögen, denselben mit einem festen, zielbewußten und maßhaltenden Willen obsiegen kann. Ich hoffe diesen Willen zu besitzen.«

»Sehr schön! Noch eine Frage, wenn ich bitten darf: Wie sind Sie erzogen worden? Ich will sagen: haben Sie eine christliche Erziehung genossen oder …«

»Eine christliche.«

»Eine praktisch-christliche?«

»Ja, mein Herr.«

»Doch ist Ihr Herr Vater keineswegs klerikal gesinnt gewesen!«

»O nein, aber ich meine …«

»Sie meinen, daß man ein Christ sein kann, ohne klerikal gesinnt zu sein. Das wollen Sie sagen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und darin haben Sie vollkommen recht. Sie dürfen somit versichert sein, von mir nichts Gegenteiliges zu hören. Da Sie bei Ihrem Vater gelebt und dieser Ihre Erziehung geleitet, so werden Sie zweifelsohne seine Ansichten geteilt haben?«

»O gewiß in allem, mindestens so weit, als ein Mädchen meines Alters die Ansichten eines Mannes, wie mein Vater war, der ein unermüdlicher Forscher gewesen und gründliche Studien gemacht, zu teilen vermochte.«

»Mit einem Worte: Sie waren mindestens gleichgesinnt.«

»Wie hätte es anders gewesen sein sollen? Ich liebte meinen Vater ebensosehr, als ich ihn ehrte und bewunderte.«

Sie brach ab, vor Gemütsbewegung zitternd; es schnürte ihr die Kehle zusammen und ihre Augen füllten sich mit Thränen, die zwischen den Wimpern, ohne ihr über die Wangen zu rollen, hängen blieben.

In diesem Augenblicke stürmten drei Kinder, zwei Mädchen und ein Knabe, in das Kabinett hinein; voran war der Knabe, den seine Schwesterchen zu solchem Überfalle angestiftet.

»Nun, Arthur, was soll denn das?« fragte Mérault in einem Tone, der streng sein wollte, aber es nicht war.

»Emma und Jeanne sind Schuld …« erwiderte der Knabe.

»Nein, dir ist das eingefallen!« fielen die beiden Mädchen ihm gleichzeitig in das Wort.

Inzwischen waren die Kinder auf ihren Vater zugeeilt und hatten sich seiner völlig bemächtigt. Emma, das ältere Mädchen, hing an seinem Halse, und die beiden anderen waren rechts und links ihm an den Leib gerückt, ohne daß er sich schützen und Arthur hindern konnte, ihm rittlings auf das Knie zu steigen.

»Jetzt sehen Sie doch, mein Fräulein,« sagte Mérault, sich zu Helenen wendend, »zweifellos ein, daß ich ganz der Ihrige bin? Ich werde folglich mein Möglichstes thun, damit Sie die Stelle in Yvranches erhalten. Und dies nicht bloß in Ihrem Interesse, sondern auch in dem dieses Ortes selbst. Bei dem erregten Zustande, in welchen die Geister dort, wo bis in die letzte Zeit Ruhe und Stille gewaltet, geraten sind, muß man zu dämpfen, nicht zu kämpfen trachten. Zufolge Ihrer Erziehung, Ihrer Ansichten, Ihrer Grundsätze scheinen Sie mir die geeignetste Persönlichkeit zu sein, um eine Beschwichtigung zu fördern: als eine praktische Katholikin werden Sie die klerikale Partei nicht verletzen; andererseits wird Ihre Abkunft, Ihre Bildung, unsere Unterstützung, der freisinnigen Partei Vertrauen einflößen. Haben Sie nun den festen, zielbewußten und maßhaltenden Willen, wie Sie vorhin bemerkt, so werden Sie dort, wo eine andere den Kampf entzügeln würde, die Einkehr des Friedens zu erzielen imstande sein. Sie können auf mich zählen.«

»Soll ich dem Herrn Schulreferenten eine Aufwartung machen und darf ich ihm Ihre gütigen Worte hinterbringen?«

»Das ist nicht nötig; ich selbst werde ihn morgen besuchen.«

»Aber Herr Malatiré ist meiner Ernennung entgegen!«

Mérault konnte ein Lächeln nicht unterdrücken:

»Dieser gute Herr Malatiré,« erwiderte er, »war heute Vormittag dieser Ernennung entgegen; doch heute Abend wird er dieselbe, wenn Sie ihm den Brief, welchen ich sogleich schreiben werde, übergeben haben, höchst wahrscheinlich befürworten.«

Und sofort begann er diesen Brief zu schreiben, ohne seine Kinder von sich zu weisen; den rechten Arm schlang er um den Leib seines Knaben, der von dem Knie, auf welchem er ritt, nicht weichen wollte, und zwar derart, daß er, um auf das Papier blicken zu können, sich nach links neigen mußte, wodurch er seinem Töchterchen Jeanne so nahe kam, daß es diese Haltung verwerten konnte, um auf die Backen des Papas ein paar schallende Küsse zu drücken. –

Mérault hatte sich nicht geirrt.

Als Herr Malatiré den Brief des Deputierten, worin die Stelle in Yvranches-la-Folletière für das Fräulein Helene Margueritte angesucht wurde, las, erklärte er, daß dies ein ausgezeichneter Einfall wäre.

»Auf mein Gewissen!« beteuerte er. »Ich finde, daß dies eine vortreffliche Stelle für Sie ist.«

Sodann sich zweifelsohne erinnernd, daß er wenige Stunden vorher in gleicher Weise beteuert hatte, daß dies für sie eine gräßliche Stelle, die er ihr gar nicht anzubieten wagte, wäre, empfand er das Bedürfnis, solchen Widerspruch zu rechtfertigen.

»Glauben Sie nur ja nicht, daß ich mir selbst widerspreche!« rief er aus. »Das wäre ein grober Irrtum. Ich verfolge meine Ansicht mit einer unbeugsamen Logik. Heute Vormittags standen Sie allein, auf sich selbst angewiesen; jetzt haben sie unseren Abgeordneten für sich. Dadurch gewinnen die Dinge ein ganz anderes Ansehen. Sie haben eine Stütze. Man wird erfahren, daß Sie eine Stütze haben, und daraus erwächst Ihnen ein tüchtiger Halt. Der Kampf, den ich voraussah, wird zweifelsohne nicht in der Art, wie ich mindestens besorgte, losbrechen; denn man überlegt es sich zweimal, bevor man jemanden, der sich zu wehren imstande ist, angreift. Und dann sind ja, wie ich Ihnen bereits gesagt, lauter brave, gutmütige Leute in Yvranches, das ein Ort der Ruhe und des Friedens ist – selbstverständlich für den, der nicht störend eingreift. Erlauben Sie mir, zu sagen, daß ich Sie in dieser Hinsicht für die geeignetste Persönlichkeit erachte. Nur geht mein Rat, wenn ich Ihnen einen geben darf, dahin, daß Sie nichts außer Acht lassen mögen, um einen glücklichen Fortgang nicht zu gefährden.«

Helene hörte zu, über ein derartiges Umsatteln ganz verblüfft. Wie konnte man doch im Verlaufe von wenigen Stunden sich so verschieden äußern?

Kaum minder erstaunt war sie, als sie vernahm, wie er neuerdings eine Schilderung der Würdenträger von Yvranches: des Pfarrers, des Kaplans, des Bürgermeisters, entwarf; sie waren bei der Abendbeleuchtung nichts mehr von alledem, was sie im vormittägigen Sonnenlichte gewesen. Der Pfarrer Houel ward zwar nicht zum streitsüchtigen Starrkopfe gestempelt; doch wurden ihm die Entschiedenheit und Selbständigkeit, welche bei einem rechtlichen Manne nicht mangeln dürfen, zuerkannt; wenn der Abbé Perichard eine derbe und feste Hand hatte, so machte er sie nur wider die bösen Menschen geltend; für die guten war sie sammetweich; was den Bürgermeister Herrn Amette betraf, so war er ein vorzüglicher Kopf, der, in ein Dorf gebannt, die Würde des Gemeindevorstandes angenommen hatte, um ebensowohl seinem Thätigkeitsdrange, als seiner bedeutenden Begabung einen Wirkungskreis zu erschließen.

Und während er abends gerade das Gegenteil von dem, was er morgens geäußert, sagte, fragte sich Helene, ob dies wohl in dem, was man die »Lebensklugheit« benenne, seinen Grund habe.

Dann wehe ihr; denn ganz bestimmt würde sie sich niemals diese Klugheit aneignen.

Endlich schloß er mit der Bemerkung, daß man auf dieser Welt bloß eine Richtschnur haben müßte: seine Pflicht zu thun und geradezu seinen Weg zu gehen; man hätte nichts zu befürchten, wenn man sein Gewissen für sich habe.

Von den Höhen der Philosophie und der Moral herabsteigend und auf praktische Erwägungen eingehend, forderte er sie auf, einen Ausflug nach Yvranches zu machen und sich diesen Ort und seine Umgegend zu besehen.

Allein hiervon wollte sie nichts wissen; denn es war nicht der Ort ihrer Wahl, sondern die Not zwang ihn ihr auf. Sohin war es ganz unnütz, sich im voraus ein schweres Herz zu machen.

Überhaupt verlangte sie bloß zweierlei: einen Lebensunterhalt haben und ein anständiges Mädchen bleiben zu können.

Yvranches würde ihr dies gestatten.

 

3.

Da niemand ein Verlangen nach Yvranches-la-Folletière trug, so wurde Helene dahin ernannt.

»Wenn es Ihnen da glückt,« bedeutete ihr noch Herr Malatiré, »wird dies Ihnen Ehre machen und für Ihr Fortkommen von wesentlichem Nutzen sein.«

Wenn es ihr aber mißglückte?

Diese Frage stellte sie sich wohl; dennoch schied sie nicht ohne einige Zuversichtlichkeit von Condé, um sich mit ihrer Großmutter nach dem Orte ihrer neuen Bestimmung zu begeben. –

Für Yvranches war die Ankunft der an seine Ortsschule berufenen Lehrerin ein wichtiges Ereignis. Der Deputierte hatte dem Bürgermeister geschrieben, um ihm Helene anzuempfehlen, und dieser, glücklich, etwas »redigieren« zu können, einen schönen Brief an sie abgefaßt, den sie mit Versicherungen ihrer Ergebenheit beantwortete. In der Sitzung des Gemeindeausschusses wurde ihr Brief vorgelesen: die liberalen Mitglieder fanden, daß sie eine hübsche Handschrift habe, wogegen die klerikalen erklärten, daß dieselbe nicht jener der Schwestern Philogona und Ambroisine, die sie doch zu ersetzen habe, gleichkomme, und demnach eine Änderung sich nicht lohne, mehr als überflüssig sei. Durch diese Bemerkung gereizt, erhob sich ein liberaler Gemeinderat, Namens Paildieu, der ein Mann der Initiative war, allzeit bereit, sich vorzudrängen, was, wie er selbst und zwar mit Recht – denn er war einer der reichsten Weidenbesitzer der Gegend – besagte, seine Mittel ihm erlaubten, und setzte sich eifervollst für die Begründung seiner Ansicht ein, daß man die neue Lehrerin nicht so ganz schlechthin aufnehmen dürfe, vielmehr ihr ein ersichtliches Entgegenkommen beweisen müsse, da sie das erwählte Werkzeug, um die Schwestern beim Barte zu zupfen, sei, und dieser Witz machte um so größeres Glück, als das Schnurbärtchen der Schwester Philogona sich einer gewissen Berühmtheit in Yvranches zu erfreuen hatte.

»Alsdann stelle ich als das einzige und was alles miteinander sagt,« schloß er diese Redensart, die er selbst ausgeheckt, anwendend, »den Antrag, daß die neue Lehrerin aus ihrem gegenwärtigen Wohnsitze abgeholt werden solle, und ich selbst will sie samt ihren Gerätschaften am nächsten Markttage in Condé, von wo ich leer zurückfahre, hierher bringen.«

Der Antrag Paildieus wurde von der Mehrheit der Versammelten zum Beschlusse erhoben, und eines Sonnabends, gegen die zweite Nachmittagsstunde, sah Helene einen mit zwei prächtigen Zuchtstuten bespannten Leiterwagen vor dem Hausthore halten. Gegen eine der Leitern gelehnt, in aufrechter Stellung, lenkte sein Gespann ein Mann von hohem, stämmigem Wuchse, auf dessen brennrotem, auch durch Genuß von Äpfelwein erhitztem Gesichte sich unverkennbar eine heitere Seelenstimmung ausprägte; sein blonder Bart war von einem ungeheueren weißen Stehkragen eingefaßt; seine Kopfbedeckung bildete ein Hut mit einer hohen Röhre, der in dortiger Gegend eine »Glanzbutte« geheißen wird; er trug einen langen Fuhrmannskittel von blauer Glanzleinwand, worunter ein grüner Rock hervorguckte. Der Rosselenker war Paildieu, Isidor Casimir Paildieu in eigener Person.

»Guten Tag, Fräulein, und wer noch zu Ihnen gehört; ich bin da, um Ihren Hausrat mitzunehmen; das einzige und was alles miteinander sagt, ist, zu wissen, ob Sie reisefertig sind.«

Helene war reisefertig; die Betten waren auseinandergenommen; was in Körbe gelegt werden konnte, war eingepackt.

»Ich habe einige Bund Stroh mitgebracht,« sagte Paildieu »damit werden wir alles ausfüllen und einwickeln; dann können wir einen Trab einschlagen, ohne an den Möbeln etwas zu verderben. Das einzige und was alles miteinander sagt, ist, zu wissen, ob Sie jemanden haben, der mir an die Hand gehen kann.«

Während Helene zwei gefällige Nachbarn, die sich ihr bereits zum Aufladen angeboten, herbeiholte, entledigte Paildieu sich seiner Glanzbutte, seines Kittels und Rockes.

In weniger als einer Stunde war der Wagen beladen.

Paildieu, Helene und die zwei Nachbarn beeilten sich nach besten Kräften, wogegen die Großmutter, auf einem Koffer sitzend, trübsinnig ihnen zusah.

Nachbarinnen kamen, um ihr Lebewohl zu sagen; als Helene an ihnen vorbeiging, vernahm sie, wie eben ihre Großmutter äußerte:

»Wenn dies nur das letztemal sein könnte, daß ich meine Knochen anderswohin schleppe!«

Diese Äußerung beklemmte ihr, gleich einer üblen Vorbedeutung, das Herz.

Aber sie hatte nicht Zeit, sich diesem traurigen Gedanken hinzugeben: der Wagen war voll gepackt; Paildieu lud sie zum Aufsteigen ein.

»Ich habe zwei Bund Stroh zurückbehalten,« sagte er, »darauf können Sie sich niederlassen; das einzige und was alles miteinander sagt, ist nur, daß das Zeug keine Federn hat.«

Daran gebrach es allerdings vollständig, und als Paildieu seine Pferde in Trab gesetzt hatte, ward Helene entsetzlich geschüttelt; doch da ihre Großmutter hierüber nicht klagte, so kam auch kein Klageton über ihre Lippen.

»Wenn ich schnell fahre,« bemerkte Paildieu, als er endlich bergan seine Pferde eine langsamere Gangart einschlagen ließ, »so ist es, weil ich noch bei helllichtem Tage eintreffen möchte, um den Schulschwestern einen Schabernack zu spielen; wir fahren an ihrem Gebäude vorbei; sie werden sehen, daß Sie Fahrnisse haben, und vor Wut werden sie aus der Haut fahren.«

Gleichwohl waren diese Fahrnisse sehr bescheiden; aber da sie von Herrn Margueritte damals, als er auf zehn Jahre einer einträglichen Wirksamkeit zählte, angekauft worden waren, konnten sie sich noch immer sehen lassen, wenn auch nicht betreffs ihrer Menge, so doch mindestens betreffs ihrer besseren Gattung.

Die Straße nach Yvranches führte über Bezu-Bas, durch welches Helene, ohne anzuhalten, gerne gefahren wäre, denn es war ihr um einen Besuch bei der Tante gar nicht zu thun; doch ein Gespräch, das sich zwischen Paildieu und ihrer Großmutter entspann, zeigte ihr bald, daß dies nicht möglich sein würde.

»Wenn Sie wollen, daß wir eine Rast bei Ihrem Bruder machen,« sagte Paildieu, »so brauchen Sie meinetwegen keine Rücksicht zu nehmen; die Pferde werden ausschnauben und dann die verlorene Zeit schon wieder einbringen.«

»Willst du Helene?« fragte die Großmutter schüchtern.

»Aber gewiß, Großmama, wenn dir damit ein Gefallen geschieht.«

»Mir würde es sehr lieb sein, meinen Bruder noch einmal zu sehen und zu umarmen, bevor ich sterbe.«

»Er wird Sie doch wohl auch in Yvranches besuchen können,« bemerkte Paildieu; »es ist ja nicht so weit dahin.«

»Der kommt nicht oft aus seinem Orte hinaus,« erwiderte die Großmutter.

»Ja freilich, nicht er hat die Hosen an,« entgegnete Paildieu, »und es scheint, daß sein Weib ihn sehr kurz hält.«

Man langte bald vor der mit Stroh gedeckten Einfahrt des Meierhofes der Tante »Dasunddas« an; doch nur diese befand sich daheim; ihr Gatte und ihre Burschen waren auf den Feldern, mehr als eine Stunde vom Hose entfernt und zwar nach der Seite von Condé hin.

»Weißt du, Nichte, daß ich dich auszuschelten habe, weil du mir gar keine Nachricht hast zukommen lassen!« sagte die Tante »Dasunddas,« sich ein vornehmes Ansehen gebend.

»Der Tag der Abfahrt hing von Herrn Paildieu ab,« antwortete Helene.

»Gerade deshalb habe ich dich auszuschelten. Warum sich an Fremde wenden, wenn man Verwandte hat? Das ist kränkend für uns, weißt du! Ich besitze genug Pferde in meinem Stalle und auch genug Wagen, um deine Übersiedlung zu besorgen.«

»Der Gemeinderat hat dem Fräulein eine Höflichkeit erweisen wollen,« bemerkte Paildieu.

»Dann ist es etwas anderes,« entgegnete die Tante, welche dieser Grund in ihrer Eigenliebe angenehm zu berühren schien.

Trotz solcher Befriedigung zog sie keine gelinderen Saiten ihrer Nichte gegenüber auf, und als es zur Abfahrt kam, nahm sie selbe noch in ein geheimes Verhör.

»Warum hat man dir denn im Schlosse Courtomer den Abschied gegeben?« fragte sie.

»Man hat mir nicht den Abschied gegeben.«

»Warum bist du dann nicht dort geblieben?«

»Weil ich Gründe hatte, meinen Austritt zu nehmen.«

»Und was waren denn das für Gründe, hm?«

»Gründe, welche ein ferneres Verbleiben mir dort nicht gestatteten.«

»Du solltest sie aber sagen, diese Gründe!«

»Das erachte ich nicht für nötig.«

»Nun, ich sage dir, daß dein Schweigen gar nicht am Platze ist; wenn ich dir einen Rat, sowohl in deinem Interesse, als in jenem deiner Familie, zu geben habe, so ist es der, daß du dich hierüber offen erklärst.«

»Meine Familie hat doch mit dieser Sache nichts gemein!«

»Da bist du sehr im Irrtum.«

»Wie das?«

»Deine Familie hat doch ein Interesse daran, daß die Anklagen, welche man gegen dich erhebt, nicht auf sie fallen.«

»Was für Anklagen?«

»Thue doch nicht so unwissend!«

»Ich schwöre dir, daß ich gar nichts davon weiß, und ich ersuche dich, daß du dich deutlicher erklärst. Wenn du willst, daß ich diese Anklagen abwehre oder widerlege, so muß ich sie doch kennen!«

»Nun also, man sagt, daß du den Abschied in Courtomer erhalten, weil du dir von dem jungen Grafen den Hof machen ließest …«

»Oh!«

»... in der Hoffnung, daß er dich eines Tages heiraten werde.«

Helene war wie niedergeschmettert.

Doch als die erste Bestürztheit vorüber, richtete sie wieder ihr Haupt empor und schritt stolz an ihrer Tante, ohne ein einziges Wort der Verteidigung oder Rechtfertigung an sie zu richten, vorbei, auf ihre Großmutter zu.

Als sie mit dieser wieder im Wagen saß, kam die Tante, welche der Blick Helenens nicht eingeschüchtert hatte, auf ihre Mahnung zurück:

»Denke an den Rat, den ich dir gegeben,« sagte sie.

»Hat denn die schon jemals,« bemerkte Paildieu lachend, »etwas anderes als einen Rat hergegeben?«

Die weitere Wegstrecke ward stillschweigend zurückgelegt: die Großmutter war betrübt, weil sie ihren Bruder nicht gesehen, Helene voll Empörung über das, was die Tante ihr zugemutet.

Endlich gelangten sie auf eine Anhöhe; vor ihnen, inmitten grüner, hier und da durch lebende Hecken aus hochstämmigen Bäumen durchschnittener Wiesen breitete sich eine Ortschaft aus, deren Mittelpunkt eine Kirche mit spitzem, schiefergedecktem Turme bildete, und an deren linkem Flügel Fabriksgebäude mit rotem, von zahlreichen Fenstern durchbrochenem Mauerwerk sich, der Strömung des Flusses entlang, weithin erstreckten: die Ortschaft war Yvranches-la-Folletière.

