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Erster Teil

I

Herr Hardant hemmte seinen Schritt beim Eintreten in die Halle der Transozeanischen Gesellschaft, deren Direktor er war. Eine aufgeregte Menge drängte sich vor den Tafeln, wo ein Angestellter von Zeit zu Zeit Depeschen aufklebte.

Seit zehn Tagen war man ohne Nachrichten von der »Shanghai«. An diesem Morgen meldete ein Radiotelegramm aus New York eine Katastrophe, ohne genaue Angaben zu machen, und die meteorologischen Nachrichten der Nacht vermerkten einen heftigen Sturm im Indischen Ozean; dies in Verbindung mit dem Schweigen der Gesellschaft hatte das Publikum vollends verwirrt.

Ein Page lief herbei, um das Gitter des Aufzugs zu öffnen; Herr Hardant machte eine verneinende Bewegung, wandte sich nach links, trat durch eine andere Tür und ging in sein Büro hinauf.

Etwa zwanzig Telegramme häuften sich auf seinem Tisch. Er warf einen Blick auf das erste, schob die anderen beiseite, ohne sie zu lesen, machte einige Schritte kreuz und quer durch das Zimmer, betrachtete, die Stirn an der Scheibe, das Wirrwarr der Schiffsmasten im alten Hafen, den von Menschen wimmelnden Kai, ließ dann den Vorhang fallen, wandte sich einer an der Wand befestigten Karte zu und verfolgte mit dem Finger eine Linie, welche von Havre ausgehend den Atlantischen Ozean durchquerte, das Kap der Guten Hoffnung berührte, dann durch den Indischen Ozean in Australien endete. Sein Finger hielt einen Augenblick inne, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

Die Tür öffnete sich: alsbald nahm sein Gesicht einen ruhigen Ausdruck an und, ohne sich umzusehen, sagte er:

»Sind Sie es, Le Goutelier?«

»Ja, Herr Hardant.«

»Etwas Neues?«

»Nichts.«

Er pfiff die ersten Takte eines Liedes und murmelte:

»Das ist ärgerlich.«

»Das ist sogar beunruhigend.«

Herr Hardant drehte sich um:

»Ach, alle verlieren hier den Kopf, meine Angestellten sowohl wie das Publikum. Weil ein schlecht informierter Journalist eine dumme Depesche veröffentlicht, seid ihr alle närrisch geworden. Was, sogar Sie ...«

»Ich bin nicht närrisch, Herr Hardant, ich bin nur beunruhigt, wie's mein Recht ist, ja, fast meine Pflicht. Nun sind es bereits dreißig Tage, seit das Schiff abgegangen ist ...«

»Wir haben von jedem Landungsplatz Nachrichten gehabt: wir sind in ständiger Radioverbindung mit ihm geblieben ...«

»Jedoch seit St. Paul, das es am 17. berührt hat, nichts mehr.«

»Von St. Paul bis Melbourne fährt es ohne Aufenthalt ...«

»Das dürfte es nicht verhindern, uns ein Radiotelegramm zu schicken ...«

»Das Schiff hat vielleicht einen Schaden gehabt; Maschine ist eben Maschine.«

»Das sag' ich mir auch, und deswegen hab' ich nicht alle Hoffnung aufgegeben.«

Der Angestellte sprach mit unerschütterlicher Ehrerbietung; Herr Hardant sah ihm in die Augen:

»Sie haben also Angst, Le Goutelier?«

»Ich gebe es zu, Herr Hardant. Selbstverständlich sage ich keinem etwas von meinen Befürchtungen, im Gegenteil versuche ich, denjenigen Vertrauen einzuflößen, die um Nachrichten kommen; ich möchte Ihnen aber nicht verheimlichen, daß dies immer schwieriger wird. Die Leute denken sich, daß wir die Wahrheit verbergen ... Hinzu kommt, daß unselige Gerüchte rätselhaften Ursprungs in Umlauf sind ...«

»Was für Gerüchte?«

Le Goutelier zuckte die Achseln:

»Weiberklatsch, leeres Geschwätz ...«

»Was für Geschwätz? Was für Klatsch? Bitte, keine Verheimlichung. Sie wissen, ich liebe das nicht, und Sie haben zuviel gesagt, um jetzt nicht alles sagen zu müssen.«

Er packte seinen Angestellten am Rock und sprach mit einer vor Zorn und Erregung zitternden Stimme.

