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II.
Das Erwachen der Seele

Es wird vielleicht eine Zeit kommen – und es sind viele Anzeichen vorhanden, daß sie nahe ist – es wird vielleicht eine Zeit kommen, wo unsere Seelen sich ohne Vermittlung der Sinne erblicken werden. Es steht fest, dass sich das Reich der Seele täglich weiter ausdehnt. Sie ist unserem sichtbaren Wesen viel näher und nimmt an allen unseren Handlungen viel mehr teil, als vor zwei oder drei Jahrhunderten. Man könnte sagen, dass wir uns einer Periode des Geistes nähern. Es gibt in der Geschichte eine gewisse Zahl solcher Perioden, in denen die Seele, unbekannten Gesetzen zufolge, gleichsam an der Oberfläche der Menschheit auftaucht und ihr Dasein und ihre Macht unmittelbarer betätigt. Dies Dasein und diese Macht offenbaren sich auf mancherlei unerwartete und verschiedene Weise. Die Menschheit ist, wie es scheint, in diesen Zeiten im Begriff gewesen, die lastende Bürde der Materie ein wenig abzuschütteln. Es herrscht dann eine Art geistiger Erleichterung, und die starrsten und unbeugsamsten Naturgesetze geben hier und da nach. Die Menschen sind sich selbst und ihren Brüdern näher; sie betrachten und lieben einander viel ernstlicher und inniger. Sie verstehen zarter und tiefer das Kind, das Weib, die Tiere, die Pflanzen und die Dinge. Die Bildwerke, Gemälde und Schriften, die sie uns hinterlassen haben, sind vielleicht nicht vollkommen; aber ich weiss nicht, welche geheime Kraft und Anmut ihnen ewig lebendig innewohnt. Es muss da in den Blicken der Menschen eine Bruderliebe und geheimnisvolle Hoffnung gelegen haben, und man findet überall neben den Spuren des gewöhnlichen Lebens die zitternden Spuren eines anderen Lebens, das man sich nicht erklärt. Was wir vom alten Ägypten wissen, erlaubt uns die Annahme, dass es eine jener geistigen Epochen durchgemacht hat. In einer entlegenen Zeit der indischen Geschichte muss die Seele sich der Oberfläche des Lebens bis zu einem Punkte genähert haben, den sie nie mehr erreicht hat; und die Überreste oder Erinnerungen an ihre fast unmittelbare Gegenwart rufen dort noch heute wundersame Erscheinungen hervor. Es gibt noch viele andere Momente gleicher Art, wo das geistige Element auf dem Grunde der Menschheit zu kämpfen scheint, wie ein Ertrinkender unter den Wassern eines grossen Stromes kämpft. Man denke beispielsweise an Persien, Alexandria und die zwei mystischen Jahrhunderte des Mittelalters.

Dafür gibt es dann auch vollkommene Jahrhunderte, wo Verstand und Schönheit ganz rein vorherrschen, aber die Seele zeigt sich nicht. So ist sie den Griechen und Römern, dem 17. und 18. Jahrhundert Frankreichs völlig fern (oder wenigstens der Oberfläche dieses Jahrhunderts, denn seine Tiefen verbergen uns in Claude de Saint-Martin, Cagliostro, der ernster zu nehmen ist, als man glaubt, Pascalis und so vielen anderen noch manches Geheimnis). Man weiss nicht warum, aber etwas ist nicht da; geheime Verbindungen sind zerschnitten, und die Schönheit schliesst die Augen zu. Es ist schwer, dies in Worten auszudrücken und zu sagen, weshalb die Atmosphäre der Götternähe und des Schicksals, welche die griechischen Dramen umgibt, nicht die wirkliche Atmosphäre der Seele zu sein scheint. Man entdeckt zwar am Horizonte dieser wunderbaren Tragödien ein beständiges Mysterium, das auch verehrungswürdig ist, aber es ist nicht jenes rührende, brüderliche und so tief lebendige Mysterium, das wir in manchen weniger bedeutenden und minder schönen Werken finden. Desgleichen – was uns näher liegt – wenn Racine der unfehlbare Dichter des Frauenherzens ist: wer hätte den Mut, uns zu sagen, dass er jemals einen Schritt nach seiner Seele gemacht hätte? Was würde man mir antworten, wenn ich nach der Seele der Andromache oder des Britannicus fragte? Die Personen Racines verstehen sich nur durch das, was sie aussprechen, und kein Wort durchbricht die Dämme des Meeres. Sie sind furchtbar einsam auf der Oberfläche eines Planeten, der sich nicht mehr am Himmel bewegt. Sie können nicht schweigen oder sie lebten nicht mehr. Sie haben kein »unsichtbares Prinzip«, und man ist versucht, zu glauben, ein trennendes Etwas stünde zwischen ihrem Geiste und ihnen selbst, zwischen dem Leben, das alles berührt, was besteht, und dem Leben, das nur den flüchtigen Augenblick einer Leidenschaft, eines Schmerzes oder eines Verlangens berührt. Es gibt fürwahr Jahrhunderte, wo die Seele einschläft und sich niemand mehr darum kümmert.

