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Hermann Pfeifer behauptete, der Mensch sei von Hause aus kein Monogam, und die Einehe sei eine Kunstbildung der Kultur. Die körperliche Überlegenheit der Männer hätte die armen Weiber dazu gezwungen, diese Einrichtung als die sittliche Grundlage der ganzen Gesellschaft anzuerkennen; für männliche Selbstsucht, männliche Feigheit und Furcht hätten die Männer diese feste Schutzwehr aufgerichtet, während sie selbst vor der Ehe unbedingt, und bedingt auch in der Ehe, offen oder versteckt dieser Satzung zuwiderhandelten.

Bei diesen Anschauungen war er natürlich Junggeselle geblieben, und so war er allmählich bis an die Schwelle der Fünfzig vorgerückt.

Was er eigentlich trieb, womit er die vierundzwanzig Stunden des normalen Kalendertags verbrachte, war selbst seinen nächsten Bekannten ein unaufgeklärtes Geheimnis. Von Zeit zu Zeit hörte man ihn seufzen: »Ich habe wieder einen Brief zu schreiben!« Und nach ein paar Tagen sagte er: »Wenn ich meinen Brief nur erst geschrieben hätte!« Und nach Verlauf von abermals einigen Tagen rief er strahlend aus: »Gottlob, ich habe meinen Brief geschrieben!«

Seine Altersgenossen erinnerten sich, ihn vor etwa fünfundzwanzig Jahren als Auskultator gekannt zu haben. Aber schon vor dem Referendarexamen hatte er, da sich eben seine sittliche Überzeugung mit den Grundlagen unserer Gesellschaft nicht versöhnen konnte, schmollend kehrtgemacht. Er hatte so gut wie keinen Familienanhang. Mit seiner einzigen Schwester verkehrte er wenig, da er deren Mann nicht ausstehen konnte. Er hatte viel zu viel sehr gute Freunde, um einen Freund zu haben. Überall war er gern gesehen, aber er wurde auch kaum vermißt, wenn er nicht da war. Dieser Fall ereignete sich übrigens selten: er war beinahe immer da!

Er fehlte bei keiner ersten Vorstellung im Theater, er war Stammgast im Zirkus. Man traf ihn im Winter auf der Eisbahn, im Frühling, Sommer und Herbst auf der Rennbahn; im Hochsommer konnte man ihn sicher im Engadin, im Salzkammergut, im bayrischen Gebirge oder in irgend einem vielbesuchten Luxusbade finden; im Januar an der Riviera, im Mai in Paris, im Oktober in einem englischen Seebade – er war überall.

Überall sah man die kleine rundliche Gestalt mit dem runden Bäuchlein von schon ziemlich bedenklichen Verhältnissen, das runde, faltenlose, blühende Gesicht mit dem bräunlichen kurzgeschorenen Vollbart, in dem sich, namentlich in der Gegend des Ohransatzes, schon weiße Stoppeln in erheblicher Zahl zeigten. Und im Theater erkannte man ihn, wenn man nur einen flüchtigen Blick durch den Saal gleiten ließ, sofort an seiner weithin glänzenden Glatze. Sein Schädel war in der Tat von Haaren nahezu völlig entblößt, und nur ein schmaler tiefer Kranz anmutig gewellter und sehr gepflegter Haare erinnerte an die entschwundene Pracht des braunen Lockenkopfes. Hermann Pfeifer gab sehr viel auf die körperliche Pflege und sah immer aus wie aus dem Ei geschält. Er kleidete sich mit größter Sorgfalt, nur vielleicht etwas zu stutzerhaft jung.

Alle Welt kannte ihn, und man hatte ihn, wie gesagt, recht gern, weniger seiner wirklichen Verdienste wegen, als wegen des gänzlichen Mangels an unangenehmen und lästigen Eigenschaften. Er war nicht boshaft und nicht schwatzhaft. Man konnte auf seine Verschwiegenheit bauen. Er war auch sehr gern gefällig, und seine ausgeglichene heitere Stimmung machte den Verkehr mit ihm zu einem sehr angenehmen. Er besaß ein hübsches Vermögen, von dessen Zinsen er allen seinen ziemlich weitgehenden Anforderungen an das Leben vollauf genügen konnte. Er hatte eine sehr reizende Wohnung in der Viktoriastraße, in der er im Laufe des Winters in fünf oder sechs verschiedenen Serien seine Freunde bewirtete. Seine Küche erfreute sich des besten Rufs. Dieser, sowie seiner ganzen Wirtschaft, stand seit zwanzig Jahren Frau Willner vor, die bereits im Hause seiner verstorbenen Eltern gedient hatte. Frau Willner hatte sich vor fünfundzwanzig Jahren verheiratet, ihren Mann aber nach zweijähriger Ehe verloren und war dann zu ihrer früheren Herrschaft, zu Pfeifers Eltern, zurückgekehrt, nachdem sie ihr Kind bei einer nahen verheirateten Anverwandten in Pflege gegeben hatte. Der Junge hatte sich gut gemacht. Pfeifer, der mit allem andern auch Frau Willner von seinen Eltern geerbt, hatte seiner Wirtschafterin die Gelegenheit geboten, ihrem Sohn eine angemessene Erziehung zu geben. Und da seine Wohnung genügend groß war, hatte er auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß Frau Willner ihren Sohn Eduard, als dieser etwa das siebente Lebensjahr erreicht hatte, zu sich nahm. Er hatte sich dann um den Jungen ziemlich viel bekümmert und ihn auf die Handelsschule geschickt, um ihn da etwas Ordentliches lernen zu lassen.

Seitdem Eduard herangewachsen war, sah und hörte Pfeifer weniger von ihm. An jedem Sonntag jedoch durfte ihm der junge Willner Guten Tag sagen und wurde bei diesem Anlaß jedesmal mit einigen liebenswürdigen Worten und einem kleinen Geschenk erfreut.

Pfeifer nannte Eduard merkwürdigerweise nie bei seinem Namen, sondern immer den »Bua«. Woher diese für den echten Berliner Strick so wenig wie nur möglich geeignete Bezeichnung eigentlich stammte, war ihm selbst nicht mehr recht klar. Er mochte wohl vor vielen Jahren längere Zeit die heißen Sommerwochen in Tirol oder in der Steiermark verbracht und nach seiner Rückkehr als spaßhafte Erinnerung an die Naturkinder im Gebirge den Sohn seiner Wirtschafterin im Scherze manchmal »Bua« genannt haben. Und dieser Name war nun dem ungeschlachten Vollblutberliner geblieben; Frau Willner selbst hatte aus Verehrung für ihren guten Herrn den »Bua« als Kosewort für ihren Sohn mit übernommen.

Pfeifer bemerkte gar nicht, daß der »Bua« inzwischen immer größer geworden war. Wenn sein Diener gerade beschäftigt war, so schickte er bisweilen auch den »Bua« aus, um dies oder das für ihn zu besorgen. Namentlich ließ er auch durch ihn Briefe befördern, deren Adresse er seinem Diener aus irgend welchen Gründen nicht anvertrauen wollte. Die in die Verhältnisse nicht Eingeweihten waren immer sprachlos vor Erstaunen, wenn Pfeifer in ihrer Gegenwart die Erledigung irgend einer solchen Sache dem »Bua« übertragen zu wollen erklärte, und alsdann ein hochaufgeschossener breitschultriger Lümmel mit dem häßlichen, dummdreisten und verschmitzten Lächeln des Berliner Heranwuchses auf der Bildfläche erschien.

Eduard war sehr groß. Seine Hände und Füße waren geradezu enorm. Er stieß überall an und warf alles zu Boden, was nicht niet- und nagelfest war. Erst während seiner Dienstzeit im zweiten Garderegiment hatte er einigen Schliff erhalten, und er kleidete sich, nachdem er den »bunten Rock« ausgezogen hatte, mit billiger und häßlicher Stutzerhaftigkeit. Auf dem imposanten Zeigefinger seiner roten Rechten trug er einen großen Siegelring mit einem geringwertigen Steine. Er hatte eine Stelle als Verkäufer in einem Konfektionsgeschäfte gefunden und verbrachte seine Abende mit seinesgleichen in den verschiedenen Tanzlokalen und nächtlichen Konditoreien der Friedrichstadt. Er ließ sich ziemlich regelmäßig von einem Barbier in einem benachbarten Keller frisieren, und zwar möglichst soldatisch: den Scheitel ziemlich hoch und bis zum Nackenansatz verlängert, das Haar an den Schläfen fest angepappt. Sein spärlicher hellblonder Schnurrbart endete in gewichsten Spitzen. Er trug einen zweireihigen Rock hoch zugeknöpft und war glücklich, wenn ein Unbekannter in ihm einen Leutnant in Zivil vermutete.