»Also schön: man sagt, daß die ›Shanghai‹ ein altes verbrauchtes Schiff sei, daß sie nicht ohne sorgfältigste Prüfung hätte abfahren dürfen, daß ihre Ladung zu schwer war, daß der Kapitän Sie vor der Abfahrt darauf aufmerksam gemacht hätte ...; schließlich und endlich, daß die Gesellschaft sich eine Nachlässigkeit hat zuschulden kommen lassen ...«

Herr Hardant schlug mit der Faust auf den Tisch:

»Zum Donnerwetter! Wer hat das gesagt?«

»Niemand und jeder. Wer kann sagen, woher solch Gemunkel kommt? Die Gerüchte hören vor der Tür Ihres Arbeitszimmers auf; ich, der ich mit dem Publikum in Fühlung komme, und das Personal, wir hören das wie ein dauerndes Summen. Da sind Fragen, Anspielungen, Stillschweigen. Vor kaum einer Stunde kam der Prokurist des Hauses Solding und Beurke ... Ich habe ihn hinauskomplimentiert, so gut ich konnte ... Aber ...«

»Sollte er wiederkommen, schicken Sie ihn bitte zu mir.«

»Gern, Herr ...«

Das Telephon läutete.

»Wollen Sie, bitte«, sagte Herr Hardant, auf den Apparat weisend.

Le Goutelier hob den Hörer ab und wandte sich zu seinem Chef:

»Herr Beurke ist gerade da.«

»Er soll heraufkommen.«

Herr Hardant lehnte sich an den Kamin und zündete eine Zigarette an; Herr Beurke erschien. Er war leichenblaß. Herr Hardant wies auf einen Sessel:

»Womit kann ich dienen, mein Herr?«

»Herr Direktor, Sie haben einen äußerst erregten Menschen vor sich ... In der Stadt behauptet man, daß die ›Shanghai‹ Schiffbruch erlitten habe, daß die Gesellschaft es wisse und nicht einzugestehen wage.«

Herr Hardant zeigte auf die Depeschen, die sich auf seinem Tisch häuften:

»Da sind die Telegramme, die uns in den letzten vierundzwanzig Stunden zugegangen sind; Sie dürfen sie einsehen, es ist nicht ein einziges darunter, das die mindeste Anspielung auf eine solche Nachricht enthält. Ich füge hinzu, daß, wenn ein solch furchtbares Unglück – was Gott verhüten möge – sich zugetragen hätte, die Gesellschaft es nicht eine Sekunde verschweigen würde. Wenn wir ein Schiff ausrüsten, wenn wir das Kommando einem ehrlichen und erfahrenen Manne anvertrauen, so haben wir alles getan, was menschenmöglich ist, – ich sage das, um im voraus Ihre Einwände, die ich errate, zu widerlegen, – und vor einer Katastrophe sind wir auch nur Menschen, denn unsere Gesellschaft ist eine große Familie, und die Brüderlichkeit auf dem Meere ist kein leeres Wort.«

»Ich begreife, ich begreife ... Aber bitte begreifen Sie nun Ihrerseits, daß die ›Shanghai‹ für zehn Millionen Edelsteine mit sich führt, die mein ganzes Vermögen ausmachen und das meines Teilhabers. Muß man nicht bei dem Gedanken zittern ...?«

Herr Hardant schnitt ihm mit einer heftigen Bewegung das Wort ab. Ein lebhaftes Rot hatte seine Wangen gefärbt:

»Wenn die ›Shanghai‹ für zehn Millionen Edelsteine trägt, so trägt sie doch auch hundertzwanzig Mann Besatzung und zweihundert Passagiere; gestatten Sie mir, Ihnen zu entgegnen, daß das eine das andere wohl aufwiegt, und daß Ihre Sorgen, verglichen mit unseren, wenig bedeuten.«

Der Juwelier senkte den Kopf; Herr Hardant holte tief Atem; sein Gesicht, das einen Augenblick verzerrt war, gewann seine Ruhe wieder, und er fuhr mit beherrschter Stimme fort:

»Im übrigen wiederhole ich nochmals: alles, was man erzählt, ist falsch. Daß das Schiff einen Defekt erlitten hat, eine Havarie, ist möglich, sogar wahrscheinlich, aber von da bis zum Untergang! ...«

»Gott erhöre Sie, mein Herr, zunächst um der guten Leute willen, die an Bord Ihres Schiffes sind, ... und dann für Solding und mich! Wir haben einen Fehler begangen, einen unverzeihlichen Fehler, indem wir unser Gut nur für die Hälfte seines Wertes versichert haben.«

»Das ist ja toll«, murmelte Herr Hardant, nachdem er seinen Besucher hinausbegleitet hatte.

