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23. Der Georgekreis

Am 25. Januar 1894 schreibt Ludwig Klages zum ersten Male von seiner neuen Bekanntschaft, tastend, wie der andere die Sache wohl aufnehmen werde:

»Ein merkwürdiges Schicksal ist mir widerfahren ... Das kommt durch die Bekanntschaft mit einem hochmodernen und hochdekadenten Künstler sive Poeten ... Er ist ein weit gereister Mann mit sehr exzentrischem Kopf; sehr blasiert ... Seine sämtlichen bisherigen Werke sind schon im Äußern merkwürdig. Beim ersten Durchlesen habe ich nicht den fünften Teil verstanden; jetzt aber habe ich den Schlüssel zu dieser Art von Poesie. Ich bin neugierig, was Du zu diesen Poesien sagen wirst ... Ich gab mich ihm schließlich als einen ehemaligen Poeten zu erkennen und brachte ihm ein Stück der ›Desiderata‹. Das versetzte den sonst zugeknöpften, im Verkehr vornehm förmlichen, mit verachtender Blasiertheit dreinschauenden Menschen in ein nicht zu verbergendes Feuer der Begeisterung. Er gestand mir anderthalb Monate später, daß er von der Turmszene mehrere Tage ›gradezu krank‹ gewesen sei. Er ließ mich nun nicht wieder los, und ich mußte ihm diesen Fetzen eines Fetzens für sein Kunstblatt liefern ... Ich hatte ein fast wehmütiges Gefühl ... wie viel hätte ich wohl darum gegeben, wenn ich das vermocht hätte zur Zeit, wo ›Desiderata‹ entstand. Und jetzt kostet es Überwindung, sie mir zum Zweck des Druckens abzulocken ... Die Bekanntschaft förderte mich in meinem Studium des künstlerischen Affektes ... Als Prototyp des Künstlers standest Du stets vor mir. Vom hypnotisierten Anstaunen Deiner Hervorbringungen bin ich nun allmählich zur Analyse der sie veranlassenden Affekte übergegangen.«

Es ist klar, daß sich in diesen Sätzen schon die Anzeichen der beginnenden Entfernung verrieten. So war es denn natürlich, daß ich sofort aufs wildeste gegen den neuen Einfluß zu wettern begann. Des Freundes Annäherung an George erfolgte ja im selben Zeitpunkte, wo die »Komödie« erschien, auf welche wir so überstiegene Hoffnungen gesetzt hatten. In der ersten Begeisterung hatte Klages einen Panegyrikus auf »Komödie« geschrieben. Jetzt blieb seine Arbeit liegen, und schon wenige Tage nach dem ersten Brief über George kam ein neuer, in welchem er folgendes meldet:

»Stefan George meint, es sei zu wenig Positives in Deinem Buche. Der Autor müsse sehr jung sein, weil er nur niederreiße. Aber dieser Mensch steht mit seiner blasierten Ästhetik deinem Werk viel zu fern, als daß man von ihm verlangen könnte, daß er sich für dessen Verbreitung interessieren könnte. Zudem haben ja diese Herren alle zu viel mit sich selbst zu tun.«

Zunächst versuchte Klages, die beiden Freundschaften zu vereinen, indem er hoffte, daß meine bevorstehende Übersiedlung nach München auch mich dem »Kreise um Stefan George« beigesellen werde. Darüber schreibt er:

»Mir ist das Glück zuteil geworden, einen kleinen Kreis fein individualistischer Menschen zusammen zu finden. Es sind Menschen darunter, mit denen man die höchsten Geistesprobleme und intimsten Herzensregungen bereden kann ... Du wirst Dich wundern, ihnen allen bekannt zu sein. Sie kennen Dich, Deine Schriften, Dein Schicksal. Du bist uns ein ganz geläufiger Gesprächsgegenstand.«

Und so kam ich denn nach München. Und es stellte sich heraus, daß ich nie und nimmer mich diesem mir gegensätzlichen Kreise würde einfügen lassen. In den ersten Monaten des Jahres 1895 sah ich in unsrer Pension und im »Luitpold« den steilen, priesterlich schreitenden Jüngling. Aber da Klages ihm nun ebenso zugetan war, wie zuvor nur mir, und da ich den Gefährten nun mit diesem andern teilen sollte, so stemmte ich mich durchaus wider die Zumutung, den Fremdling kennen zu lernen, nannte seine Kunst, von der ich nichts verstand, eine Angelegenheit für Artisten, Formalisten, Geschmäckler, schalt sie Sport, Treibhaus, Dekadenz, gebrauchte mein Lieblingswort »Kalozelie« (»Schöntun mit Absicht«), ja kennzeichnete das mir Unzugängliche mit den damals beliebten Formeln »fin de siècle« und »l'art pour l'art«, wogegen ich als meine eigenen Heilquellen anempfahl: Element, Ursprünglichkeit, Volkslied und Goethe.