Heute ist es klar, dass sie grosse Anstrengungen macht. Sie gibt sich überall auf eine ungewöhnliche, gebieterische und zwingende Weise kund, als sei eine Losung gegeben und keine Zeit mehr zu verlieren. Sie muss sich wohl auf einen Entscheidungskampf vorbereiten, und niemand kann voraussehen, was alles von dem Siege oder der Niederlage abhängen wird. Nie vielleicht hat sie so mannigfache und unwiderstehliche Kräfte ins Werk gesetzt. Man möchte sagen, dass sie sich an eine unsichtbare Wand gedrückt fühlt, und man weiss nicht, ob es der Todeskampf oder ein neues Leben ist, was sie bewegt. Ich spreche hier nicht von den occulten Gewalten, die rings um uns erwachen, von Magnetismus, Fernwirkung und Levitation, den ungeahnten Eigenschaften der strahlenden Materie und tausend anderen Erscheinungen, welche die offiziellen Wissenschaften erschüttern. Diese Dinge sind allbekannt und lassen sich leicht nachweisen. Zudem sind sie wahrscheinlich nichts im Vergleich zu dem, was sich in Wirklichkeit vorbereitet; denn die Seele ist wie ein Schläfer, der in seinen tiefen Träumen ungeheure Anstrengungen macht, einen Arm zu bewegen oder ein Lid zu heben.

In anderen Sphären, denen die Massen weniger Aufmerksamkeit zollen, rührt sie sich noch wirksamer, obschon diese Bewegungen für Augen, welche nicht gewohnt sind zu sehen, weniger sichtbar sind. Könnte man nicht sagen, dass ihre Stimme im Begriff ist, mit einem höchsten Schrei die letzten Töne des Irrtums zu durchdringen, die sie in der Musik noch umgeben? Und empfand man je schwerer die heilige Bürde einer unsichtbaren Gegenwart als in manchen Werken gewisser ausländischer Maler? In den Literaturen endlich lässt sich feststellen, dass einzelne Gipfel hier und dort von einem Schimmer erhellt werden, der von ganz anderer Art ist, als die seltsamsten Lichter vergangener Literaturen. Man nähert sich ich weiss nicht welcher Umwandlung des Schweigens; und das »positiv Erhabene«, das bisher herrschte, scheint dem Ende nahe zu sein. Ich halte mich bei diesem Gegenstande nicht auf, denn es ist noch zu früh, um in diesen Dingen ganz klar zu sehen, aber ich glaube, dass unserer Menschheit selten eine gleich gebieterische Gelegenheit zur geistigen Befreiung geboten wurde. Ja, für Augenblicke ähnelt das einem Ultimatum, und darum darf man nichts versäumen, um diese drohende Gelegenheit zu ergreifen; denn sie ist von der Art der Träume, die ein für allemal verloren sind, wenn man sie nicht augenblicklich bannt. Es ist Vorsicht geboten; ohne Grund regt unsere Seele sich nicht.