»Da sind wir!« rief Paildieu aus, »wir kommen noch rechtzeitig an, um Aufsehen machen zu können.«

So sehr es ihn aber auch gelüstete, Aufsehen machen zu können, fuhr er vorsichtig den Abhang hinab; auf der Ebene holte er jedoch das Versäumte ein, und im scharfen Trabe rasselte er, heftig mit der Peitsche schnalzend und stehenden Fußes die Pferde lenkend, in die Straße des Ortes hinein.

Helene hätte einen minder auffälligen, geräuschloseren Einzug vorgezogen; doch versuchte sie nicht einmal ein Wort zu Paildieu zu äußern, denn vor Vergnügtheit würde er ihr gar kein Gehör geschenkt haben; er mußte sich doch für seine Mühe bezahlt machen.

Als das Gerassel des Wagens und das wütende Peitschengeknalle erscholl, rannte alles an die Thüren. Mit dem Stiele seiner Peitsche bezeugte Paildieu seinen Parteigenossen den Willkommsgruß, wogegen er mit dem Schmitze seinen Widersachern trotzte. Plötzlich begann er wieder heftigst zu knallen, während er mit dem linken Arme Helenen einen sanften Rippenstoß versetzte: sie fuhren einem großen Hause, dem schönsten, ansehnlichsten Gebäude in der Straße, zu.

»Das ist die Schule der Schwestern,« sagte er.

In diesem Augenblicke erschien eine weiße Haube an einem der Fenster des ersten Stockwerkes.

»Da haben wir's: eine guckt schon heraus,« jubelte Paildieu auf.

Und sofort mäßigte er den Gang seines Gespannes.

Ungefähr hundert Schritte weiter machte er Halt vor einem alten, in verwahrlostem Zustande befindlichen Gebäude, auf dessen Dachfirst eine Fahne aus Zinkblech die Aufschrift: »Bürgermeisteramt« wies. Es hatte zwei Seitenflügel; auf dem rechten las man: »Knabenschule«, auf dem linken: »Mädchenschule«. In nichts glich es dem Hause der Schulschwestern.

 

4.

Paildieu war nicht der einzige Gemeinderat, der sich veranlaßt fühlte, einen augenscheinlichen Beweis zu Gunsten der neuen Lehrerin zu liefern; sein Beispiel fand Nachahmer. Es war schon recht gethan, ihre Fahrnisse hierher zu bringen, aber damit war noch nicht alles gethan; man mußte ihre neue Behausung wohnlich einrichten, und ihr, da sie abends ankam und sogleich nichts zu Händen hatte, um selbst zu kochen, ein Nachtmahl anbieten. Ein Tischler und ein Wirt, die gleichfalls Mitglieder der Gemeindevertretung waren, wünschten, ein jeder in seinem Fache, für sie zu thun, was Paildieu gethan.

Kaum war sie vom Leiterwagen gestiegen, als ein mageres Männchen mit einer stahleingefaßten Brille auf seiner spitzen Nase: Herr Bonnot, Erzeuger aller Gattungen von Möbeln und erster Gemeinderat, seine mit einem breiten Schirmdache versehene Mütze vor ihr abzog und sie ansprach:

»Kümmern Sie sich um gar nichts, mein Fräulein; zeigen Sie mir bloß an, wohin Sie Ihre Einrichtungsstücke gestellt haben wollen, und das weitere werde ich übernehmen.«

Fast sofort trat eine andere Persönlichkeit mit einem kupferigen Gesichte und einem Schmeerbauche, einen Bückling machend, auf sie zu:

»Während Bonnot Ihre Gerätschaften in gehörige Ordnung bringen wird, erweisen Sie mir, mein Fräulein, das Vergnügen, in mein Gasthaus zum »Großtürken« speisen zu kommen; ich heiße Aloysius Fillette und bin Ihr ganz ergebener Diener.«

Helene wollte dankend ablehnen; doch kam Paildieu ihr mit dem Bemerken zuvor, daß es sich darum handle, den Schulschwestern einen Schabernack zu spielen, und sie demnach ebensowohl den Antrag Bonnots, welcher zwei seiner Gesellen mitgebracht, als auch jenen Fillettes annehmen müßte.

Nachdem sie die Stellen, welche ihre Möbel einnehmen sollten, bezeichnet hatte, begab sie sich mit ihrer Großmutter nach dem Gasthause zum »Großtürken«, dessen Schild am Hauptplatze gegenüber dem Vorhofe der Kirche hin und her schwankte.

Es war ein schönes Gasthaus nach der alten Mode, mit einem ganzen Arsenale von Kupfergeschirren, die an den Wänden entlang, blank geputzt, in schmucken Reihen hingen, und einem riesigen Ofen von geblümtem Steingut, auf welchem bei Holzkohle inmitten bläulicher Flammen oder eines Funkenschwarmes, und nicht auf einer gußeisernen, durch Steinkohle gehitzten Platte gekocht wurde. Vor diesem Ofen sah man an Markt- oder Festtagen die Frau Fillette, eine baumwollene Haube auf dem Kopfe und eine Latzschürze von blendender Weiße vorgebunden, ihre Pfannen schwingen und ein Mahl für vierzig oder fünfzig Personen zubereiten, während Herr Fillette, dem nichts anderes oblag, als das von seiner Gattin Gekochte verständnisvoll zu kosten, die Zwischenzeit sich dadurch vertrieb, daß er Dominosteine untereinander mengte, Gläschen mit Cognac oder Becher mit Äpfelmost leerte.

Helene hatte gemeint, daß der Wirt sie einlud, mit ihm abends zu speisen, und dies hatte sie zur Annahme bestimmt, da sie nicht wagte, einem der Würdenträger des Ortes, der ihr seinen mächtigen Arm angeboten, einen Korb zu geben; aber sie befand sich in einem Irrtume. Als sie in die Küche trat, kam Frau Fillette ihr entgegen und geleitete sie nach einer sehr höflichen Begrüßung in das Gastzimmer, wo bloß für zwei Personen auf einem Tischchen gedeckt war.

»Sie sollen sogleich bedient werden, mein Fräulein; es ist Zeit, daß ich die Suppe anrichte.«

Und fort war sie wieder, bevor noch Helene etwas zu erwidern vermocht.

In der That säumte man auch nicht mit dem Auftragen eines von dem Wirte selbst angeordneten und durch seine Ehehälfte zubereiteten Mahles, welches dem ersteren bezüglich der Auswahl der Speisen, der letzteren bezüglich ihrer Kochkunst alle Ehre machte.

Erst bei dem Obst und Backwerk trat der Wirt, von seinen zwei Freunden: Paildieu und Bonnot begleitet, in das Gastzimmer. Alle drei ließen sich an dem Tische, der Helenen zunächst stand, nieder, und sofort trug man ihnen verschiedene Gattungen süßer Getränke in Flaschen von seltsamer Form, welche gläserne Statuen volksbeliebter Patrioten vorstellten, auf.

»Mein Fräulein,« begann der Tischler, indem er eine Flasche, die einen Patrioten von der gemäßigten Partei darstellte, ergriff, »es freut mich, Ihnen vermelden zu können, daß Ihre Wohnung in Ordnung gebracht ist.«

»Nun, Fräulein?« fragte der Wirt, den Hals eines Patrioten von rötlicher Färbung von seinem Munde absetzend, »hat Ihnen das Essen geschmeckt?«

»Wie geht es, Fräulein?« fragte Paildieu, »sind Sie nicht durch unsere Schnellfahrerei ganz abgemattet? Nun, etwas durchgerüttelt werden Sie wohl sein?«

Er ersparte Helenen die Mühe, eine Antwort zu geben; denn er sprach ohne Unterlaß fort, erzählte, was sein Grauschimmel da, sein Rotschimmel dort gethan, gab eine umständliche Geschichte seiner Fahrt von Condé nach Yvranches zum besten, die vermutlich, da die Pferdezüchter noch weitschweifiger in Betreff der Vorzüge ihrer Tiere, als die Jäger bezüglich ihrer Meisterschüsse sind, niemals ein Ende genommen haben würde, wenn nicht der Tischler Bonnot sie unterbrochen hätte.

Minder geneigt, den ersten Anstoß zu etwas zu geben, wie Paildieu, schien er einsichtsvoller zu sein; er war die geistige Kraft des Trios. In dem Augenblicke, als Paildieu zum zwanzigstenmale mit: »das einzige und was alles miteinander sagt« um sich warf, fiel Bonnot ihm in die Rede:

»Damit ist gar nicht alles gesagt,« sprach er, seine Brille in die Höhe rückend. »Es hat, wie mich deucht, die Stunde geschlagen, um das Fräulein allhier willkommen zu heißen und unserer aufrichtigen Glückwünsche zu versichern.«

Zweimal war er in Condé und einmal in Paris, in der Deputiertenkammer, gewesen, um berühmte Redner zu hören, und er erhob den Anspruch, der einzige in Yvranches, der sich auf Wohlredenheit verstünde, zu sein. Er hielt sonach eine kleine Rede über das Willkommensein, den wohlthätigen Einfluß einer tüchtigen Lehrkraft, wobei ihm ein wenig zu statten kam, daß er zufällig einer Kammersitzung, in welcher die Wohlthaten des Unterrichtes gepriesen wurden, angewohnt hatte.

»Sicherlich,« unterbrach Fillette, nach dessen Ansicht Bonnot viel zu lange redete, »ist ein guter Unterricht für die Kinder eine Notwendigkeit, und eben deshalb haben wir auch Sie, mein wertes Fräulein, hierher berufen. Nur muß man nicht zu viel lehren, in die Kindsköpfe hineinstopfen wollen: Lesen, Schreiben, Rechnen, das genügt vollkommen.«

»Sie lassen doch wohl auch ein wenig von der Geschichte Frankreichs zu?« sagte Helene.

»Wozu wäre das gut? Die Geschichte lehrt uns nur, daß das Verbrechen, der Verrat am Volke, stets den Sieg davon trägt.«

»Und auch etwas Geographie,« fuhr Helene fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.

»Ich sehe nicht ein, was für einen Nutzen diese haben soll,« entgegnete Fillette. »Wie könnte denn diese für junge Mädchen, die nie aus ihrer Geburtsgegend hinaus kommen, von Wichtigkeit sein oder nur irgend einen Vorteil bieten?«

Helene konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Diese jungen Mädchen werden doch Mütter, nicht?« sagte sie.

»Das ist allerdings wahrscheinlich.«

»Sie werden dann Kinder bekommen, Söhne, welche, als Soldaten, ihren Müttern schreiben werden. Einer solchen Mutter wird doch sehr daran gelegen sein, zu wissen, wo sich ihr Sohn befindet, ob im Norden oder im Süden, wäre es auch nur, um ihm etwas aus Schafwolle Gestricktes, wenn er im Norden, oder etwas aus Baumwolle Gestricktes, wenn er im Süden, zuzusenden.«

»Sehr richtig!« bekräftigte Bonnot. »Da seht Ihr die Wohlthaten des Unterrichtes!«

Paildieu und Fillette schienen einen Augenblick nachzudenken; dann erhoben sie gleichzeitig ihre Gläser und tranken auf das Wohl des Fräuleins Margueritte.

»Schon famos gesprochen!« rief Paildieu aus. »Schafwollene Brustflecke für den Süden, baumwollene für den Norden!«

»Aber nein,« warf Bonnot ein, »Schafwolle für den Norden, und Baumwolle für den Süden!«

»Das thut gar nichts zur Sache,« entgegnete Paildieu, »ich kenne mich in der Geographie aus!«

Und mit der Faust auf den Tisch schlagend, bedeutete er dem Gastgeber, daß er dem Fräulein Margueritte mit einem Glase süßen Weines aufwarte.

Aber Helene, welche aufgestanden war, lehnte ab. Sie habe – sagte sie – ihre Wohnung in Ordnung zu bringen; ihre Großmutter wäre ermüdet und wünschte, sich zur Ruhe zu begeben.

Die drei begleiteten sie heim und während des Gehens äußerte Paildieu wiederholt:

»Famos! die Schwester Philogona wird über den Löffel barbiert. Ganz famos!«

»Hoch lebe unser Deputierter!« rief Fillette aus.

»Wenn Sie unser irgendwie bedürfen,« bemerkte Bonnot, »so haben Sie uns nur einen Wink zu geben.«

Endlich verabschiedeten sie sich.

»Das sind wackere Leute!« sagte die Großmutter, als sie in ihrer Wohnung allein waren.

»Ich glaube,« erwiderte Helene, »daß wir es hier gut getroffen haben: die Gegend ist wunderschön.«

Wenn die Gegend wunderschön war, so war es dagegen ihre Wohnung durchaus nicht. Sie nahm das erste Stockwerk über dem Schulzimmer ein, und bestand aus einer sehr großen Küche und drei Kammern; aber alles war abgenützt, schmutzig, in Verfall, gleichwie es das Gebäude des Bürgermeisteramtes selbst war.

Als sie ihre Betten gemacht und die Großmutter sich schlafen gelegt, ging Helene in das Schulzimmer, das sie noch kaum angeschaut hatte, hinab.

Nur die vier nackten Wände, die Tische, die Bänke, und der Lehrstuhl waren darin zu sehen, da die Schwestern das ganze übrige Schulgeräte, das ihnen gehörte: die Landkarten, Wandtafeln, Schränke, bei ihrem Abzuge mitgenommen hatten.

Wie mechanisch stieg sie den Lehrstuhl hinan und ließ sich darin nieder. So blieb sie ziemlich lange, in Gedanken vertieft, in Träumereien verloren. Auf diesem Lehrstuhle, zwischen diesen vier Wänden, würde fortan ihr Leben verfließen; doch lag darin durchaus nichts Erschreckendes für sie, vielmehr das Gegenteil; sie wünschte sich nichts Besseres, als daß man sie hier alt werden und sterben ließe. Würde sie nicht ihre Aufgabe in dieser Welt gelöst haben, wenn sie die Rolle, welche Herr Mérault ihr vorgezeichnet hatte, ausführte? Und würde sie nicht in ihrem Bewußtsein eine Befriedigung finden, die sie von einem Rückblicke in jenes Leben abhielt, das sie sich in der Zeit ihres Glückes ausgemalt, damals, wo sie, ihren Vater an der Seite und auf ihn bauend, alles hoffen zu dürfen glaubte?

Sich zu vermählen – daran durfte sie nicht denken; denn bei ihrer Erziehung und ihren Neigungen war die Ehe für sie unmöglich. Die Männer, welche sie zu lieben imstande wäre, würden von einem armen Mädchen, wie sie war, nichts wissen mögen, und sie, so arm sie auch war, wäre wieder jenen abhold, deren Stand und vornehmlich deren Erziehung sie nachsichtsvoll gegen ihre Armut stimmen, und die, selbst notdürftig lebend, mit ihr die Verdoppelung des Elendes einheimsen würden. Der schöne Radou hatte ihr eine zu derbe, empfindliche Lehre erteilt, als daß sie ihr je hätte aus der Erinnerung schwinden können.

Sie würde ein altes Mädchen werden; aber auch alten Mädchen gebricht es an Freuden nicht, und wenn sie keine eigenen Kinder, um sie zu lieben, besäße, so würde sie jene, die sie unterrichte und erziehe, lieben. Unter deren Menge würde sie gewiß solche, die es verdienten daß sie ihnen noch inniger als wie eine Lehrerin, zugethan wäre, finden, und diese würden ihre Kinder sein; sie würde ihr sorgliches Augenmerk auf ihr weiteres Leben richten, ihnen ungeminderte Anhänglichkeit bewahren, und wenn sie, verheiratet, Kinder bekämen, diese erziehen und zu ehrbaren, rechtschaffenen Frauen, wie ihre Mütter waren, heranbilden.

Wäre denn dies gar nichts? Wäre denn ein solches Wirken wertlos?

Endlich, nach so vielen bitteren Heimsuchungen, schien das Leben sich für sie freundlicher zu gestalten.

 

5.

Der nächste Tag war ein Sonntag.

Helene und ihre Großmutter verbrachten einen großen Teil des Morgens mit dem Aufräumen in ihrer Wohnung; dann nahmen sie schnell ein Frühstück ein, kleideten sich an, und gingen, als das erste Mal zur Kirche geläutet wurde, aus dem Schulhause.

Vom Gemeindehause bis zur Kirche war nur eine kurze Strecke Weges: bald befanden sie sich auf dem Hauptplatze des Ortes. Da glaubte Helene, welche ihr Gesicht verschleiert hatte, zu gewahren, daß sie ein Gegenstand allgemeiner Neugierde wären, daß man vor die Thüren trat oder Kehrt machte, um sie vorbeigehen zu sehen. Dies war so natürlich, daß sie es nicht weiter beachtete. Zwei neu Angekommene in einem kleinen Orte erregen schon Aufsehen! Und dann machte die eine dieser neu Angekommenen schon seit längerer Zeit den Einwohnern viel zu schaffen, und daher mußten sie auch neugierig sein, wie sie aussähe.

Als sie aber vor das Gasthaus zum »Großtürken« kam, war es nicht mehr bloße Neugierde, die sie bei jenen, welche sie anblickten, unmißdeutbar erkannte, sondern Überraschung und sogar etwas wie Entrüstung. Vor dem Eingange in das Gasthaus standen Fillette, Bonnot und Paildieu, die soeben auseinander getreten waren, um der Frau Fillette, welche im Sonntagsstaate sich nach der Kirche begab, Platz zu machen. Sowie sie Helene und ihre Großmutter erblickten, streckten alle drei die Arme himmelwärts, gleich als ob sie sich vor Erstaunen nicht zu fassen vermöchten, und steckten sofort die Köpfe zusammen, indem sie zugleich Bemerkungen, die sie mit heftigen Geberden begleiteten, unter sich austauschten. Helene war zu weit von ihnen, um zu vernehmen, was sie sprachen; doch klang ein: »Das einzige und was alles miteinander sagt« an ihr Ohr.

Was mochten sie nur haben?

Helene begrüßte sie; aber sie waren in einem so hitzigen Wortwechsel, daß sie ihren Gruß gar nicht erwiderten.

Sie setzte ihren Weg fort, ohne sich weitere Gedanken über diesen Vorfall zu machen, und trat in die Kirche, die bereits sich zu füllen begann; in dem dunklen Schiffe, inmitten der blauen und gelben Streiflichter, welche durch die farbigen Fenster fielen, gewahrte man von dem Hauptthore aus, dessen beide Flügel offen standen, die Federhüte der reichen Bürgerinnen und die baumwollenen, mit bunten Bändern aufgeputzten Hauben der Bäuerinnen, welche steif in die Höhe standen, wie wenn sie über den Haaren mit Heu oder Leinwandpfropfen ausgestopft wären.

Helene hätte gerne einen Meßner gefunden, um ihn zu befragen, wo sie Platz nehmen könnten; da sie aber auf niemanden, der ihr Auskunft hätte geben können, traf, so geleitete sie ihre Großmutter in eine Reihe von Stühlen vor der den armen Leuten zugewiesenen Bank hinein.

Die Schar der Gläubigen gewann raschen Zuwachs in ununterbrochener Folge von neuen Zuzüglern; vom Innern der Kirche aus vernahm man das Geklapper der bäuerlichen Holzschuhe auf dem Hauptplatze des Marktes.

Jene, welche im Vorbeigehen nicht kürzere Schritte gemacht hätten, um Helene und ihre Großmutter, vornehmlich die erstere, anzugaffen, würden leicht zu zählen gewesen sein; ebenso spärlich war die Zahl jener, die, einmal in ihrer Bank oder aus ihrem Stuhle seßhaft, sich nicht umwandten, um die beiden mit Muße zu betrachten. Dann neigten die Nachbarinnen die Köpfe zueinander hin und es entstand ein Geflüster, das, stetig sich mehrend, die Kirche mit einem undeutlichen Gemurmel, das dann und wann von dem Geknarre der Stühle und dem Gleiten der Füße über die widerhallenden Steinplatten übertönt ward, erfüllte.

Wenn alle Leute sich so lebhaft um Helene kümmerten, zollte hingegen diese ihnen, worunter sie niemanden kannte, nicht die mindeste Beachtung. Dennoch wurde ihre Aufmerksamkeit bald durch das Eintreffen der Schulschwestern angeregt. Wie sahen denn diese zwei weiblichen Wesen, welche sie, wie man ihr gesagt, bekriegen sollten, aus?

Die eine, welche zwischen fünfundvierzig und fünfzig Jahren zählen mochte, hager, klapperdürr, eckig in ihrer ganzen Leiblichkeit, hatte von Thatkraft zeugende Gesichtszüge, deren Rauhheit noch durch einen schwarzen Schnurrbart, der ihre Oberlippe umschattete, verstärkt wurde; dies war sicherlich die Schwester Philogona, jene, welche Paildieu »barbiert« wünschte. Die andere, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt, von kleinem, zierlichem Wuchse, mit einer wahren Engelsmiene und den schönsten Augen von der Welt, über welche lange blonde Wimpern sich schleierartig senkten, war die Schwester Ambroisine. Als Helene die beiden leise auftretend an sich vorbeigehen sah, sagte sie sich, daß, wenn die Schwester Philogona ein streitsüchtiges, nach Kampf begehrliches Weib sein mochte, zweifelsohne die Schwester Ambroisine ein von christlicher Liebe erfülltes, seelengutes, friedliebendes Wesen wäre.

