Rudolph Hermann Lotze
Medizinische Psychologie
Rudolph Hermann Lotze

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Rudolph Hermann Lotze

Medizinische Psychologie

Vorwort.

Der allgemeinen Physiologie des körperlichen Lebens lasse ich hier die Physiologie des geistigen Lebens folgen, als Abschluß der Darstellungen, durch welche ich hoffte, dem medizinischen Studium von Seiten philosophischer Betrachtung einige Vorteile zu bereiten. Dieselben Zwecke, dieselbe Darstellungsweise teilt dieses Buch mit dem vorerwähnten; indem es sich auf die Wechselverhältnisse zwischen Körper und Seele beschränkt, und die Gegenstände ausschließt, die einer spekulativen Psychologie allein zugänglich sind, macht es nicht den Anspruch, eine philosophische Untersuchung zu sein, sondern ist gleich seinem Vorgänger zur Entwicklung anwendbarer Anschauungen über die Beziehungen des geistigen Lebens zu den körperlichen Tätigkeiten bestimmt. Man wird vielleicht eine größere Ausführlichkeit in Betreff der anatomischen Verhältnisse der Nervenzentralorgane wünschen. Ohne indessen die Wichtigkeit zu verkennen, welche die Encephalotomie bei den verbesserten Mitteln der Untersuchung für unsere Zeit gewinnt, kann ich doch nichts sehen, was sie bis jetzt schon gelehrt hätte, als einzelne noch ganz undeutbare Tatbestände. Je sicherer wir indessen von den scharfsinnigen und gewandten Physiologen, die sich dieser Untersuchungen angenommen haben, einen lebhaften Fortschritt der Entdeckungen erwarten dürfen, um so nützlicher schien es mir, eine allgemeine Ansicht über die möglichen Beurteilungsgründe zu entwickeln, nach denen die eventuellen Resultate jener Forschungen zu deuten sein werden. Ich muß die Worte Volkmanns über die Untersuchung der Herztätigkeit auch auf den Gegenstand meines Buches anwenden: "Mikroskopische Untersuchungen in diesem Gebiete werden nie zu erheblichen Aufschlüssen fuhren, weil selbst die bewahrteste Beobachtung ein vieldeutiges Ding ist. Mit solchen Beobachtungen macht Jeder, was er will; was er mit ihnen machen darf, das hängt von schon erworbenen physiologischen Erfahrungen ab. Ebenso ist in unserm Falle die Deutung des Gefundenen nach allgemeinen psychologischen Anschauungen zu regeln. Auf diese mich zu beschränken, schien mir um so ratsamer, als ich heimlich längst die statistische Bemerkung gemacht, habe, dass die großen positiven Entdeckungen der exakten Physiologie eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa vier Jahren haben.

Göttingen Ostern 1852.

H. Lotze.

Den Sturm einer akuten Krankheit hat schon die Naturbeobachtung der ältesten Zeiten der langsamen Gewalt chronischen Siechtums als die günstigere Form des Übels vorgezogen. Ausreichende Reize, mit großer Kraft die natürlichen Verhältnisse verschiebend, drängen dort das Leben zu schnellem Untergang oder zu gleich rascher und elastischer Rückwirkung; kleinliche Einflüsse, oft wiederholt, greifen es hier verstohlen an, jeder einzelne stark genug, um ein Stück seiner Grundlagen anzunagen, keiner hinlänglich, um durch entschiedenen Eindruck seine Kräfte zu gemeinsamer Abwehr zu wecken. Man hat nicht mit unrecht dieselben Analogien auf das geistige Leben übergetragen; sie kehren in der Tat nicht nur in unsern sittlichen Verhältnissen, sondern ebensowohl im Laufe wissenschaftlicher Bestrebungen wieder. Für die Erziehung des Einzelnen gleich sehr wie für die Entwicklung der Wissenschaft selbst ist es stets eine ungünstige Bedingung, wenn wir mit ihrem Gegenstande allmählich und zu einer Zeit bekannt werden, in welcher uns eine genügende Fähigkeit seiner Beurteilung noch abgeht. Wo einem gebildeten und gesammelten Bewußtsein ein Kreis von Erscheinungen sich plötzlich gegenüberstellte, da würde, an die Verfolgung bestimmter Fragen längst gewöhnt, unser Nachdenken rasch in seine Tiefen vordringen, lange bevor die Helligkeit verblich, mit welcher die Frische des Eindrucks jeden einzelnen seiner Züge hervorhob. Verfrühte und nur allmählich sich erweiternde Auffassung der Dinge läßt dagegen die meisten ihrer Eigentümlichkeiten wirkungslos an uns vorübergleiten, um so mehr, je weniger ein an andern Problemen noch nicht geübtes Denken für den unmerklichen Zuwachs neuen Inhaltes reizbar ist, den eine so langsam fortrückende Erfahrung mit sich führt. Die unzureichende Kraft dieser in ihrer Zersplitterung zu wenig eindringlichen Wahrnehmungen regt die Erkenntnis zu keiner entschlossenen und vollständigen Untersuchung auf; mit kleinen und unvollständigen Aushilfen beschwichtigen wir uns für jeden einzelnen Fall, und so bringt dies allmähliche Verwachsen des Geistes mit seinen Gegenständen nur eine unzusammenhängende Ablagerung von Eindrücken hervor, deren jeder ein halbgelöstes Rätsel in sich schließt.

