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Als der Dampfer Mariposa zwei Tage später seine gewöhnliche Fahrt zwischen Tahiti und San Franzisko machte, hörten die Passagiere plötzlich mit ihrem Scheibenwerfen an Deck auf, verließen ihre Karten im Rauchsalon, ihre Romane und ihre Deckstühle und drängten sich an die Reling, um auf das kleine Boot zu starren, das von einem leichten Winde auf sie zugetrieben wurde. Als der Große John mit Hilfe von Ah Moy und Kwaque das Segel strich und den Mast umlegte, hörten sie die Passagiere lachen. Was die sahen, widersprach so völlig ihren früheren Begriffen von der Rettung Schiffbrüchiger in einem offenen Boot mitten auf dem Meere.

Dieses Boot erinnerte ja direkt an die Arche Noah, mit seiner Ladung von Bettzeug, Packkisten, Bierkisten, einer Katze, zwei Hunden, einem weißen Kakadu, einem Chinesen, einem kraushaarigen Neger, einem langen blonden Riesen, einem grauhaarigen Daughtry und einem alten Seemann, der ungewöhnlich waschecht aussah.

»Sagen Sie, Noah«, rief einer der Passagiere, »ist die große Sintflut gewesen, wie? Haben Sie schon den Ararat gefunden?«

»Haben Sie viele Fische gefangen?« schrie ein anderer junger Mann von der Reling herunter.

»Großer Gott, sehen Sie das Bier! Gutes englisches Bier! Notieren Sie eine Kiste für mich.«

Kaum je ist eine schiffbrüchige Besatzung unter so großer Heiterkeit gerettet worden. Die frischen jungen Leute blieben dabei, daß es kein anderer, als der alte Noah selber mit den Resten der verschwundenen Stämme sei, und die älteren weiblichen Passagiere erzählten die haarsträubendsten Geschichten von einer bei einem Seebeben versunkenen Insel.

»Ich bin Steward«, sagte Dag Daughtry zu dem Kapitän der Mariposa. »Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich bei Ihren Stewards in der Stewardskajüte schlafen könnte. Der Große John dort ist Seemann, Sie können ihn also gut in der Back unterbringen. Der Chinese ist Koch, und der Nigger gehört mir. Aber Herr Greenleaf, Herr Kaptän, ist ein feiner Herr, und die beste Verpflegung und die beste Kajüte wären nicht zu gut für ihn, Herr Kaptän.«

Als bekannt wurde, daß diese Geschöpfe ein Teil der Überlebenden von dem Dreimastschoner Mary Turner waren, der von einem Wal zu Brennholz zerhackt und versenkt war, glaubten die älteren Damen daran nicht mehr, als sie an die Geschichte von der versunkenen Insel geglaubt hatten.

»Kapitän Hayward, könnte ein Wal die Mariposa versenken?« fragte eine von ihnen den Kapitän.

»Bis jetzt ist ihr das noch nie passiert«, antwortete er.

»Das dacht' ich mir doch«, sagte sie mit Nachdruck. »Schiffe pflegen nicht von Walen versenkt zu werden, nicht wahr, Kapitän?«

»Nein, gnädige Frau, im allgemeinen nicht, das kann ich Ihnen versichern«, antwortete er. »Aber nichtsdestoweniger behaupten die fünf Leute es alle.«

»Seeleute sind bekannt für ihre Unwahrhaftigkeit, nicht wahr?« Die Dame drückte ihre innerste Meinung in einer vorsichtig fragenden Form aus.

»Die schlimmsten Lügner, die ich je gekannt habe, gnädige Frau. Können Sie sich vorstellen: ich habe jetzt vierzig Jahre lang die See befahren und kann mich noch nicht auf mich selbst verlassen, nicht einmal unter Eid.« –

Neun Tage später fuhr die Mariposa in das Goldene Tor ein und legte am Kai von San Franzisko an. Lange humoristische Artikel in den Zeitungen, in dem üblichen törichten Stil kindischer, eben aus der Schule entlassener Reporter, kitzelten für einen flüchtigen Augenblick die Phantasie San Franziskos mit ihrer Erzählung von den Schiffbrüchigen, die eine Räubergeschichte auftischten, welche selbst die Reporter nicht glaubten.

Daughtry ging daher mit seiner Besatzung in San Franzisko an Land, ohne weiteres Aufsehen zu erregen und ohne daß besonders viel mit ihnen hergemacht wurde. Der Große John verschwand sofort in einem Seemannsheim und ließ sich noch vor Ausgang der Woche auf einem Dampfer anheuern, der mit Rotholz nach Bandon, Oregon, bestimmt war. Ah Moy kam nicht weiter als bis zu den Unterkunftbaracken der Auswandererkommission und wurde mit dem nächsten Postdampfer nach China zurückgeschickt. Die Katze der Mary Turner wurde von der Mannschaft der Mariposa adoptiert und fuhr nach Tahiti zurück. Scraps wurde von einem Quartiermeister an Land genommen und im Schoß seiner Familie hinterlassen.