Ich ging also dem Unbekannten aus dem Wege. Und Klages, welcher in der Erinnerung unsrer alten Tage solche Abwehr und Anklage nicht unbillig finden konnte, andrerseits aber in George seinen Zucht- und Form-Meister ehrte, litt ernst unter den zwei Freundschaften, die sich nicht vereinen ließen. Er brachte George meine »Laute und leise Lieder«. Der blätterte lächelnd darin und beklagte das schlechte Holzpapier. Mir brachte der Freund die schön gedruckten »Hymnen«, »Buch der Hirten« und »Algabal«, die ich, verwirrt schon durch das neue Kunstmittel, keine Sinnzeichen und keine großen Buchstaben zu verwenden, nicht begriff und nicht begreifen wollte. Gleichwohl zeigte George sich geneigt, mich seinem Kreise beizugesellen und fragte, ob ich bereit sei, einige Liedzeilen seinem »Museum« (so nannte er die »Blätter für die Kunst«) beizusteuern, worauf ich jungenhaft polterte, ich sei ein lebendiger Mensch, aber kein Tapeziergehilfe für die bürgerliche Luxuswelt.

Geriet nun aber George durch die Gemeinschaft mit Klages in mein Bereich, dann ließ ich den Gefährten nicht im Unklaren, daß ich seine Freundschaft nicht teilen könne mit diesem »Techniker kalozelischer Snobkultur« und indem ich die im Café »Luitpold«, dem damaligen Dichterlager, thronende Tafelrunde, welche wir »die Kaviarbündler« nannten, verhöhnte, erhielt George folgende schiefe Kennzeichnung:

»Zuweilen läßt sich huldvoll besehn der Dichter Herr Stefan George
Sechs Meilen weit ihm aus dem Wege zu gehn ist meine empfindlichste Sorge.
Der tote Vulkan preßt aus Schlacken zum Licht die süßesten Asphodelen,
Doch ich lieb die cäsarische Leiche nicht, ich brauche lebendige Seelen.«

Solches Grünejungengeplänkel dauerte noch lange, doch führte der Zufall zu einer Aussprache.

Ich saß zeitschriftenlesend im »Luitpold«, als durch den Säulengang in der Mitte George daherstolzt, begleitet von seinem unabtrennlichen Schatten, Karl Wolfskehl. Alsbald storcht auch mein Klages durch die Halle, in großem Mißbehagen bemerkend, daß die zwei einander abstoßenden Pole seiner Freundschaft an benachbarten Tischen platzgenommen haben, und er nun, zwischen beiden stehend, keinem von beiden wehe tun möchte. Er begrüßt mich also mit dem Vorschlag: »Komm mit zu den andern«, worauf grillig die Antwort lautet: »Ihr könnt ja auch an meinen Tisch kommen.« Alsbald geht Klages zu »den andern«, aber Wolfskehl erscheint als Friedensbote und wiederholt die Einladung, worauf wieder die Antwort kommt: »Der Weg von Herrn George zu mir ist nicht weiter, als der von mir zu Herrn George.« Und nun wird die Sache ernst. Denn George hält die Zumutung, den Tisch zu wechseln, für geschmacklos, ja frech. Und ich glaube mir etwas zu vergeben, wenn ich mich nachgiebig zeige. Klages aber pendelt zwischen den zwei eifersüchtelnden Hohepriestern her und hin und beschwört: »Mensch, laß doch mir zu liebe nicht das Schönste scheitern an deiner Albernheit.« Worauf ich aufbegehre, dies sei keine Albernheit, es sei Symbol. Wolfskehl kommt und belehrt, unter Symbolen verstehe man was anderes. Klages weiß nicht, ob und wo er sich setzen soll. Schließlich wird der Ausweg vereinbart, daß weder George noch ich sich fügen müssen, sondern gleichzeitig beide aufstehn, bis zur Mitte des Säulengangs einander entgegengehn und daß dann alle vier gemeinsam an einem größeren Tische platznehmen sollen. Und so geschah's. Schwerernst, mit der Feierlichkeit der großen Geschichtsereignisse. Wir schüttelten einander die Hände und sagten: »Sehr erfreut« und nahmen dann, er den Wolfskehl, ich den Klages zur Seite, an dem dritten Tische Platz. Und nun hätte ein Geistespalaver beginnen können, aber ich erinnere nicht mehr viel davon, außer daß von einem Wolfskehl-Aufsatz über Goethes Drama »Die natürliche Tochter« die Rede war und daß eifersüchtig und verworren, ich mich verschloß gegen alle Tugenden und Feinheiten. Aber wenn ein Seher geweissagt hätte, daß Georges Werk mir einst Trost streuen werde auch in die dunkelsten Stunden, so wäre mir das ebenso unsinnig erschienen, wie die Voraussage, daß Klages, der damals seine korybantischen Hymnen auf George schmetterte, ein paar Jahre später, wo dieser Zauberer mir lieb geworden war, ihn als Deutschlands schlimmsten Schwarzmagier zerschmettern werde.