Unter der hemmenden Gewalt dieser Umstände hat die Erkenntnis des Seelenlebens in größerem Masse als andere Wissenschaften, und in eigentümlicher Weise gelitten. In der Tat dürfen wir uns auf diesem Gebiete das innigste und eindringendste Verständnis fast mit demselben Recht zuschreiben, mit welchem wir die Unmöglichkeit beklagen, gerade diesen Besitz in wissenschaftlichen Formen festzuhalten. Von frühester Kindheit an führt uns die Umgebung unzählige Wahrnehmungen geistigen Lebens zu; aber mancherlei Wünsche des Gemüts und die Triebe der Selbsterhaltung zeitigen aus ihnen mit allzugroßer Beschleunigung jenen Instinkt unmittelbarer Menschenkenntnis, der sogleich den nutzbaren Gewinn seiner Wahrnehmungen zu verfolgen eilt. Mit dem schnellen Anwachs dieser praktischen Klugheit vermag die wissenschaftlichere Neigung des Verstandes, das Beobachtete auf seine ersten Quellen zurückzuführen, niemals gleichen Schritt zu halten. Und so erneuert sich zwar in dem Lebenslaufe jedes Einzelnen die rasche Ausbildung einer mehr oder minder gehaltvollen Kenntnis des geistigen Lebens, und die Lücken individueller Erfahrung ergänzend haben die Überlieferungen der Geschichte und die Werke der Kunst einen Reichtum psychologischer Anschauungen um uns aufgehäuft, deren umfassende Mannigfaltigkeit und eindringende Feinheit wenig zu begehren übrig läßt. Aber diese lebendige Menschenkenntnis ist dennoch weder Wissenschaft, noch geeignet eine solche aus sich zu entwickeln.

Zwar entspringen gewiß auch aus ihr für jedes nachdenkliche Gemüt allgemeine Gesichtspunkte und zusammenfassende Ansichten genug, aber sie unterscheiden sich völlig von dem, was eine Wissenschaft anstreben würde, die zunächst nur auf Erklärung ihres Gegenstandes, nicht aber gleich unmittelbar auf die praktische Anwendung ihrer Ergebnisse gerichtet wäre. Eine vollendete Erklärung irgend eines Kreises von Erscheinungen würde allerdings stets die genaueste Anweisung sein, handelnd in ihn einzugreifen und ihn nach willkürlichen Zwecken zu gestalten; bei der allgemeinen Unvollendbarkeit menschlicher Wissenschaft jedoch fließen in Wirklichkeit die nützlichen Regeln praktischen Benehmens meist aus näheren Quellen. Um den Eintritt irgend eines Ereignisses aus vorhandenen Umständen vorher zu bestimmen, ist selten die Kenntnis der wahren wirkenden Kräfte unentbehrlich, welche jene Folge mit diesen Bedingungen verknüpfen; es reicht hin, eine gesetzliche Formel zu wissen, nach welcher beide tatsächlich mit einander verbunden vorkommen. Solcher Gesetze bietet uns eine vervielfältige Beobachtung gar manche mit hinlänglicher Genauigkeit dar; und da selten eine praktische Maxime auf Unfehlbarkeit Anspruch macht, vielmehr die Ungewißheit der Beurteilung diesem Verkehr mit den Ereignissen einen neuen Reiz lebendigen Wagnisses gibt, so reichen um so mehr selbst unvollständige Beobachtungen hin, um unserem Handeln die nötigen Zielpunkte festzustellen. Auf so schwebenden Grundlagen ruht auch jene lebendige Menschenkenntnis; und so wenig wir hoffen dürfen, ihren praktischen Blick jemals durch wissenschaftliche Überlegungen zu ersetzen, so wenig vermag sie selbst die Aufgaben der Wissenschaft zu lösen oder ihrer Lösung auch nur in genügender Weise vorzuarbeiten. Jenes Innere der Seele, das der Pädagog nach bestimmten Zwecken auszubilden, dessen krankhafte Störungen der Arzt, dessen sittliche Verirrungen der Seelsorger zu heilen unternimmt, und dessen verborgenstes Getriebe meist der Schlechteste für seine Absichten am glücklichsten in Bewegung setzt, bleibt in seinem eigentlichen Wesen und in den ursprünglichen Gesetzen seines Wirkens ihnen allen unbekannt Mit instinktiver Sicherheit bewegen sie sich in einem Kreise der zusammengesetztesten Ereignisse, die auf ihre unzähligen Bedingungen zurückzuführen die Wissenschaft, selbst im Besitze der festeten Prinzipien, verzweifeln müßte; manche Gewohnheiten ferner des Ineinanergreifens geistiger Tätigkeiten wissen sie den Beobachtungen geschickt genug zu entlehnen: aber die wesentlichste Frage lassen sie unberührt, die nach den elementaren Kräften, auf deren Wirksamkeit und Verbindung die Möglichkeil aller dieser Gewohnheiten allein beruht. Neben dem feinsten Verständnis menschlicher Charaktere im Leben und neben der schärfsten Zeichnung derselben in den Werken der Kunst pflegt daher doch selbst ein gebildetes Zeitalter gewissen Grundvorstellungen über die Natur des geistigen Wesens zu folgen, über deren Rohheit es selbst erschrickt, sobald eine empirische Psychologie ihm die Summe derselben in wissenschaftlicher Allgemeinheit vorhält und abgelöst von dem bestechenden Reichtum spezieller Anschauungen, die allein in der lebendigen Anwendung ihre gänzliche Unzulänglichkeit verdeckten.