Während Helene derartige Betrachtungen anstellte, entstand eine Bewegung von Seite der Sakristei her, und zwei Priester, unter Vorantritt von Ministranten, wurden sichtbar: der eine, der Pfarrer, ein weißhaariger Greis mit einem kugelrunden Kopfe, rotbäckigen Gesichte, von gutmütigem und behäbigem Aussehen; der andere, der Kaplan, ein noch junger Mann, von hohem Wuchse, breitschulterig, derbknochig, bräunlichen Gesichtes mit finsteren Zügen, bedächtigem, abgemessenem Gange.

Als die beiden an Helene vorbeischritten, drängte sich ihr fast der nämliche Gedanke, dem sie betreffs der Schulschwestern nachgehangen, auf: der Abbé Houel, der Pfarrer, war wohl das, was Herr Malatiré ihr gesagt, ein braver, guter Mann, mit dem man gewiß keinen Kampf zu bestehen haben würde; dagegen machte der Abbé Perichard einen unheimlichen Eindruck auf sie, und kam es ihr sehr wahrscheinlich vor, daß er der furchtbare Gegner, als welchen ihn der Inspektor geschildert, wäre.

Da sie aber seit einigen Tagen hoffnungsvoll gestimmt war, beunruhigte sie dieser erste Eindruck nicht. Wenn schon der Kampf losbrechen sollte, und sie schmeichelte sich, ihn hintanzuhalten, war es dann nicht von einigem Belange, daß sie von vier Widerpartnern zwei für sich oder zum allermindesten parteilos erachten durfte, und war zudem nicht einer von diesen der oberste Seelenhirte des Ortes?

Sie hatte die beiden Priester nicht genau sehen können; doch bald kam der Kaplan, von einem Ministranten begleitet, das Kirchenschiff herab, um die Gläubigen mit Weihwasser zu besprengen, und nun, wie er ihr nahte, vermochte sie ihn am besten zu betrachten, ohne gestört oder verwirrt gemacht zu werden; denn er, ganz von der Hoheit seines Amtes erfüllt, richtete nicht seine Augen nach der Seite, wo die Bank der armen Leute stand. Nur sein Arm bewegte sich nach den Gläubigen, welche ihre Häupter senkten, hin; mit dem Weihwedel bald rechts bald links sie besprengend, schritt er würdevoll einher.

Was an seinem Gesichte auffiel, war der Ausdruck von Überfülle an Kraft mit einem Beisatze von Härte, den eine niedere Stirne und buschige schwarze Augenbrauen, welche zusammenliefen und eine gerade Linie ohne jede Schweifung bildeten, verschärfte.

Nur noch wenige Schritte war der Kaplan von Helenen entfernt. Mit einem Male machte er Halt und blieb, den Arm emporgestreckt, wie angewurzelt stehen: er hatte sie eben bemerkt und, sei es, daß er sie erkannte, sei es, daß er nur erriet, wer sie sei, er schoß einen Blick des Ingrimms nach ihr.

Es war nur ein Blitz, der zweifelsohne den Anwesenden ringsumher entging, doch der Helene traf und unter dem sie zusammenzuckte.

Nach einem kurzen Augenblicke des Schwankens schnellte der Kaplan, der den Arm noch immer in die Höhe gerichtet hielt, ihn so heftig herab, daß Helene einen wahren Regenschauer von Weihwasser über ihr Antlitz und ihre ganze Gestalt empfing; man konnte glauben, daß er sie »exorcisieren« gewollt, als wenn er es mit dem bösen Geiste in Person zu thun hätte.

Dann schwenkte er rasch um und kehrte, das Kirchenschiff hinan, zum Hauptaltare zurück.

Die Messe begann; Helene wohnte ihr an, ohne sich durch die Blicke, die zeitweilig auf ihr hafteten, oder durch das Gezischel, das bisweilen an ihre Ohren drang, allzusehr ablenken zu lassen.

Um die Predigt zu halten, bestieg der Abbé Perichard die Kanzel. Wie Helene seine Gestalt darin auftauchen sah, schlug sie die Augen nieder und verblieb, sie fast schließend, in gesenkter Haltung, doch ihm ihr Gehör leihend. So fest sie sich dies vorgenommen, richtete sie dennoch, als er das eigentliche Sittenpredigen anfing, mechanisch, ohne daß sie dessen, was sie that, völlig bewußt geworden wäre, das Haupt wieder empor und die Augen auf ihn – da trafen ihre beiden Blicke zusammen und die Folge dieses Kreuzfeuers war eine Erschütterung, die ihm die Rede verschlug. Einige Sekunden lang stammelte er, verwirrte er sich, vermochte er keine Worte zu finden, und dies war um so auffälliger, als er bei Beginn fließend, ohne um Ausdrücke verlegen zu sein, gesprochen hatte. Aller Augen kehrten sich nach ihm, wodurch seine Verwirrung nur noch gesteigert wurde. Etliche Minuten lang herrschte eine peinliche Stille. Wieder fing der Kaplan zu reden an; neuerdings ward er verwirrt, stockte er und brach ab.

»Nächsten Sonntag werde ich fortfahren!« sagte er endlich.

Und wie betäubt taumelte er die Kanzel hinab inmitten allgemeiner Befremdung. Aus dem Erstaunen, das sich um sie her kundgab, entnahm Helene, daß zum ersten Male ein solches Mißgeschick dem Kaplan widerfahren sein mußte.

Die Messe endete ohne einen weiteren Zwischenfall; doch unter Stimmengewirr leerte sich allmählich die Kirche.

»Was muß denn nur unserem Herrn Kaplan zugestoßen sein?«

»Ihm wird recht übel geworden sein!«

»Ein Wunder, daß er hat die Messe lesen können!« –

Helene schritt an der Seite ihrer Großmutter hinaus und über den Platz und erreichte das Gemeindehaus, ohne daß ihr von den Leuten, die hier und da in Gruppen beisammen standen, weitere Beachtung geschenkt wurde; so sehr überwog der Unfall des Kaplans die Neugierde.

Vor der Thür ihrer Schule stand das Trio: Paildieu, Fillette und Bonnot, welches sie, als sie in die Kirche gegangen, vor dem Gasthause zum »Großtürken« gesehen hatte; es schien, als ob diese ihrer Ankunft harrten, und noch immer waren sie im eifrigsten Gespräche und fuchtelten dazu mit den Händen herum, wie wenn sie während der ganzen Zeit des Gottesdienstes gar nichts anderes gethan hätten. Paildieu sprach sie an:

»Das einzige und was alles miteinander sagt, ist, daß wir mit Ihnen ein Wort zu reden wünschen.«

Während ihre Großmutter allein in das erste Stockwerk hinauf ging, lud sie die Herren ein, in das Schulzimmer zu treten.

»Es bezieht sich auf die Messe,« sagte Paildieu, welcher der Mann der Initiative war.

»Weil wir überrascht waren, zu sehen, daß Sie in die Kirche gingen,« ergänzte Fillette.

Also das war es, was sie in so heftige Aufregung versetzt hatte!

»Derart werden die Schwestern wahrlich nicht barbiert!« bemerkte Paildieu spitz.

Helene erholte sich schnell von ihrem Erstaunen und erachtete es als das beste, sich offen, ohne allen Rückhalt, auszusprechen.

»Dann, meine Herren,« sagte sie gelassenen, aber auch festen Tones, »haben wir uns sehr schlecht verstanden, wenn Sie vorausgesetzt, daß ich beabsichtigte, den Kampf mit unseren Gegnern durch Bethätigung religionsfeindlicher Gesinnungen zu eröffnen.«

Bonnot, der bisher geschwiegen, ergriff rasch das Wort:

»Sehr gut!« sagte er, »Das nenne ich eine politische Haltung!«

»Ich weiß nicht, was du eine politische Haltung nennst,« rief Paildieu aus, »aber das einzige und was alles miteinander sagt, ist, daß ich, wenn ich mit jemandem auf dem Kriegsfuße stehe, ihm nicht nachrenne.«

»Weil du von Politik nichts verstehst!«

»Dann um so besser für mich, und um so schlimmer für Euch. Ich glaubte, daß das Fräulein hierher gekommen, um den Schwestern einen Strich durch die Rechnung zu machen; es thut nur leid, zu erkennen, daß ich mich geirrt habe.«

»Und wer sagt dir denn, daß du dich geirrt hast?« entgegnete Bonnot. »Das Fräulein wird durch Mäßigung weit mehr als durch Heftigkeit erreichen.«

»Das ist ganz und gar nicht meine Art und Weise!« warf Paildieu ein, »Ich liebe die geraden Wege.«

»Was liegt daran, ob man schnurgerade oder kreuz und quer geht!« sagte Bonnot. »Hauptsache ist, daß man an dem vorgesteckten Ziele anlangt.«

»Nun,« bemerkte Fillette, um das Gespräch abzubrechen, »wir werden ja sehen, welche Gangart das Fräulein einschlagen wird.«

Und hiermit begaben sie sich fort.

Aus der Art, womit sie sich verabschiedeten, ersah Helene, daß sie, wenn sie auch nicht das Vertrauen Bonnots eingebüßt hatte, doch bei Paildieu und Fillette nicht mehr die gleiche Schätzung, wie am Tage vorher, genoß, und daß der eine bedauerte, sie von Condé abgeholt, der andere, ihr mit einem Abendessen aufgewartet zu haben.

Allerdings war dies verdrießlich; gleichwohl vermochte sie sich keine Vorwürfe über ihr Benehmen zu machen.

 

6.

Ungefähr eine Stunde nach dem Abgange der drei Gemeinderäte wurde leise an die Thüre der Wohnung Helenens gepocht.

Sie schloß auf und befand sich einem fünfzigjährigen Manne von kleiner, schmächtiger Gestalt und schüchterner Haltung, dessen Gesichtszüge trotz der Verschmitztheit, die aus seinen Äuglein blinzelte, Gutmütigkeit und Schwermut verrieten, gegenüber.

»Erlauben Sie mir, daß ich selbst« – sagte er, seinen Hut abziehend – »mich Ihnen vorstelle; ich bin Ihr Kollege Valpinçon, Lehrer an der hiesigen Knabenschule.«

Sie hieß ihn eintreten, indem sie sich höflich entschuldigte, ihm noch nicht ihren Besuch abgestattet zu haben.

»Diesen Besuch,« erwiderte Valpinçon, »würde ich abgewartet haben, wenn ich nur Ihr Kollege wäre; aber ich bin mehr und besseres als das, nämlich: der Spiel- und Schulgefährte Ihres Vaters, sein bester Freund bis zum zwölften Jahre, und als solcher komme ich hierher, um Ihnen meine Dienste anzubieten, ohne Ihrem Besuche entgegenzuharren.«

Helene, durch diesen Schritt und mehr noch durch die Erinnerung, welche er in ihr wachrief, tief bewegt, sagte ihm innigen Dank.

Ziemlich lange und zwar, bis die Großmutter aus dem Zimmer ging, bildeten diese Erinnerungen den Gegenstand ihrer Unterhaltung: Valpinçon war glücklich, auf seine Jugendzeit zurückzukommen; Helene erfreute alles, was sie mit der Kindheit ihres Vaters, zudem von einem Kameraden erzählt, näher bekannt machte.

»Die Freundschaft, welche mich für Margueritte stets beseelte,« fuhr der Lehrer fort, »flößte mir den Gedanken ein, Ihnen, sowie ich erfuhr, daß Sie hierher ernannt wären, zu schreiben, um Sie durch die Auseinandersetzung, in welche Lage Sie sich dadurch stürzten, vom Hierherkommen abzuhalten. Allein ich habe überlegt, daß diese Lage Ihnen gewiß nicht unbekannt geblieben sein könne, und Sie demnach, wenn Sie trotz alledem die Stelle annahmen, Gründe haben mußten, die es Ihnen … ganz und gar unmöglich machten, selbe abzulehnen.«

»Wohl wahr,« sagte Helene errötend.

»Niemand weiß besser als ich, daß man in dieser Welt, und noch dazu in unserem Berufe, nicht thun kann, was man will. Daher habe ich zu mir gesagt, daß ich aus Freundschaft für Ihren Vater, aus Teilnahme für Sie, nur eines zu thun vermöge, nämlich: Ihnen beizustehen, Sie bestmöglich aus dieser Lage zu ziehen, indem ich mich Ihnen zur Verfügung stelle. Deshalb haben Sie mich bei Ihrer Ankunft gestern nicht erblickt.«

Helene schlug über das Unzusammenhängende dieses Schlusses betroffen, die Augen weit auf.

»Sie sind erstaunt;« fuhr Valpinçon fort; »dennoch ist das, was ich sage, nicht so einfältig, als es aussehen mag. Wenn ich Ihnen hier von Nutzen sein kann, so ist es nur unter der Bedingung, daß niemand um unseren Verkehr wisse, und die Teilnahme, die ich für Sie empfinde, ahne; denn sonst würde man mir mißtrauen, und dann wäre ich nicht mehr imstande, für Sie etwas zu wirken. Auch ist dieser Besuch der erste und letzte, den ich Ihnen mache; erfährt man ihn, so schadet er mir nicht, denn man wird ihn auf Rechnung der Neugierde setzen. Wenn wir uns weiter etwas zu sagen wünschen, werden wir uns in unseren Gärten, Sie in dem Ihrigen, und ich in dem meinigen, sehen und über die Hecke leise miteinander reden.«

»Aber Sie machen mir Angst!«

»Um so besser; das wird Sie behutsam machen. Übrigens habe ich mit Vergnügen bemerkt, daß Sie sogleich zu Beginn mit Geschick gehandelt haben. Durch die Einrichtung Ihres Hauswesens in Anspruch genommen, hätten Sie gar wohl vom Hochamte fern bleiben können; dies würde Ihnen aber zum Verbrechen angerechnet worden sein.«

»Die Herren Paildieu, Bonnot und Fillette rechnen nur es als ein Verbrechen an, daß ich in die Kirche gegangen bin.«

»Also deshalb paßten sie Ihre Rückkehr ab? Machen Sie sich darüber keine Sorgen! Die Hauptsache war, nicht mit einer feindseligen Handlung zu beginnen. Sie haben dies eingesehen, und dies freut mich Ihretwillen. Dies wird die verständigen Leute und sogar unseren Pfarrer: den Herrn Abbé Houel, der zum Glücke für Sie ein vortrefflicher Mann ist, Ihnen günstig stimmen.«

»Und der Kaplan?«

»Mit diesem steht es anders; das ist ein leidenschaftlicher, gewaltthätiger Mensch, der nur einen zu großen Überschuß an Kraft besitzt und davon, gleichviel wie, verschwenderischen Gebrauch macht: moralisch, in allerlei Arten von Kämpfen und Ränken, physisch, in unsinnigen Strapazen, indem er fünf oder sechs Meilen weit, ohne zu rasten, rennt, mit dem Grabscheit in seinem Garten herumarbeitet, sein Holz und das des Pfarrers schneidet.«

Valpinçon sprach gedämpfteren Tones weiter:

»Er wird Ihr Gegner sein und ein um so gefährlicherer, als er durch die Schwester Philogona, die als Weib das, was er als Mann ist, und die vor nichts zurückschrecken wird, um Sie von hier hinwegzubringen, unablässig aufgestachelt werden wird. Was sie thun wird, um Sie zum Aufgeben der Stelle zu nötigen, weiß ich allerdings nicht; aber versichert dürfen Sie sein, daß sie alles und zwar ohne Zaudern, ohne Bedenken, denn sie gehorcht nur ihrem Gewissen, aufbieten wird. Sind Sie denn nicht ihre Gegnerin und, was in ihren Augen weit schwerer wiegt, die Feindin ihres Glaubens, ihrer kirchlichen Gesinnung?«

»Aber nein, durchaus nicht.«

»Ich meine, daß sie derart über Sie urteilt.«

»Ich werde ihr das Gegenteil beweisen.«

Valpinçon schüttelte den Kopf; dann trat er Helenen näher und setzte seiner Stimme einen noch stärkeren Dämpfer auf:

»Ich bewundere Ihre Zuversichtlichkeit; doch leider behindert mich die Erfahrung, selbe zu teilen; denn ich habe gegen Schwierigkeiten ähnlicher Art, worauf Sie hier stoßen werden, anzukämpfen gehabt und ich weiß, was ich gelitten habe. Auch ich hatte eine Stellung zwischen einem Bürgermeister, der mir wohlgeneigt war, und einem Pfarrer, der mich anfeindete. Mein Vorgänger war der Knecht des Pfarrers geworden: er schaufelte seinen Garten um, wichste den Boden seines Empfangszimmers, und seine Frau wurde die Wäscherin des Pfarrhauses. Als ich ankam, wähnte man, daß ich solche Dienste ebenfalls verrichten würde; ich war jung, ich gab mich dazu nicht her, und, sowie man erkannte, daß man sich in mir getäuscht, begann die Hetze, um mich von hier zu vertreiben. Die Zeiten waren damals nicht so, wie sie heutzutage sind. Sowie der Bürgermeister, der anfänglich sich als mein Gönner bewährte, wahrnahm, daß ich keine anderweitige Stütze hätte, ließ er mich fallen, und endlich gab ich nach, schickte mich in alles, da ich ein Weib und drei Kinder zu ernähren hatte und nur als Lehrer mein Brot zu verdienen imstande war: ich habe die Gartenarbeit gethan, ich habe den Zimmerboden gewichst, meine Frau hat die Wäsche des Herrn Pfarrers gewaschen. Aber dies ist noch nicht das ärgste gewesen. Ich war ein mutiger, lebensfrischer Kerl; nun büßte ich alles Selbstgefühl ein; ich krümmte meinen Rücken, ich kroch, ich log. Daraufhin hat man mich geduldet, hat man mir verziehen, hat man mir vergönnt, hier zu leben und den Lebensunterhalt für meine Familie zu erwerben.«

»Ich glaube nicht, daß der Pfarrer und der Kaplan von mir begehren, daß ich ihre schmutzige Wäsche waschen soll.«

»Nein, das gewiß nicht; und die Verhältnisse sind auch nicht die nämlichen, das ist klar; doch wird man Ihnen anderweitiges zumuten, von Ihnen andere Erniedrigungen fordern, Dinge, wodurch Sie Ihrer Würde, Ihrem Charakter etwas vergeben, Ihrem Gewissen zuwiderhandeln müßten, und wenn Sie, weil Sie jung und guten Mutes sind, nicht nachgeben, sich nicht biegen lassen, so wird man Ihre Stellung unterwühlen, und Sie, alles Haltes beraubt, in das Verderben stürzen.«

»Werde ich denn nicht einen Halt an dem Bürgermeister und dem Gemeinderate, die mich hierher berufen, an dem Deputierten, der mir die hiesige Anstellung ausgewirkt, besitzen?«

»Hat man nicht eben eine von diesen Zumutungen, deren ich erwähnte, an Sie zu stellen begonnen? Von der gegnerischen Seite wird man andere heischen; das Unglück Ihrer Stellung beruht darin, daß Sie auf sämtliche einzugehen bereit sein müßten. Für die Klerikalen hätten Sie sich als Betschwester, denn die Frömmigkeit allein wäre nicht hinreichend, zu zeigen, wogegen Sie als Voltairianerin für die Liberalen aufzutreten haben würden, so daß Sie zu den einen Weiß, und, kaum haben Sie diesen den Rücken zugekehrt, zu den andern Rot sagten.«

»Das werde ich niemals thun.«

»Und mir fällt es auch nicht bei, Ihnen hierzu zu raten, wenngleich ich fünfzig Jahre zähle und die Erfahrung mich gelehrt hat, wie viel die Lüge und die Heuchelei wert sind; aber mindestens möchte ich Ihnen Gewandtheit, Schlauheit im Vereine mit Mäßigung anraten.«

Helene konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Sie denken wohl, daß diese Ratschläge leichter zu erteilen, als zu befolgen seien? Ich leugne das nicht. Doch eben weil Ihre Stellung eine schwierige und gefahrvolle ist, kam ich hierher, um mich Ihnen zur Verfügung zu stellen, nicht etwa, um Ihnen meine Gewandtheit und Schlauheit anzuempfehlen, denn ich besitze von alldem leider blutwenig, sondern um Ihnen mit der Erfahrung, welche ein zehnjähriger Aufenthalt in dieser Gegend mir aufgezwungen hat, zu dienen.«

»Und dies ist ein Beistand, dessen vollen Wert ich anerkenne; glauben Sie es mir!«

»Dann verfügen Sie über mich.«

»Das beste wäre, wenn Sie mich unterwiesen, mir eine Anleitung gäben.«

»Was gedenken Sie vor allem zu thun?«

»Meinen Besuch jenen, von denen ich abhängig bin oder bezüglich deren der Anstand es erheischt, abzustatten.«