George war zu der Zeit, da wir ihn kannten, ein junger melancholischer Prinz im Exil, herrisch und verhärmt. Um seine knochigen Schultern wehte der römische Mantel und auf dem dunkel schimmernden, im Nacken mit sogenanntem Polkaschnitt grad gezirkelten Gelock thronte statt einer Krone der bürgerliche Zylinderhut. Stolz das junge fordernde Haupt zurückgeworfen, ging, nein schritt er durch das Café, wie der Bischof durch die Mitte von Sankt Peter. Gleichzeitig wunderlich und bedeutend, gleichzeitig närrisch und achtunggebietend. Denn blieb er erfolglos, so war er eben einer von den vielen, durch lange Mähne und schöne Schlipse gekennzeichneten verkannten Genies, die damals rudelweise in Schwabing Tee tranken. Setzte er sich aber durch (wie das Idiotenwort lautet), dann wurde aus Zylinder, Gelock und priesterlicher Haltung der nächste ästhetische Stil. – Er legte Wert auf Form und Kleid. Band sich, wozu wir Leichtfüßigen keine Neigung hatten, sorgsam vor dem Spiegel eine Halskrause, blickte in die Modemagazine, betrachtete neue Schmuckformen, lobte Tuche und Seiden, bespiegelte aufmerksam im Glase die gute Ordnung seiner Krawatte. Kurz, er war ein gehaltener Herr, während wir kunstzigeunernde Jungen waren. Selbst hinterm Maßkrug bewahrte der Hohepriester eine so würdige Haltung, daß mein Hohn ihn den Weihestefan nannte. Denn reichte er zu Empfang oder Abschied uns die Hand, so zelebrierte er gleichsam Empfang und Abschied. Und verließ ihn auf der Straße der Jünger, um in ein Bedürfnishäuschen zu treten, so machte George einen königlichen Gestus, wie die Majestät, welche auf eine Weile ihre Begleitung in den Alltag entläßt, und kam der Jüngling wieder, dann nahm ihn der Geweihte neuerdings auf in sein Königtum.

Diese großen Attitüden waren aber nicht gespielt, sondern waren der natürliche Schutz einer überverletzlichen Seele, die sich umzirkt, weil sie im Alltag nicht blühen kann. Das wurde fühlbar in der Landschaft, bei Wetter und Wind.

Wir hatten außerhalb der Stadt einen Freund in Neufriedenheim besucht und waren auf dem Heimwege, als ein Wetter losbrach. Wir hüllten uns fester in unsre Loden und drückten die Hüte tiefer in die Stirn, aber der kunstpriesterliche Sänger, dem Sturme preisgegeben und zum Laufen genötigt, betrachtete das Unwetter als einen ihm persönlich angetanen Tort des Wettergottes, rächte sich mit bitteren Bemerkungen über die zwecklose Unbequemlichkeit der Natur und schalt kräftig auf Rousseaus und Tolstois Naturfexerei, während wir lachten. Als erkorener Hohepriester der angebeteten Städte war er mit der Natur nicht einverstanden, und da ich damals beständig »Natur, Natur« im Munde führte, dionysisch-elementar-naiv (Worte, die freilich auch von anderen als Pfeile abgeschossen wurden gegen Georges Goldpanzer), so betonte er absichtlich und bis zur Manier, seine eigene »Nichtnatürlichkeit«, obwohl er doch die tieferen Beziehungen hatte zu Äther und Sternen, Baumwelt, Wasser und Tier. So blieb er etwa beim Gange durch ein Dorf böswillig vor einem Misthaufen stehn und sagte: »Siehe da, ein Misthaufe! Der muß Herrn Lessing sympathisch sein.« Oder er lüftete großartig den Hut vor der grasenden Kuh: »Grüaß di Gott Natur« und fragte trotzig: »Bin i leabfrisch?« Im Atelier aber sagte er behaglich: »Der Fauteuil ist angenehmer als eine Baumwurzel.« Und wenn ich das geliebte Steckenpferd ritt: Der Dichter müsse sein Werk selber sein. Es sei widerwärtig, Löwenjagden, Wüstenstürme, Wikingerfahrten, brennende Städte, Mord und Triumph zu singen, indes man, den Griffel in bleicher Hand, im Gartenstuhle lungere, dann sagte die geduldig feierliche Stimme: »Ein Dichter, merken Sie, kann auch im Luitpold auf Löwenjagd gehn.«