Dag Daughtry aber ging mit seinem bescheidenen Spargroschen an Land, um zwei billige Zimmer für sich und den Teil seiner Besatzung zu mieten, für den er noch die Verantwortung trug, nämlich Charles Stough Greenleaf, Kwaque, Michael und Cocky. Aber er erlaubte dem alten Seemann nur kurze Zeit, mit ihm zusammen zu wohnen.

»Das geht nicht, Herr«, sagte er zu ihm. »Wir brauchen Kapital. Wir müssen sehen, das Kapital für uns zu interessieren und das ist Ihre Sache. Sie müssen sich daher heute noch ein paar Koffer kaufen, eine Droschke nehmen und als ein Mann mit Geld in der Tasche vor dem Bronxhotel vorfahren. Das ist ein gutes Hotel, aber mit mäßigen Preisen, und wird das richtige für Sie sein. Nehmen Sie sich ein kleines Zimmer nach dem Hofe hinaus, ohne Pension natürlich, so daß Sie am Essen sparen können.«

»Aber ich habe kein Geld, Steward«, protestierte der alte Seemann.

»Das macht nichts, ich helfe Ihnen mit allem, was ich habe.«

»Ja aber, mein Lieber, Sie wissen, daß ich ein alter Sünder bin. Ich kann Sie nicht betrügen wie die anderen. Sie ... ja, ja, sehen Sie, Sie sind mein Freund, sehen Sie den Unterschied nicht ein?«

»Doch gewiß, und ich danke Ihnen, daß Sie das sagen, Herr. Aber deshalb halte ich ja gerade zu Ihnen. Und wenn Sie eine Bande von neuen Schatzsuchern und das Schiff bereit haben, dann heuern Sie mich einfach als Steward an, mit Kwaque, Killeny-Boy und dem Rest unserer Familie. Sie haben mich jetzt adoptiert, ich bin Ihr erwachsener Sohn, und Sie müssen tun, wie ich Ihnen sage. Bronx ist gerade das rechte Hotel für Sie, ein gutklingender Name, nicht wahr? Er duftet nach Vornehmheit. Ich versichere Ihnen, wenn Sie sich in einem großen Klubsessel zurücklehnen und mit einer Viertel-Dollar-Zigarre im Mund und einem Getränk für zwanzig Cent neben sich vom Schatz reden, dann schmeckt das schon geradezu nach dem Schatz. Man kann nicht anders, als Ihnen glauben. Und wenn Sie jetzt gleich mitkommen, können wir losgehen und die Koffer kaufen.«

Tapfer und ohne mit den Augen zu blinzeln, fuhr der alte Seemann in einer Droschke beim Bronxhotel vor, trug sein »Charles Stough Greenleaf« mit altertümlicher Handschrift ein und nahm die Tätigkeit wieder auf, die ihn seit Jahren vor dem Asyl bewahrte. Nicht weniger tapfer begab Dag Daughtry sich auf die Arbeitssuche. Das war im höchsten Maße erforderlich, weil er große Ausgaben hatte. Seine Familie – Kwaque, Michael und Cocky – mußte Kost und Logis haben; noch teurer aber war es, daß der alte Seemann in dem feinen Hotel wohnte; und dazu kam noch sein eigener Durst, der seine sechs Liter täglich forderte.

Aber es war gerade die Zeit einer industriellen Krise. Die Frage der Arbeitslosigkeit beschäftigte in höherem Maße als gewöhnlich die Bürger San Franziskos, und für jeden freien Stewardposten auf Dampfern und Segelschiffen meldeten sich drei Bewerber. Daughtry konnte keine Stellung finden, und die Gelegenheitsarbeit, die er erhielt, vermochte sein Budget nicht im Gleichgewicht zu halten. Er arbeitete sogar beim Straßenbau für die Gemeinde, aber nur drei Tage, dann mußte er der Bestimmung gemäß einem andern weichen, den die drei Tage Arbeit ein wenig über Wasser hielten.

Daughtry würde Kwaque auf Arbeit geschickt haben, wäre Kwaque nicht unmöglich gewesen. Der Schwarze, der nur vom Deck des Dampfers aus Sydney gesehen hatte, war nie in seinem Leben in einer Stadt gewesen. Das einzige, was er von der Welt kannte, waren Dampfer, ferne Südseeinseln und seine eigene König-Wilhelms-Insel in Melanesien. Kwaque blieb daher in den beiden Zimmern, kochte, bestellte das Haus und sorgte für Michael und Cocky. Dies war das reine Gefängnisleben für Michael, der gewöhnt war, sich auf Schiffen und Koralleninseln zu tummeln.