»Allen, nicht wahr? Ich meine: Freunden, sowie Gegnern?«

»Gewiß, aber vornehmlich meinen Gegnern.«

»Sehr richtig! Was den Pfarrer und den Kaplan anbelangt, so habe ich dem, was ich Ihnen über diese beiden bereits gesagt und Sie für einen ersten Besuch bei ihnen genügend aufgeklärt hat, nichts hinzuzufügen. Der Bürgermeister Herr Amette ist ein rechtlicher Mann, zu dem Sie alles Vertrauen haben dürfen und der sich auch Ihrer annehmen wird, wenn nicht seine Frau, durch Ihre Feinde aufgehetzt, ihm gar zu sehr in den Ohren liegt; von den Gemeinderäten kennen Sie Fillette, Bonnot und Paildieu; der letztere ist der eigentliche Führer seiner Partei; die anderen Mitglieder der Gemeindevertretung zählen nichts und schlagen sich bald auf die Seite Bonnots, der ein kluger Kopf und ein Gemäßigter ist, bald auf die Seite Paildieus, der ein Stürmer, nicht so sehr infolge radikaler Grundsätze, als aus Temperament ist. Was Sie auch thun mögen, diese drei werden für Sie einstehen, weil die Entfernung geistlicher Lehrkräfte aus der Mädchenschule ihr Werk ist und weil, wenn es Ihnen mißglückte, sie eine Schlappe miterleiden würden. Nun muß ich Ihnen aber noch eine Persönlichkeit bezeichnen, der Sie alle Aufmerksamkeit zu erweisen haben; denn wenn selbe Ihnen auch nicht erheblich zu nützen vermag, so könnte sie doch in einem gewissen Zeitpunkte sehr nachteilig für Sie wirken, es ist dies unser Bezirksschulrat, der als solcher auch mit der Inspektion in Ihrer Schule betraut ist.«

»Herr Lebeurier.«

»Sie kennen ihn?«

»Dem Namen nach, weiter nicht.«

»Ihn dürfen Sie ja nicht vernachlässigen, denn er ist empfindlich.«

»Was für ein Mann ist das?«

»Ein Mann in den Fünfzigern, einflußreich, geachtet, seit fünfundzwanzig Jahren Notar in Yvranches, und Gatte einer Frau, die ihm ein schönes Vermögen zugebracht und ihm ein noch größeres aus den Erbschaften, die ihr bevorstehen, zubringen wird; darin besteht ihr hauptsächlichster Wert. Übrigens ist sie eine gute Frau, doch insofern eine arme Frau, weil sie nur ihres Reichtums wegen geheiratet worden. Unbeschadet der Achtung, deren Herr Lebeurier sich zu erfreuen hat, ist er der größte Schürzenjäger, den es nur geben kann, und ein Ausspruch von ihm, den ich zu wiederholen wage, weil er typisch und deshalb für Sie nützlich ist, wird ihn Ihnen in sein rechtes oder richtiger: schlechtes Licht stellen. Vor einiger Zeit gab er nämlich die Absicht kund, seine Kanzlei zu verkaufen und nach Paris überzusiedeln, und da man darüber erstaunte, daß er die Gegend verlassen wollte, antwortete er: ›Was wollen Sie? Für mich ist keine Möglichkeit mehr, in dieser Gegend zu bleiben, denn da ich ein anständiger Mann bin, getraue ich mich nicht mehr, eine Liebschaft mit einem jungen Mädchen anzuknüpfen aus Furcht, eine meiner Töchter zu erobern.‹«

Helene begriff nicht sofort das Gesagte: doch Valpinçon beließ ihr nicht die Zeit, hierüber nachzudenken; ohne Unterbrechung fuhr er fort:

»Weil Herr Lebeurier ein anständiger Mann ist, so fragt er die Kinder in den Schulen nur über die Sittenlehre aus; Sie werden das selbst erfahren; es hört sich recht wunderlich an. Unter so bewandten Umständen darf ich nicht behaupten, daß die Ehe des Herrn und der Frau Lebeurier die beste, ungetrübteste im Orte sei. Die Frau tröstet sich über ihren Kummer mit Gartenbau und Blumenzucht; ihr Garten ist der schönste in der ganzen Umgebung; man kommt von weither, um ihn zu sehen. Leider ist die brave Frau nicht immer taktvoll genug bei dem Empfange und Herumführen der Besucher und in den Namen der Pflanzen nicht fest bewandert, wodurch sie sich zum Stichblatte der Spottsucht macht. So beklagte sie sich eines Tages, daß ihr Gärtner die Ungeschicklichkeit begangen, eine Masse »Glycerin« zu setzen; sie meinte »Glycinien«, und seitdem geht man in die Apotheke, um Glycinien zu begehren, und will von dem Gärtner Glycerin haben.«

Helene barg ihr Mitleid für die Frau hinter einem matten Lächeln.

»Das wären also die Leute, die Sie zu besuchen haben,« schloß Valpinçon. »Sie haben von allen einen gehörigen Vorgeschmack bekommen. Handeln und sprechen Sie demgemäß. Jedesmal, wenn Ihnen etwas Widerwärtiges zustoßen sollte oder Sie in eine Klemme geraten, so geben Sie mir nur ein Zeichen über die Hecke; übrigens werden Sie schwerlich vor der Heuernte etwas zu besorgen haben.«

 

7.

Das Abstatten der als nötig befundenen Besuche war für Helene eine peinliche Angelegenheit: was man ihr über jene, zu welchen sie gehen sollte, gesagt, war nicht von der Art, sie zuversichtlicher zu stimmen.

Allerdings flößte ihr weder der Bürgermeister, noch der Pfarrer eine Scheu ein.

Aber der Kaplan?

Aber der Bezirksschulrat?

Sie verspürte noch den Blick, den der Kaplan ihr zugeschleudert hatte.

Und das Bild, welches Valpinçon von Herrn Lebeurier entworfen, hatte auch durchaus nichts Einnehmendes.

Eine Frage von wesentlichem Belange war, bei wem sie mit ihren Besuchen den Anfang machen sollte. Nach reiflicher Überlegung und in Erwägung, daß der Pfarrer ihr Gegner, der Bürgermeister ihr Gönner sei, entschloß sie sich, den Pfarrer zu allererst zu besuchen.

Und Montags, ohne Säumnis, begab sie sich nach dem Pfarrhofe, zog aber dort so bescheiden die Klingel, daß sie nach einigen Minuten sich genötigt fand, etwas stärker zu läuten. Der Pfarrhof war ein Gebäude von schönem Aussehen, und in zwei Wohnungen abgeteilt, deren größere der Pfarrer, deren kleinere der Kaplan inne hatte; zu jeder führte eine eigene Thüre, über welcher ein Kreuz angebracht war. Die Vorderseite ging auf den Platz hinaus. Neben und hinter der Kirche dehnte sich ein großer Küchengarten mit Bogengängen von Hagebuchen aus; dieser war ebenfalls in zwei Teile geschieden, wovon der eine dem Pfarrer, der andere dem Kaplan zugehörte.

Endlich ging die Thüre auf, und auf der Schwelle zeigte sich eine Magd im kanonischen Alter, doch von frischem, kräftigem Aussehen; sie strahlte ebensowohl vor Gesundheit, als vor Reinlichkeit im Anzuge; mit einem gesetzten Wesen verband sie freundliches Entgegenkommen.

»Wen darf ich anmelden?« fragte sie unter einem Knix.

Helene, die wohl überdacht hatte, daß sie sich tapfer verhalten, sich unter voller Entfaltung ihrer Fahne vorstellen müsse, erwiderte:

»Die Lehrerin der Gemeindeschule.«

Die Magd wich zurück, als ob eine Schlange sich vor ihr aufgebäumt hätte, und Helene konnte wahrlich glauben, daß sie ein Kreuz über sich schlagen würde; doch war dies nicht der Fall.

»Ich werde sogleich den Herrn Pfarrer verständigen.«

Mit diesen Worten ging die Magd rasch von dannen.

Nach kurzem Harren ward Helene in ein kleines Gemach, dessen Wände mit Büchergestellen aus lackiertem Tannenholz bedeckt waren, geleitet. Es war das Bibliothekszimmer des Pfarrers und enthielt ungefähr zweitausend Bände, welche nicht nach dem Format eingereiht waren, sondern gemäß einer besonderen Aufstellung ihres Besitzers, der nicht Bücher hatte, um sie Neugierigen zur Schau auszulegen, sondern um sie im Falle des Bedarfes leicht und regelmäßig zu finden. Vor einem kleinen, runden Tische, auf welchem eine Kaffeekanne, eine Zuckerbüchse und eine silberne Schale standen, saß der Pfarrer behaglich in einem Lehnstuhle, die Füße auf einem gestickten Polster, eine Zeitung in den Händen.

Höflich, doch ohne aufzustehen, erwiderte er die Begrüßung Helenens.

»Weshalb haben Sie denn, mein Fräulein,« sagte er, »sich mit Ihrem Stande und nicht mit Ihrem Namen anmelden lassen?«

»Damit Sie, Herr Pfarrer, sogleich wissen, wen Sie vor sich haben.«

»Sie scheinen mir aufrichtig zu sein …!«

»Ich meine, daß es Sie beleidigen hieße, wenn ich dies einem Manne, wie Sie sind, gegenüber nicht wäre.«

»Kennen Sie mich denn?«

»Ich vertraue meinen Augen.«

Der Abbé Houel legte die Zeitung aus den Händen und ein Lächeln glitt über sein hochrotes Gesicht, welches das wohlwollende und gutmütige Gepräge seiner offenen Miene noch mehr hervortreten ließ.

»Alsdann haben Sie mir nicht durch eine List beikommen wollen?« sagte er. »Nun gut, da Sie aufrichtig sind und mich derart schätzen, um frei heraus mit mir zu sprechen, wollen Sie, mein Kind, mir auch offenbaren, mit welchen Gesinnungen Sie hierher kommen?«

»O sehr gerne, Herr Pfarrer.«

Und in wenigen lebhaft gesprochenen Worten gab sie ihre Gesinnung kund, wiederholte sie, was sie bereits dem Deputierten Mérault gesagt, vervollständigte sie es durch das, was dieser von ihr begehrt und sie bereitwilligst zugegeben hatte.

Je weiter sie sprach, desto freundlicher wurde das Lächeln des Pfarrers: es war augenscheinlich, daß er eine wirkliche Befriedigung empfand.

»Also keine Verdrießlichkeiten!« hub er an, sowie sie schwieg. »Keine Streitsachen! Sie werden uns nichts von alledem zuziehen; aber das übertrifft ja alle meine Erwartungen! Mit Freuden ersehe ich, daß Ihr Gesicht nicht trügt, daß Sie ein vortreffliches, ebenso verständiges als gutes Mädchen sind. Der Friede sei mit Euch! hat der Herr gesprochen. Der Friede! Und auch wir werden mithin im Frieden leben?«

»Hierfür, seien Sie dessen, Herr Pfarrer, versichert, werde ich alles aufbieten.«

»Und ich werde darüber wachen, daß niemand Sie kränke oder bedränge. Ja, ja, das wird meine Obsorge sein; denn es giebt Leute, welche … sonst mit den besten Absichten erfüllt … sich durch ihren Eifer bisweilen zu weit hinreißen lassen; ich werde dafür sorgen, daß sie an sich halten; ich verspreche es Ihnen.«

Es hatte den Anschein, wie wenn er dieses Versprechen als ein Geschenk ausnehmender Gunst erteilte oder wie wenn er zum allermindesten mit der Übernahme einer solchen Verbindlichkeit sich der großen Schwierigkeiten, sie zu lösen, bewußt worden wäre.

Sofort, fast etwas zu schnell, fügte er bei:

»Sie beabsichtigen doch, den Herrn Abbé Perichard, meinen Kaplan, zu besuchen?«

»Ja, Herr Pfarrer.«

»Schön, recht schön, wiederholen Sie ihm nur, was Sie soeben mir gesagt, sogleich, sowie Sie von hier gehen; dies wird förderlich, sehr förderlich für Sie, mein Kind, sein.«

»Ich werde es ihm wiederholen, nur nicht sogleich!«

»Und warum das?«

»Weil ich nicht die Absicht habe, den Herrn Kaplan sogleich zu besuchen.«

»Hätten Sie einen Grund dawider? Ich meine: einen Grund, den mir mitzuteilen Sie keinen Anstand nehmen?«

»Der einzige Grund ist, daß ich, wenn ich von hier weggehe, dem Herrn Bürgermeister meinen Besuch abstatten muß.«

»Allerdings, freilich; aber weil Sie schon im Hause sind und der Herr Abbé Perichard daheim ist; auch weiß ich nicht, ob er nicht bald ausgehen wird.«

Offenbar wünschte der Pfarrer sehnlichst, daß Helene sofort seinen Kaplan besuche; doch diese fügte sich nicht darein, wohl aber glaubte sie erklären zu sollen, weshalb sie seinem Wunsche nicht willfahrte.

»Bei Ihnen, Herr Pfarrer, habe ich mit meinen Besuchen begonnen, nicht bloß, weil Sie der Herr Pfarrer sind, sondern auch, weil Sie, wofern Sie die Gewogenheit haben, mein Gewissensrat sein werden.«

»Ich bin schon recht alt, mein Kind; ich bin auch schwerhörig; dagegen ist der Abbé Perichard …«

»Werden Sie denn, Herr Pfarrer, mich fortschicken, wenn ich kniefällig Sie bitte … im Beichtstuhle …«

»Nein, mein Kind, nein, gewiß nicht; aber überhaupt …«

Noch einmal nahm sie sich die Freiheit, ihm in die Rede zu fallen:

»Dann wird es hierbei, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, Herr Pfarrer, sein Verbleiben haben. Ich sagte also, daß ich aus freiem Willen den ersten Besuch in diesem Orte Ihnen abstattete; doch der zweite muß dem Herrn Bürgermeister vorbehalten sein. Er wird es gutheißen, daß ich bei Ihnen den Anfang gemacht, sobald ich ihm meine Gründe ohne Rückhalt darlegen werde; aber er könnte sich verletzt fühlen, wenn ich dem Herrn Kaplan den Vorrang vor ihm einräumte.«

»Das ist unangenehm, recht unangenehm; aber Sie werden – nicht wahr, mein Kind – die Sache schon einzurichten, auszugleichen wissen? Vor allem nur keine Verdrießlichkeiten! Seien wir bestrebt, die letzten Tage, welche der liebe Gott uns beschert, in Frieden zu verleben!«

Die letzten Tage! Der gute Pfarrer dachte nur an sich, nur um seinetwillen sprach er so, nicht auch bezüglich Helenens, die noch keineswegs in dem Alter war, um für ihre letzten Tage besorgt zu sein. –

Es war nur eine kurze Strecke vom Pfarrhofe bis zur Wohnung des Bürgermeisters. Helene gelangte bald an ein Gitter, das, von zwei Pavillons flankiert in einen Garten, inmitten dessen sich ein großes zweistöckiges Gebäude erhob, dem man in Paris den Namen eines Hotels beigelegt haben würde, Einblick gewährte; dasselbe, im Stile des achtzehnten Jahrhunderts gebaut, hatte Frau Amette von ihrem ersten Gatten geerbt und ihrem zweiten, der, wie man sagte, sie nur ihres Vermögens wegen geehelicht, zugebracht.

Gleichwie im Pfarrhofe mußte Helene auch hier zweimal läuten; denn die Pavillons waren von keinem Thorhüter bewohnt. Endlich eilte, mit ihren Holzschuhen klappernd, die Schürze an den Hüften hinaufgesteckt, eine Magd, die ganz erhitzt aussah und sich offenbar von einer sehr dringlichen Arbeit losgerissen hatte, herbei.

»Der Herr Bürgermeister,« sagte sie außer Atem, »sei nicht zu Hause; aber er müßte jeden Augenblick heimkommen.«

Helene ersuchte, ihn abwarten zu dürfen.

»Wie es beliebt, obzwar ich gleich sagen muß, daß die gnädige Frau große Wäsche hat und Sie im Hause alles drunter und drüber finden werden.«

»Ich will die gnädige Frau durchaus nicht stören.«

»Wenn man zum gnädigen Herrn kommt und dieser nicht daheim ist, nimmt die gnädige Frau immer die Besuche an.«

Bei sothaner Gepflogenheit hatte Helene nichts zu erwidern.

Wie die Magd bemerkt, war im Hause alles drunter und drüber; allenthalben gab es Wäsche, auf Tischen und Stühlen lag sie, die soeben herabgenommen worden, in Päcken aufgestapelt, und von den Fenstern, welche die Aussicht auf einen mit großen Apfelbäumen bepflanzten Hof boten, erblickte man ein Gemengsel von Bett-, Tafel-, Teller-, Sack- und Abwischtüchern, von Jacken und Unterröcken, die, auf Leinen hängend, vom Winde hin- und hergeschwenkt und bisweilen derart zusammengeklatscht wurden, wie wenn er sie zerreißen wollte. Das ganze Haus roch nach Lauge und Seife.

Wenngleich Frau Amette entsetzlich beschäftigt war, mit Holzklammern ihre Wäsche zu bestecken, ließ sie sich dennoch darin stören, sowie sie erfuhr, daß die Person, welche nach dem Herrn Bürgermeister gefragt, die neue Lehrerin wäre, und Helene befand sich kaum in dem Salon, wohin man sie geführt und worin sie keinen einzigen Stuhl, um sich niederzusetzen, gefunden hatte, als sie eine kleine, dicke, kugelrunde Frau, die übererhitzt keuchte und sich die vom Schweiße triefende Stirne mit einem Sacktuche, das sie eben von einer Leine herabgenommen und das steif wie ein Bogen Papier war, abwischte, eintreten sah.

»Ach, die Wäsche, mein liebes Fräulein,« pustete Frau Amette hervor; »sagen Sie mir nur darüber nichts! Ich lasse bloß zweimal im Jahre waschen: im Frühling und im Herbste; das sind meine zwei Marterzeiten! Ihnen geht es gut? Mir sonst auch, ich danke Ihnen. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Herr Amette wird sogleich kommen.«

Die Frau Bürgermeisterin sagte vieles in wenigen Worten und doch blickte sie unverwandt himmelwärts, das schwere, schwarze Gewölke, das, vom Winde herangejagt, sich überereinander türmte, ängstlich beobachtend.

»Wir werden gewiß ein Gewitter bekommen, und meine Wäsche, o du mein Gott, meine Wäsche! Haben Sie Vertrauen in das Anzünden geweihter Wachskerzen? Zu dem heiligen Accalmi?«

»Nein,« sagte Helene.

»Um so schlimmer und um so besser. Um so schlimmer, weil wir sonst eine Kerze zur Abwendung des Gewitters angezündet haben würden; um so besser, weil solche Ungläubigkeit bei Herrn Amette und dem Gemeinderate großes Wohlgefallen finden wird.«

»Aber, gnädige Frau, Sie können ja doch eine Kerze anzünden.«

»Das nützte gar nichts, wenn nicht jedermann im Hause den rechten, festen Glauben daran teilt.«

»Dann will ich mich entfernen.«

Doch bevor Frau Amette dieses Opfer zur Errettung ihrer Wäsche annahm, erfolgte ein Donnerschlag aus ziemlicher Nähe, und die Bürgermeisterin rannte wie von Sinnen zur Thüre und mit einem wahren Zetergeschrei: »Rasch an die Wäsche!« hinaus.

»Ich werde Ihnen helfen,« sagte Helene, ihr nacheilend.

In diesem Augenblicke erscholl die Glocke am Gitter.

Helene sah einen noch jungen, gut gebauten, etwas beleibten Mann von hohem Wuchse, mit abgemessenen Schritten und einer Miene, die von großem Selbstbewußtsein zeugte, herankommen: es war der Herr Bürgermeister.

»Komme schnell her,« schrie ihm Frau Amette zu, »du mußt uns helfen, die Wäsche hineinbringen; beeile dich!«

Und der Herr Bürgermeister, dieser Aufforderung bereitwilligst entsprechend, beeilte sich auch.

»Fräulein Margueritte,« sagte die Bürgermeisterin, indem sie hin und her trippelte und mit der Hand nach Helenen wies; »das Fräulein ist so gütig, uns beizustehen.«

Bereits hatte Helene zugegriffen und eine ziemliche Anzahl Wäsche von den Leinen herabgenommen; sie wollte selbe in das Haus tragen, als Frau Amette ihr bedeutete, sie nur auf die Arme des Herrn Bürgermeisters abzuladen.

»Sie brauchen ihn nicht zu schonen,« rief sie stolz beseligt aus, »er ist stark wie ein Stier.«

Eile that Not, denn das Rollen des Donners erklang immer näher und schon fielen große Regentropfen.

Dank der Stärke des Herrn Amette, dem Wetteifer seiner Gattin, Helenens und der Dienstboten wurde die Wäsche rechtzeitig in Sicherheit gebracht.

Erst dann befaßten Herr und Frau Amette sich mit Helenen.

Die Frau Bürgermeisterin schien den Dienst, den ihr diese eben geleistet, dadurch vergelten zu wollen, daß sie zu ihrem Manne sagte:

»Hättest du das gedacht, daß das Fräulein Margueritte dem heiligen Accalmi keine Kerze anzünden wollte?«

»Das will ich wohl hoffen,« entgegnete der Bürgermeister, »das Fräulein ist auch nicht nach Yvranches gekommen, um für die Verehrung des heiligen Accalmi, oder des heiligen Allouvi, oder des heiligen Accroupi seine Lehrkraft zu erproben.«

»Wenn ein Gewitter droht und meine Wäsche Gefahr läuft, naß zu werden, möchte ich noch neue Schutzheilige aussinnen,« bemerkte Frau Amette.

»Da hören Sie, mein Fräulein!« sagte der Bürgermeister lächelnd. »Was wir von Ihnen erwarten, ist, daß Sie unserer jungen Nachkommenschaft andere Anschauungen beibringen.«

 

8.