Formbeherrschte Leidenschaft, das war das erste Ergebnis. Keine Deutung konnte schiefer sein als jene, der ich so willig Ohr lieh: Er sei der gekühlte Verdichter der Seelenarmut, der auf erstarrter Lava eine kargende Ernte züchte. Nein! Er war ein Leidenschaftsbold, fähig des langen Hasses und der langen Rache, wie ihn denn damals eine orgiastische Haßliebe erfüllte gegen Hugo von Hofmannsthal, von dem er sich enttäuscht und betrogen wähnte. Aber warm und treu war er auch im Ehren und Lieben. Geriet er in Erregung, so nahm er lange Schritte, stampfte den Boden, konnte die steife Würde jäh fahren lassen und schreiend, gestikulierend, ja heiser kreischend, die gefährliche Untiefe seines Wesens preisgeben. Aber zutiefst bewegt war er wahrscheinlich, wenn er stumm, mit gepreßten Lippen dasaß; dann verschlug Raserei ihm die Stimme und wen er liebte, dem sprach er nie davon, sondern nur der Druck seiner großen Hand oder eine kurze Umarmung beim Abschied verriet, wie es um ihn stand. George und wohl die meisten seines Kreises waren männerliebend, aber nie in den Jahren, wo ich die Schar kannte, habe ich unter den hochgestimmten Jünglingen, den adeligsten Deutschlands, etwas Unschönes gesehn. Übrigens war auch nicht zu bezweifeln, daß George nicht nur für seine Epheben erglühte, denn das einzige Mal wo ich seinen Wohnraum betrat, sah ich das Bild einer Frau auf seinem Tische, auch entsinn ich, daß er gern von Frauenliebe sprach, etwa sagte, daß nur in Rom Frauen lebten, die man begehren könne und ich glaubte zu wissen, daß in jenen Jahren eine hoffnungslose Leidenschaft für eine Frau seine Seele erfüllte. Aber diese große Seele, so schien es, trug doch nicht allzu schwer an der Last der Geistigkeit, denn all das, was Klages und mich verknüpfte, ging ihn nicht an, weder Philosophie noch die Naturwissenschaften, weder Mathematik noch Wirtschaft, Weltverbesserung oder überhaupt Bücher und Literatur.