Dann wandte er sich zu seinem Angestellten, der während der ganzen Dauer der Unterredung Akten durchgesehen hatte:

»Haben Sie das gehört, Le Goutelier; was sagen Sie dazu? Ein Haus, das, um einige Kröten zu sparen, nur fünfzig Prozent seiner Fracht versichert? Ja, ja, der Geiz! ...«

Le Goutelier sah« seinen Chef an:

»Glauben Sie diese Geschichte? Solding und Beurke sind doch keine Kinder; sie gelten vielmehr als sehr gerissen. Ich verstehe nichts von Edelsteinen, ich hab' die aber gesehen, – Solding hat sie uns gezeigt, dem Kapitän und mir, bevor sie in den Tresor der ›Shanghai‹ eingeschlossen wurden, – und ich hatte nicht den Eindruck, daß es für zehn Millionen waren. Meiner Meinung nach waren es, im Gegenteil, nur für zwei oder drei Millionen, und sie haben sie für das Doppelte versichert.«

»Sachte, sachte, Le Goutelier, Sie verlieren den Kopf, mein Freund. Zunächst halte ich Solding und Beurke für ehrenhafte Leute; alsdann müßte man, vorausgesetzt, daß sie unehrlich sind, annehmen, sie hätten, damit eine derartige Schiebung gelänge, das Schiff mutwillig zerstört oder durch irgendein anderes Mittel die Sicherheit einer Katastrophe gewonnen ...; alles Dinge, ebenso gräßlich wie widersinnig.«

»Gräßlich schon, widersinnig nicht so sehr, – theoretisch natürlich. – Wie ich vorhin sagte, waren vor der Abreise böse Gerüchte über die ›Shanghai‹ im Umlauf, – übelwollende, blödsinnige Gerüchte, wir wissen es. Nehmen Sie aber an, daß Solding und Beurke daran geglaubt, daß sie sich gesagt hätten: ›Das Schiff wird seine Reise nicht beenden ...‹ Ein unwissender oder mitschuldiger Experte schätzt die Ware auf das Doppelte ihres Wertes; sie zahlen die Prämie, ohne mit der Wimper zu zucken: wenn das Unglück eintritt und das Schiff sinkt, sind sie gemacht; wenn es wohlbehalten in den Hafen einläuft, ... sind nur ein paar Scheine auf Gewinn- und Verlustkonto zu buchen, wie beim Rennen, nicht wahr, hundert gegen eins.«

Herr Hardant biß auf seinen Schnurrbart.

»Tja, aber wenn beim Rennen der Jockei durch einen Trick gewinnt, so ist es nur eine kleine Gaunerei, während hier ein derartiges Spiel ein Verbrechen wäre, und was für eines! ... Nein, nein, das ist sinnlos!«

»Es kann sein, Herr Hardant; ich will mich ja gern täuschen, aber ich mag Geschäftsleute nicht, die plötzlich daherkommen und einem vormachen wollen, daß sie Dummköpfe sind.«

Von unten tönte der wachsende Lärm der Menge, die sich in der Halle und bis auf den Kai drängte. Jeden Augenblick kamen weitere Neugierige hinzu; die einen befragten ihre Nachbarn, standen da, wurden geschoben, getragen von dieser lebendigen Welle; andere versuchten, sich einen Weg zu bahnen. Die letzteren hatten angstvolle Gesichter, heftige oder bittende Bewegungen, und das, was sie sagten, mußte wohl rührend sein, denn die Gruppen öffneten sich vor ihnen.

Das waren Verwandte oder Freunde der Passagiere oder der Besatzungsleute.