Pfeifer hatte von dieser Umwandlung, die sich ganz langsam vor ihm vollzogen hatte, nichts bemerkt. Er sah in Eduard immer noch den dummen Jungen von früher – und dumm war er auch geblieben –, und für ihn war er noch immer der »Bua« von ehedem. Pfeifer wußte, daß der »Bua« von seinen Zigarren rauchte, und er wandte daher die Vorsicht an, daß er die guten Sorten einschloß und eine billige eigens für den »Bua« bestimmte Kiste offen ließ. Und noch eins machte Pfeifer klar, daß der »Bua« inzwischen doch etwas größer geworden war und höhere Ansprüche an das Leben machte, nämlich der Umstand, daß Eduard ziemlich oft seinen Gönner um eine kleine Summe anging, die er am Ersten künftigen Monats von seinem Gehalte zurückzuerstatten regelmäßig versprach und eben so regelmäßig vergaß.

So war das Verhältnis zwischen Pfeifer und dem Sohne seiner Wirtschafterin ein ungetrübtes und sehr sonderbares.

Hermann Pfeifer war im allgemeinen eine durchaus harmlose Natur und sehr bescheiden. Nur auf zweierlei bildete er sich sehr viel ein; auf seine Menschenkenntnis und auf sein Glück bei den Frauen. Er behauptete, sich niemals in einem Menschen getäuscht zu haben, und jedes weibliche Wesen, das ihm huldvoll begegnete, war immer etwas ganz Außerordentliches und Ungewöhnliches. Für unangenehme Erfahrungen, die er gerade in dieser Beziehung gemacht hatte, besaß er gar kein Gedächtnis. Er war von seinem psychologischen Scharfblick und von seiner Bevorzugung durch das gütige Schicksal fest überzeugt, und nichts vermochte ihn in dieser Überzeugung zu erschüttern.

Er suchte sein Glück aber auch zu verdienen. Er machte es sich nicht so bequem wie die andern, die, wo immer der Zufall sie mit einer hübschen Larve zusammenführte, gleich Feuer und Flamme waren und sich mit ihren wohlfeilen Erfolgen brüsteten. Er suchte die Veilchen, die im Verborgenen blühten, und er suchte sie lange. Sein besonderer Ehrgeiz war es, unter unscheinbarer Hülle etwas Außergewöhnliches aufzufinden.

Dieses mühsame Aufsuchen einer edeln Menschenseele, mit der er sich auf kürzere oder längere Zeit harmonisch verbinden konnte, war eigentlich der einzige Zweck seines Daseins. Er ließ ihn nie aus den Augen und prüfte mit ernster Aufmerksamkeit jede weibliche Erscheinung, der er von ungefähr begegnete – gleichviel ob diese nun in Samt und Seide angetan an ihm vorüberrollte, oder in dürftigen Kattunkleidchen, ein in Papier gewickeltes Paket auf dem Arm, schnell vor ihm hertrippelte.

Pfeifers nähere Freunde zerbrachen sich oft den Kopf darüber, was er in gewissen Stunden, in denen er absolut unfindbar war, eigentlich anfange. Der eine und der andere war erstaunt, wenn er, durch irgend einen Zufall in ein ganz entlegenes Stadtviertel geführt, auf einmal Pfeifer begegnete.

In Wahrheit bildeten diese unaufgeklärten Stunden seine eigentliche Arbeitszeit: in diesen suchte er Seelen.

Er suchte sie überall, und seine Freunde im Klub machten große Augen, wenn ihm hier und da eine Äußerung über ein gänzlich unbekanntes Vergnügungslokal entschlüpfte. Er schien alles zu kennen. Und der Schein trog nicht: er kannte in der Tat alles. Trotz seiner auffälligen Eleganz in der Erscheinung verschmähte er es nicht, von Zeit zu Zeit in einem Keller ein Glas Weißbier zu trinken, bloß um das Intelligenzblatt zu studieren und Kenntnis von jenen Vergnügungslokalen bescheidenerer Art zu erlangen, die eben nur in diesem Blatte auf die Genüsse, die sie ihrem Besucher boten, aufmerksam machten.

Auf diese Weise hatte er auch erfahren, daß eine neue, sehr sehenswerte Künstlerin in der Alhambra sich zeigte. Und er erinnerte sich nun, daß er im Alhambratheater seit langer Zeit nicht gewesen sei, und daß er sich dort wohl wieder einmal zeigen müsse.

Er löste ein Billett zur Proszeniumsloge und war angenehm davon berührt, in dieser ein sehr hübsches junges Mädchen allein zu finden. Auf seinen Gruß hatte sie mit einem kaum merklichen Schließen der schönen dunkeln Augen sehr zurückhaltend geantwortet.

Das Theater war sehr voll, von Qualm aus allen möglichen Zigarren durchräuchert und sehr heiß. Die verschiedenen Schaustellungen auf der Bühne waren nicht derart, daß sie Hermann besonders hätten reizen können. Er beobachtete vielmehr unausgesetzt und so unauffällig wie möglich seine Nachbarin; denn sein scharfer Blick hatte ihm sofort verraten, daß er mit einer zu jähen Äußerung seines Annäherungsbedürfnisses alles verderben würde.

Es war wirklich ein sehr hübsches Mädchen, von kleiner und zierlicher Gestalt, mit einem reizend geschnittenen Köpfchen. Ihre großen dunkeln Augen blickten mit traurigem Ausdruck auf die Bühne. Sie hatte ihr volles, beinahe schwarzes Haar nicht in modischer Art geordnet, es war einfach gescheitelt, und die langen und breiten Flechten fielen über ihren Rücken. Das Mädchen sah sehr blaß aus und machte durchaus den Eindruck des Kindlichen, Unglücklichen. Die Erscheinung hatte etwas reizend Bescheidenes, rührend Anspruchsloses – eine unbewußte Schönheit von schwermütigem Liebreiz.

Sie blickte zwar unverwandt auf die Bühne, aber auch sie schien wenig Interesse an dem Dargebotenen zu haben. Sie seufzte mehrere Male tief auf, ja, sie zog auch heimlich ihr Tuch – denn sie wußte gewiß nicht, daß sie beobachtet wurde – und drückte es vor die Augen, wahrscheinlich um ihre geheimen Tränen zu trocknen. Und da sie ihren Nachbar, der seine Anwesenheit durch keine störende Zudringlichkeit verriet, wohl ganz vergessen haben mochte, wandte sie ihren Blick schließlich auch von der Bühne ab, starrte in die Leere und sagte für sich, kaum hörbar, aber doch so, daß es der aufmerksam spähende und lauschende Hermann vernehmen konnte: »Du mein Gott!«

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Hermann war wirklich ergriffen, und in der Pause, als das Licht im Saale heller gemacht wurde, machte er einen diskreten Versuch, mit der hübschen Nachbarin eine Unterhaltung anzuknüpfen. Sie aber blickte ihn so geängstigt und zugleich so strafend an, daß er, der erfahrene Mann, doch einigermaßen aus der Fassung geriet und einige Worte der Entschuldigung stammelte.

Im nächsten Teile stand sie plötzlich auf und verließ die Loge. Pfeifer war beunruhigt. Wahrscheinlich wurde sie von irgend jemand erwartet. Vielleicht bestieg sie eine Droschke. Und wenn sie ihm jetzt entwischte, war die Hoffnung, sie wiederzufinden, eine sehr geringe. Aber Pfeifer kannte die Welt, und er hatte das bestimmte Gefühl, daß er auch hier einem ungelösten Rätsel gegenüberstand, und daß es wohl der Mühe verlohnen würde, dieses zu ergründen. Er war daher schnell entschlossen. Auch er verließ nun die Loge und traf noch rechtzeitig am Ausgange des Theaters mit der Unbekannten zusammen. Zum Glück schien sie ihn nicht gesehen zu haben.

Es mochte etwa um die neunte Abendstunde sein. Ein häßlicher naßkalter Oktoberabend. Es war schmutzig, und die Straße war um diese Stunde sehr belebt. Pfeifers Befürchtungen bestätigten sich nicht. Das junge Mädchen nahm seinen Weg zu Fuß und ging bescheidentlich, den Kopf etwas nach vorn gebeugt, ruhig seines Wegs. Pfeifer war, um nicht von ihr bemerkt zu werden, auf die gegenüberliegende Seite der Straße gegangen und beobachtete sie von da. Er sah, wie zu verschiedenen Malen jüngere und ältere Herren den Versuch machten, sie anzureden. Aber sie lehnte jeden Antrag, sie zu begleiten, mit stiller Entschiedenheit, ohne Entrüstung, in sicherem Vollgefühle der Anständigkeit ab und ging weiter.