Ich habe an schöpferischen Menschen oft bemerkt, daß sie schlechte Zuhörer und ungerechte Leser sind. Viel zu erfüllt und hingenommen vom Eigenen, können sie nur durch das ihnen Artgleiche berührt werden, nicht aber antworten auf Stauendes und Störendes. George auch schritt unter den Menschen ungesellig wie von einem andern Stern, ganz verhüllt in sich und rund in sich selber. Ich aber stand jedem Menschlichen weit offen und meine Lebensaura hatte keine Grenze. Es gab keine Wissenschaft, die mich nicht lockte. Ich hätte am liebsten alle Bücher gelesen, alle Professoren gehört, alle Länder bereist, alle Mädchen geküßt. Für George war solche Taktlosigkeit ein Gräuel und er belehrte Klages: »Aus Ihrem Freunde kann nichts werden, denn er schwelgt in Selbstvergeudung« oder »Wenn der ein Spiegel wird, dann ein zersplitternder«. Reflektierendes oder psychologisierendes Gespräch, das ich suchte, war ihm zuwider. Es war ihm offenkundig schrecklich, wenn ich begann, ihn und mich und alle rundum zu analysieren. Ihn kümmerten einzig die ganz großen Dichter als Seinesgleichen. Über das Kleinholz sah er hinweg und wenn ich Namen oder Leistungen nannte, so hieß es: »Schlechte Adresse« oder »Ich habe kein Organ für Literatur«. Wenn er aber von einer Sache sagte: »Literatur«, dann war sie erledigt. »Das ist ein Schriftsteller« war das ärgste der Scheltworte. Nicht ganz so schlimm war »Das ist ein Gelehrter« oder »Das ist ein Philosoph«. Aber obwohl er predigte: »Meide was stört«, suchte ich auf Gedeih oder Verderb, just das, was mir das Innere störte. So zappelte ich mich redlich ab, immer voll von Konflikten und Problematik. Er aber hörte und sah kaum hin und bannte den Strom unerwünschter Gefühle mit einer Wendung wie: »Lassen Sie den guten Kaffee nicht kalt werden.« Ich war zu unreif, um bei solcher erziehlichen Abfuhr zu spüren: »Gewogen und zu leicht befunden«, sondern ahnungslos dachte ich: »Dieser gespreizte Narr. Was weiß er denn?« Denn keines der Rätsel, die mir auf der Seele brannten, fand je bei George eine Lösung. Denn war das eine Lösung, daß er wie jeder Schamane auf einen Gott hinwies, welcher heute hieß »Ewiges Hellas« und morgen »Heiliges Vaterland« und übermorgen gar der Schwabinger Knabe Maximin? So geschahs, daß George bald von meiner Gegenwart nicht mehr Kenntnis nahm, sondern abschließend wie aus letzter Tiefe eine Rüge entäußerte, die mich umwarf: »Ja, der Feind der Dichtung ist die Leihbibliothek.« Fragte ich nun gereizt, ob er nicht glaubte, daß in den vielen Büchern, die ich gelesen habe, nicht doch auch etwas Gutes zu finden sei, so erwiderte er etwa: »Man kann viele Bände lesen, und es steht doch nichts Lesenswertes darin; denken Sie an die zwanzig Bände Schiller.« Das reizte mich zu wütendem Aufbegehren, obwohl ja auch die Hinrichtung Schillers nur halbernst gemeint war. Von Goethe sagte er mit vollem Ernst: »Man sollte den Dichter zu retten versuchen. Wenn man von seinen Schriften neunundneunzig Hundertstel den Literaten und Schreibern überläßt, dann kommt eine Handvoll Kunst heraus. Kunst vom obersten Range. Denn glauben Sie's nur, Goethe war ein Dichter; trotz allem.« – Er ging nie in ein Theater, las nie eine Zeitschrift. Herr Bethge ersuchte ihn, zu einer Anthologie ein paar Gedichte beizusteuern. Er ließ durch einen seiner Freunde antworten: »Herr George bedauert für deutsche Literatur kein Interesse zu haben.« So rächte er sich für das literarische Geschwätz, das ihm auf die Nerven ging. Es wurde viel Nebel um ihn gebreitet, und die harmlosen Symposien seines Ordens wurden von den Mißgünstigen als fanatische Orgien gedeutet. Das gab ihm einige Genugtuung, und wenn erzählt wurde, die letzte Vorlesung im bescheidenen Atelier Ludwig Derleths oder der dünne Maitrank bei Karl Wolfskehl sei eine satanische Messe bei violetten Lichtern unter Ambraampeln gewesen, so mahnte er: »Vergeßt nicht, daß eine Schüssel rauchenden Blutes vor mir stand.« Er duldete mein Unverständnis, weil er Klages liebte, wenn ich aber von anderen Münchener Größen sprach, mit denen ich doch auch Freundschaft hielt – Michael Georg Conrad, Oskar Panizza, Ludwig Scharf, Hermann Obrist – dann hieß es nur: »Von diesen Leuten weiß ich nichts.« Oder er blieb stumm, mit eingesunkenen Augen in die Zigarettenwolke starrend, bis er alles Vernommene mit einer ärgerlichen Handbewegung fortfegte: »Genug der Literatur!« Kam dann ein mehr begnadeter Ephebe, so begann sofort ein lebhaftes Gespräch über das letzte Gedicht, und es wurde jede Zeile einzeln abgewogen, denn sie berauschten sich am Geheimnis der Laute und des, wie sie sagten, wieder auf die leuchtende Ebene gehobenen Wortes. Er feilte und baute rastlos, begann Norwegisch zu lernen, nur um den Peer Gynt im Urtext lesen zu können, liebte Provenzalisch, Altfranzösisch, Altitalienisch und grübelte über ein einziges Beiwort viele Tage. Dichter waren ihm eine andere Gattung als Menschen, einer Urnatur entquollen; »man sagt, daß sie aus Feenwelten bei der Geburt ein Adler stahl«. Daher war es ihm auch gleichgültig, ob Dichter schrieben oder nicht. Ja, daß ein Jüngling Bücher las und schrieb, zeugte vielleicht gegen sein Dichtertum. »So viel Bücher wie Sie lesen, verträgt kein Dichter.« Wir hätten vielleicht zusammenklingen können, aber ich suchte etwas Unpersönliches, Sachliches, wofür sich verlohnte Bomben zu werfen und das Schafott zu besteigen; er suchte bleichen Eifers nach unsterblichen Tönen, in denen tatlos, zeitlos sich Gesichte spiegeln. Nein, ich war kein Dichter! Er aber sagte spöttisch: »Manche Leute werden mit den Jahren reifer und hören zu dichten auf, aber dieser Gute dichtet wahrscheinlich bis zum Tode immer so weiter, immer so weiter.« Andrerseits aber merkte ich wohl, daß er Furcht hatte vor Satire und Witz, die alle Feierlichkeit überspringend, ohne Ehrfurcht belichten. Dann war er so hilflos wie gegenüber Klagesscher Dialektik und erklärender Analyse. So liefen unsre Wege getrennt.

