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Vorwort

Wenn ich in Santa Barbara nicht dem Garagisten begegnet wäre, hätte ich dieses Buch auch jetzt nicht geschrieben. Aber da stand er in der Sonne, ein gesunder starker Junge von Sechzehn, suchte einen Hebel an meinem Motor zu reparieren, und als es ihm eine ganze Weile nicht gelang, sagte er halblaut vor sich hin: »Das liegt eben an meinem Minderwertigkeitskomplex!« Als ich am selben Abend in einer Gesellschaft meine Bedenken darüber aussprach, bis wohin diese suggestiven Worte gedrungen und wie sie zur Schwächung junger Leute geeignet sind, die ihre Fehler damit entschuldigen, fragte eine junge Dame, ob ich denn ohne diese Begriffe noch leben könnte. Sie schlug dabei ihre Beine hoch übereinander, während sie vor dem Handspiegel ihre Lippen anstrich. Als ich sie auslachte, ließ sie den Spiegel sinken, sah mich verächtlich an und sagte: »Ohne den Begriff der Libido könnte ich mir das Leben nicht mehr vorstellen.« An diesem Abend beschloß ich das Buch zu schreiben.

Was ich in vierzig Jahren schrieb, sofern es nicht gerade politisch wirken sollte, ist positiver und verehrender Natur. Die Menschen, deren Charaktere ich darstellte, sind keine »normalen« Menschen, sondern bedeutende, aber solche, die sich nach Goethes Worten »zu dem Geschlechte bekennen, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt«. Nur zweimal habe ich diese Richtung verlassen: in den Büchern über Wilhelm den Zweiten und Wagner habe ich Dekadenz, Hysterie und Verirrungen des Affektlebens angegriffen. Siegmund Freud ist der dritte Fall.

Der Fall Freud ist dem Fall Wagner insofern ähnlich, als beide in ihrer Stilisierung sexueller Triebe die Neugierde einer dekadenten Generation anzogen. Wie jeder, der nichts von Musik versteht, von Wagner auf dem Wege über das Rückenmark überwältigt wird, so werden alle, die die Seele des Menschen nicht studiert haben, von Freud fasziniert, weil beide sich durch mysteriöse Namen und Gesten jeden Unwissenden leicht einfangen und jedem Schwachen die Illusion verschaffen, wie interessant er sei.

Wagner hatte seine mütterliche Kunst verlassen, in der er Meister war, und gigantische Wirkungen angestrebt, um aus Philosophie, Legende, Religion und aus der Vereinigung der Künste eine neue Welt aufzubauen. So hat auch Freud seine Berufung verlassen: als Nervenarzt hat er begonnen, Philosophie, Legende, Religion, aber auch Geschichte und Erziehung zu revolutionieren, um seine eigene düstere Natur auf die Welt zu projizieren. Die Wirkungen dieser beiden auf eine brüchige Welt haben durch Übertreibung des sexuellen Faktors die Phantasie von Millionen gefangen und zugleich gefährdet.

Bei Wagner, dem geistigen Vater des Nazismus, ist die Wirkung zur Katastrophe gestiegen. Diese Wirkung hat ihren Höhepunkt überschritten. Die Freudsche Gefahr dagegen ist im Wachsen: er ist übersetzbar, international und ergreift so viele Menschen, weil man seine pikanten und verführerischen Thesen noch in der letzten Verdünnung und Banalisierung versteht, während man von Wagner mindestens einen Klavierauszug spielen mußte. Menschen jeden Alters, Volkes und Unwissens horchen auf, wenn sie erfahren, daß alle Grundmotive des Menschen sexuell sind, daß weder Mut noch Begeisterung, weder Liebe noch Leidenschaft, weder Spiel noch Heiterkeit, weder Streben noch Kampf die Geschicke der Menschen bestimmen: nur das Geschlecht.

War Wagner eine deutsche Gefahr, so ist Freud vor allem eine amerikanische, denn in keinem Lande Europas hat er ähnlichen Einfluß wie dort, wo der Sexus nicht salonfähig war und Freud ein willkommener Vorwand für viele wurde, unter dem Mantel der Wissenschaft auf diesem Felde zu debattieren. Freud hat gelehrt, jede Schwäche als interessante Krankheit zu entschuldigen, Gesundheit, Schönheit, Liebe aber den banalen Normalen zu überlassen. Diese Gedanken sind tief ins Volk gedrungen, und wenn jene Dame in Santa Barbara nur eine reiche Gans war, so war der Garage-Junge ein armes Opfer.