Als sie auf der verhältnismäßig dunkeln Jannowitzbrücke angelangt war, verlangsamte sie ihren Schritt, blieb endlich stehen und blickte spähend um sich. Niemand schien sie zu beachten. Zaghaft trat sie an das Geländer und starrte hinüber in das dunkle Wasser. Noch einmal warf sie einen scheuen Blick um sich ...

Jetzt war Hermann seiner Sache sicher. Im nächsten Augenblick konnte sich ein großes Unglück ereignen. Ihm schlug das Herz, und mit voller Entschlossenheit trat er nun auf das junge Mädchen zu und sagte ihr mit dem befehlenden Tone eines Polizisten, der einen Verbrecher verhaftet:

»Ich fordere Sie auf, mein Fräulein, mir zu folgen!«

Bestürzt sah das junge Mädchen, das in dem harmlosen Rentier in der Tat einen Beamten der öffentlichen Sicherheit voraussetzen mochte, zu Pfeifer auf. Der Anblick des so freundlich wirkenden, behäbigen, untersetzten Mannes, in dem sie gewiß ihren Nachbar aus der Loge sogleich wiedererkannte, hätte sie wohl beruhigen dürfen. Sie war indessen sichtlich betroffen und fragte leise mit zitternder Stimme:

»Was wünschen Sie denn von mir?«

»Ich werde auf keinen Fall dulden«, versetzte Hermann mit einer schneidigen Bestimmtheit, die die Kleine in ihrem Glauben, daß der ihr unbekannte Herr mit Berechtigung in diesem Tone zu ihr sprechen dürfe, nur bestärken konnte – »ich werde auf keinen Fall dulden, daß Sie das ausführen, was Sie offenbar vorhaben! Ich weiß alles, mein Fräulein, ich habe Sie beobachtet. Ich fordere Sie also auf, mir zu folgen, und wenn Sie sich meiner Forderung widersetzen, so nehme ich die Hilfe der Behörden in Anspruch.«

Das junge Mädchen zitterte nun und konnte kein Wort hervorbringen. Ein jugendlicher Strolch, der langsam über die Brücke schlenderte, blieb neben dem Paar stehen. Hermann bemerkte ihn und fürchtete, daß sich mit der Zeit mehr Menschen ansammeln würden.

»Bitte, mein Fräulein,« sagte er mit weicher Stimme, »geben Sie mir den Arm, hier ist unseres Bleibens nicht.«

Willenlos legte das Mädchen ihren Arm in den seinigen, und die beiden gingen nun in mäßigem Schritt weiter.

»Sie dürfen dem gütigen Zufall danken,« fuhr Hermann fort, »daß er mich in dieser verhängnisvollen Stunde zu Ihnen geführt hat. Ich besitze Verständnis für alle Verhältnisse. Sie dürfen mit mir ganz offen sprechen. Haben Sie also Vertrauen zu mir, ich weiß das Unglück zu respektieren.«

Er machte eine Pause, aber seine Begleiterin bewahrte ihr Schweigen.

»Aber so sagen Sie mir doch nur um des Himmels willen, was kann ein blühendes junges Mädchen wie Sie zu einem so verzweifelten Schritte treiben? Denn gestehen Sie nur, Sie standen im Begriff, etwas Furchtbares zu tun.«

Die Kleine schwieg, er fühlte aber, wie sie schaudernd zusammenfuhr. Er blickte sie von der Seite an. Sie hatte den Kopf gesenkt, und in ihren Augen standen Tränen.

»Aber so sprechen Sie doch! Sie müssen mir doch anhören, daß ich es gut mit Ihnen meine.«

»Ach!« seufzte die Kleine, »wenn Sie es wirklich gut mir meinten, dann hätten Sie mich ruhig gewähren lassen, dann wäre es jetzt vorbei mit allem Kummer und aller Not!«

»Aber Fräulein, wie kann man nur so etwas sagen! Sie treten eben in das Leben ein und wollen den Kampf aufgeben? Sie sind jung, gesund, hübsch und wollen verzweifeln? Ich finde kein genügend starkes Wort für meine Entrüstung über soviel Undank und Leichtsinn!«

»Vielleicht würden Sie mich weniger streng beurteilen, wenn Sie wüßten, wie schlecht es mir ergangen ist,« sagte das Mädchen mit wohllautender Stimme und rührender Einfachheit.

»Das will ich ja gerade von Ihnen erfahren! Und ich weiß im voraus, daß Ihr Leid nicht so unermeßlich groß sein kann, um den äußersten Schritt, den Sie beabsichtigten, zu rechtfertigen! Fassen Sie Vertrauen zu mir, mein Kind! Sprechen Sie wie zu einem väterlichen Freunde! Ihnen muß ja zu helfen sein, und soweit meine geringen Kräfte reichen, will ich Ihnen helfen.«

»Ach, mein Herr, das läßt sich so nicht sagen, nicht in wenigen Worten und nicht hier.«

»Da haben Sie recht,« sagte Hermann, der den Widerspruch zwischen seiner weihevollen Stimmung und der häßlichen Umgebung, der schmutzigen und sehr belebten Wallstraße, längst empfunden hatte. »Aber ich lasse mich nicht vertrösten, und heute noch will ich mit Ihnen ernsthaft und vernünftig sprechen. Können Sie mich in Ihrer Wohnung empfangen ... bei den Ihrigen?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Nun,« fuhr Hermann fort, »es könnte leicht mißverstanden werden, und ich wage Ihnen kaum den Vorschlag zu machen, mit mir in meine Wohnung zu kommen, obgleich ich Ihnen feierlich verspreche ...«

»Aber was denken Sie denn von mir?« unterbrach ihn das Mädchen.

»Gut, gut!« fügte Hermann schnell mit begütigendem Ausdruck hinzu. »Sprechen wir nicht mehr davon! Also suchen wir ein neutrales Gebiet. Um diese Stunde finden wir schon irgend ein Plätzchen, wo wir uns ungestört aussprechen können. Vielleicht bei Hiller, bei Uhl oder bei Dressel?«

»Unmöglich!« sagte die Kleine mit Bestimmtheit. »Was würden die Leute von uns denken, wenn sie uns da zusammen sähen?«

»Nun also, so machen Sie mir doch irgend einen Vorschlag.«

Sie zuckte die Achseln.

»Nun, dann gehen wir in das erste beste Wirtshaus. Da drüben ist ja gleich eine rote Laterne! Ich bin hier in der Gegend vollkommen unbekannt, und Sie dürfen versichert sein, daß ich Sie hier nicht kompromittieren werde.«

Gegen diesen Vorschlag schien sie keinen Einwand mehr zu erheben. Die beiden überschritten den Straßendamm und traten in eine Bierwirtschaft sechster Ordnung ein, in der verschiedene dem Handwerker- und Arbeiterstande angehörige Männer und Frauen ihr Bier tranken und ihr Abendbrot verzehrten.

Ein nicht sehr sauberer Kellner legte die stark befettete Speisekarte vor und brachte unaufgefordert zwei Glas Bier. Eigentlich hatte Pfeifer bloß der Form halber gefragt, ob seine Begleiterin etwas zu essen wünsche. Nun freute er sich, als sie die Frage bejahte. Und er freute sich noch mehr, als sie während des Folgenden ein deutsches Beefsteak mit bestem Appetit verzehrte. Er stellte währenddem tiefsinnige Betrachtungen an über die unerklärlichen Widersprüche der menschlichen Natur. Während das arme Mädchen mit treuherzigen Worten und dem Eindrucke der vollsten Glaubwürdigkeit ihm schlicht und ergreifend die traurige Geschichte ihres Lebens erzählte, aß sie das gehackte zweideutige Fleisch mit erstaunlichem Behagen und beseitigte bis zur Unerkennbarkeit auch die letzten Spuren des braunen Fettes, das sie durch die Vermittelung der auf die Gabel aufgespießten Brotbrocken ihrem reizenden rosigen Munde zuführte; und bis zur Nagelprobe leerte sie das Seidel. Pfeifer war davon wahrhaft gerührt, und in andächtiger Ergriffenheit hörte er ihre einfache Geschichte.

Es war die Geschichte von tausend anderen Mädchen.