In einer Gesellschaft harmloser Gäste kam die Rede auf die Auserwähltheit der Kunst, und die braven Leute führten ihre naheliegenden Einwandreden. Klages, der sonst wortbegabteste, schwieg in stolzer Erhabenheit. George, der sonst schweigsamste, blitzte los und verbat jedes Gerede. Und ich goß meine kaustische Lauge über die ganze Angelegenheit. Hinterher wurde eine solche Lage gewissenhaft ausgewertet. Klages befand, George dürfe vor Unwürdigen sich keine Blöße geben und hätte schweigen müssen. George befand: Man solle grundsätzlich dem Volke lehren, daß es über Kunst nicht mitzulallen habe. Und ich befand: alles Geplänkel sei spaßhaft und in dieser Narrenwelt habe jeder recht. – Eines Nachts gingen wir die Isar entlang, als ein verwahrloster, alter Mann schwerbetrunken dahertaumelte. Es war klar, daß er auf falschen Weg geraten, vom Sturz in den Fluß bedroht war. Im Weitergehn wurde die Sache geklärt. Ich sagte: »Wir sind verpflichtet, umzukehren und ihn auf den Weg zu bringen.« Klages: »Es gibt für den Elenden kein seligeres Ende, als den Tod im Rausch.« George: »Ein Baumschatten ist wichtiger als das Schicksal dieser Ameise.« Gleichwohl trieb es mich, umzukehren, unheilbar sentimental. Ludwig Klages, halb Phantast, halb Skeptiker und gänzlich Doktrinär, übte durch seine, uns allen weit überlegene Begriffsmeisterschaft auf George bängsten Druck. Denn der Rheinländer, lateinisch-leicht und fränkisch-froh, war doch fast schwerblütig im Vergleich zu dem überbewegt-sanguinischen, wenn auch noch weltunläufigen Klages, der die Unendlichkeit der Wolkenfernen, sein nordisches Meer und die nebelnden Geisterzüge unsrer niedersächsischen Heide gegen die helle Bildwelt Georges anrücken ließ. – Schon in seinem frühesten Buche besang George den allbesiegenden Klages als den Redner Isokrates: »Heil dir Isokrates und deiner blühenden Jugend, der große Siege und Taten aus den Seelen schlägt, selbunbewußt seiner Schönheit und Gewalt. Aber der auch den Überwundenen, Wehrlosen grausam quälte mit dem Lächeln des Kindes.« Klages lernte und nahm von allen und entflog in seinen angestammten Himmel. Ich aber gehörte schon zu der großen Armee der Leidenden, hüllte mich in ein Nessuskleid und klagte mit Mephisto: »Von Sonne und Monden weiß ich nichts zu sagen, ich sehe nur wie sich die Menschen plagen.« Jeder von ihnen hatte Heimat, die trug. Sie konnten eines Tages Standbild, Mythos werden. Aber Ich? Wo war mein Volk? Kinder, Tiere und Narren.