Hardant betrachtete dieses Schauspiel, horchte auf dieses Getrampel, das sich wie Meereswellen fortpflanzte. Die Angst, gegen die er seit einer Woche ankämpfte, begann ihn zu überwältigen; die ansteckende Nervosität bemächtigte sich seiner. Zum zweitenmal hob er den Vorhang, ließ ihn wieder fallen, ging im Zimmer hin und her, blieb stehen, ging wieder weiter, hob die Arme zum Zeichen seiner Ohnmacht und murmelte:

»Ihr, mit euren teuflischen Geschichten! ...«

Blieb dann, die Hände in den Taschen, vor seinem Angestellten stehen:

»Nun sagen Sie selbst, Le Goutelier, habe ich mir irgend etwas vorzuwerfen, ja oder nein? War die ›Shanghai‹ in der Verfassung, solche Überfahrt zu unternehmen, ja oder nein?«

Ein Klopfen an der Tür verhinderte die Antwort; Hardant rief: »Herein!« und mit ungeduldiger Stimme:

»Was gibt's schon wieder?«

»Herr Direktor,« sagte der Bürodiener, »Frau Deherche ist da; ich habe ihr gesagt, daß Herr Direktor nicht zu sprechen wäre, sie hat aber so darauf bestanden, daß ich glaubte, ...«

»Bitten Sie die Dame herein.«

Frau Deherche trat ein. Sie war eine junge Frau, hübsch, sehr elegant, viel eleganter als im allgemeinen die Frauen der Übersee-Kapitäne, die doch wahrhaftig keine Millionäre sind.

Obwohl er die Gewohnheit hatte, sich niemals in das Privatleben seiner Offiziere einzumischen, hatte Hardant einmal Deherche durchaus freundschaftliche Vorhaltungen gemacht.

»Ich bestreite nicht,« hatte der Offizier geantwortet, »aber was soll man machen? ... Es ist ein harter Beruf, der Seemannsberuf, hart für uns, und hart für unsere Frauen. Man heiratet, um ein Heim zu haben ... – was wird daraus? – um zusammen zu leben – wieviel Wochen im Jahr kommt es denn vor? Ich hab' mir ausgerechnet: von dreihundertfünfundsechzig Tagen bleibe ich an Land, ich meine bei mir zu Hause, im ganzen fünfzig Tage! Kaum gelandet, denkt man schon an die nächste Fahrt. Wir Männer, wir haben unsere Berufspflichten, die Arbeit während der Überfahrt, das Meer, die fremden Länder, all das, weswegen wir diesen Beruf gewählt haben; aber unsere Frauen? ... Es mag sehr hübsch sein, an der Ofenecke zu warten, die Erziehung eines Kindes zu überwachen; aber es ist sehr traurig, sehr eintönig! Ein bißchen Eitelkeit ist keine große Sünde; meine Frau liebt die schönen Kleider, die schönen Hüte, Schmuck – was kann ich ihr schon für Schmuck bieten; – immerhin, da ich für mich nichts oder fast nichts ausgebe ... Bevor ich heiratete, hatte ich nur eine Liebe: das Meer; dann kamen zwei Leidenschaften, die sie verwischten: meine Frau und mein Junge. Ich mache ihnen das Leben so angenehm wie möglich ...«

Als er Frau Deherche sah, erinnerte sich der Direktor an diese Unterhaltung, und es war ihm unangenehm, daß die junge Frau so elegant war. Doch sofort erwehrte er sich dieses Eindrucks.

Ganz entschieden verriet ihr Kleid das gute Atelier, ebenso die Schuhe und der schwarze Velourhut, der ihr hübsches Gesicht beschattete; muß man denn, weil ein Unglück in der Luft liegt, seine Kleidung verändern, eine armselige Bluse, einen fadenscheinigen Rock anziehen, um anders auszusehen wie sonst? Übrigens lag der jungen Frau jede Absicht, zu gefallen, fern, und sie war vor Angst so erstarrt, daß sie zunächst unfähig war, ein Wort hervorzubringen. Herr Hardant führte sie zu einem tiefen Sessel, in den sie sich fallen ließ.

»O Gott, Herr Direktor, ist es wahr, was man erzählt, daß Sie Nachrichten haben und sie nicht veröffentlichen wollen? Nun sind es schon drei Tage, daß ich weder auszugehen noch eine Zeitung zu öffnen wage vor Angst, zu erfahren, daß ...«

Sie kam nicht zu Ende und verbarg schluchzend das Gesicht in ihren Händen. Herr Hardant entfernte die Hände sanft und erwiderte dann:

»Ein bißchen Ruhe, ein bißchen Mut, liebes Kind.«

Beim Wort »Mut« erhob sie den Kopf.

»Ich verstehe, Herr Direktor, ich habe begriffen. Ich werde all den Mut haben, der nötig ist.«

Er wehrte ab.