Mariechen Gärtner war armer Leute Kind. Es herrschte zwar kein eigentlicher Mangel im Hause der Eltern, aber es ging doch sehr schmal her. Der ältere Bruder war mit vierzehn Jahren in die Lehre gegeben, und Mariechen hatte, nachdem sie die Gemeindeschule verlassen, die Stickerei erlernt. Das schönste Zimmer der Wohnung war an einen jungen Maler vermietet. O diese Künstler! Er hatte Mariechen ins Unglück gebracht. Wie scheinheilig hatte er sich benommen! Mit welcher Schlechtigkeit hatte er sich in das Vertrauen der Mutter einzuschleichen gewußt! Wie hatte er der einfachen Frau klar zu machen verstanden, daß seine ganze Zukunft davon abhinge, wenn Mariechen ihm für sein Madonnenbild, das er für die nächste Ausstellung fertigstellen wollte, einige Sitzungen bewilligte! Sie hatte ja ganz den Kopf, nach dem er immer gesucht hatte! Und Mariechen, die damals kaum siebzehn Jahre alt war und von den Tücken der Welt nichts wußte, hatte schließlich ihr geheimes Widerstreben überwunden und war in die Werkstatt gegangen. Da arbeitete noch ein anderer junger Maler nach einem bezahlten Modell, und da ging es denn allerdings viel lustiger zu als in dem Stickereigeschäft, und in den Pausen der Heiligenmalerei war das Treiben so weltlich wie möglich. Und Mariechen war ein junges Mädchen und fand Gefallen daran. Mit rührender Offenherzigkeit klagte sie sich ihres Leichtsinns an. Sie hatte sich in den Maler verliebt, und eines Tages war das Unglück geschehen. Und die Mutter war dahinter gekommen und hatte sie aus dem Hause gejagt. Und der junge Maler hatte kein Geld, und sein Bild wurde überhaupt nicht ausgestellt. Und da hatte sie sich denn mit ihrer Hände Arbeit kümmerlich durchzuschlagen versucht ...

Aber in der letzten Zeit hatte sie fast gar nichts verdienen können. Die Wirtin, der sie seit vierzehn Tagen die Miete nicht gezahlt hatte, wollte unter Zurückhaltung des wenigen, was Mariechen hatte, sie vor die Tür setzen. Und von Gewissensqualen gefoltert, in der Verzweiflung über ihre gegenwärtige Lage und über ihre Zukunft war sie heute abend ausgegangen, ohne zu wissen wohin, und ohne zu wissen, wie der Abend endigen würde. Eine Freundin aus dem Stickereigeschäft, deren Schwester in der Alhambra engagiert war, hatte ihr ein Billett gegeben, und die Freundin hatte ihr versprochen, sie dort aufzusuchen. Aber diese hatte natürlich nicht Wort gehalten, und da hatte es sie denn im Theater nicht mehr geduldet. Ohne ein bestimmtes Gefühl war sie auf die Straße getreten und planlos vor sich hingegangen.

»Und wäre ich Ihnen nicht begegnet,« schloß Mariechen ihren traurigen Bericht, »Gott weiß, was geschehen wäre!«

»Zum Glück sind Sie mir begegnet!« rief Hermann freudig. »Und nun, da ich Ihre Geschichte weiß, mache ich Ihnen erst recht den ernsten Vorwurf der Kleinmütigkeit. Ja, es ist Ihnen schlecht ergangen, und manches, was geschehen ist, läßt sich nicht wieder gut machen, das gebe ich zu! Aber du mein Gott! zum Verzweifeln ist Ihre Lage doch nicht, und mit einem verhältnismäßig geringen Opfer kann Ihnen ja über Ihre jetzige Verlegenheit hinweggeholfen werden. Wegen der paar Mark, die Sie Ihrer Wirtin schulden und die Sie gebrauchen, um wieder flott zu werden, brauchen Sie sich keine grauen Haare wachsen zu lassen. Und wenn Sie aus der Geldverlegenheit heraus sind, werden Sie das Leben wieder mit ganz anderen Augen betrachten, glauben Sie mir! Und nun seien sie ein verständiges Mädchen und sagen Sie mir ganz offen, was Sie brauchen.«

Mariechen errötete über und über, und Pfeifer mußte alle Mittel seiner Überredungskunst erschöpfen, um das Mädchen zu veranlassen, endlich zaghaft und mit gesenkten Lidern die allerdings ganz bescheidene Summe anzugeben. Pfeifer machte sich klar, daß mit dieser einmaligen Hilfeleistung wenig getan sei. Das anmutige, hübsche, junge Mädchen hatte auf ihn einen sehr sympathischen Eindruck gemacht, und er war fest entschlossen, seinem Schützling, mit dem ihn sein gütiger Stern unter so seltsamen Umständen zusammengeführt hatte, dauernd hilfreich zur Seite zu stehen. Er begleitete sie bis vor die Tür ihrer Wohnung. Und als er ihr unterwegs sagte, daß sie sich morgen um sieben Uhr wieder in demselben Lokale treffen wollten, daß er sich bis dahin nach einer geeigneten einfachen, aber hübschen Wohnung von zwei Zimmern umsehen werde, daß er ihr wöchentlich ein kleines Taschengeld bewillige, um ihre bescheidenen Bedürfnisse in ausreichenderem Maße als bisher zu bestreiten, und daß er ihr später, wenn sie sich bewähre, eine bescheidene eigene Einrichtung schaffen wolle, die sie in den Stand setze, nicht mehr von den Launen und der Habgier der gewissenlosen Zimmervermieterinnen abhängig zu sein, als er ihr endlich bei dem Wunsch einer guten Nacht in großer Verlegenheit, als begehe er ein Unrecht, etwas in die Hand drückte – da war Mariechen bis zu Tränen gerührt. Sie war kaum eines Wortes mächtig und schluchzte:

»Gott wird es Ihnen lohnen! Und Sie werden es nie zu bereuen haben, was Sie an mir getan!«

Pfeifer war mit seinem Abend sehr zufrieden, und den Freunden, mit denen er später zusammentraf, fiel seine ungewöhnlich gute Laune auf.

Am anderen Morgen – es war ein Sonntag – gab er, da er sich in seinen Gewohnheiten nicht stören lassen und zur gewohnten Frühstückstunde im Klub erscheinen wollte, dem »Bua« den Auftrag, im östlichen Teile der Stadt, in einer anständigen Straße, bei anständigen Leuten eine möblierte Wohnung, aus Wohn- und Schlafzimmer bestehend, zu mieten. Der »Bua« lachte dummdreist wie gewöhnlich und trollte ab.

Am Nachmittag fand Pfeifer auf seinem Schreibtisch einen Zettel mit der Angabe der gemieteten Wohnung in der Manteuffelstraße.

Zur festgesetzten Stunde war Hermann pünktlich vor der Wirtschaft in der Wallstraße, und vor der Tür fand er schon Mariechen, die eben angekommen war und auf ihn wartete. Sie betraten das Lokal gar nicht, sondern fuhren gleich zusammen nach der Manteuffelstraße, wo Mariechen als die neue Mieterin der Wirtsfrau vorgestellt wurde. Hermann versäumte es nicht, dieser das junge Mädchen noch ganz besonders zu empfehlen, und da er die Miete des Monats vorausbezahlte, war die Wirtin auch sehr liebenswürdig und versprach, alles zu tun, was sie tun könne, um ihn und das Fräulein zufriedenzustellen.

Mariechen war blutarm. Die wenigen Gegenstände, die sie die ihrigen nennen durfte, waren in schadhaftem Zustande und wertlos. Es machte Hermann ein besonderes Vergnügen, dem stillen, bescheidenen, guten Mädchen allmählich eine kleine Ausstattung zu schaffen. Er besuchte sie allabendlich, wenn sie aus ihrem Geschäft kam, so etwa in der achten Stunde, und er kam nie, ohne irgend ein nützliches Geschenk mitzubringen. Und Mariechen besaß das unbewußte Talent, ihre Dankbarkeit in wahrhaft entzückender Weise auszudrücken. Um neun, halb zehn verließ er sie dann immer mit einem gehobenen Gefühle der Beruhigung und des Behagens.

Mariechen war zu einer kleinen Hausfrau wie geschaffen. Nach einem Monat war die kalte und langweilige Wohnung nicht mehr zu erkennen. Alles war traulich und gemütlich geworden. Sie hatte für Pfeifer auch Hausschuhe angeschafft, die allerdings viel zu groß waren. Und wie reizend konnte sie schwatzen! Es waren die angenehmsten Stunden des Tages, die Pfeifer verbrachte, wenn er abends, mit den großen Hausschuhen angetan, auf dem bequemen Sofa in der Manteuffelstraße saß, vor ihm das bildhübsche, junge Mädchen, das ihm allerhand Schnickschnack in anmutigster Weise vorplauderte. Er war auch tief gerührt, als sie ihm nach einigen Wochen eine wunderhübsche Brieftasche mit feinster Stickerei verehrte, die sie in ihren Mußestunden neben ihrer anstrengenden Arbeit für ihn gefertigt hatte. Und da das Stickereigeschäft noch immer schlecht ging, ließ Pfeifer Mariechen für seine Bedürfnisse arbeiten. Und so befand er sich denn nach einiger Zeit im Besitz von siebzehn Dutzend Taschentüchern, die alle mit den schön verschlungenen Initialen H. P. gestickt waren.