Das Gewitter war heftig, aber von kurzer Dauer. Während desselben durfte Helene nicht aufbrechen: Herr und Frau Amette ließen sie nicht fort und unterhielten sich mit ihr in freundschaftlicher Weise. Ihr Eifer bei der Wäscheabnahme hatte ihr die Geneigtheit der Frau, der heilige Accalmi jene des Gatten erworben. Sicherlich konnte sie auf beide zählen, nicht bloß weil sie dies ihr sagten, sondern auch, weil dies ihr ganzes Benehmen zu erkennen gab. Die Stütze der Frau Bürgermeisterin war gar nicht zu verachten, denn trotz der Bewunderung, die sie ihrem Gatten sowohl seiner Stärke, als seiner Kunst des Redigierens wegen zollte, mußte er nach ihrer Pfeife tanzen.

Endlich konnte Helene sich entfernen. Der Regen hatte die Straßen abgewaschen, der Himmel sich aufgeheitert, und aus dem feuchten, im Sonnenlichte blitzenden Pflaster dahinschreitend, sagte sie sich, daß ihr Tagewerk gut begonnen habe.

Allerdings war dadurch, daß sie die Hälfte ihrer Besuche abgestattet hatte, keineswegs auch die halbe Last von ihr genommen; denn sie hatte nach Art der Lässigen und Zaghaften mit dem Leichteren begonnen, um ihren Mut zu stärken; das Schwierigere war nun zu unternehmen: der Gang zu dem Bezirksschulrate, zu dem Kaplan.

Und sie war nicht völlig mit sich im Reinen, welcher von diesen beiden ihr eine größere Furcht einflößte.

Zwei an den Pfeilern eines Gitters hängende Schilde würden ihr das Haus des Notars bezeichnet haben, wenn nicht schon der Garten, den sie zwischen den Stäben dieses Gitters gewahrte, ihr gesagt hätte, daß dies der Schauplatz sei, wo ein Gärtner die Ungeschicklichkeit begangen, eine Masse »Glycerin« zu setzen.

Helene entdeckte in der Einfassungsmauer ein Pförtchen, das halb offen war; sie setzte den Fuß über die Schwelle und befand sich in einem prachtvollen Garten, der in mannigfaltigstem und reichstem Blumenflor stand. Gleich buntfarbigen Kränzen schlangen sich in vier oder fünf Reihen übereinander Blütenkelche und -Dolden um dichte Sträuchergruppen, welche ihnen zum Hintergrunde dienten. Ihr gegenüber erhob sich ein viereckiges Haus aus roten Backsteinen, woran auf der einen Seite ein Anbau, auf welchem man: »Kanzlei« las, auf der anderen ein mit grünen Flechten überdecktes Treibhaus stieß.

Sie wollte in den Baumgang, der nach der Kanzlei führte, einbiegen, als sie vor einem Beete sinesischer Astern eine Dame, die von den durch den starken Regen niedergebeugten Blumen die daran hängenden Tropfen behutsam abschüttelte, – ohne allen Zweifel Frau Lebeurier – erblickte.

Es war dies ein zu günstiger Zufall, als daß Helene ihn nicht zu benutzen trachtete: sie ging auf die Dame zu.

»Die Kanzlei ist auf der anderen Seite,« sagte Frau Lebeurier, ohne in ihrer Verrichtung einzuhalten.

»Ich habe nichts in der Kanzlei zu thun; ich wünsche Herrn Lebeurier selbst zu sprechen, ihm einen Privatbesuch zu machen. Ich bin die Lehrerin an der Gemeindeschule.«

Diese letzten Worte bewirkten, daß Frau Lebeurier rasch mit dem Kopfe in die Höhe fuhr; sie war eine schlanke, kränklich aussehende Frau, deren ganzes Wesen von Druck und Selbstverleugnung zeugte, und die trotz ihrer entsetzlichen Häßlichkeit durch die Weichheit und Gutmütigkeit ihrer Gesichtszüge Teilnahme und Zuneigung einflößte. »Herr Lebeurier ist in diesem Augenblicke beschäftigt,« sagte sie; »aber er wird bald frei sein. Wenn es Ihnen angenehm ist, so können wir indessen in meinem Garten herumgehen, und Sie sollen meine Blumen bewundern.«

Dies war nicht im Tone eitler Prahlsucht gesagt; auch bekam Helene reichlichen Anlaß, aufrichtig, nicht etwa aus Artigkeit, zu bewundern, als ihre Führerin ihren Pflanzen- und Blumenschatz aufwies. Er bestand vornehmlich aus Dahlien, Caladien, Geranien, Stockrosen, Chrysanthemen, Fuchsien, Lantanen, Begonien, lauter Herbstblumen, deren Namen sie zwar in komischer Weise verstümmelte, die sie aber gleichwohl gut kannte und schätzte als eine Frau, die ihnen alle Liebe und Sorgfalt weiht.

Nach dem Garten kam die Reihe an das Treibhaus, welches in dieser vorgerückten Jahreszeit nur mehr eine reiche Sammlung von Fettpflanzen, Cacteen, bot.

»Sehen Sie doch daher!« sagte mehrmals Frau Lebeurier. »Ist das nicht wunderlich, ist das nicht drollig?«

Helene staunte eben eine Fackeldistel mit ihren sternförmigen, mehr als handbreiten, brennroten Blüten an, als die Thüre des Treibhauses aufging und Herr Lebeurier eintrat.

»Fräulein Margueritte,« sagte Frau Lebeurier in vorstellender Weise zu ihrem Gatten.

»Es war gar nicht nötig, mir das Fräulein vorzustellen,« entgegnete der Notar. »Ich habe die Dame an … ihrer Schönheit, die man mir geschildert, augenblicklich erkannt.«

Und er verneigte sich, doch ohne seine Augen von Helenen abzuwenden. Ein Lächeln zog sein breites rotbäckiges Gesicht noch mehr auseinander. Schwerfällig seine hohe Gestalt nach vorne beugend und den Kopf hin- und herwiegend, spielte er den Liebenswürdigen. Sicherlich hielt er sich für einen sehr schönen Mann; er meinte nicht eine mängellose, vollkommene Schönheit, daran lag ihm nichts, sondern eine durchgeistigte und vollkräftige Schönheit, sowie sie für einen Mann seiner Art paßte.

Über eine Pflanze gebückt, schien Frau Lebeurier in ihre Betrachtung versunken; dennoch sah sie verstohlen, ängstlich ihren Gatten von der Seite an.

»Begeben wir uns in den Salon,« sagte der Notar, indem er Helenen die Hand bot.

Allein diese nahm sie nicht nur nicht an, sondern wich auch, als er die Thüre öffnete, etwas zurück, um der Frau Lebeurier den Vortritt zu lassen.

»Ich habe mit dem Fräulein zu sprechen,« bedeutete der Notar seiner Frau, »lasse uns gefälligst allein; deine Blumen rufen dich.«

Als eine Frau, welche an den Gehorsam und an alle Opfer gewöhnt war, aber mit einem traurigen Blicke, den sie auf Helenen richtete, ging Frau Lebeurier aus dem Salon.

»Sie scheinen nicht ganz frei von Unruhe zu sein,« sagte der Notar, seinen Stuhl neben jenen, den er Helenen angeboten, rückend. »Ich begreife das. Yvranches macht Ihnen bange, wie? Sie haben gar keine Ursache, sich zu ängstigen oder verzagt zu sein; wir werden Sie nicht im Stiche lassen, wir werden uns um Sie scharen und alles, was Ihnen den hiesigen Aufenthalt verleiden könnte, fern zu halten wissen. Ein schönes junges Mädchen, wie Sie, eine solche Perle, ein solches Meisterstück der Schöpfung zu verlieren, o nein, tausendmal nein! Ich erkläre Ihnen hiermit, daß Sie auf mich unbedingt zählen können, und daß ich, was ich an Einfluß und Ansehen besitze, für Sie aufbieten werde. Beruhigen Sie sich demnach; haben Sie gar keine Angst, weder vor dem Abbé Perichard, noch vor den Schulschwestern, noch vor der gesamten Bande unserer Ducker und Mucker. Ich bin da!«

Im selben Augenblicke hatte Helene vor alldiesen gar keine Angst, wohl aber vor dem Notar, der mit jedem Worte ihr näher an den Leib rückte.

Was sollte sie sagen? Was antworten? Wie sich wehren, ohne diesen Beschützer sich zu einem Feinde zu machen?

Glücklicherweise kam ihr eine Hilfe und zwar von einer Seite, wo sie selbe nicht erwartet hatte: Frau Lebeurier öffnete die Thür und trat, einen schönen jungen Mann von stattlicher Erscheinung, mit schwarzen Haaren und einem langen, wie Seide glänzenden Vollbarte hereingeleitend, in den Salon. Er war ganz in Schwarz gekleidet und hielt in der Hand einen Cylinderhut; sicherlich war er ein Fremder, denn ein derartig gewählter Anzug gehörte nicht zu den häufigen Vorkommenheiten bei der Einwohnerschaft von Yvranches.

»Ich habe,« sagte Frau Lebeurier, »den Herrn, der vorübereilen wollte, angehalten …«

»Allerdings,« ergänzte der neue Ankömmling, der Helene mit einer Verneigung des Kopfes begrüßte und dem Notar die Hand entgegenstreckte, »gedachte ich nicht, vorzusprechen; aber die gnädige Frau hat mir gesagt, daß Sie meiner bedürfen.«

»Meine Frau hat übertrieben, lieber Doktor, ich bin nicht krank.«

»Heute früh warst du es aber wohl!«

»Ich werde das Gewitter verspürt haben,« entgegnete der Notar barschen Tones, wie jemand, den es ärgert, daß man ihm in die Quere gekommen sei oder der nicht will, daß man ihm eine Kränklichkeit zumute.

Doch änderte er rasch die Tonart, indem er sich wieder Helenen zuwandte:

»Ich stelle Ihnen Herrn Doktor Leon Tarot vor; er ist mein Freund und unser Hausarzt; er wird wohl auch der Ihrige werden, wenn Sie eines solchen bedürfen?«

»Ich glaube nicht, daß das Fräulein sobald eines Arztes bedürfen werde,« erwiderte Leon Tarot, abermals sich vor ihr verneigend.

Und mit einem Lächeln aufrichtiger Bewunderung heftete er die Augen auf sie.

Doch obzwar sie dieses Anblicken bemerkte, empfand sie hierüber weder Unruhe noch Scham; ganz im Gegenteile berührte es sie angenehm, und ebenfalls mit einem Lächeln erwiderte sie einige artige Worte.

Der junge Arzt, von schlichtem, anspruchlosem Wesen, hatte etwas an sich, was auf den ersten Blick hin und ohne daß man ihn näher kannte, gefiel.

Helene blieb noch einige Minuten, während welcher bloß von der Schule und der im Orte herrschenden Stimmung gesprochen wurde; sodann stand sie auf, um sich zu entfernen.

»Ich werde baldigst Ihren Besuch erwidern,« bedeutete ihr der Notar, »wir haben Ihrer Schule wegen miteinander zu beraten; ich wiederhole Ihnen, daß es mein ernster Wille ist, Sie uns zu erhalten, und wir werden Sie schon festzuhalten wissen; wie, was, Tarot?«

»Ich wünsche dies von ganzem Herzen … im wohlverstandenen Interesse des Ortes.«

Frau Lebeurier geleitete Helene hinaus.

Sie gingen nebeneinander, ohne etwas zu sprechen. Helene war zu sehr erregt, um irgendeine herkömmliche, nichtssagende Redensart über die Lippen zu bringen, und Frau Lebeurier war verlegen, schien tiefsinnig oder doch mindestens von einem Gedanken ganz und gar eingenommen.

So kamen sie an das Pförtchen.

Schon wollte Helene sich von Frau Lebeurier verabschieden, als diese endlich ihre Befangenheit überwand.

»Wollen Sie mir gestatten, Ihnen einen Rat zu erteilen?« sagte sie, nach jedem Worte stockend.

»O sprechen Sie, gnädige Frau, ich bitte darum.«

»Nun, meine Liebe, lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ein junges Mädchen in diesem Orte sehr viele Vorsicht und Klugheit nötig hat, sich äußerst zurückhaltend benehmen muß. Sie werden meiner Warnung eingedenk bleiben? Lassen Sie sich nicht verblenden, wenn man sich über Ihre Schönheit zu Ihnen äußern wird; lassen Sie sich nicht hinreißen! Jene, deren Lobpreisungen Sie ernten, werden nicht immer gute, löbliche Absichten hegen. Schenken Sie ihnen kein Gehör, noch öffnen Sie ihnen Ihr Herz! Sie sind eine Waise und deshalb flößen Sie mir eine innige Teilnahme ein. Hören Sie auf den Rat einer Frau, welche weder oft noch viel redet.«

Helene ward durch diese halbverhüllte Redeweise, die so vieles mit wenigen Worten sagte und noch mehr erraten ließ, tief gerührt.

»Ich werde gewiß, gnädige Frau, bestrebt sein, Ihren Rat mir zu Nutzen zu machen,« erwiderte sie, »aber ganz allein und verlassen an diesem Orte, wo ich niemanden kenne, kann ich trotz alledem gar leicht in einen Irrtum verfallen, einen falschen Schritt thun. Erlauben Sie mir daher, mich an Sie zu wenden, sobald ich eine Gefahr besorge; indem ich Ihnen alles, ohne den mindesten Rückhalt, anvertraue, werden Sie mich aufklären, mir den richtigen Weg weisen können. Wollen Sie das, gnädige Frau?«

Um Glycinien mit Glycerin zu verwechseln, muß man nicht eben geistig beschränkt sein; auch Frau Lebeurier war dies durchaus nicht. Sie begriff, sie fühlte, was mit diesen Worten Helenens gemeint war; mit einer Lebhaftigkeit, deren man eine so schüchterne und verschlossene Frau nicht fähig gehalten hätte, reichte sie ihr die Hand und sie innig drückend bekräftigte sie ihre Worte:

»Von ganzem Herzen, mein Kind!«

 

9.

Trotz der Drohung des Herrn Lebeurier, sie bald zu besuchen, atmete Helene auf, als sie sich wieder auf der Straße befand.

Allerdings war es für sie gräßlich, hiermit bedroht zu bleiben; aber durchaus nicht überrascht konnte sie davon sein nach alldem, was Valpinçon ihr berichtet hatte. Als sie bei dem Notar eingetreten, fürchtete sie sich vor ihm fast ebensosehr, wie jetzt, nach ihrem Weggange von ihm. Würde wohl Frau Lebeurier ihr nützlich zu sein vermögen? Darüber war sie nicht im Klaren; doch, was sich auch begäbe, konnte sie nicht umhin, über den Antrag dieser bedrückten, unglücklichen Frau, die gewiß weit mehr von einer edelmütigen Regung getrieben, als von einem eifersüchtigen Gedanken beschlichen, gesprochen hatte, tief gerührt zu sein. –

Vor der Thüre der Wohnung des Kaplans raffte sie sich aus allem Sinnen empor und zog die Klingel.

Obgleich sie stark genug geläutet, auf daß es im ganzen Hause hörbar war, wurde die Thüre nicht geöffnet.

Und doch glaubte sie wahrgenommen zu haben, daß der Vorhang an einem Fenster ein wenig beiseite geschoben worden und daß jemand dahinter hervorgelugt hatte.

Nach einigem Abwarten läutete sie neuerdings und diesmal noch stärker. Sie glaubte das Öffnen einer Thür im Hause zu vernehmen; aber niemand kam, ihr aufzuschließen.

Es drängte sich ihr die Frage auf, ob man ihr wirklich keinen Einlaß gewähren wolle oder ob dies wohl eine Prüfung, der man sie zu unterziehen suche, sei.

Die Leute, welche über den Platz gingen, blickten sie an und tauschten mit jenen, die in die Thüren getreten waren, um nachzusehen, wer denn so lange vor der Kaplanwohnung zu harren habe, ein verständnisvolles Lächeln aus.

Endlich, da die Thüre verschlossen blieb, entschied sich Helene, heimzugehen und nächsten Tages wiederzukommen.

Dies that sie denn auch, sich, während sie die Glocke zog, fragend, ob sich diese so fest versperrte Thür auch diesmal nicht vor ihr aufthun werde.

Ihre Ungewißheit währte nicht lange: fast sofort wurde die Thüre durch eine Magd, welche in nichts der Wirtschafterin des Pfarrers ähnelte, geöffnet; sie war ebenso steif, spröde, unfreundlich, klapperdürr und von gelblicher Hautfarbe, wie jene beleibt, vollblütig, von blühendem Aussehen, und trotz ihrer Gesetztheit artig, entgegenkommend war.

»Kann ich den Herrn Kaplan sprechen?«

»Nein.«

Helene sah ein, daß ihre Frage ungeschickt gewesen; wenn sie gefragt hätte: »Ist der Herr Kaplan zu Hause?,« so würde diese fromme Person vielleicht nicht gewagt haben, eine Unwahrheit zu sagen.

»Wann könnte ich ihn sprechen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wann nimmt er Besuche an?«

»Wenn er daheim ist.«

»Und wann ist er daheim?«

»Kann ich auch nicht sagen; dafür giebt es keine bestimmte Stunde.«

»Ich werde wieder vorsprechen.«

Diesesmal kam sie erst nach drei Tagen wieder; sie hatte von vornherein ein so eifriges Bestreben dargethan, daß sie nun das Recht, sich erwarten zu lassen, hatte.

Die erste Schule, die sie durchgemacht, war ihr dienlich gewesen.

»Ist der Herr Kaplan zu Hause?« fragte sie die ihr öffnende Magd.

»Ja, Fräulein.«

»Kann ich bei ihm vorkommen?«

»Ich werde sogleich Antwort bringen.«

Sie ließ Helene im Vorzimmer, das ebenso kahl, als jenes des Pfarrers mit allerlei der leiblichen Behaglichkeit frommenden Gegenständen als: Strohhüten, Überröcken, Regenschirmen, Spazierstöcken angefüllt war, stehen; bei dem Kaplan sah man nur in einem Winkel einen Stecken, den er sich von einer Haselstaude abgeschnitten, mit Staub und Kot überzogen.

Die Magd kehrte bald zurück und geleitete Helene nach einem Speisezimmer, das sich von dem Gemache, worin sie zu warten gehabt, kaum wesentlich unterschied. In der Mitte stand ein Tisch aus Tannenholz, der mit feinem Sande abgerieben war; außerdem waren darin vier Strohsessel und auf dem Kamine, als einzige Zierde, eine Madonna aus goldbronciertem Gips.

Der Kaplan saß an diesem Tische, über den nicht einmal ein Tuch gebreitet war, und aß gerührte Eier aus einer Schüssel von braunem Steingut; seine Gabel war von Zinn; das Glas, woraus er einen sehr blaßen Äpfelmost schlürfte, war ungeschliffen.

Bei dem Eintritte Helenens erhob er sich nur halb, die Schüssel zurückschiebend; dann setzte er sich wieder, indem er vom Tische ein wenig wegrückte und die Augen niederschlug.

Inzwischen gab ihm Helene, die einen Stuhl sich genommen hatte, kund, daß sie bereits vor drei Tagen ihre Aufwartung machen gewollt, aber keinen Zutritt gefunden habe.

Ohne sie anzusehen, hörte der Kaplan ihr zu, indem er dabei an den Fingern herum biß; unter seinen scharfen, spitzen Zähnen krachten die Nägel.

Plötzlich richtete er die Augen empor und sagte, Helenen mit einer Art von Trotz in das Antlitz blickend:

»Es liegt Ihnen also viel daran, mich zu sprechen?«

»Mir lag daran, meine Pflicht zu erfüllen,« erwiderte sie einfach.

Es trat eine Schweigepause ein, während welcher der Kaplan noch stärker an den Nägeln kaute.

»Dann haben Sie,« sagte er, »keine Furcht vor dem Kampfe?«

»O, im Gegenteile, eine sehr große Furcht.«

»Weshalb kommen Sie dann nach Yvranches?«

»Weil ich eben die Hoffnung hege, daß es keinen Kampf geben wird.«

»Sie gedenken demnach die Stelle aufzugeben?«

»Dies keineswegs.«

Sie wiederholte dem Abbé Perichard, was sie bereits dem Pfarrer erklärt und dieser ihr anempfohlen hatte, seinem Kaplan auch mitzuteilen.

Während sie sprach, unterzog der Kaplan sie einer verstohlenen Musterung, indem er bald wie wider seinen Willen die Augen auf sie richtete, bald selbe, sich einen ersichtlichen Zwang anthuend, hartnäckig zu Boden gesenkt hielt.

Helene, die sich mit aller Offenheit äußerte und ohne Scheu die Augen auf ihn richtete, gewahrte mit Erstaunen die jähen Veränderungen in seinem Antlitze, das plötzlich wie mit Blut übergossen, plötzlich wieder ganz farblos erschien und derart eine heftige Gemütserregung, deren Ursache sie nicht faßte, verriet.

Voll Ungestüm schnitt er ihr das Wort ab.