Aber diese Bewegung, die man nur auf den Hochebenen des Gedankens deutlich wahrnimmt, gibt sich vielleicht auch, ohne dass man es ahnt, auf den gewöhnlichsten Lebenspfaden kund. Denn es erschliesst sich keine Blume auf den Höhen, die nicht zuletzt ins Tal hinabfällt. Ist sie schon gefallen? Ich weiss es nicht. Aber täglich geschieht es im gewöhnlichen Leben, dass wir zwischen den schlichtesten Menschen geheimnisvolle und unmittelbare Beziehungen feststellen, geistige Phänomene und Annäherungen von Seelen, von denen man in anderen Zeiten nicht einmal sprach. Bestanden sie früher minder unbestreitbar? Man muss es glauben, denn immer gab es Menschen, die den geheimsten Beziehungen des Lebens nachspürten und uns alles hinterlassen haben, was sie über Herzen, Seelen und Geister ihrer Zeit in Erfahrung gebracht haben. Es ist wahrscheinlich, dass damals dieselben Beziehungen bestanden, aber sie konnten nicht die Frische und die allgemeine Kraft haben, die sie heute besitzen; sie waren nicht bis auf den Grund der Menschheit hinabgedrungen, denn sonst hätten sie die Blicke dieses Weisen, von denen sie stillschweigend übergangen wurden, gefesselt. Und hier spreche ich nicht mehr vom »wissenschaftlichen Spiritismus«, von den »Erscheinungen der Fernwirkung«, der »Materialisation« und anderen Kundgebungen, die ich soeben anführte. Es handelt sich hier um Ereignisse und Einmischungen der Seele, die unaufhörlich stattfinden, auch im dunkelsten Dasein von Wesen, die ihre ewigen Rechte ganz vergessen haben. Es handelt sich auch um eine ganz andere Psychologie als die gewohnheitsmässige, die den guten Namen der Psyche beschlagnahmt hat, obschon sie sich in Wahrheit nur mit den geistigen Erscheinungen befasst, die des Engsten mit der Materie zusammenhängen. Es handelt sich mit einem Worte darum, was uns eine transcendentale Psychologie offenbaren müsste, die sich mit den unmittelbaren Beziehungen von Seele zu Seele sowie mit der Sensibilität und der ausserordentlichen Gegenwart unserer Seele befasst. Dieses Studium, das den Menschen um eine Stufe erhöhen würde, ist im Entstehen begriffen und wird die Elementarpsychologie, die bis auf diesen Tag geherrscht hat, bald über den Haufen werfen.

Diese unmittelbare Psychologie, die von den Bergen herabkommt, überschwemmt bereits die kleinsten Täler, und ihre Gegenwart ist bis in die mittelmässigsten Schriften hinein bemerkbar. Nichts beweist klarer, dass der Druck der Seele in der gesamten Menschheit zugenommen und dass ihre geheimnisvolle Tätigkeit sich ausgedehnt hat. Wir berühren hier fast unaussprechliche Dinge, und man kann daher nur grobe und unvollkommene Beispiele geben. Ich führe zwei oder drei an, die elementar und sinnfällig sind. Wenn es sich ehemals einen Augenblick um ein Vorgefühl, den seltsamen Eindruck einer Begegnung oder eines Blickes, eine Entschliessung, die aus einem unbekannten Winkel des menschlichen Verstandes geholt war, eine Einmischung oder eine unerklärliche und doch verstandene Kraft, um geheime Gesetze der Antipathie und Sympathie, um Wahl- oder Instinkt-Verwandtschaften und den entscheidenden Einfluss unausgesprochener Dinge handelte, so hielt man sich nicht lange bei diesen Problemen auf, die sich übrigens selten genug dem Ehrgeize der Denker darboten. Man traf scheinbar nur durch Zufall auf sie. Man ahnte nicht das wunderbare Gewicht, mit dem sie unaufhörlich auf allem Leben lasten, und beeilte sich, zu den gewohnten Spielen der Leidenschaft und der äusseren Ereignisse zurückzukehren.