Einmal habe ich Stefan George einfach gütig gesehn; das war an dem Abend, als August Husmann unter uns trat. Das war ein Bauernsohn von der Insel Rügen, welchen Klages im Laboratorium kenengelernt hatte und in den Georgekreis mitnahm. Der starkknochige, ungeschickt ausdrucksschwere Jüngling, unberaten und zukunftslos, wälzte dunkle Welterlösungs- und Auferstehungsgedanken, katholisierend, ähnlich denen, die der franziskanische Ludwig Derleth und seine edelstille Schwester, die »böse Nonne«, durch die Ateliers trugen; er schrieb dieses Evangelium nieder, umständlich gewissenhaft aus echter Tiefe. Chemiker war er, weil er irgend etwas auf der Welt sein mußte. Im Laboratorium aber ergab er sich dem Ätherrausch, und bald lähmte eine müde Schwermut seine Tatkraft. George war ergriffen von der leidenden Schönheit des Jünglings, dem er im »Saale der Angedenken« ein paar Verse widmete, welche folgendermaßen beginnen:

»Du sanfter Seher, der du hilflos starrest
In Trauer über ewig welke Träume,
Gib deine Hand, wir zeigen dir Gefilde,
Um Saaten der Erlösung hinzustreun.«

Aber Husmann, starr und keusch, ergriff nicht die dargebotene Hand. Einen Tag lang bin ich mit ihm in den Wäldern von Planegg umhergestreift, da begann er zu reden, ein Müder zu einem Ermüdeten. Denn ich besaß noch genug Rückhalt und war nur brüchig geworden, aber der kräftige nordische Bauer hatte zu wenig Wille und nicht genug Selbstgefühl. »Ich will kein Maulheld sein. Ich hasse euern Buchdruck. Ich will kein Schwätzer werden. Ich will lieber sterben, als mittun auf den Märkten. Sich selber ausbieten, zäh, sich alle Jahre wieder einstellen und aufdrängen. Nein, ich werde mich im Kloster begraben. Ich mag nicht unter euch leben.« Das war seine Grundstimmung. Er hatte das Antlitz eines Apostels. Die Kinder im Dorf kamen und küßten ihm die Hand. Er schwand wie er gekommen war. Eines Tages war er abgereist und ließ nie mehr von sich hören. Ich bewahre von ihm ein Heftchen, das den Titel trägt: »Das Buch von dem, der kommen soll.«

Obwohl die Kennzeichnung des Georgekreises durch den zum Feind gewordenen späteren Klages als eines Kreises des »Semitismus« zweifellos willkürlich ist (als »Semitismus« bezeichnete sein Widerwille gegen den Logos jedes Überwiegen des Geistes über Seele und Leben), so war doch eines richtig: es saßen im George-Orden manche Jünger von jüdischer Herkunft; auch dem Meister selber wurde sie nachgesagt. Klages Angriff aber gegen die Wirkungen Georges als »Triumph des Semitismus« erfolgte um die nämliche Zeit wo die nationale Jugend in Deutschland just in George den deutschesten Führer grüßte. Mir, dem »Rationalisten«, dem alle Apotheose von Personen zuwider war und die Welt- und Kultur-Geschichte ein einziger Schwindel deuchte, mußte das bonzige Getate, sei es auf Klages Seite, sei es auf Georges Seite, so schrecklich wie komisch werden. Damals litt ich nur. Karl Wolfskehl, dem der Adel des alten Blutes auf der edlen Stirne lag, war ein männlich schöner Assyrerprinz, in dessen Dichtung ebenso Orient und Zion leuchteten wie das ewige griechische Inselmeer. Paul und Edgar Cassirer waren nur vornehme Dilettanten und Oskar A. H. Schmitz ein eitler Affe, aber der Johannes am Herzen des Meisters wurde Friedrich Gundolf aus Darmstadt, durch Wolfskehl eingeführt, ein hochgestimmter, sprachedler, aber für meinen Geschmack allzu kantenlos geschliffener Ephebe, leuchtenden Auges, Georges Benjamin. Weil mir nichts so spät, nichts mühsamer zugänglich wurde, als die feierliche Form und das »liturgische schwellende Wort« (wenn es mir überhaupt je zugänglich war), so empfand ich mich angesichts so vieler priesterlicher Würden recht wie ein Rüpel, ein Wald- oder Wiesen-Faun, und darum geschah es, daß die Begegnungen mit Hugo von Hofmannsthal und später mit Georg Simmel mich bedrückten. Auch weiß ich nicht, ob diese großen Meister mich je hätten fördern können. Immerhin habe ich später bereut, mich vertan und die echten Möglichkeiten der Bildung und des Wachstums zum Stil damals versäumt zu haben. Indessen gab es einen aus dem Kreise, der mir menschlich nahekam. Richard Perls war ein Jüngling von großer Schönheit, nicht unähnlich dem Jugendbilde Heinrich Heines, spöttisch-träumerisch und stark überzüchtet. Der biegsame Leib trug das apollinisch heitere Haupt eines jungen Römers. Fein und schmal war die Nase; um den Mund mit den blitzenden Zähnen lag ein sinnlicher sarkastischer Schmerzenszug. Gedankenvoll thronte die Stirn, umspielt von tiefdunklem seidenzartem Haar, und seine dunkelblauen Augen blitzten von Geist und Leben. Zumal Stirnansatz und Schläfen, adelig im Ebenmaß, offenbarten die späte Geistigkeit verfeinerter Rasse. Er kam aus einer begüterten Bankierfamilie in Breslau, früh verwöhnt, denn da er außerordentlich klug war, ebenso begabt für Wissenschaft und Mathematik wie für Musik und bildende Künste, sowohl geschickt mit Sinnen und Händen, wie fähig der kühnsten rationalen Spekulation, so war diesem Glücklichen alles zugeflogen: Erzieher, Bildner, Freunde und Frauen. Mit 17 Jahren schon studierte dies Sonnenkind in Berlin bei Helmholtz Physik und kam dann nach München, um bei Theodor Lipps Psychologie zu treiben. Und hier nun lernte er George kennen um die gleiche Zeit, wie auch wir. Aber weil er anspruchsvoller und durchgeistigter war, so wurde ihm die »kunstgewerbliche Artistik«, darüber ich schalt, zur Lebensnahrung und George fortan die Sonne, um die der heimatlose Irrstern kreiste, obwohl er Anteil hatte an vielen Bereichen, in die George niemals Einblick gewann. Den jungen Perls hat George folgendermaßen charakterisiert:

