Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Einunddreißigstes Kapitel

An einem Sonntagabend indessen, als er sich wie immer allein, zwecklos und mit der etwas trügerischen, ernsthaften Miene umhertrieb, geriet er von ungefähr in die Bahnhofhalle. Er mochte es unterhaltend finden, der Ankunft eines Zuges beizuwohnen und die verschiedenen Gestalten an sich vorüberziehen zu lassen, vielleicht trieb ihn auch ein unbewußter, unbestimmter Drang, in der linden, lang andauernden Dämmerung dieses Märzabends ein Abenteuer zu erleben.

Vergnügtes Sonntagspublikum, von Landpartieen heimkehrend, zog an ihm vorüber! einige angeheiterte Spießbürger reizten ihn zum Lachen.

»Du hast doch dein Täschchen nicht verloren, Magdalena?« hörte er eine bieder aussehende Frau, die eine mit Fransen besetzte Mantille trug, in komisch erregtem, angstvollem Ton fragen, ohne Zweifel eine Mutter.

Sein Blick suchte unwillkürlich diese Magdalene, und es freute ihn, ihren Vornamen zu kennen, noch ehe er sie gesehen hatte . . . Sie war schon an ihm vorüber und drehte sich jetzt um, durch ein Schwingen des Ledertaschchens der Mutter Gemüt zu beruhigen – und was Jean in einer flüchtigen Sekunde von ihrem halb abgekehrten Profil wahrnahm, kam ihm ganz besonders reizvoll vor, so reizvoll, daß er sich in den Strom der Angekommenen mischte, um ihr zu folgen bis vor den Bahnhof hinaus, wo dieser sich rasch zerteilte. Ein prüfender Blick umfaßte die Gestalt, die, auch nur vom Rücken gesehen, fesselnd war, schlank und biegsam, mit wunderhübschem Kopfansatz, äußerst einfach, aber geschmackvoll, fast vornehm gekleidet.

Mit raschem Blick besichtigte er auch die Eltern, kleinbürgerlich im höchsten Grad, vielleicht wohlhabende Handwerker, jedenfalls einem Lebenskreis angehörend, der für den ortsfremden Matrosen ohne Heiratsabsichten und -möglichkeit unzugänglich ist.

Trotz dieser Erkenntnis beschleunigte er seinen Schritt, um ihnen voranzueilen und das junge Mädchen noch einmal zu sehen, wobei er insgeheim beinahe hoffte, die zweite genauere Besichtigung möchte zu einer Enttäuschung führen. Wenn ein Gesicht, das wir kaum gesehen haben und dessen Besitz uns von vornherein versagt ist, allzu bezaubernden Eindruck macht, so ist es eine gewisse Erleichterung, dieses Gesicht beim zweiten Blick alltäglicher zu finden; das enthebt uns der unklaren, aber tiefen Bitternis, auf immer die Berührung mit einer seltenen Erscheinungsform der Schönheit, dieser Allherrscherin, ungekostet zu lassen . . .

Er war jetzt von hinten ganz nahe an das junge Mädchen herangekommen, schob aber den Augenblick, an ihr vorüberzugehen, noch hinaus, indem er sich in den Anblick ihres Ohres und der dichtgedrängten Wurzeln des reichen, gewellten, fest aufgebundenen Haares vertiefte. Dann gewann er, einen halben Schritt vortretend, die ovale Linie der Wange und des Kinns, die, wo sie regelmäßig und hübsch ist, ziemlich sicher einen günstigen Schluß auf den Rest des Gesichts gestattet. Endlich entschloß er sich, an ihr vorüberzugehen, wobei er den Kopf zurückwarf, sie von oben bis unten musterte und ihren Blick auffing, der sich ohne Hast oder Verlegenheit vor dem seinigen senkte.

Und er fühlte sich im tiefsten Innern erregt, denn ach! sie war ein köstliches Geschöpf. Große hellbraune Augen, sehr tief liegend, ein wenig finster blickend, ganz als ob das Mädchen selbständig wollen und denken könnte. Das Profil war geradlinig, das Kinn etwas vortretend, aber von tadellos reiner Umrißlinie. Das Eigenartige und auf den ersten Blick Fesselnde in diesem Gesicht war die große Einfachheit in Linien und Farbe. Diese Züge schienen von einer Meisterhand geformt zu sein, die mit maßvollem, sicherem Griff beim Bilden der edeln Form die Einzelheiten vermeiden will, um nur das Wesentliche zu betonen. Besonders die Rundung der Wangen und des Halses, so bestimmt und doch so reich, schien aus einem Guß zu stammen, ohne daß irgend welches Ausfeilen nötig erschienen wäre. Dann hatte man dem ganzen Werk das einheitliche Blaßrosa der Hortensie gelassen, ein Ton, der in seiner gleichmäßigen Zartheit dem Stoff selbst anzugehören schien, woraus dieses Köpfchen geformt war. Zudem vervollständigte das Aschblond der Haare diesen Einklang leiser, wie in der Ferne verschwimmender Töne, und die fast bildmäßige unwirkliche Ruhe des Ganzen diente nur dazu, das Feuer der tiefliegenden Zungen und eigenwilligen Augen zu erhöhen, die mit einem Bernsteinglanz unter trotzigen, langen Wimpern hervorleuchteten.