Diese geistigen Phänomene, mit denen die grössten und gedankenreichsten unter unseren Brüdern sich früher kaum befassten, beunruhigen heute die kleinsten, und das beweist wieder einmal, dass die menschliche Seele ein Gewächs von vollkommener Einheit ist und dass alle ihre Zweige, wenn die Zeit gekommen ist, zur gleichen Stunde blühen. Der Bauer, dem plötzlich die Gabe würde, Das auszusprechen, was er auf der Seele hat, würde in diesem Augenblick Dinge vorbringen, die in der Seele eines Racine sich noch nicht befanden. Und darum haben auch Leute von weit geringerem Genius als Shakespeare und Racine ein heimlich lichtvolles Leben erschaut, zu dem das Leben, welches jene Meister allein kannten, nur die Kehrseite bildet. Das heisst, es genügt nicht, dass eine grosse Seele sich allein hier- und dorthin bewegt in Raum und Zeit. Sie wird wenig ausrichten, wenn sie nicht unterstützt wird. Sie ist die Blüte vieler. Sie muss in dem Augenblick kommen, wo das ganze Meer der Seelen sich bewegt; und wenn sie zur Zeit des Schlafes kam, wird sie nur von den Träumen des Schlafes reden können. Hamlet, um ein hervorragendes Beispiel vor allen zu wählen, Hamlet kommt in Helsingfors jeden Augenblick bis zum Rande des Erwachens, und doch gelangt er trotz des eisigen Schweisses, der seine Stirn bedeckt, nicht dahin, die Worte auszusprechen, die er auf den Lippen hat, wogegen er sie heute ohne Zweifel aussprechen könnte, weil die Seele des Landstreichers und selbst des Diebes, der vorübergeht, ihm helfen würde, sie zu sprechen. Er würde, wenn er den Claudius und seine Mutter anblickt, jetzt erkennen, was er nicht wusste, weil die Seelen sich anscheinend nicht mehr in die gleiche Zahl von Schleiern hüllen. Weisst Du wohl – und das ist eine seltsame, beunruhigende Wahrheit – weisst Du wohl, wenn Du nicht gut bist, dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass Deine Gegenwart dies heute hundertmal deutlicher verrät, als sie es vor zwei oder drei Jahrhunderten getan hätte? Weisst Du wohl, wenn Du heute eine einzige Seele betrübt hast, dass die Seele des Bauern, mit dem Du Dich über Sturm und Regen unterhalten willst, benachrichtigt ist, bevor Deine Hand die Tür geöffnet hat? Nimm die Miene eines Heiligen, eines Märtyrers oder eines Helden an: das Auge des Kindes, das Dir begegnet, wird Dich nicht mit dem gleichen unnahbaren Blicke grüssen, wenn Du in Dir einen schlechten Gedanken, eine Ungerechtigkeit oder die Tränen eines Bruders birgst. Vor hundert Jahren wäre seine Seele vielleicht achtlos an der Deinen vorübergegangen …

In Wahrheit wird es schwer, im Herzen einen Hass, Neid oder Verrat zu nähren, der sich den Blicken entzieht; so unablässig sind die gleichgiltigsten Seelen rings um unser Wesen auf der Lauer. Unsere Voreltern haben uns von diesen Dingen nicht gesprochen, und wir stellen fest, dass das Leben, in dem wir uns bewegen, grundverschieden ist von dem, das sie schilderten. Waren sie Betrüger oder Unwissende? Die Zeichen und Worte taugen zu nichts mehr, und fast alles entscheidet sich in den mystischen Kreisen einer einfachen Gegenwart.

Auch der frühere Wille, der so gut bekannte, so logische Wille von ehedem, verwandelt sich seinerseits und unterwirft sich den unmittelbaren Zusammenhängen grosser und unerklärlich tiefer Gesetze. Es gibt fast keine Schlupfwinkel mehr, und die Menschen kommen einander näher. Sie beurteilen sich über ihre Worte und Handlungen, ja, über ihre Gedanken hinweg, denn was sie sehen, ohne es zu begreifen, liegt hoch über dem Reiche des Verstandes. Und das ist eines der grossen Anzeichen jener geistigen Perioden, von denen ich sprach. Man beginnt überall zu fühlen, dass die Beziehungen des gewöhnlichen Lebens sich ändern, und die Jüngsten unter uns sprechen und handeln schon ganz anders, als die Menschen der vorhergehenden Geschlechter. Eine Menge von Konventionen, Gebräuchen, Schleiern und Zwischenwänden fallen als unnütz in den Abgrund; und ohne es zu wissen, beurteilen wir uns schon fast alle nach dem Unsichtbaren allein. Wenn ich das erste Mal in Dein Zimmer trete, wirst Du nach den tiefsten Gesetzen der praktischen Psychologie das geheime Wort nicht aussprechen, das jedermann in Gegenwart eines andern ausspricht. Du wirst mir nicht verraten, wohin Du gegangen bist, um zu erfahren, wer ich bin, aber Du wirst mir wiederkommen, mit unaussprechlichen Gewissheiten beladen. Dein Vater hätte mich vielleicht anders beurteilt und sich geirrt. Man muss annehmen, dass die Menschen einander bald berühren werden und dass die Atmosphäre eine andere wird. »Haben wir,« fragt Claude de St. Martin, der grosse unbekannte Philosoph, »einen Schritt weiter getan auf dem lehrreichen und lichtvollen Wege der Einfachheit der Wesen?« Lasst uns stillschweigen und warten. Vielleicht vernehmen wir über ein Kleines »das Flüstern der Götter«.


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