Freud ist anfangs von den Ewig-Gestrigen angegriffen worden: von pedantischen Psychiatern, von reaktionären Geistlichen, von schlecht weggekommenen Philosophen, von moralisierenden Staatsbürgern. Die Vorurteile aus diesen Kreisen teile ich nicht; vielmehr scheint mich manches mit ihm zu verbinden:

In meinen Studien des menschlichen Herzens bin auch ich immer in die Kinderjahre der Darzustellenden zurückgegangen und habe im Leben von Luther, Michelangelo, Bolivar, Bismarck, Kaiser Wilhelm die frühsten Erlebnisse als entscheidend herausgearbeitet, deren keines sich in den historischen Studien der Analytiker findet, weil sie keine Sexualia sind. Und lange vorher, als Freuds Studien über Ödipus noch nicht vorlagen, 1901, stellte ich mit zwanzig Jahren in der Tragödie »Ödipus« genau die Szenen zwischen ihm und seiner Mutter nach der Vermählung dar, die Freuds Komplex bedeuten Neu gedruckt im Bande »Dramatische Dichtungen« 1931.. Seine Unterwelt ist mir nicht fremd, doch suchte ich sie zu überwinden.

Auch später mußten Freuds revolutionäre Züge mich anziehen. Wurde er von den »ordentlichen« Professoren als unwissenschaftlich abgelehnt, so ist es mir seit zwanzig Jahren ähnlich ergangen. Griff man ihn als Juden und Internationalisten an, so habe ich beides noch heute durchzufechten.

Und doch wird man auf einigen tausend Seiten meiner Bücher keinen Begriff oder Namen aus der Psychoanalyse finden, mit der mich die Kritik oft zusammen nannte. Hier sind zwei Welten: Er sieht die Menschen gehemmt, ich sehe sie strebend; er entdeckt die destruktiven Elemente, ich die konstruktiven; er fühlt sich von den Kranken angezogen, ich von den Gesunden. Er hat die Erde als düsteres Nebelheim erkannt, ich als einen zwischen Licht und Schatten rollenden Planeten.

Der Einwurf, ich wäre ja nur ein Laie, ist angesichts der heutigen Neuordnung von Wissenschaft und Kunst schon an sich banal; in diesem Falle erst recht: der Laie ist Freud. Wenn sich ein Nervenarzt zum Seelenforscher, ein Seelenarzt zum Analytiker historischer Personen entwickelt, so ist er an diesem Ende seiner Bahn ein Laie.

Die entscheidenden Folgerungen, die Freud gezogen und als allgemeine Gesetze der Welt aufgenötigt hat, haben mit seinen frühen Studien des Gehirns und der Nerven nichts mehr zu tun. In Auffindung und Deutung der feinsten Regungen der Seele ist er ebenso auf sich selbst gestellt wie die Professoren der Geschichte in der Deutung historischer Charaktere, zu der sie ihre Wissenschaft nicht befähigt. Deshalb werden sich jetzt die Beckmesser unter den Nervenärzten ebenso entrüsten, wie es vor zwanzig Jahren die deutschen Geschichtsprofessoren oder die Goethe-Philologen taten, als sie eine neue Form der Darstellung in meinen Büchern bekämpften.

Wie sehr sich Freud seiner Rolle als origineller Laie bewußt war, zeigt auch seine Wendung zum Laienpublikum, aller Gepflogenheit entgegen, zeigt seine ausdrücklich ausgesprochene Betreuung von Laien als Analytiker an. Und da er die Laien, die für ihn schrieben, so oft zitiert, müssen seine Nachfolger auch die gelten lassen, die gegen ihn schreiben.

Von Freuds Schülern, die seine Gegner wurden, ist hier nicht die Rede, um den Eindruck einer Parteischrift für den einen oder gegen den andern zu vermeiden.

Die meisten Sperrungen von Worten sind von mir eingefügt.

Als ich vor über dreißig Jahren gegen Wagner schrieb und damals auch die kommenden Nazis skizzierte, gab es großen Lärm. Heute haben die echten Musiker, aber auch viele Unbefangene Wagners Welt längst verlassen. Diesmal wird es kürzere Zeit brauchen, bis man von diesem Buche sagen wird, es war damals ein längst fälliger Protest.

Santa Monica (Cal.), Februar 1945
Ludwig


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