Dasselbe geistige Dasein nun, welches jene lebendige Kenntnis so fein in seinen letzten Verzweigungen und so gar nicht in seinen Wurzeln versteht, hat freilich stets auch den geordneten Angriffen der wissenschaftlichen Untersuchung offen gestanden. Aber ein doppeltes Mißgeschick hat auch diese ernstlichen Bestrebungen der Erklärung immer verfolgt. Zuerst hat die überwältigende Wichtigkeit des Gegenstandes jedes Zeitalter gedrängt, mit oft unzulänglichen Erkenntnismitteln eine abschließende Ansicht über ihn zu suchen. Wie sehr nun auch zur Beurteilung vieler Seiten des geistigen Lebens die nötigen Grandlagen nur in dem Innern des Geistes selbst liegenund daher dem Scharfsinn menschlicher Erkenntnis stets zugänglich sein mußten, so wird doch seine vollständige Auffassung nie ohne jene klaren naturwissenschaftlichen Anschauungen möglich sein, die im Verlaufe unserer Bildung sich bekanntlich spät und allmählich entwickelt haben. Im Angesicht so vieler mißlungener Versuche, das geistige Leben zu erklären, dürfen wir deshalb die Hoffnung doch nicht aufgeben, wenigstens in Bezug auf die enger begrenzte Frage, welche den Gegenstand unserer folgenden Betrachtungen bilden wird, glücklicher zu sein. Können wir uns nicht zuschreiben, eine größere Kraft des Gedankens gegen diese Rätsel zu wenden, so hat dafür der allgemeine Fortschritt der naturwissenschaftlichen Bildung nicht nur einzelne Schranken der Erkenntnis hinweggeräumt, sondern durch den umfassenden Überblick, den er uns über die Welt des Vorhandenen eröffnet, sind auch unsere allgemeinen Beurteilungsgründe klarer und zur Überwältigung mancher Schwierigkeit beweglicher geworden.

