Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel

Einen ganzen Tag hatten sie dazu gebraucht, die drei Meilen lange Tragstrecke hinter Mantrap Landing vom Elchberg zum Geistersquaw-Fluß zu bewältigen.

Lawrence Jackfish hatte sich zuerst geweigert, mit ihnen zu gehen, war aber schließlich durch das Versprechen einer Extrabezahlung von zwei Dollar für jeden Tag gewonnen worden, und für zwei Dollar im Tag, was für ihn viele rote Hemden, rote Seidentaschentücher, Zigaretten und Mundharmonikas bedeutete, hätte Lawrence einige Morde begangen. Aber wenn er auch ihr Führer blieb, er war nicht mehr ihr Diener. Seine gelben Augen spionierten sie aus, und seine Gaunerzähne belauerten sie, bis Ralph Lust bekam, nach einem Beil zu greifen, sobald Lawrence ihnen den Rücken zudrehen würde.

Den ganzen Nachmittag keuchten sie den schwülen Weg entlang. Es war ein fußbreiter Pfad durch das Unterholz. Die Luft war tot wie in einem verschlossenen, leerstehenden Haus an einem Augustnachmittag.

Hinter Lawrence, der das umgedrehte Kanu auf seinen Schultern trug, schwankte Ralph einher, unter einer Last Mehl, Speck und Decken, die auch nur aufzuheben er sich nie im Leben zugetraut hätte. Er ging nicht, er setzte lediglich einen Fuß vor den anderen, endlos, ewig, jeder einzelne Schritt kostete eine besondere Willensanstrengung. Er lebte nicht. Alles an ihm war tot, außer den brennenden Schultern, einem schmerzenden schmalen Streifen des Rückens und den mühsam arbeitenden Beinen. Dunkel war er sich bewußt, daß hinter ihm Alverna einhertaumelte, die fast ebensoviel trug wie er. Aber erst nachdem er den Gedanken daran zehn Minuten lang in seinem umnebelten Hirn gewälzt hatte, konnte er sich aufraffen zu sagen: »Sie haben sich zu viel aufgeladen, Kind. Setzen Sie einen Teil davon ab, wir können ihn später holen.«

»Nein«, sagte sie, atemlos, aber voller Tapferkeit. »Ich will meinen Teil an der Arbeit tun.«

Sie tat ihm leid, aber er war zu sehr von Müdigkeit gelähmt, um etwas unternehmen zu können. Das einzig Lebendige in seinem Gehirn war die Furcht, es könnte jemand von Mantrap Landing her über den Berg kommen, sie sehen und den wütenden Joe auf ihre Spur hetzen.

Ob es eine gute Tat von ihm war, Alverna zu befreien, oder gemeiner Verrat an Joe, oder beides zugleich, solche schwächlichen Philosophismen konnten sich in dieser Marter nicht vernehmbar machen.

Wenn sie nur diese Tragstrecke hinter sich hätten. Wenn sie nur endlich voller Freuden unterwegs wären, in der Freiheit der dahinschießenden Ströme, der weiten einsamen Seen –

Er lernte wie Lawrence mit unbeschwertem Rücken den Pfad zurücktraben, als sie die zweite Hälfte holten, und hinter sich hörte er Alverna über die trockenen Kiefernnadeln laufen. Er sah sich nicht um, aber er fühlte ihre Kameradschaft.

Sie arbeiteten, bis es finster wurde. Dann kochten sie nur Tee und verschlangen, mit Fingern, die zu steifen Haken geworden waren, Speck und kalten Sterz. Lawrence entfernte sich ein Stückchen, und Ralph war glücklich, daß er mit ihr an dem kleinen Feuer sitzen konnte, das in einem flachen Loch im schimmernden Quarzsand brannte. Er hätte nie gedacht, daß sie so schön und angenehm schweigen könnte. Und ohne daß sie es merkten, wurde aus diesem Schweigen Schlaf.