Abends aber machte Michael Spaziergänge mit Steward, zuweilen auch von Kwaque gefolgt, der sich einige Schritte hinter ihnen hielt. Die Menge der weißen Götter auf den überfüllten Bürgersteigen wurde eine Qual für Michael, so daß Gottmenschen im allgemeinen tief in seiner Achtung sanken. Steward aber, der Gott, der im besonderen Maße der Gegenstand seiner Huldigung und Verehrung war, stieg nur noch in seinen Augen. Michael wurde verwirrt unter so vielen Göttern, dafür wurde aber der Abrahamsschoß Stewards für ihn mehr als je der einzige sichere Hafen, in dem weder Unannehmlichkeiten noch Gefahren je auf ihn lauerten. »Vorsicht« ist der erste und letzte Warnruf des städtischen Lebens im zwanzigsten Jahrhundert. Michael war nicht faul, ihn sich hinters Ohr zu schreiben, und er nahm seine Pfoten in acht zwischen den unzähligen Tausenden gestiefelter Menschenfüße, die stets dahinhasteten und nie Rücksicht auf die Existenz eines geringen vierbeinigen irischen Terriers nahmen.

Die abendlichen Ausgänge mit Steward führten unweigerlich von einer Wirtschaft zur andern, wo Männer, an langen Schanktischen stehend oder an kleinen Tischen sitzend, tranken und schwatzten. Diese Männer tranken und schwatzten viel, und das tat Steward auch, bis er nach Einnahme seines täglichen Minimums von sechs Litern heimkehrte, um zu Bett zu gehen. Er und Michael machten viele Bekanntschaften. Es waren meistens Seeleute, die die Küste oder die Bucht befuhren, aber es befanden sich auch viele Fischer und Hafenarbeiter unter ihnen.

Einer dieser Bekannten, der Kapitän eines flachgehenden Schoners, der die Küste der Bucht sowie den San Joaquin und den Sacramento befuhr, hatte Daughtry versprochen, ihn als Koch und Matrosen auf der Howard anzuheuern. Das Schiff hatte, die Decklast eingerechnet, eine Tragfähigkeit von achtzig Tonnen, und regelmäßig luden und löschten Kapitän Jörgensen, der Koch und zwei andere Matrosen immer wieder und segelten Tag und Nacht zu allen Zeiten und unter allen Wasserverhältnissen, wobei ein Mann steuerte, während die andern drei schliefen oder sich stärkten. Das bedeutete Arbeit, doppelte Arbeit und Überarbeit und noch mehr, aber die Verpflegung war reichlich, und der Lohn belief sich auf fünfundvierzig bis sechzig Dollar monatlich.

»Sie können sich darauf verlassen«, sagte Kapitän Jörgensen. »Diesen Koch, den Hanson, werde ich sehr bald vertrimmen und zum Teufel schicken, und dann kommen Sie an Bord – und der Wauwau auch.« Mit diesen Worten legte er seine arbeitsrauhe Hand herzlich auf Michaels Kopf und streichelte ihn. »Das ist ein schöner Wauwau. Ein Wauwau ist gut auf einer Schute, wenn sie vor Anker liegt und alle Mann am Kai oder auf Wache schlafen.«

»Dann schicken Sie Hanson doch zum Teufel«, forderte Dag Daughtry ihn auf.

Aber Kapitän Jörgensen schüttelte schwerfällig seinen schwerfälligen Kopf.

»Erst will ich ihn vertrimmen.«

»Dann vertrimmen Sie ihn jetzt und schicken Sie ihn zum Teufel« beharrte Daughtry. »Dahinten in der Ecke sitzt er.«

»Nein. Er muß mir einen Grund dazu geben. Ich habe massenhaft Grund. Aber ich muß einen haben, den alle Welt versteht. Er muß mich dazu bringen, daß ich ihn vertrimme, so daß alle Leute sagen: ›Hurra, Kaptän, das ist recht!‹ Dann kriegen Sie den Platz, Daughtry.«

Hätte Kapitän Jörgensen nicht gezögert, Hanson zu vertrimmen, und hätte Hanson nicht gezögert, ihm einen hinreichenden Vorwand zu geben, so würde Michael dem Steward an Bord des Schoners Howard gefolgt sein, und alle folgenden Erlebnisse Michaels hätten sich anders gestaltet. Aber sie waren nun einmal vorbestimmt, und zwar durch einen Zufall oder durch eine Verkettung von Zufällen, denen Michael nicht entgehen konnte, und von denen er nicht mehr ahnte als Steward selbst. In diesem Augenblick waren die spätere Bühnenkarriere Michaels und die grausame Mißhandlung, die er erleiden sollte, ein Schicksal, das keiner in seinen wildesten Träumen geahnt hätte. Und was Daughtrys und Kwaques Schicksal anging, so hätte sich keiner, selbst im wahnsinnigsten Opiumrausch, etwas auch nur annähernd so Furchtbares träumen lassen.

* * *

 


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