»Also,« schrie er sie an, »Sie bilden sich ein, daß man in einem bisher friedsamen und glücklichen Orte sich in eine laut Recht und Überlieferung geweihte, geheiligte Stellung eindrängen, fromme, gottergebene Jungfrauen aus ihrem Heim verjagen, Verwirrung und Gottlosigkeit dahin verpflanzen, sich zur Mitschuldigen Böswilliger oder Wahnsinniger machen und sodann sagen darf: »Ich will keinen Kampf?«

»Aber nicht ich habe diese Sachlage geschaffen,« bemerkte Helene, über eine derartige Heftigkeit einen Augenblick bestürzt.

»Was kommt darauf an, wenn sie besteht!«

»Viel kommt darauf an, vom Gesichtspunkte der Verantwortlichkeit aus betrachtet.«

»Sind Sie nicht das Werkzeug dieser Bösewichter oder Wahnsinnigen, und zählen diese nicht auf Sie betreffs der Verwirklichung ihrer ruchlosen Absichten?«

»Das Werkzeug ist nicht die Hand.«

Dieser Widerspruch schien den Kaplan zu ergrimmen; seine Stirnadern schwollen auf und nahmen in seinem hochroten Gesichte eine schwärzliche Färbung an.

»Ist nur das Werkzeug gebrochen, dann hat die Hand nicht mehr die nämliche Macht, um Böses zu verüben!« entgegnete er schroff.

»Sie greift dafür nach einem anderen.«

»Man bricht das zweite, wie man das erste gebrochen, das dritte wie das zweite, das vierte wie das dritte.«

Er stieß diese Worte heraus, ohne einen Blick auf sie zu werfen, ja ohne sogar den Kopf nach ihr zu kehren.

»Und wenn dieses Werkzeug kein lebloses Ding von Holz oder Eisen ist,« sagte sie gelassen, »wenn es eine Seele hat, die dadurch leiden und in Verzweiflung geraten kann?«

Der Kaplan antwortete nichts und wandte seine Augen nicht vom Fußboden des Zimmers ab; aber an den Blutwellen, die abwechselnd seine Stirnadern schwellten und senkten, waren leicht die Wandlungen des Aufruhrs seines Inneren zu verfolgen.

»Ich bin, Herr Kaplan,« fuhr Helene fort, »ein solches Werkzeug, ein solches fühlendes Werkzeug, und ich kann nicht glauben, daß man eigenwillig mir ein Leid zuzufügen trachten sollte, wenn meinerseits das ganze Streben darnach gerichtet sein wird, mit jedermann im Frieden zu leben, indem ich den Glauben, die Anschauungen und die Rechte eines jeden achte und ehre. Durch ein derartiges Benehmen hoffe ich den Kampf hintanhalten zu können.«

Sie sprach nicht als Bittstellerin, sondern mit einer Ruhe und Festigkeit, worin sich bekundete, daß sie von der Gerechtigkeit ihrer Sache durchdrungen war.

Nicht bloß durch die Schönheit ihrer Gesichtszüge, auch durch den Wohlklang ihrer Stimme übte Helene einen bestrickenden Zauber aus.

Auch der Abbé Perichard vermochte diesem nicht gänzlich zu widerstehen: während ihrer Rede hatte er den Kopf emporgerichtet und seine Augen auf sie heftend, war er, nach vorne gebeugt, die Lippen halb geöffnet, in die Haltung eines stummen Betrachters gesunken.

Sie fuhr fort:

»Und weshalb sollte man den Kampf wider mich beginnen? Um mich von hier hinwegzubringen. Ich gebe zu, daß dies gelänge, wenngleich ich mich im voraus darein ergeben, vieles auszuhalten. Man vertreibt mich oder ich gehe. Würde hierdurch der Gemeinderat anderen Sinnes oder nicht vielmehr in eine noch entschiedenere Gegnerschaft gedrängt werden? Ich oder eine andere, was ist daran gelegen?«

Sie hielt inne in der Meinung, daß er etwas erwidern würde; allein er blieb stumm. Aber aus dem sanfteren, milderen Ausdrucke seines Gesichtes glaubte sie zu erkennen, daß sie ihn bewegt, erweicht habe: das war nicht mehr der nämliche Mann, das waren nicht mehr die nämlichen Blicke.

Durch den vermeintlichen Erfolg ermutigt, ergriff sie wieder das Wort:

»Wer kann wissen, wie jene, die an meine Stelle käme, geartet ist! Würde sie, gleich mir, von dem Drange, alles, was den Kampf hervorrufen könnte, zu vermeiden, beseelt hier anlangen? Würde sie zu allem erbötig sein, um den Frieden zu fördern und aufrecht zu erhalten? Würde sie nicht im Hinblick auf die Behandlung, die man mir zugefügt, eine andere Bahn als die von mir verfolgte einschlagen wollen, ja, würde man sie nicht geradezu hineinstoßen? Dies sind Erwägungen, welche Ihr Gerechtigkeitssinn nicht von sich weisen kann! Darf ich auch noch ein Wort zu meinen Gunsten beifügen? Nicht aus freiem Antriebe, nicht mit freudigem Herzen habe ich die Stelle in Yvranches, den Gefahren, die mit ihr verbunden, trotzen wollend, angenommen; ich bin eine Waise; ich bin die Stütze einer Großmutter, die nur mich hat.«

Der Kaplan fand noch immer keine Sprache. Einige Sekunden lang ließ er seine Augen in den ihrigen stecken; plötzlich und gerade jetzt, wo sie gesiegt zu haben wähnte, riß er sie von ihr los und starrte zu Boden.

Beiderseits tiefes Schweigen.

Aber es war von kurzer Dauer; voll Hast sprang der Abbé Perichard von seinem Stuhle auf.

»Nein, Fräulein, nein,« fuhr er sie an, ohne ihr einen Blick zuzuwenden. »Ich werde mich nicht durch solche sündhafte Scheingründe umstimmen, verführen lassen. Ihre Anwesenheit in Yvranches ist gefahrvoll, birgt eine Gefahr für … alle in sich. Ich werde alles daran setzen, um Sie zu nötigen, aus unserer Pfarre zu weichen. Sie verstehen mich: alles! Ich sage Ihnen dies offen ins Gesicht. Lassen Sie es sich zur Warnung dienen!«

»Aber, Herr Kaplan …«

Auf sie zutretend, wehrte er ihr weiteres Reden.

Sie war aufgestanden und unwillkürlich zurückgewichen, nicht begreifend, wodurch sie einen Anlaß zu so plötzlichem Ausbruche von Heftigkeit und gröblichem Betragen geboten haben könnte.

Ohne an sie zu streifen, aber immer auf sie losrückend, drängte er sie derart bis an die Thür des Vorzimmers.

»Gott befohlen, mein Fräulein!«

Und er warf knapp hinter ihrem Rücken die Thür in das Schloß.

 

10.

Seit Helene sich in Yvranches befand, bekam sie unaufhörlich und von allen Seiten, so daß ihr schon die Ohren davon klangen, Einen Namen: den des Fräuleins de la Bussonnière zu hören.

Diese sehr reiche alte Jungfer hatte, wie die Chronik berichtete, eine ziemlich stürmische Jugend gehabt und war unvermählt geblieben, weil sie das männliche Ideal ihrer Träume, nach dem sie fünfundzwanzig Jahre hindurch unermüdlich gesucht und geforscht, nirgends aufzufinden vermochte. Als ihr nach zahlreichen schmerzlichen Erfahrungen klar geworden, daß es für sie unerreichbar wäre, hatte sie sich der Frömmigkeit, einer für ihre Kirche streitenden Frömmigkeit hingegeben, um durch Beschäftigung und Zerstreuung ihrem Thätigkeitsbedürfnisse Genüge zu thun. Nun war das aber gar keine leichte Sache, denn sie war geistig und körperlich von einer kaum übertreffbaren Lebhaftigkeit; immer in Bewegung, ging sie mit einem Schwarme von Gedanken im Kopfe umher, die nicht flüchtige Anwandlungen, welche die Stunde gebiert und die mit der Stunde vergehen, waren, sondern fest saßen und von ihr, ohne sie jemals fahren zu lassen, bis auf das äußerste verfolgt wurden. Weder mit ihrem Gelde noch mit ihrer Zeit sparend, war sie fast ohne alles Zuthun die Vorsteherin sämtlicher frommen oder mildthätigen Stiftungen der ganzen Umgegend, nicht bloß in Yvranches, sondern auch noch zehn Meilen in der Runde geworden und sie verstand es, ihr Ansehen durch Aufbietung aller Mittel vollgiltig zu erhalten, sowie sie auch vor nichts zurückwich, um eine Sache, die sie anstrebte, durchzusetzen. Einfache, schlichte Leute sagten, daß sie die »Vorsehung« der Pfarrer wäre, da sie bei ihr jede Art von Unterstützung, deren sie bedurften, mit Zuversicht zu gewärtigen hätten; dagegen behaupteten Klügere, die den Dingen auf den Grund zu schauen verstehen, daß sie ihre »Schreckscheuche« sei, denn die Unterstützung, die sie ihnen gewährte, ließe sie sich von ihnen teuer bezahlen, indem sie die unvorsichtig bei ihr Hilfesuchenden sofort gänzlich in Beschlag nahm und ihnen eine unbedingte Botmäßigkeit aufzwang. In den Konferenzen der Pfarrer des Bezirkes, bei welchen ihr Dechant den Vorsitz führte, feuerte man sich gegenseitig an, ihr Joch abzuschütteln, aber keiner wagte es, zuerst sich wider sie aufzulehnen. So viel war sicher, daß der Abbé Houel, der ihr öffentlich große Achtung und Ergebenheit bezeugte, sie wie die Pest floh und daß, wenn man ihn irgendwohin einlud, sein erstes Wort, bevor er eine Antwort gab, war: »Kommt auch das Fräulein de la Bussonnière?« Nur dann, wenn diese Frage verneint wurde, nahm er die Einladung an. Sie hätte auch nichts darnach gefragt, ihm eine Verdrießlichkeit zu verursachen oder die Ruhe und den Frieden wornach er solch inniges Verlangen trug, zu stören. Ruhe und Frieden waren der Tod für sie. Mißhellig mit dem Pfarrer, stand sie dagegen auf bestem Fuße mit dem Kaplan, in welchem sie den Mann der That, den sie benötigte, gefunden; nicht minder war sie der Schwester Philogona hold.

Als Helene in Yvranches ankam, hatte man sie gefragt, ob sie nicht dem Fräulein de la Bussonnière, das die Vorsteherin oder Vorstandsstellvertreterin aller Wohlthätigkeitsanstalten im Pfarrsprengel wäre und durch dessen Hände alle Unterstützungen, deren sie für ihre armen Schulkinder bedürfen könnte, gehen müßten, einen Besuch abstatten werde; allein sie hatte nicht Lust, sich einem neuen Auftritte auszusetzen; sie hatte an dem mit dem Kaplan gehabten übergenug.

Doch wenn sie nicht zu dem Fräulein de la Bussonnière gehen wollte, so verfügte sich diese, welche nichts, wenn es der Durchsetzung eines Vorhabens galt, zurückhielt, nach dem Schulhause. Eines Nachmittages, als Helene von dem Lehrzimmer in ihre Wohnung hinauf kam, fand sie die alte Jungfer im Gespräche mit ihrer Großmutter.

Mit einem Lächeln nahm sie das Erstaunen, das Helene nicht zu unterdrücken vermochte, auf; dann sagte sie:

»Vor allem müssen Sie wissen, daß ich eine lebhafte Teilnahme für Sie empfinde. Sie können sich doch wohl denken, daß ich, nachdem ich Ihre Ernennung für Yvranches erfahren, unter den gegenwärtig hier obwaltenden Umständen Klarheit haben wollte, wer Sie wären? Ich habe demnach Erkundigungen über Sie eingezogen, und die Mitteilungen, die ich erhalten, haben mich gerührt. Ihre Unglücksfälle, Ihre Notlage, Ihr Mut konnten ein weibliches Wesen, das die Leiden und Drangsale des Lebens kennt, nicht teilnahmlos belassen. Ich habe mich daher zu Ihnen hingezogen gefühlt und beschlossen, Ihnen einen Dienst zu erweisen.«

Helene verneigte sich bloß, da sie auf solche Eröffnung nichts zu erwidern hatte; sie mußte erst ersehen, worauf selbe hinaus lief.

»Sie begreifen doch wohl,« fuhr das Fräulein de la Bussonnière fort, »daß Sie hier nicht verbleiben können? Wenn Sie nicht freiwillig, nachdem Sie einige Bedrängnisse, die Ihnen mit Sicherheit bevorstehen, erlitten haben werden, davon gehen, so wird man Ihre Abreise erzwingen. Sie werden mir erwidern, daß Sie nicht in der Lage sind, die hiesige Stelle aufgeben zu können?«

»In der That.«

»Ich habe diese Antwort vorausgesehen und eben deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich habe bereits erwähnt, daß das, was ich über Sie erfahren, mir eine lebhafte Teilnahme eingeflößt hat, und hiervon will ich Ihnen sofort einen Beweis liefern. Um von hier fortzugehen, müßten Sie erst wissen, wohin Sie etwa gehen sollten, nicht wahr? Nun, dieses Wohin zu bezeichnen, Ihnen anzubieten, bin ich gekommen.«

Trotz ihrer Überraschung unterließ Helene, die auf ihrer Hut war, jede Frage.

»Lassen Sie sich,« fuhr Fräulein de la Bussonnière fort »gesagt sein, daß Sie früher oder später gezwungen sein werden, Yvranches zu verlassen. Wenn Sie dann die Gewißheit hätten, mit einer anderen Stelle versorgt zu sein, würde dies Ihnen eben nicht schwer fallen. Aber würde man Ihnen eine solche verleihen? Wie mich dünkt, kann diese Frage nichts weniger als mit Sicherheit bejaht werden; denn in einem Kampfe stellt man sich bloß, macht man sich Feinde. Demnach würden Sie an dem Tage, an dem Sie diese Stelle aufzugeben gezwungen wären, keine andere entweder schon besitzen oder in Bälde erhalten; wie Sie selbst wissen dürften, nimmt die Schulbehörde, die immer ängstlich oder schläfrig ist, Anstand, jene, die sich für sie bloßgestellt haben, zu verteidigen und zu stützen. Wohlan! Diese Stelle, die Sie dann nicht zu erhalten vermöchten, biete ich Ihnen sogleich an und verbürge sie Ihnen für die Anzahl von Jahren, die Sie selbst bestimmen mögen. Sie steht Ihnen im Damenstifte unter dem Patronate des heiligen Josef offen; Sie werden dort keinen Unterricht zu erteilen haben; Ihre ganze Obliegenheit wird fast nur darin bestehen, die sittliche Aufführung in dieser halb klösterlichen, halb weltlichen Gemeinschaft zu überwachen. Ich setze hinzu, daß Sie Ihre Großmutter bei sich haben können; diese wird Wohnung, Kost, und Verwendung in der Wäschkammer erhalten.«

Sie schwieg, um Helenen Zeit zu belassen, daß sie alles überdenke, sämtliche mit diesem Anerbieten verbundene Vorteile erkenne.

»Aber wenn ich dies auch annähme,« sagte Helene nach einer kurzen Pause, »so würde doch die Schließung der einer weltlichen Lehrkraft überwiesenen Mädchenschule in Yvranches – und dies ist ja der eigentliche Zweck, der erreicht werden soll? – durchaus nicht die Folge sein. Eine andere Lehrerin würde mich ersetzen.«

»Erstlich ist das nicht so sicher, und dann, wenn diese andere Lehrerin auch Sie zu ersetzen käme, würden doch Sie es nicht sein; sie würde nämlich sich nicht so geben, wie Sie sich gegeben haben; sie würde nicht die gleiche Teilnahme, wie Sie, uns einflößen, und sonach könnte man offen den Krieg wider sie führen.«

Diese letzte Bemerkung erhellte die Sachlage, die bis zu diesem Augenblicke für Helene dunkel geblieben: was man an ihr auszustellen hatte, von ihr besorgte, war ihr Maßhalten, die Art, wie sie sich gegeben hatte.

»Der Schluß Ihrer Rede, mein Fräulein, schreibt mir meine Antwort vor. Jene, die mich hierher gesandt, wollen friedliche Beilegung des Streites, nicht den Krieg; ich würde an ihnen treulos handeln, wenn ich die Stelle, die sie mir anvertraut, aufgäbe.«

»Sie schlagen mein Anerbieten aus?«

»Ich muß es ausschlagen.«

»Aber das ist ja die reinste Thorheit! Sie ahnen nicht, unglückliches Kind, was Sie wider sich heraufbeschwören!«

»Allerdings zog und ziehe ich dies nicht in Betracht.«

»Bedenken Sie doch, was der Kampf ist, und daß man im Kampfe nicht schonend mit seinen Gegnern umgeht. Sie werden allen Angriffen, allen Anschuldigungen preisgegeben sein; man wird Ihre Vergangenheit auszuforschen suchen …«

»Um so besser; denn man wird erkennen, daß ich nichts zu verbergen habe.«

»Ich glaube das; aber in diese Vergangenheit fällt auch eine aus dunklen Gründen rückgängig gewordene Heirat, und vornehmlich ein Aufenthalt im Schlosse Courtomer mit einer plötzlichen, äußerst auffälligen und … mindestens dem Anscheine nach unerklärlichen Abreise. Was mich betrifft, so bin ich überzeugt, daß Sie alldies aufzuklären imstande sind, wenn Sie wollen; es fragt sich nur, ob Sie es wollen, ja, ob Sie es können werden! Es giebt Augenblicke, wo das Gehässige des Angriffes wie ein jäher Schrecken lähmt.«

»Man verteidigt sich nur dann, wenn man eine Verteidigung nötig hat,« entgegnete Helene aufstehend, »und dies ist nicht mein Fall.«

»Nun, mein liebes Kind, überlegen Sie es sich noch …!«

»Die Überlegung kann nur darin bestärken, was die erste Regung entschieden.«

»Ich werde Sie wiedersehen.«

»Ich werde mich beehren, Ihnen meinen Dank für Ihren Besuch, den Sie in so gütiger Absicht mir gemacht, in Ihrer Wohnung abzustatten.« –

Als Helene, nachdem sie das Fräulein de la Bussonnière hinausgeleitet hatte, in das Zimmer wieder eintrat, fand sie ihre Großmutter an ihrem gewöhnlichen Platze eifrig strickend, aber kopfhängerisch und mit einer finsteren Miene.

Ziemlich lange blieben die beiden beisammen, ohne ein einziges Wort zu sprechen; plötzlich hob die Großmutter den Kopf empor und brach das Schweigen mit der Frage:

»Was für eine Antwort hast du denn dieser Dame gegeben?«

»In welcher Hinsicht, Großmutter?«

»In Hinsicht ihres Antrages, nach Condé zu gehen.«

»Ich habe ihr geantwortet, daß ich ihn nicht annehme.«

»Alsdann willst du Krieg mit den Geistlichen führen!«

»Aber keineswegs, Großmutter.«

Frau Margueritte schüttelte den Kopf:

»Das ist eine sehr bedenkliche Sache; denke darüber nach. Die Geistlichkeit hat lange, kräftige Arme, und dann empört sich, wer sie angreift, wider den lieben Herrgott.«

»Aber ich habe niemals weder das eine noch das andere thun wollen!«

Die alte Frau schüttelte noch stärker den Kopf:

»Nun, ich habe dich gewarnt; es ist das deine Sache! Was mich anbelangt, so will ich im Frieden mit dem lieben Herrgott sterben.«

 

11.

Mit Bangen sah Helene dem Ende der Ferien, der Eröffnung ihrer Schule entgegen.

Wie viele Schülerinnen würde sie wohl bekommen?

Es war dies eine Frage von wesentlichem Belange, sowohl betreffs des Erfolges ihrer Lehrerschaft, als auch hinsichtlich ihres Lebensunterhaltes.

Als der Gemeinderat von Yvranches die Mädchenschule einer weltlichen Lehrerin überwies, hatte er nicht die Unentgeltlichkeit des Unterrichtes beschlossen. Allerdings traten für selbe Paildieu und Fillette ein mit dem Bemerken, daß der Staat genug von seinen Kindern fordere, um ihnen dafür ihre Ausbildung, die überdies ihm selbst mindestens ebenso förderlich als jenen sei, umsonst verschaffen zu können; aber der Politiker Bonnot hatte ihren Antrag zum Falle gebracht, indem er dagegen einwandte, daß ein Wert bloß auf das, wofür gezahlt werden müsse, gelegt werde und daß, so lange der Unterricht nicht obligatorisch wäre, er auch nicht unentgeltlich sein dürfe, da er sonst von vielen Leuten außer Acht gelassen und sogar geringgeschätzt werden möchte.

Infolge des Sieges, welchen Bonnot davon getragen, erhielt die neue Lehrerin bloß einen festen Gehalt von 200 Francs; weiters das Erträgnis des Schulgeldes, wovon nämlich jede Schülerin 2 Francs monatlich zu entrichten hatte, sowie einen eventuellen, nach der Anzahl der jeweilig vom Schulgelde befreiten Kinder abgeschätzten Bezug; endlich eine Daraufzahlung für den Fall, daß die vorhin genannten Bezüge nicht die Summe von 700 Francs, welche als das mindeste Einkommen der Mädchenschule bestimmt ward, erreichen würden.

Ein Verdienst von 700 Francs war für zwei Frauen karg zugemessen; denn was ihnen hieraus für den täglichen Lebensunterhalt erwuchs, betrug nicht 40 Sous.