»Aber wo! Gott sei Dank, davon sind wir noch weit entfernt! Entweder haben Sie mich falsch verstanden, oder ich habe mich falsch ausgedrückt. Noch ist nichts verloren. Ich meinte nur, daß Sie, als Tochter eines Seemanns und Frau eines Seemanns, sich nicht so gehen lassen dürfen. Diese Verspätung ist aufregend, dieses Schweigen beunruhigt mich; Sie sehen, ich rede ganz offen mit Ihnen, aber deswegen ein derartiges Unglück als sicher anzunehmen, ja selbst als wahrscheinlich! ...«

Sie faltete ihre Hände, und ihre Wangen röteten sich wieder.

»Ach Gott, mein Herr! ...«

Ihren Kummer vergessend, lächelte sie schon wieder. Der Schmerz paßte nicht recht zu ihrem kleinen Puppengesicht, zu ihren offenen Augen, zu ihrem Mund, der stets zu lächeln bereit war. Sie konnte nur einen Augenblick ernst bleiben, und schon in der nächsten Sekunde war sie wieder heiter und unbesorgt.

Und Herr Hardant erinnerte sich' noch an etwas anderes, was ihm Deherche erzählt hatte:

»Meine Frau? Ein Vögelchen! Ebensolch Kind wie mein kleiner Junge. Wenn ich sie ansehe, wenn ich sie höre, so scheint mir, daß ich zwei Kinder habe. Ein Nichts wirft sie um; ein Nichts kann sie erfreuen. Weder ihre Launen noch ihre Leiden sind von langer Dauer, 's ist wahr,« fügte er nach einem Zögern hinzu, »was die ersteren anbetrifft, so versuche ich immer, sie zu erfüllen.«

Frau Deherche trocknete ihre Augen, puderte ihre Wangen und ihr drolliges kleines Naschen, ebenso ungezwungen in diesem ernsten Büro, wie sie in ihrem Boudoir gewesen wäre. Und, ihr Gebahren verfolgend und mit halbem Ohr ihrem Geschwätz lauschend, erinnerte sich Herr Hardant, unter welchen Umständen ihm sein Kapitän dies erzählt hatte.

Das war vor einigen Monaten, kurz vor der Ausfahrt. Obwohl er seinen Lohn und eine erhebliche Prämie erhalten hatte, verlangte Deherche einen Vorschuß. Seine Frau sollte sich während seiner Abwesenheit um nichts zu kümmern brauchen.

»Die Zahlen machen sie verrückt, die Rechnungen verwirren sie; sie kennt nicht den Wert des Geldes.«

Am nächsten Tag, als das Schiff die Anker lichtete, und Frau Deherche auf dem Steg mit ihrem Taschentuch winkte, hatte Herr Hardant an ihrem Finger einen großen Rubin bemerkt, den er unwillkürlich bewundern mußte.

»Er ist schön, nicht wahr?« hatte die Frau mit frohem Stolz geantwortet ... »Es ist eine Dummheit meines Mannes; ich hab' ihn mir so lange gewünscht ...«

Tausend andere Erinnerungen, die die gleiche Unbekümmertheit zeigten, überfielen ihn in diesem Augenblick, während sie, von ihrer Angst befreit, bereits neue Zukunftspläne schmiedete.

»Wenn mein Mann zurückkommt und wir reich sind, – denn es ist seine letzte Reise, er hat's mir versprochen ...«

Herr Hardant sah sie fest an; sie sagte:

»Das scheint Sie zu wundern?«

»Das wundert mich und kommt mir gleichzeitig ungelegen. Man trennt sich nicht ohne Bedauern von einem so wertvollen Offizier wie Ihrem Mann, und ich muß gestehen, ich bin überrascht, daß er mir nichts von seinen Absichten gesagt hat.«

Sie bedauerte ihr unüberlegtes Reden:

»Vielleicht sind das nur Luftschlösser ...«

»Sie brauchen ihn nicht zu verteidigen, es ist sein gutes Recht, oder wird es bald sein. Er ist der Gesellschaft nur noch für ein Jahr verpflichtet, wenn ich nicht irre ...«

»Für genau zweiundachtzig Tage«, berichtigte Le Goutelier, der sich bis dahin in ein Aktenstück vertieft hatte.

Herr Hardant zeigte sich überrascht.

»Sind Sie sicher?« fragte er.

»Ich habe seinen Vertrag vor Augen: er läuft am fünfundzwanzigsten Januar ab.«

»Ach!« rief Herr Hardant mit veränderter Stimme.