Es machte Pfeifer offenbares Vergnügen, das ursprünglich bescheidene Taschengeld, das er für Mariechen ausgesetzt hatte, von Woche zu Woche zu vermehren, da er sah, einen wie vortrefflichen Gebrauch das gute Kind davon machte. Sie schaffte allerhand praktische Gegenstände dafür an. Sie kaufte das nötigste Gerät für die Küche: eine Kaffeemaschine, eine Teemaschine, einen kleinen Kocher, verschiedene Teller, Tassen und Geschirr. Und nirgends schmeckte ihm der Kaffee so gut wie bei ihr. Mit der Zeit hatte sie sich auch eine einfache, aber sehr kleidsame und geschmackvolle Garderobe angeschafft, ihre Kommode hatte sich mit Wäsche gefüllt, die sie selbst gestickt hatte. Kurzum man konnte beinahe schon von einem Hausstande Mariechens sprechen, und alles hatte den Charakter des fröhlichen Gedeihens.

Mariechen war Hermann Pfeifer immer lieber geworden, und zum Weihnachtsfeste hatte er eine große Überraschung für sie in Aussicht. Er wollte ihr eine zwar nur ganz einfache, aber doch vollständige Einrichtung für Wohn-, Schlafzimmer und Küche schenken. Und er hatte auch schon im geheimen durch den »Bua«, den er zu solchen Dienstleistungen immer verwandte, eine entsprechende Wohnung in der Nähe gemietet.

Mariechen hatte sich in den letzten Tagen etwas unwohl gefühlt. Sie hatte sich auf dem Wege vom Geschäft nach ihrer Wohnung eine starke Erkältung zugezogen, und Pfeifer hatte ihr gesagt, sie solle doch einige Tage nicht ausgehen.

So fand er sie denn auch am Heiligabend, als er schon zu ungewohnt früher Stunde im Laufe des Nachmittags zu ihr kam, zu Hause. Sie lag in ihrem Schlafrock auf dem Sofa und las die »Gartenlaube«. Es fiel ihm auf, daß es im Zimmer nach Tabak roch, und als er sich umsah, sah er auf einer Untertasse einen Zigarrenstummel liegen. Ein häßlicher Verdacht stieg in ihm auf. Mißtrauisch erkundigte er sich danach, wie die Zigarre hierher gekommen sei, und er hörte nun von Mariechen, daß ihr Onkel, der im Auftrage ihrer Mutter seit Wochen nach ihr geforscht, endlich ihre Wohnung erfahren, sie heute unerwartet aufgesucht und ihr einen fürchterlichen Auftritt gemacht habe. Sie sei davon noch kränker geworden, als sie schon war. Die Erinnerung an die harten und ungerechten Worte, die sie hatte hören müssen, wirkte noch so lebhaft nach, daß Mariechen in bitteres Schluchzen verfiel und zuerst gar nicht zu beruhigen war.

Aber Schmerz und Freude lösen sich im Dasein des Menschen regelmäßig ab, und auf die Tränen des Kummers folgten nun Tränen der Rührung und der Freude, als Mariechen von dem wundervollen Geschenk hörte, das Pfeifer für sie bestimmt hatte. Die Freude machte sie wieder gesund, und mit kindlicher Lieblichkeit bestürmte sie ihren Freund und Wohltäter, ihr die Herrlichkeiten gleich heute zu zeigen. Sie lief in das Nebenzimmer und machte sich schnell zurecht. Zehn Minuten später trat sie fix und fertig angezogen in freudigster Erregung wieder in das Zimmer, in dem Hermann auf sie gewartet hatte, und rief ihm zu:

»Nun wollen wir nach der Reichenbergerstraße fahren!«

»Nach der Reichenbergerstraße?« fragte Pfeifer erstaunt. »Aber woher wissen Sie denn das?«

»Nun, Sie haben es mir doch eben gesagt!« versetzte Mariechen ruhig. »Oder habe ich mich verhört? Sagten Sie nicht, daß Sie in der Reichenbergerstraße eine kleine Wohnung für mich gefunden hätten?«

»So,« sagte Pfeifer, »das habe ich Ihnen gesagt? Ich wußte es gar nicht. Aber es stimmt! Hier dichtbei in der Reichenbergerstraße habe ich ein recht hübsches Quartier für Sie gefunden, und die Möbel sind alle schon an Ort und Stelle.«

Sie bestiegen die Droschke, die unten gewartet hatte, und fuhren nach der vom »Bua« gemieteten Wohnung, die Pfeifer bis jetzt selbst noch nicht in Augenschein genommen hatte.

Der Tischler und der Tapezier hatten ihre Schuldigkeit getan. Die Wohnung war bei aller Bescheidenheit sehr hübsch, sehr geschmackvoll und anheimelnd. Mariechen war außer sich vor Freude. Mit dem reizenden Ungestüm eines Kindes bestand sie darauf, schon heute den Umzug zu bewerkstelligen, und sie bat so rührend und lieb, daß Pfeifer ihrem harmlosen Verlangen nicht widerstehen konnte. Und obwohl er eine Verabredung in einer befreundeten Familie für den Abend getroffen hatte, mußte er ihr doch versprechen, wenigstens auf eine halbe Stunde vor Toresschluß zu ihr zu kommen, um ihr neues Reich gemeinsam mit ihr einzuweihen und sich über den kleinen Baum zu freuen, den sie mit allerhand Schnurrpfeifereien reizend geschmückt hatte.

Der Umzug war in der Tat bald bewerkstelligt. Und als Pfeifer in der neunten Abendstunde Mariechen aufsuchte, war alles in der Reichenbergerstraße schon in schönster Ordnung. Auf dem kleinen Tisch, über den eine Serviette gebreitet war, stand der niedliche Baum, darunter zwei Teller mit Äpfeln und Nüssen, der eine für Hermann, der andere für sie. Und auf dem für Hermann bestimmten Platze lag eine sehr geschmackvolle Schreibmappe mit einer mühsamen und schönen Lederstickerei.

Hermann war wieder einmal glücklich, und es tat ihm aufrichtig leid, daß er so früh aufbrechen mußte, um die gleichgültigen Leute, die ihn der Höflichkeit halber eingeladen hatten, aufzusuchen.

»Gerade heute«, sagte er, als er sich erhoben hatte, »tut es mir doppelt leid, Sie verlassen zu müssen. Ich habe schon oft mit einem gewissen Gefühle von Beunruhigung daran gedacht, daß ich Ihnen doch herzlich wenig an Zerstreuungen biete. Sie sind jung und lebenslustig, und es ist ganz natürlich, daß Sie das Bedürfnis haben, ab und zu Leute zu sehen. Meine Verhältnisse gestatten es mir aber nicht, Sie in Gesellschaften zu führen und mit Ihnen die Abende im Theater zuzubringen; ich habe nun die Empfindung, daß Sie sich doch schließlich mit mir langweilen müssen. Sagen Sie offen, Mariechen, habe ich nicht recht?«

»Nein, Sie haben ganz und gar nicht recht! Ich langweile mich nie, und ich habe mich nie glücklicher gefühlt als jetzt. Ich arbeite, ich bin gesund, es geht mir gut – was kann ich mehr verlangen? Sie sind immer freundlich und gütig zu mir. Ich wäre das undankbarste Geschöpf von der Welt, wenn ich mich beklagen wollte.«

»Das ist alles schön und gut,« versetzte Hermann, »aber es würde mir ganz natürlich erscheinen, wenn Sie von Zeit zu Zeit sich danach sehnten, einmal aus dem gewöhnlichen Einerlei herauszukommen, um mit irgend einer guten Freundin oder Bekannten einen vergnügten Abend zu verbringen.«

»Freundinnen!« wiederholte Mariechen mit treuherzigem Augenaufschlage. »Wenn Sie die Mädchen näher kennen würden, die wir im Geschäft als Freundinnen finden, dann würden Sie mir den Umgang mit ihnen sicher verbieten! Ich mag nichts von ihnen wissen. Ich habe nie den Hang verspürt, mich zu amüsieren, wie man es nennt. Wenn ich in meinen vier Pfählen bin, meine Lampe brennt, wenn ich mich mit einer Arbeit beschäftige oder zu meiner Zerstreuung etwas Hübsches lese, dann ist mir am wohlsten, dann verlange ich nichts weiter. Und wenn Sie dann kommen und mit mir ein Stündchen verplaudern, dann wüßte ich wirklich nicht, was ich mir noch wünschen könnte! Sie brauchen sich meinethalben wahrhaftig nicht zu beunruhigen.«