Es ist daher nicht sowohl die eigne Dunkelheit des Gegenstandes, die wir scheuen, als vielmehr jenes andere Mißgeschick, dem, wie wir erwähnten, die Versuche psychologischer Erklärung stets ausgesetzt gewesen sind. In jener lebendigen Menschenkenntnis sind wir mit den Erscheinungen des Seelenlebens äußerlich zu bekannt geworden, um noch gern zu glauben, die Wissenschaft wisse über sie mehr Aufklärung zu geben, als unsere unerzogenen Reflexionen bereits enthalten. Wie jeder andere Kreis von Erfahrungen, so ist auch der, den wir über psychische Erscheinungen uns gesammelt haben, durch die unablässige Tätigkeit halb unbewußter Überlegungen mit einer unfertigen Metaphysik allenthalben versetzt. Jene äußerliche Vertrautheit aber mit den Phänomenen des geistigen Lebens trägt die Schuld, dass wir gerade auf diesem Gebiete die Vorurteile jener unregelmäßigen Erklärungsversuche mit viel größerer Hartnäckigkeit, als sonstwo, den Behauptungen gegenüberstellen, welche eine besonnene und an umfassender Betrachtung der Welt großgezogene Spekulation geltend zu machen hat. Vieles erscheint daher der allgemeinen Meinung als eine klare und brauchbare Hypothese der Erklärung, was jede philosophische Theorie als eine völlig unmögliche Verkehrtheit zurückweisen muß; manches gilt umgekehrt jener fragmentarisch gebildeten Ansicht als unlösbares Rätsel, was die wissenschaftliche Auffassung als einfach und erledigt betrachten darf. So hat jener unangenehme Zustand der Dinge sich gebildet, dass zwar Jeder zugibt, die Entscheidung physikalischer Fragen hänge von der genauen Kenntnis unbestreitbarer Grundsätze ab, dass dagegen der Bereich psychologischer Untersuchungen fast für ein vogelfreies Gebiet gehalten wird, in welchem bei dem Mangel aller festen Gesetze und der Unmöglichkeit sicherer Ergebnisse Jeder den Einfällen folgen dürfe, die nach der besondern Eigentümlichkeit seines Bildungsganges ihn am meisten anmuten. Zwar müssen wir zugeben, dass hier wie in allen Wissenschaften, einzelne unentscheidbare Fragen sich finden, deren Beantwortung für jetzt einem subjektiven Gefühl des Richtigen anheimgestellt bleiben muß; nicht minder aber können wir das Vorhandensein ebenso sicherer Grundsätze behaupten, als sie irgend einer andern Wissenschaft zu Gebote stehn. Der Genialität unserer Physiologen mag das schöne Verdienst beschieden sein, diesen Grundsätzen durch individuellen Scharfsinn eine Reihe wichtiger Anwendungen abzugewinnen; in Bezug auf die Grundsätze selbst dagegen müssen sie mit Aufgebung subjektiver Neigungen sich zu der aufrichtigen Stellung eines Lernenden verstehen.

Indem wir nun den Versuch wagen wollen, den Zusammenhang des geistigen und des körperlichen Lebens in allen jenen Beziehungen zu schildern, die der Heilkunst von Wert sein können, müssen wir hoffen, dass eine ausdauernde Teilnahme unserer Leser die Ungunst der Stellung überwinden werde, in der sich alle solche Bestrebungen gegenwärtig befinden. Wir sehen uns einem Gegenstande gegenüber, dessen erste Frische längst durch unzählige vereinzelte und mißglückte Versuche seiner Erforschung für uns verloren ist; der Zugang zu dem ferner, was wir als feststehend und weiterer Entwicklung fähig behaupten möchten, steht uns nur nach dem langen Wege einer erschöpfenden Kritik jener Vorurteile offen, die sich verwirrend, Gesuchtes und Gegebenes am häufigsten verwechselnd, in unerhörten Entdeckungen einander überbietend, um diese Fragen angesammelt haben; endlich ist, was wir als das Wahre vertreten wollen, nicht eine jener extremen und capriciösen Ansichten, die gegenwärtig am meisten Hoffnung haben, die erschlaffte Empfänglichkeit für die Behandlung dieser Gegenstände wieder aufzustacheln. Unsere Absicht ist es vielmehr, eine Auffassung des Seelenlebens zu entwickeln, die den Anforderungen naturwissenschaftlicher Anschauung ebenso vollständig Genüge leistet, als sie anderseits unverkümmerten Raum läßt für die Anknüpfung jener sittlichen und religiösen Reflexionen, deren gleiches Recht an unsern Gegenstand zu leugnen wir der Leidenschaftlichkeit unserer Zeit nicht zugestehen dürfen. Wir wollen versuchen, diese allgemeinen Grundlagen der psvchologischen Untersuchungen hier zusammenzufassen, ohne Bildung und Sprache einer bestimmten philosophischen Schule vorauszusetzen, aber gleichzeitig auch ohne den Zusammenhang mit jenen Elementen der Bildung zu verlieren, die außer der Physiologie das menschliche Nachdenken bewegen, und deren Einflüsse der Naturforscher sich weder im Leben noch in der Wissenschaft zu entziehen vermag oder versuchen soll.


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