Er nahm den Ton der Unterhaltung wieder auf und schloß dann:

»Ich hatte es vergessen.«

Aber seine Befangenheit blieb sichtbar, und er konnte nicht verhindern, sie zu zeigen, indem er sagte:

»Immerhin, welch seltsames Zusammentreffen, diese Verspätung, dieses Schweigen, das sich gerade während seiner letzten Reise ereignet! Fünfzehn Jahre lang hatten wir mit ihm nicht die geringste Besorgnis, und nun, gerade im Augenblick, wo er uns verläßt ...«

Das Gesicht von Frau Deherche war plötzlich wieder ernst geworden.

»Dieses Zusammentreffen ist für mich noch viel seltsamer als für Sie; seit einiger Zeit war mein Mann – sonst immer lustig – traurig geworden, schien befangen, und einige Tage vor seiner Abfahrt ...«

Sie hielt inne; Herr Hardant wiederholte die letzten Worte:

»Einige Tage vor seiner Abfahrt?«

»Er gab mir hundert Anweisungen, tausend Ratschläge, die meine Zukunft und die Erziehung unseres Kindes betrafen, als ob er befürchtete, niemals wiederzukehren ... schließlich ...«

Le Goutelier hustete.

»Was meinten Sie?« fragte der Direktor.

»Nichts, ich habe nichts gesagt«, versicherte der Prokurist.

Frau Deherche wollte fortfahren; das Läuten des Telephons unterbrach sie. Le Goutelier legte seine Papiere hin, nahm den Hörer, sagte:

»Ja. Gut.«

Dann gab er den Apparat Herrn Hardant:

»Wollen Sie so gut sein, Herr Direktor?«

Den Ellenbogen aufgestützt, mit der Hand den Hörer halb bedeckend, nahm Herr Hardant die Nachricht entgegen, ohne ein Wort zu sagen. Dann schien er einen Augenblick zu zögern und hängte langsam wieder an.

Nur ein rascher Blick zwischen ihm und seinem Angestellten, das war alles. Aber es genügte; Frau Deherche stammelte:

»Nichts Schlimmes?«

»Nein, gnädige Frau, nichts.«

Seine Stimme war aber so zugeschnürt, daß Frau Deherche die Katastrophe ahnte.

»Sie verheimlichen mir etwas ... Obwohl ich das Recht habe, zu erfahren! ...«

Die ersten Worte hatte sie in weinerlichem Tone gesagt, die letzten mit Heftigkeit.

Dieses kleine, scheinbar oberflächliche Geschöpf, das gewöhnlich kein ernstes Wort reden konnte, drückte sich plötzlich mit seltsamer Bestimmtheit aus. Einige Minuten vorher hätte niemand eine derartige Veränderung für möglich gehalten. Sie hatte ja nur einen kurzen Satz ausgesprochen, einen so natürlichen Satz, daß man sich wunderte, daß sie es nicht schon früher getan hatte, aber mit solcher Betonung, daß sowohl Herr Hardant als Le Goutelier bestürzt waren. Plötzlich verwandelte sich ihr Schmerz, ihre Angst in eine Art von Wut:

»Ich muß es wissen! Ich gehe nicht fort von hier, ehe ich es weiß!«

»Was könnte ich Ihnen denn sagen, gnädige Frau, das ich nicht bereits gesagt hätte? Ich wiederhole, daß ich nichts weiß, daß meine Hoffnung nicht erschüttert ist, ich schwöre es Ihnen, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Was soll ich Ihnen sagen, um Sie zu beruhigen? Glauben Sie, ich sei fähig, mich derart zu verstellen, daß ich in einem solchen Augenblick lügen könnte? Ohne zu wollen, würde mir mein Geheimnis entschlüpfen!«

Sie hob den Kopf, halb überzeugt, und erstickte mit dem Taschentuch ihr Schluchzen.