»Und doch kann ich es nicht so leicht nehmen, wie Sie es mir schildern. Sie sind zuviel allein, Mariechen, und das taugt nicht; da kommt man auf allerhand dumme Gedanken. Ich habe mir schon lange vorgenommen, mit Ihnen einmal irgend etwas Lustiges zu unternehmen, und da jetzt der Winter mit seinen Vergnügungen hereingebrochen ist, mache ich Ihnen gleich heute einen Vorschlag: Wie wär's, wenn wir den Silvester-Maskenball bei Kroll mitmachten? Unter dem Schutze der Masken können wir uns Freiheiten gestatten, die mir sonst nicht eingeräumt sind. Ich mache Sie auf Bekannte aufmerksam, die Sie intrigieren können. Es kann ganz spaßhaft werden. Was meinen Sie?«

»Ich habe dergleichen nie mitgemacht,« sagte Mariechen lächelnd. »Aber ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß ich mir kein Vergnügen davon verspreche, und wenn Sie wirklich wollen – ich bin natürlich dazu bereit! Aber ich wiederhole noch einmal: glauben Sie nicht etwa, daß Sie mir aus Vernunftgründen gewisse Zerstreuungen bieten müssen. Ich bedarf deren nicht. Ich fühle mich wirklich glücklich und vermisse gar nichts.«

»Es bleibt dabei,« schloß Pfeifer das Zwiegespräch, »die Silvesternacht verbringen wir bei Kroll. Die Dominos werde ich schon besorgen.«

Er war wirklich ärgerlich, daß er sich entfernen mußte. Er hätte viel lieber mit dem anmutigen Kinde weiter geschwatzt.

Die Verabredung wurde innegehalten. Mariechen hatte freilich darauf bestanden, ihre wundervollen langen Haare unter der Kapuze zu verbergen, aber Pfeifer war viel zu eitel darauf.

»Es kennt Sie ja doch niemand,« sagte er, »und mir macht es Freude, Ihre schönen Zöpfe über den schwarzen Domino fallen zu sehen.«

Pfeifer war unter dem Domino und der Maske allen, die ihn überhaupt kannten, viel kenntlicher als zuvor. Jetzt erst machte er die Wahrnehmung, wie wenig sein Gesicht eigentlich zu bedeuten hatte. Es war eben nur die kleine komische Gestalt mit dem runden Bäuchlein, die das Charakteristische seiner Erscheinung bildete, und diese trat nach Beseitigung der Physiognomie noch in viel mehr verräterischer Deutlichkeit hervor.

Sobald er, Mariechen am Arm führend, den hellen Saal betreten hatte, wurde er sofort von verschiedenen Bekannten umringt und verhöhnt. Er machte gute Miene zum bösen Spiel und war stolz auf das Aufsehen, das seine zierliche Begleiterin mit den wundervollen dunkeln Zöpfen erregte. Er fand es ganz in der Ordnung, daß ihm diese von Bekannten und Unbekannten auf längere oder kürzere Zeit entführt wurde, und er amüsierte sich königlich, wenn er beobachtete, mit welcher natürlichen angeborenen Grazie das reizende Kind tanzte. Jetzt sah er sie wieder, wie sie sich am Arme einer sehr großen Maske mit kolossalen Füßen im Kreise drehte, und ihr Tänzer schien ihr etwas zuzuflüstern. Und es war ihm, als ob sie darauf antwortete. Er konnte sich nicht Rechenschaft davon ablegen, weshalb ihn gerade dieser Tänzer mehr interessierte als die andern; aber als sie zu ihm zurückkehrte, fragte er sie doch:

»Wer war denn das?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete Mariechen.

»Was hatte Ihnen denn der lange Kerl so Besonderes anzuvertrauen?«

»Nichts Besonderes. Er sprach eben dummes Zeug, wie alle andern.«

»So?«

Pfeifer war darüber verstimmt. Er wußte selbst nicht, weshalb; aber er ärgerte sich.

Und wieder wurde ihm Mariechen von einem andern Tanzlustigen entführt. Und wie er so in seiner ihm selbst unerklärlichen Verstimmung an der Saaltür stand, trat einer seiner Bekannten an ihn heran und fragte ihn:

»Wo haben Sie denn die kleine Madonna aufgegabelt?«

»Die kleine Madonna?« wiederholte Hermann erstaunt.

»Spielen Sie nur nicht den Unbefangenen! Ich habe sie auf den ersten Blick an ihren wundervollen Zöpfen erkannt.«

»Die kleine Madonna?« wiederholte Pfeifer noch einmal.

»Nun ja, so wurde sie früher in Künstlerkreisen genannt. Sie war früher Modell, und unser alter Freund Bertram, der jetzt in Metz steht, hat sie einem jungen Maler abgejagt. Sie hat wirklich ein Madonnengesichtchen. Sie sieht aus, als ob sie kein Wässerchen trüben könne, in Wahrheit soll sie aber ein ganz durchtriebenes Frauenzimmer sein. Bertram hat sie übrigens unter ganz besonderen Verhältnissen kennen gelernt. Es ging ihr damals herzlich schlecht, und sie stand im Begriff, sich das Leben zu nehmen.«

»So?« versetzte Hermann mit gespielter Gleichgültigkeit. »Ich bin mit der Kleinen zufällig zusammengekommen. Ich weiß sonst nicht viel von ihr.«

Er war seelenfroh, daß er die Maske vor dem Gesicht hatte, denn sonst würde der Ausdruck tiefer Erregung und bebender Entrüstung, der jetzt unzweifelhaft auf seinen Zügen lag, den andern kaum entgangen sein.

»Kommen Sie!« herrschte er Mariechen an, nachdem diese wieder zu ihm zurückgekehrt war, und in so barschem unfreundlichem Ton, daß sie ganz erschrocken zurückwich.

»Auf der Stelle!« wiederholte er.

Und er nahm gewaltsam ihren Arm und führte sie zum Saale hinaus.

Sie fuhren den langen weiten Weg, ohne ein Wort zu wechseln. Mariechen hatte die Maske abgenommen, und Hermann sah, wenn sie an den Straßenlaternen vorüberfuhren und der helle Schimmer in den Wagen fiel, daß sie bleicher als je vor sich hinstarrte, mit fest zusammengekniffenen Lippen und feuchten Augen. Drei- oder viermal setzte er an, um eine Auseinandersetzung herbeizuführen, um sich das Unerklärliche erklären zu lassen. Aber dann besann er sich wieder eines andern und schwieg. Er ließ den Kutscher vor dem Hause halten und trat mit Mariechen in dasselbe ein. Sie war darüber erstaunt, aber sie fürchtete sich, ihrer Verwunderung Ausdruck zu geben, und ließ es ruhig geschehen, daß er mit ihr hinaufging.

In fieberhafter Aufregung durchschritt Hermann das Zimmer, während sie still geschäftig wie immer die Lampe angezündet und auf das kleine Tischchen vor dem Sofa gesetzt hatte. Sie selbst hatte sich auf den Sessel niedergelassen und starrte vor sich hin.

Nun endlich platzte Hermann los. Alle Wut, die er langsam in sich angesammelt hatte, durchbrach die Schleuse. Er machte dem Mädchen, das ihn so schmählich hintergangen hatte, die bittersten Vorwürfe. Weshalb hatte sie mit ihm Komödie gespielt? Gerade mit ihm, der ihr nur Gutes getan hatte? Er schnob vor Wut. Mariechens Schweigsamkeit erzürnte ihn immer mehr. Er redete sich in den wildesten Zorn hinein und war schließlich so fassungslos, daß er sich beinahe an dem kleinen wehrlosen Ding vergriffen hätte.

Mariechen erwiderte kein Wort. Sie weinte auch nicht. Sie war still, ergeben, tief betrübt.

»Und haben Sie denn kein Wort der Erklärung, der Entschuldigung?« schrie Pfeifer endlich. »Aber so antworten Sie doch! Lügen Sie meinetwegen, aber antworten Sie!«

Da schlug Mariechen die Augen auf – die schönen treuherzigen guten Augen. Es zuckte schmerzlich um ihre Mundwinkel, und sie sagte nichts weiter als:

»Machen Sie mit mir, was Sie wollen! Nehmen Sie mir alles, was Sie mir gegeben haben, ich muß es mir gefallen lassen. Ich kann Ihnen nur sagen: ich verstehe Sie nicht. Ich weiß gar nicht, was Sie meinen.«

So billigen Kaufs sollte nun Mariechen allerdings nicht davon kommen. Pfeifer machte sie in erregtester Weise auf die Unmöglichkeit einer zufälligen Übereinstimmung aufmerksam. Er selbst hatte sie unwillkürlich »die kleine Madonna« genannt. Der Name war für sie ein so natürlicher, gegebener, daß er unmöglich auf zwei Personen gleichzeitig angewandt werden konnte. Und hatte sie nicht selbst erzählt, daß sie einem Maler Modell gesessen und diesem ihr erstes Unglück zuzuschreiben habe? Und die zweite Auflage ihrer selbstmörderischen Verzweiflung? Weshalb hatte sie alles andere verschwiegen?