Als Helene nach Yvranches berufen wurde, hatte der Bürgermeister ihr wiederholt in Briefen, worin er schöne Kanzleistilphrasen verschwenderisch anbrachte, zugesichert, daß das Schulgeld weit diese 700 Francs überschreiten würde, und sie hatte dies geglaubt, da sie von Yvranches nur das, was die Statistiken hierüber berichteten, wußte, nämlich: daß es eine Gemeinde wäre, welche mehr als 3000 Einwohner zählte und folglich 120 oder 150 Kinder in die Schulen schicken dürfte. Wenn sie bloß das Viertel dieser Kinder, das ist: ungefähr 40 Schülerinnen, bekäme, so machte dies ein monatliches Schulgeld von 80 Francs aus, das mit den sonstigen ihr zugewiesenen Bezügen ihr und ihrer Großmutter ganz anständig auszukommen gestatten würde.

Doch seit sie in Yvranches war, hatte sie von diesen schönen theoretischen Berechnungen etwas nachlassen müssen.

Nicht unberechtigt war der Zweifel, ob sie wohl 30 oder 20 Schülerinnen bekäme, und wenn sie sah, was um sie vorging, konnte ihr sogar die Frage aufsteigen, ob ihr eine einzige zuteil werden würde.

Als Paildieu sie von Condé nach Yvranches führte, hatte er ihr vieles über seine beiden Mädchen, wovon das eine elf, das andere neun Jahre alt war, erzählt, ihr zugesichert, daß er sie zu ihr schicken werde, und ihr überhaupt seine Ansichten über Mädchenerziehung, welche an Sonderlichkeit und Urwüchsigkeit nichts zu wünschen übrig ließen, ausgekramt und eingeschärft.

Die gleiche Zusage hatte Fillette ihr betreffs seines Töchterchens gemacht; wäre es auch noch zu jung für die Schule, so sollte es dennoch dieses Jahr dahin gehen, nicht so sehr, um etwas zu lernen, als um durch die bloße Anwesenheit in der durch eine weltliche Lehrkraft geleiteten Gemeindeschule hervorzuglänzen und hiermit ein weiteres Zeugnis für die Freisinnigkeit und das fortschrittliche Wirken seines Vaters in Yvranches abzulegen.

Helene rechnete demnach mit Bestimmtheit auf die zwei kleinen Paildieus, sowie auf Zoe Fillette; es waren dies drei Schülerinnen, die ihr noch andere einbringen sollten; denn Paildieu war einer der wohlhabendsten Grundbesitzer des Ortes, und Fillette, der im täglichen Verkehre mit jedermann stand, hatte sich thatsächlich eines Einflusses zu erfreuen.

Als Helene aber wenige Tage vor der Eröffnung der Schulen Frau Paildieu besuchte, um zu sehen, was ihre künftigen Schülerinnen bereits erlernt hätten und was sie von ihnen erwarten könnte, wurde sie von deren Vater und Mutter mit ersichtlicher Verlegenheit empfangen und bekam sie, als sie die kleinen Mädchen kennen zu lernen wünschte, zur Antwort, daß sie ausgegangen wären, obgleich ihre Stimmen aus dem Garten, wo sie spielten, herein schollen.

Was hatte solch ein Empfang zu bedeuten? Grollte ihr Paildieu noch immer wegen ihres Kirchenganges?

Endlich gewann es Paildieu über sich, eine Aufklärung zu geben:

»Ich muß Ihnen nur gleich, in Bezug auf meine Mädeln, die Mitteilung machen, daß das einzige, und was alles miteinander sagt, ist, daß ich nicht thun kann, was ich wollte; für jetzt ist es unmöglich, sie zu Ihnen zu schicken.«

»Wie! Sie wollen sie also zu den Schulschwestern schicken?« rief Helene bestürzt aus.

Solche Zumutung nahm Paildieu sehr ungnädig auf:

»Meine Mädeln zu den Schulschwestern, die ich barbiert haben will, schicken? Da sieht man, daß Sie den Isidor Casimir Paildieu noch gar nicht kennen! Das hätte ich mir von Ihnen nicht gedacht! Zu den Damen im St. Josefstifte nach Condé sollen sie gehen.«

»Ah!«

»Das wird doch nicht das Nämliche sein!« sagte Paildieu, sich stets entrüsteter geberdend. »Und dann ist eben das einzige, und was alles miteinander sagt, daß Wollen und Können zweierlei ist. Man ist seiner Familie Rücksichten schuldig: ich habe Tanten, von denen ich erben werde. Die kann ich nicht vor den Kopf stoßen, in deren Willen muß ich mich fügen, und sie lassen es sich nun einmal nicht nehmen, daß in Ihre Schule zumeist nur Kinder von Arbeitern und armen Leuten gehen werden, und diese kein schicklicher Umgang für meine Mädeln wären. Sie sehen das doch ein, wie?«

»Ich würde dies einsehen, wenn jemand so spräche, der nicht … Ihre Grundsätze teilte.«

»Meine Grundsätze! Was hat das mit meinen Grundsätzen zu thun? Paildieu wechselt niemals die Farbe! Ich wollte die Schulschwestern beim Schopfe packen, und ich werde sie auch zausen. Wäre ich frei und unabhängig, würde ich meine Mädeln gerade in Ihre Schule schicken, weil sie dort Umgang mit Arbeiterkindern hätten. Bin ich denn nicht ein Mann aus dem Volke? Kann denn jemand sagen, daß ich ein Verächter des Volkes bin? Soll einer auftreten und mir das ins Gesicht sagen – ich, Isidor Casimir Paildieu, werde ihm das Maul für immer zu stopfen wissen! Jedoch das einzige, und was alles miteinander sagt, ist, daß ich eben nicht ganz frei und unabhängig bin. Ich muß auf meine Tanten hören, die bigott auferzogen worden, und daher kein verständiges, gesundes Urteil haben.«

»Werden denn aber nicht Ihre Töchter, wenn sie die nämliche Erziehung erhalten, ebenso wie ihre Großtanten urteilen?«

»Glauben Sie, daß ich mir das nicht selbst sage? Aber ich kann mich doch nicht um mein Erbe bringen und dadurch auch meine Kinder verkürzen! Es besteht im besten Weideboden der ganzen Gegend: ein Ochs mästet sich dort in drei Monaten. Und sie würden mich, wenn ich gegen ihren Willen handelte, enterben, so wahr ich Paildieu heiße! Es sind das alberne, beschränkte Weiber, ihre Köpfe von Aberglauben und Vorurteilen voll gepfropft. Deswegen fürchten Sie aber nur nichts; die Schulschwestern werden mir das zu entgelten haben. Sie werden schon sehen! Ich sage nichts, als das.«

Unter so bewandten Umständen wäre es ganz zwecklos gewesen, wenn Helene sich beklagend oder bittlich hätte verlauten lassen; dies that sie denn auch nicht; wohl aber ging sie in recht gedrückter Stimmung hinweg und inmitten der prachtvollen Wiesen Paildieus, wo das Gras den Ochsen bis an die Brust reichte, fort, an sich die Frage richtend, was aus ihrer Schule werden würde, wenn sie derart von jenen, die gerade ihre ersten und kräftigsten Stützen, weil sie ihr Werk war, sein sollten, im Stiche gelassen werde.

Nun wenn sie der kleinen Paildieus verlustig geworden, so blieb ihr mindestens Zoe Fillette; dies redete sie sich als einen Trost ein.

Als sie vor das Gasthaus »zum Großtürken« kam, sah sie Frau Fillette, ihr vom Kohlenfeuer erhitztes Gesicht in der frischen Luft abkühlend, auf der Thürstaffel stehen; sie trat auf sie zu und fragte sie nach einigen artigen Worten der Begrüßung:

»Wie geht es Ihrer Zoe?«

»Danke schön, gut geht es ihr, das heißt: nein, sehr gut geht es ihr nicht, und wir hätten sogar in dieser Hinsicht mit Ihnen zu sprechen.«

»Seien Sie versichert, daß ich alle Vorsicht, die Sie nur wünschen können, für die Kleine aufbieten werde.«

»O, hierüber bin ich ganz ohne Sorge, und seien Sie bestens bedankt; allein diese Vorsicht reicht leider bei ihr nicht aus.«

Und sie hielt verlegen inne, indem sie den Zipfel ihrer weißen Schürze in den Gürtel, der ihren dicken Leib umspannte, hineinzustecken suchte; doch dies verschaffte ihr keine beherztere Haltung.

»Treten Sie doch herein,« sagte sie plötzlich, »Fillette will mit Ihnen sprechen.«

Sofort vorangehend, rief sie nach ihrem Gatten, der im Billardzimmer war, woraus man das Carambolieren der Bälle vernahm; dann eilte sie an ihren Herd, wo sie sich mit den Kochgeschirren zu schaffen machte.

Sowie Fillette aus dem Billardzimmer in die Küche trat, trennte sich auch seine Frau von ihrem Herde, schloß die Thür eines Kabinettes auf und bedeutete Helenen, voranzugehen.

»Wegen Zoe sollst du mit Fräulein Margueritte reden,« sagte sie zu ihrem Manne und drängte ihn vor ihr in das Kabinett.

Nun kam an ihn die Reihe, verlegen dazustehen; aber er brauchte nicht lange, um sich zu entschließen.

»Es handelt sich,« begann er, »darum, daß wir Ihnen unsere Zoe nicht sogleich werden geben können; sie ist nicht ganz wohl und Doktor Tarot rät uns, sie noch nicht mit Lernen zu behelligen. Sie verstehen, wenn der Arzt derart spricht …«

»Was ist ihr denn?« fragte Helene.

»O, nichts von Bedeutung; es ist eben nur Vorsicht nötig; wenn der Winter vorbei, wollen wir dann sehen …«

»Ja, bis die schöne Jahreszeit kommt!« ergänzte Frau Fillette.

Helene konnte nichts entgegnen; sie bemerkte bloß, daß Paildieu ihr soeben angekündet, seine Töchter zu den Damen im St. Josefstiste zu schicken.

»Ist dieser Paildieu eine feige Memme!« rief Fillette aus. »Nun jetzt hat er selbst sich unmöglich gemacht; er wird nicht wieder in den Gemeinderat gewählt werden. Ein Mensch, der bloß zu schreien versteht, ist doch gar zu erbärmlich!«

Fillette geleitete Helene hinaus; als er sich mit ihr allein auf dem Platze befand, sagte er im Flüstertone:

»Nur meiner Frau wegen thue ich es. Sie wissen, mein ganzes Geschäft beruht auf ihr; ich darf sie nicht wider mich aufbringen, und zur Vernunft bringen kann ich sie auch dann nicht! Was wollen Sie, daß man mit einer Frau, die sowie die meinige erzogen, anfange?«

Vor ihrem Schulhause trat Bonnot ihr in den Weg und sprach sie an:

»Was ist denn Ihnen begegnet, Fräulein Margueritte? Sie sehen ja ganz verstört aus?«

Helene berichtete, was sie soeben erfahren hatte.

»Ich habe,« erwiderte Bonnot, »mich stets dahin ausgesprochen, daß die stärksten Schreihälse die größten Hasenfüße seien. Aber was kann man auch Gutes von Leuten erwarten, die von Politik ganz und gar nichts verstehen? Jammerschade, daß ich nicht ein Töchterlein habe; dann würden Sie sehen, ob ich mich scheute, es in Ihre Schule zu senden. Nein, das ist eine wahre Schmach! Zum Glück ist das Gute dabei, daß es sie alle lehrt, was von solchen Schwätzern zu halten sei. Nun, die beiden können schon sicher sein, daß sie nicht wieder gewählt werden!«

Mit lebhafter Befriedigung hatte Fillette vorausgesagt, daß Paildieu nicht wieder gewählt werden würde; nicht minder zufrieden weissagte Bonnot, daß sowohl Fillette als Paildieu auf eine Wiederwahl Verzicht zu leisten hätten, und hiermit schied er von Helenen, um sich sein Mittagmahl wohl schmecken zu lassen. –

Obzwar Helene nicht reich war, hatte sie doch ihre Hausarmen; es war eine Mutter mit fünf Kindern, deren Vater bei einer Sprengung im Steinbruche, angeblich durch sein eigenes Verschulden, um das Leben gekommen. Da sie, selbst mit Geld kärglich bedacht, ihnen keine geldliche Unterstützung bieten konnte, so arbeitete sie für diese Kinder und versah sie mit Kleidern, die sie aus ihren eigenen zuschnitt, damit sie anständig und sauber in ihrer Schule erscheinen könnten.

Wenige Tage vor der Eröffnung der Schulen fand sich die Mutter dieser kleinen Mädchen bei Helenen ein und brachte nach allerlei Umschweifen, Entschuldigungen und Beteuerungen das Geständnis heraus, daß ihre Kinder bei den Schulschwestern eintreten würden.

»Ich hätte sie so gerne zu Ihnen gegeben; aber man hat mir durchblicken lassen, daß ich keine Geldaushilfe mehr erhielte, und dann würden auch die Kinder zu ihrer ersten Kommunion keine Anzüge bekommen. Sie sehen ja doch ein …«

Gewiß fehlte es Helenen an der nötigen Einsicht nicht.

Die Witwe fügte hinzu:

»Es muß Sie dies aber nicht abhalten, meiner armen Kleinen bedacht zu bleiben. Soeben hat die älteste in das Kleid, das Sie ihr gegeben, einen Riß hineingebracht; hätten Sie nicht ein Restlein von dem Stoffe?«

»Bringen Sie nur das Kleid; ich selber will es ausbessern.«

»Seien Sie mir nicht böse, wenn ich noch bitte, daß Sie zu niemandem von Ihrem Arbeiten für uns eine Erwähnung thun möchten!«

 

12.

Über eine Treppe, deren Thür im Erdgeschosse auf die Straße hinausging, gelangte man zu der Wohnung Helenens.

Als sie am Tage vor der Schuleneröffnung, an einem Sonntage morgens, diese Thür aufsperrte, entdeckte sie, daß man selbe während der Nacht mit Kreide ganz voll geschrieben hatte. Ein wenig zurücktretend, las sie allenthalben die gleiche Aufschrift: »Courtomer Vater und Sohn.«

Im ersten Augenblicke begriff sie nicht, was dies zu bedeuten habe.

Plötzlich ging ihr ein Licht auf, und vor Scham meinte sie in den Boden zu sinken. Also derart gingen die Androhungen des Fräuleins de la Bussonnière in Erfüllung!

Aber es lag nicht in der Natur Helenens, den Mut zu verlieren, und unter den Schlägen, die sie trafen, niedergebeugt zu bleiben.

Wenn man mit diesen Aufschriften ihre Thür bedeckt hatte, so geschah es nicht bloß, damit sie selbe sähe, sondern hauptsächlich deshalb, damit andere sie sähen und damit sie von allen, die in das Gemeindehaus, wo an diesem Tage eine Wählerversammlung stattfand, kommen würden, gelesen werden sollten.

Welch ein ergiebiger Stoff für die Neugierde und die Klatschsucht!

»Courtomer Vater und Sohn.« Was hat denn das nur zu bedeuten? Was kann nur dahinter stecken?

Sie mußte demnach diese Aufschriften schleunigst auslöschen; vielleicht waren sie zu dieser frühen Morgenstunde noch von niemandem erblickt worden.

Sie trat in das Lehrzimmer ein, nahm den Schwamm von der Wandtafel, und kehrte an die Thür zurück.

Aber schon war es auf dem Platze nicht mehr unbelebt und vor dem Friseurladen saßen auf Bänken oder standen mit den Rücken gegen das Auslagefenster etwa zwanzig Männer, welche abwarteten, bis die Reihe des Haarschneidens oder Rasierens an sie käme.

Lieferte sie denn nicht schon allein dadurch, daß sie diese Aufschriften entfernte, den Beweis, daß selbe sie ärgerten und daß sie deren Entdeckung von anderen befürchtete?

Sie schwankte einen Augenblick; doch nach kurzem Überdenken erachtete sie es noch als das beste, selbe nicht zu belassen; sich so viel als möglich unauffällig machend und den Rücken dem Platze zukehrend, begann sie mit dem Auslöschen.

Während sie mit dem Schwamme auf dem Holze herumwischte, ging sie mit sich zu Rate, was sie antworten sollte, wenn jemand im Vorübergehen sie befragte, was sie denn da machte.

Glücklicherweise brauchte sie nur kurze Zeit und niemand redete sie an.

Als sie, damit fertig geworden, nach dem Platze hinblickte, sah sie den Bürgermeister, der behufs der Zusammensetzung der Wahlkommission sich nach dem Gemeindehause begab, herankommen: sie trat hinaus, um ihn zu begrüßen.

»Nun, Fräulein,« sagte Herr Amette, »morgen haben wir unseren wichtigen Tag; hoffen wir, daß Ihr Lehramtsantritt gut ausfalle, trotz des Abfalles von Paildieu und Fillette.«

»Sie wissen schon?«

»Bonnot hat es mir erzählt.«

Sie stand mit dem Rücken gegen das Schulhaus und der Bürgermeister ihr gegenüber.

»Was ist denn das dort?« rief er plötzlich aus.

Sie wandte sich um, zu sehen, worauf er mit der Hand wies.

Auf der Mauer des Schulhauses, das kürzlich erst mit gelber Farbe übertüncht worden, las sie zehn-, zwanzigmal wiederholt, in großen roten, blauen und schwarzen Buchstaben die Aufschrift, welche sie soeben von ihrer Thür weggewischt hatte: »Courtomer Vater und Sohn.«

Helene vermochte nicht, einen Aufschrei der Empörtheit zu unterdrücken.

»Was soll denn das?« fragte der Bürgermeister.

»O, welche Abscheulichkeit!«

Und sofort teilte sie ihm den Besuch des Fräuleins de la Bussonnière samt den Andeutungen und dem Antrage, welche die alte Jungfer ihr gemacht, mit.

Thränen der Scham stiegen ihr dabei in die Augen und die Bestürzung schnürte ihr fast die Kehle zu.

Als sie ihre Erzählung beendet hatte, kam Bonnot herzu.

Der Bürgermeister deutete sofort nach den Aufschriften hin und verständigte ihn von dem, was Helene ihm soeben erzählt hatte.

»Das muß augenblicklich abgekratzt werden,« sagte der Gemeinderat.

»Was Ihnen nicht einfällt!« entgegnete der Bürgermeister lebhaft. »Jedermann soll sehen, welcher Waffen sich unsere Gegner bedienen. Das ist ein Glücksfall für uns, er muß gehörig ausgenutzt werden; dann verschafft er unserem Kandidaten fünfzig Stimmen, die er sonst nicht bekommen hätte.«

»Und ich?« konnte Helene nicht umhin, leise zu bemerken.

»Was thut das Ihnen, mein liebes Fräulein! Alle jene, an deren Achtung Ihnen gelegen sein kann, werden dies einstimmig als eine Niederträchtigkeit bezeichnen.«

»Und die anderen?«

»Um diese brauchen Sie sich nicht zu kümmern.«

Dies konnte der Bürgermeister leicht sagen; aber nicht leicht war es für Helene, diesen Rat zu befolgen.

Doch wie gekränkt sie sich auch fühlte, was vermochte sie dawider zu thun?

Der Bürgermeister that einen Ausspruch, der ihr alle Rede verschlug.

»Sie sind, mein lieber Bonnot, mit dem Polizeiwesen betraut, und demgemäß mache ich Sie für die Erhaltung dieser Aufschriften verantwortlich. Wenn jemand sich herausnehmen sollte, sie abzukratzen oder irgendwie unleserlich zu machen, so belangen Sie ihn wegen Beschädigung eines öffentlichen Gebäudes.«

Da der ihr zugefügte Schimpf von Wesenheit für ein politisches Parteiinteresse wurde, so konnte sie nur schweigen, und sie sprach auch weiter kein Wort.

Also von solchen Waffen Gebrauch wider sie zu machen, nahm man keinen Anstand, und diese waren um so gefährlicher, um so fürchterlicher, als sie sich nicht verteidigen konnte!

Was sollte sie erwidern, wenn man vor ihr, ohne eben mit ihr zu reden, aber mit einem spöttischen Lächeln, den Namen Courtomer ausspräche? Würde sie hindern können, daß die Schamröte ihr ins Gesicht stiege, wenn sie sich plötzlich auf der Straße dieser Aufschrift: »Courtomer Vater und Sohn« gegenüber befände?

Dieser Name allein würde ihr das Leben in Yvranches zu einer Höllenqual machen, denn sie vermochte nicht, sich darüber auszusprechen, Aufklärung zu geben; mit gebundenen Händen und Füßen, mit verschlossenem Munde war sie denen, welche sich über sie belustigen oder sie peinigen wollten, preisgegeben.

Sie war unschuldig; sie hatte sich nichts vorzuwerfen, selbst nicht eine Gefallsüchtelei oder eine Unvorsichtigkeit.

Aber wem würde dies glaubhaft erscheinen?

Während sie solchen traurigen Gedanken in ihrem Zimmer nachhing, erscholl ein Stimmengewirre auf dem Platze; es kam von den Wählern, welchen die Aufschriften fast mehr Gesprächstoff, als der eigentliche Zweck ihrer Zusammenkunft boten. Doch sie war zu bestürzt, zu sorgenvoll, um durch das dumpfe Gemurmel oder helle Lachen, das zeitweise an ihre Ohren drang, abgelenkt zu werden.