Herr Hardant sprach gleichmäßig freundlich:

»Gehen Sie nach Hause, beruhigen Sie sich; alle radiotelegraphischen Stationen funktionieren; Kreuzer, die benachrichtigt wurden, sind vor zwei Tagen von den Seschellen abgegangen; in einer Stunde werden wir eine zuverlässige Nachricht erhalten, ich habe die feste Hoffnung, ja, die Gewißheit.«

Sein Vertrauen schien so groß, daß Frau Deherche ihre Befürchtungen schwinden fühlte; sie fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen; Herr Hardant nahm ihre Hand zwischen seine Hände und sprach freundlich auf sie ein:

»Ist es vernünftig, sich in einen derartigen Zustand zu versetzen? Ist es Ihrer würdig? Ich werde alles Herrn Deherche erzählen, wenn er zurückkommt; er wird böse auf Sie sein, wie Sie es verdienen. Er, der immer behauptete, daß Sie so energisch wären! Wenn er Sie sehen würde, das wäre 'ne schöne Sache!«

Die Hoffnung, die ihr Gesicht erhellte, das Lächeln, das ihren Mund umspielte, verschwanden.

Hardant, der den sanften Ton aufgab, appellierte an ihren Verstand, indem er ihr die Gründe wiederholte, die er vorhin seinem Prokuristen entgegengehalten hatte. Dann führte er sie vor die Landkarte, zog mit dem Finger den Weg nach, den die »Shanghai« durchlaufen hatte, bezeichnete die Häfen, erklärte die Reise:

»Früher, – ich meine nicht mal die Zeit der Segler, so vor sechs, sieben Jahren, als man noch nicht die Radiotelegraphie an Bord hatte, – schwammen die Schiffe auf dem Meer, abgetrennt von der ganzen Welt; heute gibt es keine, noch so wenig befahrene Linie, wo sie, wenn man so sagen kann, allein wären. Fortwährend sprechen sie mit Gefährten, die zwar unsichtbar sind, aber auf ihren Ruf sofort zu Hilfe eilen können.«

»Wenn es so ist, warum weiß man dann nichts? Dieses Schweigen ist um so schrecklicher, nach dem, was Sie mir sagen, Herr Hardant!«

»Aber keineswegs; man empfängt Nachrichten vom anderen Ende der Welt; sie aber zu senden, ist eine schwierigere Sache! Nehmen wir an, Ihr Mann hätte Hilfe nötig gehabt: zunächst, so wie Sie und ich ihn kennen, werden Sie zugeben, daß er sie erst verlangt hätte, wenn seine eigenen Mittel absolut erschöpft gewesen wären; stellen Sie sich dann vor, – und sicherlich haben sich die Sachen so zugetragen, – daß das Schiff, das seinen Hilferuf vernommen, nur wenig Tonnen hatte, vielleicht ein Küstenschiff oder ein kleines Handelsschiff, wie sie diese Gegenden befahren, die nur mit drahtlosen Apparaten von sehr geringer Sendekraft versehen sind, das heißt, von etwa zweihundert bis zweihundertfünfzig Meilen: die Nachrichten der ›Shanghai‹ würden dann etappenweise bis zu einer wichtigen Station geleitet werden ... Ich erkläre Ihnen das roh; ich kann Ihnen keine Vorlesung über Radiotelegraphie halten ...«

»Ich verstehe wohl; diese Schwierigkeiten könnten ein bis zwei Tage des Stillschweigens rechtfertigen, aber nicht eine Woche! ...«

»Die radiotelegraphische Einrichtung der ›Shanghai‹ hat möglicherweise einen Schaden erlitten; durch den Sturm gezwungen, ist sie vielleicht von ihrer Route abgekommen; Sie wissen wohl, daß die Fahrstraße nicht sehr breit ist.«

»Dies alles weiß ich auch, ich weiß aber ebensogut, daß ein Schiff untergehen kann ...«

»Nanu? Durch ein Unwetter? Ein Schiff wie die ›Shanghai‹, das widerstandsfähigste Schiff unserer Gesellschaft?«

»Früher mal; jetzt nicht mehr. Ach, Herr Hardant, Sie sind schuld daran, daß es auf See gegangen ist! ... So ein abgenütztes, verbrauchtes Schiff ...«

Herr Hardant fuhr auf:

»Abgenützt, verbraucht, die ›Shanghai‹? Wer hat das gesagt? ...«

»Jeder sagt's.«

»Wer, jeder? Und Sie schenken solch üblem Gerede Glauben? Jetzt begreife ich die Erregung des Publikums und die Hetzartikel, die man veröffentlicht! Donnerwetter, das ist ja ein feiner Coup! Da man uns nicht im ehrlichen Wettbewerb ruinieren kann, versucht man, uns in den Rücken zu fallen. Ich kann mir schon denken, welche Konkurrenzfirma dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat und verbreiten läßt ...«

»Ich habe es aus anderer Quelle«, betonte Frau Deherche mit Nachdruck; »glauben Sie mir, daß ich es sonst nicht erwähnen würde.«

»Aus welcher Quelle?« rief Herr Hardant mit zusammengepreßten Zähnen.