Ralph erwachte erschrocken. Der Bann des Schlafes lag über seinem Kopf wie eine Eiderdaunendecke, die er abschütteln mußte. Im Schein der Kohlen, die unter der Asche glimmten, in der schwachen Dämmerung der nordischen Mitternacht lag Alverna zusammengerollt, schnarchte Lawrence in seinen Decken unter dem Moskitonetz. Moskitos. Ralph machte sich klar, daß es nichts Romantischeres als ein Moskito gewesen war, was ihn aufgeweckt hatte … Dann merkte er, daß Alverna ihn ansah. Obgleich ihr kindlicher Körper sich nicht gerührt hatte, schien es ihm, daß ihre Augen offen seien. Sie war ganz nahe bei ihm, die beiden waren allein.

Sie schaute ihn schläfrig an und rollte sich in seine Arme.

Seine Hände faßten nach ihren Hüften und blieben dort steif und still liegen, wagten nicht, sich zu bewegen. Tausend Male hatte er darüber nachgedacht, tausend Male hatte er sich ein Bild von seiner Kühnheit in der Rolle des Liebhabers ausgemalt. Nun grübelte er, immer und immer wieder: »Was erwartet sie jetzt von mir?«

Angst, einfache Angst und Lebensunfähigkeit waren noch stärker als seine Verlegenheit. Er wünschte sich, ihr entfliehen zu können.

Das Feuer brannte niedrig. Er hatte sie weniger gesehen als sich vorgestellt. Aber ihre Schultern waren jetzt seinen Augen ganz nahe, ihre Matrosenbluse war offen und von den Dornen der Tragstrecke zerrissen. Schüchternheit und Angst verließen ihn, als er sie zögernd auf das Grübchen neben ihrem Schlüsselbein küßte. Eine Sekunde lang war er auf einen entrüsteten Ausruf gefaßt, aber sie seufzte nur und rückte näher. Sie sagte nichts, außer einem langsam gehauchten: »Oh, Liebling!« – und er vergaß die ganze Welt des Ralph Prescott.

Als der Morgen dämmerte, waren sie wieder auf der Tragstrecke, und mittags stolperten sie erleichtert aufstöhnend in das Kanu und paddelten langsam den Geistersquaw-Fluß aufwärts.

Noch zwei Tragstrecken folgten, unmittelbar hintereinander, aber sie waren wohltuend kurz. Und dann arbeitete Ralph zum erstenmal an einer Schnellenfahrt mit.

Ihr Weg führte zwar flußaufwärts, aber sie mußten die Krümmungen einer S-Kurve abschneiden und zwei Meilen mit der Strömung fahren. So kam es, daß Ralph, den es noch vor wenigen Tagen vor Stromschnellen gegraut hatte, sich jetzt nicht auf einen Führer verließ, sondern auf seine eigenen Muskeln, auf seine Stärke.

Schweigend kamen sie zum Geisterkatarakt, ohne sich einzugestehen, in welcher Gefahr sie schwebten.

Lawrence nahm den Bug. Dort stand er und wies mit seinem Paddel auf den einzigen Weg durch das schäumende Chaos. Wo Ralph nach rechts gesteuert hätte, durch scheinbar ruhige Strömung, dort enträtselte Lawrence das geheimnisvolle Manuskript des Wassers und führte in einem wahnsinnigen Zickzackkurs nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links, endlich geradeaus.

Es war Ralphs Stunde der Bewährung. Ohne auch nur eine Sekunde lang frei von seiner Angst zu sein, umklammerte er fest das Steuerpaddel und riß, ununterbrochen leise fluchend, das Kanu jäh von einer Seite zur anderen.

Plötzlich waren sie im Gischt des letzten Wassersturzes, der Bug des Kanus sprang fünf Fuß weit in die Luft – Ralph biß die Zähne zusammen. Ebenso plötzlich schossen sie in das ruhige Wasser hinter den Schnellen, und befreit atmete Ralph über dem erhobenen Ruder auf, so daß Alverna sich erstaunt umdrehte und Lawrence sein zischendes Gekicher losließ.


 << zurück weiter >>