Endlich trat die Großmutter in ihr Zimmer.

»Weißt du, was alle diese Leute haben?« fragte sie, »Sie bleiben vor der Schule stehen und dann brechen sie in ein Gelächter aus, als ob sie etwas Spaßhaftes läsen; den Namen des Marquis von Courtomer – Courtomer Vater und Sohn – hört man unablässig. Ist denn einer von den beiden Kandidat?«

»Ich weiß es nicht,« erwiderte Helene tonlos.

Und hiermit wurde das Gemurmel, aus dem sie bisher nichts deutliches vernommen, für sie verständlicher, oder wenigstens glaubte sie, besser zu hören, indem sie allerlei Dinge, die vielleicht gar nicht gesagt wurden, verstand oder vielmehr erriet.

Die Zeit verstrich, es wurde das erste Mal zum Hochamte geläutet; hierdurch in die Wirklichkeit zurückgerufen, fragte Helene sich, ob sie es wagen sollte, in die Kirche zu gehen. Ihr erster Gedanke war, daheim zu verbleiben. Doch dies wäre eine Feigheit gewesen. Und dann dürfte man nach all dem Aufsehen und Gerede, dessen unfreiwilliger Gegenstand sie geworden, ihr Kommen erwarten, und sicherlich ihre Abwesenheit in einer ihr nachteiligen Weise ausdeuteln.

Sie kleidete sich an. Als zum Gottesdienste zusammengeläutet wurde, ging sie mit ihrer Großmutter aus dem Hause.

In Scharen standen die Wähler plaudernd, lachend, einen betäubenden Lärm machend, vor dem Gemeindehause umher. Sowie sie erschien, verstummten die Mäuler und aller Köpfe kehrten sich nach ihr; sie sah nicht die Augen, welche sie anglotzten, aber sie verspürte selbe, obwohl sie die ihrigen niedergeschlagen hielt und rasch dahin schritt.

Eine stämmige Gestalt, die ihr in den Weg trat, hielt sie an: es war Paildieu.

»Sie werden doch nicht glauben, Fräulein,« sagte er, ihr die Hand reichend, »daß Sie dadurch in der Achtung bei irgendjemandem verlieren können! Im Gegenteile; wenn sich Ihre Feinde damit das Paradies, wenn es nämlich eines giebt, verdienen wollen, so kann man als das einzige, und was alles miteinander sagt, nur ihnen ins Gesicht spucken und ein ›Pfui Teufel‹ nachschleudern.«

Allerdings war dies eine gute, aufrichtende Rede; dennoch reichte sie nicht hin, um ihrem verstörten Gemüte einige Beruhigung zu verschaffen.

Sie trat in die Kirche; glücklicherweise für sie schwebte es ihr wie eine Wolke vor den Augen, und ging sie, ohne etwas zu sehen, in der Richtung, wo sie das erste Mal einen Sitzplatz gefunden, fort.

Als sie sich niedergelassen, vertiefte sie sich in ihr Gebetbuch, und erst, als sie die Stimme des Pfarrers erkannte, wußte sie, daß er den Gottesdienst hielt. Aber als Prediger bestieg der Kaplan die Kanzel, denn der Abbé Houel predigte nicht gerne und ließ sich durch diesen so oft als nur möglich vertreten.

Helene hatte nicht emporgeblickt; doch bei den ersten Worten fuhr sie zusammen, denn sie entnahm ihnen sofort, daß sie den Inhalt der Predigt bilden würde. Und in der That täuschte sie sich auch nicht.

»Heute, meine lieben Brüder und Schwestern in Christo, will ich zu Euch über den Unterricht, den man den Kindern erteilen soll, sprechen.«

Solcherart hatte der Abbé Perichard begonnen. Es war wohl klar, daß am Vortage der Eröffnung der Schulen, nun, wo der Kampf zwischen der katholischen und der freien Schule entbrennen sollte, er, der klerikale Kampfhahn, es nicht bloß bei einer rein theoretischen Auseinandersetzung bewenden lassen würde.

Dieses Thema behandelnd, legte er dar, daß ein Unterricht ohne Religion gar nichts nütze, nur Schaden bringe; denn er schaffe nur hoffärtige, dünkelvolle Thoren; es wäre eine Modesache, zu behaupten, daß Wissen Macht sei, daß der Bildung alles erlangbar; tatsächlich führe sie nur in den Irrtum, in die Sünde, wenn sie nicht durch die Unterweisung in den ewigen Wahrheiten gelenkt würde. Wer könne aber diese Unterweisung erteilen, wenn nicht jene, die sie mit der Muttermilch der Kirche eingesogen, die ganz davon erfüllt, und tagtäglich das, was sie mit inbrünstigem Glaubenseifer lehrten, ausübten? Wie könne man daher seine Kinder solchen, die tief im Irrtume stecken oder haltlos hin- und hertaumeln, anvertrauen? Welche Bürgschaften böten solche? Woher kämen, was seien solche?

Mit den Füßen und den Stühlen entstand ein auffälliges, störendes Geräusch; allenthalben wandte man sich um; Helene ward der Zielpunkt aller Augen.

Doch der Abbé Perichard stillte nicht die Neugierde, die er so sehr aufgestachelt hatte; anstatt sich in persönlichen Anzüglichkeiten, wie man erwartete, zu ergehen, lenkte er ein, indem er bloß eine, wenn auch weitläufige Parallele zwischen Lehrerinnen zog, welche alle Bürgschaften, sowohl vom Gesichtspunkte des Unterrichtes – was nicht so belangreich – als auch vom Gesichtspunkte der Gläubigkeit und Sittlichkeit – was die Hauptsache – bieten, und solchen, die gar keine in beiderlei Hinsicht aufzuweisen vermögen.

Hierauf verließ er die Kanzel, und das Hochamt nahm seinen Fortgang.

 

13.

In der Kirche und auf dem Rückwege hatte die Großmutter keine Äußerung zu Helene gethan; aber aus ihrem ernsten und nachdenklichen Wesen war klar ersichtlich, daß sie von etwas ihr schwere Sorgen Bereitendem gänzlich eingenommen wurde. Die Schwatzhaftigkeit war ihr weder angeboren, noch hatte sie sich dazu gewöhnt; was diese vorsichtige Bauersfrau zu sagen sich entschloß, das hatte sie lange und reiflich erwogen und ließ es nicht aus dem Gehege ihres Mundes, als wenn sie recht sicher war, daß ihr hieraus nichts Übles widerfahren würde.

Erst nach Verlauf von einer Viertelstunde, nach ihrer Heimkehr, wurde sie schlüssig, die Bemerkung zu machen:

»Von dir hat der Kaplan reden wollen, nicht wahr, Helene?«

»Vielleicht.«

»Das ist gewiß; jeder Mensch hat das merken müssen; die Blicke, die man auf dich gerichtet hat, können darüber keinen Zweifel belassen. Weshalb hat er denn gesagt, daß du gar keine Bürgschaften aufzuweisen imstande wärest?«

»Das weiß ich nicht.«

»Das ist ein rechtes Unglück! Das wird dir manchen Schaden thun; aber das kommt davon, wenn man mit den Geistlichen einen Kampf aufnehmen will.«

»Aber, Großmutter, ich will doch nicht einen Kampf mit den Geistlichen aufnehmen, sondern ein Geistlicher ist es, der wider mich hetzt und den Kampf eröffnet! Und wann und wo habe ich denn etwas Unrechtes gethan?«

Helene befliß sich stets äußerster Rücksichtnahme und zärtlichster Sanftmut ebensowohl in ihrem ganzen Verkehr als auch in irgend einem mündlichen Austausche mit ihrer Großmutter; dennoch konnte sie nicht umhin, diese letzten Worte in einem etwas gereizten Tone zu sagen.

»Ich bin zwar,« erwiderte die Großmutter, »nicht eine Studierte; doch ist es meine Ansicht, daß man Unrecht hat, wenn man sich in einen Kampf mit jemandem, der stärker als man selber ist, einläßt.«

Für Helene war es höchst betrübend, in dieser Widerwärtigkeit an ihrer Großmutter keine Stütze zu finden; statt eines Zuspruches, der ihr so wohlgethan hätte, sah sie nur ein verdrießliches, grämliches Gesicht vor sich, vernahm sie nur Worte des Tadels.

Sie versuchte zu lesen und langte nach einem Buche; wie sie gedankenlos darin die Blattseiten umwandte, wurde an die Thür gepocht. Sie ging öffnen und vor ihr stand der Bürgermeister in Begleitung des Herrn Lebeurier.

Das Antlitz des Bürgermeisters strahlte vor Freude; aus dem des Herrn Lebeurier war nichts abzusehen.

Sie ersuchte die beiden Herren, einzutreten und Platz zu nehmen.

»Soeben habe ich erfahren, was in der Kirche vorgefallen ist,« sagte der Bürgermeister, sich setzend. »Das ist ja ganz schön, vortrefflich! Auf mein Ehrenwort, wenn man dafür zahlte, könnte man nicht besser bedient werden!«

Er sprach dies mit einer Miene des Frohlockens.

»Das sind kreuzbrave Leute: sie machen einen dummen Streich, einen groben Schnitzer um den anderen,« fügte er kichernd hinzu.

Herr Lebeurier, der hierüber keine Silbe verlor, betrachtete Helene aufmerksam; erst als der Bürgermeister seiner Wonneseligkeit vollständig Luft gemacht hatte, nahm er das Wort:

»Ich begreife, daß Sie als Parteimann hocherfreut sind.«

»Ich bin kein parteilicher Mensch; ich bin ein Mann der Gerechtigkeit …«

»Man ist immer ein Mann der Gerechtigkeit zu seinem eigenen Besten! Also, wie schon gesagt, ich begreife, daß Sie sich an den unbesonnenen Streichen und Herausforderungen Ihrer Gegner ergötzen; doch wenn man sich auf den Standpunkt des Fräuleins Margueritte stellt, so meine ich, daß man Ursache habe, dieselben zu beklagen.«

Der Bürgermeister schien erstaunt zu sein, daß es noch einen anderen Standpunkt als den seinigen gäbe.

»Kurz und deutlich gesagt« – fuhr Herr Lebeurier fort – »dem Fräulein gelten die rohen oder tückischen Streiche.«

»Sie treffen es aber nicht.«

»Das glauben Sie! Ich bin nicht Ihrer Ansicht, verehrtester Freund; ich glaube vielmehr, daß das Fräulein Margueritte sich durch diese Vorfälle bestürzt, gekränkt, unglücklich fühlt.«

»Dies würde ein Mangel an klarem Verständnisse sein.«

»Die Anschauungsart der Männer und der Frauen, ihre Empfindungsweise, ist durchaus nicht die nämliche. Übrigens ist nichts leichter, als hierin Gewißheit zu erlangen: das Fräulein Margueritte möge uns aufrichtig, ohne allen Rückhalt, sagen, was es empfindet.«

»Aber, meine Herren …,« warf Helene, die einer solchen Erörterung zu entgehen gewünscht hätte, ein.

»Ich bitte Sie darum, mein Fräulein,« sagte Herr Lebeurier.

Helene konnte doch nicht lügen und erwidern, daß sie für die ihr zugefügten Streiche unempfindlich wäre!

»Bestürzt und gekränkt,« antwortete sie, das Haupt abwendend, »ja, das ist wahr.«

»Da hören Sie also, verehrtester Freund,« fuhr der Bezirksschulrat fort, »und ich sehe es dem Fräulein an, daß es unglücklich, höchst unglücklich ist. Auch dürfen wir nicht länger müßige Zuschauer bleiben! Sie, lieber Bürgermeister, als das erkorene Haupt der antiklerikalen Partei, mögen sich über jeden Fehler, den diese begeht, vergnügt die Hände reiben; doch ich nehme eine andere Stellung ein. Als das Fräulein die Güte gehabt, mir einen Besuch abzustatten, habe ich ihr meinen Schutz zugesichert; ich würde mich eines Wortbruches schuldig machen, wenn ich nicht in das Mittel träte, und ich werde nachdrücklich auftreten.«

»Das wäre ein Fehltritt von Ihnen!« entgegnete der Bürgermeister. »Wir müssen die Gegenpartei nicht daran hindern, daß sie Dummheiten begehe; dann werden wir sie bald unterkriegen.«

»Und indessen wird Fräulein Margueritte der Amboß, auf welchen ihre Streiche niederfallen, bleiben! Ich werde das nicht länger dulden; ohne weiteren Verzug will ich mich zum Pfarrer, zum Kaplan, zum Fräulein de la Bussonnière, kurz: zu allen, die unter was immer für einem Vorwande die Hand dabei im Spiele haben, begeben und eindringliche Vorstellungen machen.«

Helene vermochte nicht dem Bezirksschulrate hierfür einen Dank auszudrücken, denn sie fühlte sich thatsächlich unglücklicher über seine Einmischung, als über die Teilnahmlosigkeit des Bürgermeisters. Wenn sie schon eines Schutzes bedurfte, so hätte sie einen anderen Beschützer als Herrn Lebeurier gewollt.

Gleichwohl erwies sich das »ohne weiteren Verzug« des Bezirksschulrates als eine bloße Redefigur: nicht nur schickte er sich keineswegs zum Aufbruche an, sondern saß vielmehr wie angenagelt auf seinem Stuhle fest, und das Gespräch währte fort, indem er die Einschreibung der Schulkinder, welche nächsten Tages stattfinden mußte, aufs Tapet brachte.

Auf diesem Gebiete bewegte Helene sich frei, und um so zwangloser, als ihre Großmutter, emsig fortstrickend, ihren Sitz nicht verließ und der Bürgermeister zugegen blieb.

Endlich rückte der Bezirksschulrat mit dem Vorschlage, in das Lehrzimmer sich zu verfügen, heraus, um nachzusehen, ob an der Heizung, die unzureichend wäre, nicht eine Abänderung zu ermöglichen sein würde; denn man müsse nicht gar zu sehr hinter den Einrichtungen der Schulschwestern zurückbleiben.

Alle drei begaben sich hinab; doch kaum in das Lehrzimmer getreten, begann der Bezirksschulrat, der einen Meterstab in der Tasche hatte, Messungen vorzunehmen, was dem Bürgermeister eine nicht mißzuverstehende Geberde des Unwillens entlockte.

»Haben Sie es denn so eilig?« fragte ihn Herr Lebeurier.

»Die Wahlkommission wartet auf mich; Sie wissen ja, daß ich versprochen habe, mich nur für wenige Minuten zu entfernen.«

»Nun, lassen Sie sich nicht aufhalten; ich werde sogleich nachkommen.«

»Aber, Herr Bürgermeister …,« rief Helene, die sich von einem Zusammensein unter vier Augen mit dem Notar, das zu vermeiden sie sich angelobt hatte, bedroht sah, aus.

»Ich werde recht bald zurückkommen,« bedeutete ihr der Bürgermeister und ging fort.

Helene hatte ihm folgen wollen, doch Herr Lebeurier besetzte die Thür; nach dem Weggange des Bürgermeisters schlug er sie zu und lehnte sich gegen sie.

Sie waren allein in diesem großen, leeren Zimmer, durch dessen hoch in der Mauer angebrachte und weit vorspringende Fenster das Gemurmel von den sich vor dem Gemeindehause ansammelnden Wählern hereindrang; niemand konnte sie sehen; niemand konnte sie hören, es sei denn, daß er an der Thür horchte.

»Also dieser auf die Mauern gekleckste Name Courtomer hat Sie so sehr aufgeregt!« begann Herr Lebeurier lächelnd und sein Gegenüber von den Füßen bis zum Kopfe messend.

Helene gab keine Antwort.

»Ein durchtriebener Geselle, dieser Marquis!« fuhr Herr Lebeurier fort. »Ich kenne ihn gut, ich habe mehreremale mit ihm geschäftlich zu thun gehabt. Also er hat Ihnen den Hof gemacht? Erzählen Sie mir doch davon! Ich muß ja in alles gehörig eingeweiht sein, um Sie geschickt zu verteidigen.«

Helene war bis an die Lehrkanzel zurückgewichen, dabei irrten ihre Blicke angstvoll umher.

»Sie wollen nicht?« sprach Herr Lebeurier weiter. »Weshalb? Besorgen Sie, mich eifersüchtig zu machen? Diese Gefahr laufen Sie nicht. Und dann, meinen Sie etwa, daß ich nicht errate, wie das zugegangen? Diese Leute des ancien régime sind sämtlich von gleichem Schlage; sie wähnen, daß alles ihnen erlaubt sei, und daß sie, wenn sie Ihnen nur einen freundlichen Blick zuzuwerfen geruhen, eine ganz außerordentliche Ehre erweisen. Derart gehen wir Männer unserer Zeit nicht zu Werke; derart könnten wir auch gar nicht die Liebe eines schönen Mädchens, wie Sie sind, gewinnen: Nichts fordern oder beanspruchen, sondern durch das, was man uns gewährt, beglückt sein – so halten wir es!«

Er sprach dies in einem ergebungsvollen und zugleich herrischen Tone – als ein Sieger, der sich für besiegt bekennt.

»So bin ich; wenigstens haben Sie mich dahin gebracht; denn seit Ihrem Besuche denke ich nur noch an Sie, füllen Sie mein ganzes Dasein aus; mein Verstand steht dabei auf dem Spiele.«

»Mein Herr!« rief Helene aus.

»Wollen Sie mir denn verwehren, Ihnen die Gefühle, die Sie mir eingeflößt, kundzugeben? Worin kann das Sie verletzen? Ich habe Sie gesehen – und Sie sehen, Sie bewundern und lieben war eins. Konnte ich denn anders? Und spreche ich jetzt gleich einem Marquis von Courtomer im Tone eines Siegers? Keineswegs. Sie erkennen doch wohl, daß ich derart nicht auftrete. Was haben Sie von mir zu befürchten? Gar nichts. Nicht einmal, daß ich Ihren Ruf gefährden, Sie einer üblen Nachrede aussetzen könnte. Mir ist viel zu sehr an Ihnen gelegen, um mich zu einer solchen Ungeschicklichkeit hinreißen zu lassen. Ich begehre nur eines von Ihnen: dulden Sie meine Liebe! Dies können Sie mir doch nicht verweigern? Sie vermöchten nur eines dawider zu thun: von diesem Orte zu scheiden; doch das werden Sie nicht thun. Warum sollten Sie es auch thun? Um mir zu entfliehen? Ich gebe zu, daß hierdurch ein Mann meines Alters sich in seiner Eigenliebe geschmeichelt zu fühlen vermag; aber meine Leidenschaft zu Ihnen würden Sie bis zur Raserei steigern. Erlauben Sie mir noch beizufügen, daß es von Ihrer Seite auch eine Thorheit wäre. Ja, mein Kind, eine Thorheit. Ein paar Worte nur dürften Sie das erkennen lassen: allerdings bin ich verheiratet, und ein anständiges Mädchen wie Sie soll Ohren und Herz der Rede eines Mannes, der nicht frei und unabhängig ist, verschließen; aber Sie haben meine Frau gesehen, die arme Unglückliche wird es nicht lange machen, höchstens einige Monate noch hat sie zu leben. Fragen Sie den Doktor Tarot. Nun, werden Sie, wenn ich Witwer geworden, auch kein Gehör schenken einem Manne, der Ihnen 30000 Francs Rente bietet? Das ist doch nicht ganz zu verwerfen, wie mich dünkt! Hm, was sagen Sie dazu?«

Helene hatte nichts zu erwidern, denn sie hörte kaum, was er sprach; sie ward nur von dem einen Gedanken, ob Herr Amette nicht baldigst zurückkäme, beherrscht; sie klammerte sich nur an die Hoffnung, bis dahin den Bezirksschulrat reden zu lassen.

Da sie ihr Schweigen nicht brach, fuhr er fort:

»Begreifen Sie jetzt, weshalb ich nimmer zulassen werde, daß man Sie quäle oder belästige, und weshalb ich alles aufbieten werde, damit man Sie nicht nötige, Yvranches zu verlassen? Wenn dieser Fall einträte, würde ich meine Kanzlei verkaufen und Ihnen folgen; aber er wird nicht eintreten, seien Sie dessen versichert. Sie werden schon sehen, daß Ihnen das Leben hier nicht unleidlich gemacht oder vergällt werden wird bis zu dem Zeitpunkte, wo ich alles für Sie zu thun und zu sein in den Stand gesetzt bin. Das einzige, was ich von Ihnen erflehe und was Sie, mein schönes Kind, mir nicht versagen werden, ist, daß Sie diese Wartefrist mir versüßen. Das wird Ihnen so leicht sein, wird Ihnen so geringe Mühe kosten!«

Mit ausgebreiteten Armen drang er auf sie ein; doch sie flüchtete sich, beiseite springend, an das andere Ende des Zimmers.

Lüstern schmunzelnd und an den Händen zitternd, stürzte der Notar ihr nach.

Nur zwei Schritte mehr war er von ihr entfernt, als die Thür aufging und der Bürgermeister erschien.

»Nun?« fragte er, »Sind Sie mit Ihren Messungen fertig?«

Einen Augenblick von Scheu, wie ein ertappter Übelthäter, übermannt, erlangte der Notar sehr rasch seine Fassung wieder:

»Mit allem im Reinen,« erwiderte er, »bin ich: das Fräulein und ich – wir haben uns miteinander verständigt.«


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