Mariechen wiederholte immer wieder:

»Ich kann Ihnen nicht antworten. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat. Ich habe nie von einem Herrn Bertram gehört. Ich habe Ihnen die volle Wahrheit gesagt. Sie mögen mir nun glauben oder nicht.«

Und schließlich, als sie immer aufs neue beschuldigt wurde, stimmte sie die unverdiente Kränkung weich, und sie weinte wie ein kleines Kind. Sie konnte ihrem Wohltäter nicht grollen, aber es tat ihr in der Seele weh, daß sie gerade von diesem verkannt wurde. Und sie weinte und weinte, und ihre Tränen schwemmten endlich auch den wilden Zorn weg, der sich Pfeifers bemächtigt hatte. Und zuletzt mußte er ihr ja glauben: es war doch nur ein zufälliges Zusammentreffen gewesen! Mit dieser Ruhe und Sicherheit konnte sich nur die Reinheit verteidigen. Wenn dies Mädchen log, dann gab es keine Wahrheit mehr in der Welt. Er beschuldigte sich, machte sich heftige Vorwürfe und bat sie um Verzeihung. Und er war glücklich, als ein erstes Lächeln wieder ihre reizenden Lippen hob, und als aus ihren schönen Augen der goldige Strahl der Versöhnung auf ihn fiel. Er küßte ihre Stirn, als sie ihn mit der Lampe die Treppe herunterbegleitet und ihm die Tür geöffnet hatte; und dann fuhr er beruhigt nach Hause.

Ganz spurlos war dieser stürmische Auftritt nun allerdings nicht vorübergegangen. So ernsthaft Mariechen auch bestrebt war, die ihr zugefügte Unbill zu vergessen, und so unverkennbar Hermanns Bestreben, das, was er in einer zornigen Aufwallung schlecht gemacht hatte, wieder gut zu machen, in der Verdoppelung seiner sorgsamen und freundschaftlichen Bemühungen um seinen Schützling auch zutage trat – es war doch etwas anders zwischen den beiden geworden. Mariechen war ganz philosophisch. Mit trübem Lächeln sagte sie ihrem Freunde:

»Ich wußte ja, daß es nicht so bleiben konnte! Es war zu schön. Und wenn ein neues Jahr gleich so anfängt, dann endet es schlecht. Und da haben Sie den Beweis, daß mich meine Ahnung nicht getäuscht hat: heute im Geschäft ist mir gekündigt worden. Das Geschäft geht zu schlecht, und der Prinzipal hat dreiviertel der Stickerinnen entlassen müssen. Was soll ich nun anfangen? Ich kann doch nicht ganz von Ihrer Gnade leben.«

Hermann beruhigte sie, und um ihr das kränkende Gefühl des Almosenempfangs zu ersparen, bestellte er bei ihr einen großen Ofenschirm in kunstvoller Arbeit, der sie einige Wochen lang beschäftigen mußte. Er fand in den nächsten Tagen denn auch in ihrem Zimmer einen großen mächtigen Rahmen und freute sich über die Fortschritte, die die Arbeit machte. Er war ganz erstaunt, wieviel Mühe und wieviel Zeit dieselbe erforderte, und wie schlecht sie bezahlt wurde.

Eines Tages vermißte er den Rahmen, und als er sich danach erkundigte, sagte Mariechen:

»Ich habe ihn beiseite gestellt. Ich möchte doch nicht, daß Sie die Arbeit Stich um Stich verfolgen können. Lassen Sie mir die Freude, Sie mit der Fertigstellung zu überraschen.«

Vierzehn Tage später überreichte sie ihm dann bei seinem Besuche eine mächtige Rolle, und als Hermann sie entfaltete, sah er ein wahres Meisterstück der Kunststickerei. Er war innig erfreut und tief gerührt von diesem mühsamen Kunstwerke. Er schloß Mariechen liebkosend an sich und dankte ihr herzlich. Mit ihren guten, treuen, kindlichen Augen blickte sie lächelnd zu ihm auf und sagte nur:

»Ich freue mich, daß Ihnen die Arbeit gefällt. Ich habe während der langen Stunden beständig an Sie gedacht, und wenn nur ein kleiner Teil der Wünsche, die ich für Sie hineingestickt habe, sich erfüllt, dann wird es Ihnen gut ergehen.«

»Sie sind ein gutes liebes Mädchen,« versetzte Hermann wahrhaft ergriffen.

Hermann hatte die aufmerksame Gewohnheit angenommen, sein Nichtkommen zu den gewohnten Abendstunden, wenn er durch irgend eine gesellschaftliche Verpflichtung in Anspruch genommen war, oder wenn der Tag eine unvorhergesehene Störung brachte, mündlich oder brieflich anzuzeigen. Als er heute mit seiner großen Rolle sich verabschiedete, sagte er, indem er Mariechens Hand zärtlich drückte:

»Morgen bitte ich Sie mich nicht zu erwarten. Ich bin zu einem Junggesellendiner eingeladen, dem sich eine kleine Spielpartie anreihen wird, und da wird es jedenfalls spät werden.«

Mariechen sprach ihr Bedauern aus; aber sie war so absolut anspruchslos und verständig, daß nie ein Wort der Beschwerde über ihre Lippen kam.

»Also auf übermorgen!« sagte sie mit freundlichem Lächeln.

Hermann war höchlich überrascht, als er am anderen Tage, nachdem er in tadellosem Frack und strahlender Binde bei dem Freunde angeklingelt hatte, von dem Diener hörte, daß das Diner erst für den folgenden Tag angesetzt sei. Er hatte sich in dem Tage geirrt, aber er hatte doch keinen Grund, diesen Irrtum zu bereuen. Sein Entschluß war schnell gefaßt. Er fuhr bei einem großen Laden vor, kaufte allerhand zum Essen ein: eine große Gänseleberpastete, Spickgans, eine Büchse mit Sardinen, eingemachte Früchte usw. und freute sich schon im voraus darauf, mit Mariechen, die sein Kommen höchlich überraschen mußte, im vertraulichen Tête-à-tête ein gemütliches Mahl einzunehmen. Außerdem war es ihm ganz angenehm, daß ihn Mariechen einmal in seinem vollen Glanze, im Knopfloch mit der Miniaturausgabe eines ausländischen Ordens, den er unbekannten Verdiensten zu verdanken hatte, bewundern konnte.

Die Taschen seines Überrockes waren dick aufgebauscht, und sein linker Arm war ganz bepackt, als er den Schlüssel, den er zu Mariechens Wohnung besaß, in das Schloß steckte und aufdrückte. Er hatte die Flurtür leise geöffnet, weil er die Überraschung zu einer vollkommenen machen wollte.

Jetzt stand er vor der Tür der Wohnung und klopfte dreimal sehr stark an dieselbe. Dies unerwartete Klopfen übte die gewünschte Wirkung. Er hörte Mariechen ganz erschrocken aufschreien und gleich darauf ein unerklärliches Geräusch.

»Nun, nun!« rief Hermann von außen. »Beruhigen Sie sich nur, ich bin's.«

Gleichzeitig drückte er die Klinke, aber die Tür war merkwürdigerweise verriegelt. Er hörte im Zimmer Tritte und Laute, die er sich nicht erklären konnte.

»Aber so öffnen Sie doch!«

»Jawohl gleich, einen Augenblick!« antwortete Mariechen mit einer Stimme, der Hermann sogar vor der Tür eine ungewohnte Erregung anmerkte. Er geduldete sich noch eine Weile, dann klopfte er wieder.

»Aber machen Sie doch auf, Mariechen!« drängte er gutmütig.

Nun wurde der Riegel zurückgeschoben, und er trat ein mit schmunzelndem Gesicht, die Spickgans unter dem Arm und die Terrine mit der Gänseleberpastete in beiden Händen vor der Brust präsentierend. Aber diese Überraschung, von der sich Hermann die größte Wirkung versprochen hatte, versagte vollkommen. Mariechen war durch das unerwartete Klopfen so maßlos erschreckt worden, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, und, ohne die Augen zu ihm aufzuheben, sich an der Lehne des Stuhles festhielt. Sie sah ganz verstört aus.