»Aus der sichersten, aus der am wenigst feindlichen, von meinem Mann.«

Herr Hardant fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie ein Mensch, der seinen Ohren nicht traut:

»Das ist ja ausgeschlossen. Deherche ist nicht der Mann, um mit solchen Bemerkungen um sich zu werfen; er kennt den Wert der Worte und weiß, daß wir von der Marine es sehr genau damit nehmen. Sagen Sie doch, daß das nicht wahr ist, daß er das nicht gesagt hat ...«

»Er hat es gesagt; hat es in solcher Erregung gesagt, mit solchem Nachdruck, daß ich mich noch heute mit Schrecken daran erinnere; er hat es mir gesagt, als er mir eine Versicherungspolice zeigte, die er zwei Tage vor der Einschiffung auf meinen Namen und den meines Kindes aufgenommen hatte; er hat mir gesagt, sein Vertrauen zu dem Schiff sei so gering, daß er verlangt hätte, man solle die Anzahl der Rettungsboote verdoppeln. Und dann hat er mir noch gesagt, daß Sie es wüßten!«

»Das stimmt nicht! Das ist eine Lüge! Das Schiff ist ordnungsgemäß untersucht worden. Im übrigen kann man es leicht feststellen. Le Goutelier, lassen Sie mir die Akten der ›Shanghai‹ herüberbringen!«

Plötzlich beruhigte sich seine dröhnende Stimme, und er wandte sich an Frau Deherche:

»Was auch kommen möge, so beschwöre ich Sie, gnädige Frau, im Namen Ihres Mannes und Ihres Kindes, niemals auf die Unterredung, die wir soeben hatten, eine Anspielung zu machen. Was mich anbelangt, so will ich sie vergessen. Sie, Le Goutelier, haben nichts gehört.«

»Ich habe nichts gehört, Herr Hardant«, erklärte der Prokurist mit feierlicher Stimme.

Frage und Antwort waren in einem solchen Ton ausgesprochen worden, daß Frau Deherche schwankend wurde. Sie wollte sprechen, fragen; die Stimme versagte ihr. Mit übermächtiger Anstrengung raffte sie sich indessen auf und stammelte:

»Was soll das heißen? ... Weshalb diese drohenden Worte? ... Was hab' ich denn gesagt und was denken Sie?«

Statt jeder Antwort streckte Herr Hardant seinen Zeigefinger aus und wies auf den Rubin, den sie am Finger trug:

»Nehmen Sie das fort, gnädige Frau.«

Einen Augenblick war sie wie festgenagelt; sie senkte die Augen, betrachtete ihre weißen Hände mit den blanken Nägeln, sah verwirrt um sich, auf die Wand, wo die große Karte ausgebreitet war, auf die Ordner, auf das Fenster, durch das man den Hafen sah, auf diese beiden ernsten Männer, die ebenso bleich waren wie sie, dann von neuem auf ihre Hände, alles, ohne die Lippen auseinander zu bekommen.

In diesem Augenblick trat ein Angestellter herein und übergab Herrn Hardant eine Depesche. Herr Hardant riß sie mit dem Daumen auf, dann preßte er die Hände auf seine Stirn. Da stieß sie einen furchtbaren Schrei aus:

»Mein Mann!«

Herr Hardant senkte den Kopf und flüsterte:

»Halten Sie diese Unglückliche.«

Le Goutelier faßte sie unter und wollte ihr behilflich sein, sich zu setzen; sie lehnte ab, schleppte sich bis zur Tür und taumelte über die Schwelle.

Der Angestellte fragte:

»Ihre Befehle, Herr Direktor?«

Herr Hardant riß mit einem Ruck seinen Kragen auf, der ihn zu ersticken drohte, und antwortete dann:

»Wie vorher.«

Unten tobte der Lärm der Menge; man hörte ihn noch einige Augenblicke, dann trat plötzlich eine entsetzliche Stille ein.

Auf der Marmortafel, an die seit zwei unglückseligen Tagen die Depeschen geklebt wurden, breitete sich jetzt eine Zeile aus:

»SHANGHAI GESUNKEN. MENSCHEN UND LADUNG VERLOREN.«


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