Jean ging jetzt langsam, um sie noch einmal an sich vorüber zu lassen und noch einmal zu sehen.

Auch die Eltern faßte er jetzt schärfer ins Auge, den Vater, die Mutter und eine mutmaßliche alte Tante, lauter gute, gesunde Gesichter, die vielleicht zu ihrer Zeit hübsch gewesen waren. Und wie ehrbar und anständig sie alle aussahen! . . . Es lockte ihn, sie zu verfolgen, aber sein Gewissen erhob Einsprache, als ob diese Verfolgung eine Schmach für die guten Leutchen wäre . . .

Trotzdem ließ er sie nicht aus den Augen und beobachtete sie aus großer Entfernung und mit äußerster Bescheidenheit, um wenigstens zu erfahren, wo sie wohnten und die Spur dieser Magdalena in der jetzt einbrechenden Dunkelheit nicht ganz zu verlieren.

*

Als er sie in ein bescheidenes Haus der oberen Stadt, einem Garten gegenüber, hatte eintreten sehen, ging er, Straße und Haus wohl im Gedächtnis bewahrend, wieder in die innere Stadt hinunter, und dann in die Gegenden, wo die Matrosen ihr Vergnügen suchen. An Bord zu gehen, war es jetzt zu spät, denn das Arsenal mußte schon geschlossen sein. Um seinen Gedanken eine andre Richtung zu geben, trat er dann in eine Matrosenkneipe, wo die Eroberungen billig zu haben sind.

Aber am nächsten Morgen ward er zu seinem eigenen Erstaunen inne, daß ein Teil seines Wesens an dem hübschen, mattfarbigen Gesicht und den dunklen Augen hängen geblieben war. Um ihretwillen, die er nur im Flug verstohlen erblickt hatte, empfand er keine Vereinsamung mehr, nicht mehr die Oede des Hafens, noch die drückende Ruhe des kleinen Nests, noch das Beengende der Festungsmauern. Schon stand er im Banne des wonnigen Zauberbildes der Liebe, das alles Gegenwärtige umgestaltet, alles Vergangene verdrängt . . .

Als der Abend anbrach, ging er, sobald der Dienst ihn freiließ, nach der Straße, wo sie wohnte, um einen Versuch des Wiedersehens zu machen.

Und als ob er sie gerufen hätte, kam auch sie gerade jetzt die Straße her. Ein Zittern überlief ihn, als er sie erkannte. Sie kam allein nach Hause, ein wenig hastig, in der Hand dasselbe Ledertäschchen, das seine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hatte. Sie trug Handschuhe und ihr Anzug hatte, obwohl er noch einfacher war als der gestrige, etwas außerordentlich Wohlanständiges und Anmutiges.

Daß sie von der Arbeit nach Hause kam, war deutlich zu sehen. Sie war also offenbar nur eine kleine Arbeiterin, die immer um dieselbe Stunde und ohne Begleitung heimkommen würde, was den Fall ungemein erleichterte. An dem Blick, den sie heute gar zu rasch von ihm abwandte, erriet er, daß sie ihn gestern abend wohl bemerkt hatte und in Verlegenheit war über die wiederholte Begegnung.

All seine Vorsätze, immer an Bord auszuhalten, waren zerstoben wie Spreu im Winde. Am selben Abend noch mietete er sich in der Stadt ein kleines Matrosenkämmerchen, das in einer mit Linden bepflanzten Straße in der Nähe des Arsenals über einer immer menschenleeren Kaffeewirtschaft lag. Zur Beschwichtigung seines Gewissens sagte er sich, daß er seine Mathematikhefte dorthin bringen und jeden Abend arbeiten werde, viel bequemer als auf den alten Schiffen, wo man bei den vergitterten Schiffslaternen kaum lesen kann.

Noch nie war er in solcher Lage gewesen – auf dem Festland, für sich wohnend, als freier, erwachsener Mann, und die Neuheit dieses Zustandes erfüllte ihn halb mit Wehmut, halb belustigte sie ihn wie ein Kind.

Er dachte immer an sie, glücklich darüber, ihren Vornamen zu kennen. Daß er sie in seinen Gedanken Magdalene nennen konnte, war schon eine Annäherung.


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