»Aber wie kann man sich so erschrecken!« sagte Hermann mit gutmütigem Tone, indem er die Terrine auf den Tisch setzte. »Wenn ich eine Ahnung davon gehabt hätte ...«

Er hatte eine halbe Wendung gemacht, und sein Blick fiel nun auf den kleinen Kleiderschrank, der dem Sofa gegenüberstand ...

Und er verstummte.

Er stand da mit weitgeöffnetem Munde und traute seinen Augen nicht.

Das dümmste, albernste Schauspiel, das sein Auge je erblickt hatte, war da leibhaftig vor ihm. Was war aus dem harmlosen Schrank geworden? Der elende, tausendmal dagewesene, blödsinnige Theaterschrank, der in schlechten Stücken dazu dient, überraschte Liebhaber zu verbergen. Die Tür war nicht geschlossen, sondern von innen angezogen, und zwischen der Türspalte zeigte sich in der mittleren Höhe eine große rote Hand mit einem Siegelring am Zeigefinger, die den einen Flügel des Schrankes nach innen zog. Er blickte auf diese rote Hand, zunächst mit dem Ausdruck der vollkommensten Bestürzung.

»Was ist denn das?« sagte er ganz langsam.

Mariechen hatte sich auf den Stuhl fallen lassen und weinte heftig.

Das Lächerliche und Alberne der Situation überwog nun in Hermanns Empfinden alles andere. Der Besitzer dieser roten Hand im Schranke, das weinende Mädchen auf dem Stuhl vor ihm, er selbst mit der Gänseleberpastete auf dem Arm und dem Orden im Knopfloch mitten im Zimmer – alles kam ihm gleichermaßen abgeschmackt und blöde vor.

Dann aber wallte es doch einen Augenblick in ihm auf, und er vergegenwärtigte sich den schwarzen Undank des Mädchens. Er hatte nicht übel Lust, den Schrank aufzureißen, den Insassen bei den Ohren zu packen und in der unsanftesten Weise aus dem Zimmer zu befördern.

Aber diese zornige Aufwallung ging schnell vorüber. Er machte sich auf einmal manches klar, an das er nie gedacht hatte. Er sagte sich: Der Mensch im Schrank ist wirklich kein Missetäter. Er tut einfach dasselbe, was du vor zwanzig Jahren auch getan hast. Zum erstenmal in seinem Leben vergegenwärtigte sich ihm blitzartig die Erkenntnis, daß er unmerklich die entscheidende Schwelle von den jungen Jahren zum Alter überschritten hatte, daß er aus dem Betrüger von ehedem der Betrogene von heute geworden war. Früher war er in den Schrank geflüchtet, jetzt war es ein anderer. So ein Schrank war überall, und es war immer jemand darin. »Der Mensch ist kein Monogam!«

Er hatte ein wehmütiges Gefühl bei diesen stillen Betrachtungen, zuckte die Achseln und sagte ohne Erregung:

»Befreien Sie nur den Menschen da aus seiner lächerlichen Zwangslage.«

Er wandte sich ab. Langsam ging oder schlich vielmehr Mariechen wie ein gepeitschter Hund dem verhängnisvollen Schranke zu und öffnete ihn.

Hermann hatte sich zwar vorgenommen, den Betreffenden, an dem er ja gar kein Interesse hatte, nicht anzusehen, aber unwillkürlich regte sich doch die Neugier in ihm, und er wandte den Kopf.

Da sah er den »Bua« in den großen Hausschuhen, die ihm allerdings paßten, mit dem törichtesten Gesichte von der Welt aus dem Schranke steigen und schnell durch das Zimmer huschen.

Den uninteressanten, ungebildeten, albernen »Bua«!

Und während Mariechen diesem das Geleit gab, fragte er sich:

»Womit hat dieser dumme Junge das Herz des Mädchens gewonnen?«

Und er beantwortete die Frage ganz richtig:

»Er ist jung, er hat auf keinen Menschen Rücksicht zu nehmen. Er gehört zu ihresgleichen. Er wird mit ihr an den Abenden, an denen ich die beiden nicht gestört habe, in Theatern, Biergärten und sonstigen Lokalen gewesen sein, in denen ich mich nicht zeige, und in denen sich das Mädchen gewiß am wohlsten gefühlt hat. Da hat sie mit den Freunden des »Bua« und deren Freundinnen ohne Zweifel sehr vergnügte Stunden verbracht. Art läßt nicht von Art, Jugend will austoben, und der Mensch ist nun einmal kein Monogam.«

Er war also in vollständig ausgeglichener versöhnter Stimmung, als Mariechen ganz zu Boden gedrückt und zerschmettert langsam wieder in das Zimmer schlich. Aber er war allerdings fest entschlossen, in der geistlosen Komödie fernerhin keine Rolle mehr zu spielen. Er legte die Spickgans, die ihm zum Ernste der Situation so wenig wie möglich paßte, auf den Tisch, stellte die andern in Papier gewickelten Pakete, die er seinen Taschen entnahm, daneben und sagte ruhig:

»Das ist mein Abschiedsgeschenk. Und jetzt fordere ich eins von Ihnen: geben Sie mir die Briefe wieder, die ich Ihnen geschrieben habe. Denn es ist mir nicht gleichgültig, Schriftstücke von meiner Hand ferner in Ihrem Besitze zu wissen.«

Schluchzend, aufgelöst in Tränen trat Mariechen an den Schreibtisch, schloß den obersten Kasten auf, nahm ein dickes Paket, das sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte, heraus und übergab es Pfeifer, der es ohne weitere Prüfung in die Tasche steckte. Darauf verließ er Mariechen ohne Gruß, fuhr nach dem Klub und dinierte dort im Kreise seiner Freunde recht gut. Er lächelte im Laufe des Abends bisweilen in ganz eigentümlicher Weise und schüttelte den Kopf.

Etwa um Mitternacht fuhr er nach Hause. In seinem Überrock fand er noch eine verstohlene Büchse mit Sardinen, die ihm die lächerliche Szene in der Reichenbergerstraße noch einmal mit aller Deutlichkeit vergegenwärtigte.

Nachdem er es sich bequem gemacht hatte, nahm er die Briefe und überlas sie. Sie waren voll respektvoller Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit. Aber da war auch ein Brief von fremder Hand! Ihm war die Hand allerdings nicht fremd. Es war die große rote Hand des »Bua«, der seinen Wünschen zum neuen Jahre in schrecklichen Versen Ausdruck gegeben hatte. Und dann fand er noch etwas unter den Papieren, das ihn überraschte, eine Rechnung vom Stickereigeschäft: »Fertigstellung eines Ofenschirmes 24 Mark«. Und noch eine Rechnung: »Drei Dutzend Taschentücher gezeichnet 9 Mark.«

»Also auch noch faul und verlogen,« sagte er ruhig.

Im Kamin glimmte noch das Feuer. Er warf alle Briefe hinein und dazu die schlechten Verse des »Bua« und die beiden Rechnungen. Und er sah die dünnen schwarzen Aschenblättchen zusammenschrumpfen und sich krümmen und die kleinen Fünkchen an den Rändern langlaufen und erlöschen, und er seufzte:

»Man lernt doch nie aus!«

Er lächelte freilich wieder, aber es war ihm doch nicht ganz leicht ums Herz. Und die eine Empfindung, die alle andern überwog, stimmte ihn schwermütig: mit der holden Jugend ist's vorbei ...

Und jetzt, da ihm die Augen geöffnet waren, war es ihm unangenehm, daß gerade der »Bua«, den er nie beachtet hatte und dem er das Recht, irgend welchen Eindruck auf ihn zu machen, unbedingt verweigerte – daß gerade dieser ungelenke Tolpatsch ihm die sieghafte Gewalt der jungen Jahre in brutaler Weise vergegenwärtigen sollte.

Als ihm Frau Willner am andern Morgen den Kaffee brachte, sagte er ihr:

»Liebe Frau Willner, es tut mir leid, aber Ihr Sohn darf nicht mehr bei mir wohnen. Ich werde Ihr Gehalt entsprechend erhöhen.«

»Ja,« seufzte die Mutter, »ich weiß schon.« Und sie ging sorgenschwer aus dem Zimmer.

Pfeifer ist Mariechen später noch einmal begegnet, ganz zufällig, als er einem Fremden die interessanten nächtlichen Lokale Berlins zeigte, in einer Umgebung und unter sonstigen Bedingungen, die keine Täuschungen über die schnöde Weltlichkeit ihres Wandels gestatteten. Sie hatte sich sehr verändert. Aber der keusche mädchenhafte Ausdruck ihres lieben Gesichts war geblieben, und unter ihren jetzigen Freundinnen hatte sie den Spitznamen behalten: »Die kleine Madonna«.

 


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