»Was frommt die Weisheit, dem Bezirk des Wahnes nahe,
Die uns mit grellem Blenden schreckt und überwältigt,
Des Einen unkund, wo sie Bürde wird und Frevel. –
Wie friedenlos du allerbleichster unsrer Brüder
Durchirrst du deine traurigen und weiten Lande,
Wann wirst du müde, neue Felder zu erobern
Und lernest wieder pflanzen, pflegen und dich freuen
An dem was blüht und grünt und reift in dreien Gärten.«

Indessen, so wie er hier geschildert ist, ein friedeloser Sucher, der mit den Abstraktionen der Philosophie und mit den Reihen der Mathematik Fangball spielt, so war Perls nicht immer. Er war ein sentimentaler Mystiker, im Äußern ein Heide, im Innern ein Christ, vor allem ein Geist, der in fünfundzwanzig Lebensjahren mehr von Mensch und Universum gewußt hat, als die Mehrzahl, die über die Erde gehn, in siebenzig und achtzig Jahren davon erfassen können. Aber schon früh begann sein Spiel mit dem Morphium.

Als Perls die Erfahrung machte, durch das Anwenden der Droge Lebenssteigerungen und Offenbarungen zu erleben wie kein anderer des Kreises, da erklärte er übermütig, er gedenke nicht alt zu werden, sondern gleich den Helden des damals vielgelesenen Belgiers Huysman, in wenige Jahre Lebens alle Wahrheiten zusammenzudrängen. Als ich ihn 1895 kennen lernte, war er spannkräftig und flugfähig, aber bis 1898, seinem Todesjahre, wurde dieser Flug ein Abstieg zu fortschreitender Entblößung. Er lebte schließlich nur für den schönen Augenblick, ohne Verantwortung. In den Tagen, wo er Geldmittel hatte, hieß es: »Ich muß sofort nach Paris. Mallarmé ist krank, er darf nicht sterben, ehe wir uns gesprochen haben.« Oder er kaprizierte sich, ein bestimmtes Kunstwerk sehn zu müssen in Madrid, Rom, Neapel, eine bestimmte Landschaft in Flandern oder Holland. Von den Ärzten forderte er: »Halten Sie mich so lange hin, bis der zweite Band von Burkhardts ›Griechischer Kulturgeschichte‹ da ist.« Oder es war ihm Bedürfnis, ein bestimmtes Problem, das ihn beschäftigte, mit Georg Simmel durchzusprechen. »Ich muß nach Berlin. Wenn Simmel und ich einander die Hände reichen, bekommt die Sonne ein Junges.« Für meine literarischen Bemühungen hatte er unendlichen Spott, und der Umgang mit ihm führte dahin, daß ich meine Selbstüberschätzung aufgab und das liebe Ich nicht mehr wichtig nahm, was denn freilich auf lange hinaus zum Darniederliegen aller Schaffensantriebe führte. Denn niemand würde je den Totenberg der Bücher durch noch ein weiteres Buch vermehren, wenn er nicht den frommen Glauben, den Selbstwahn hegte, just er sei das Gefäß der Erwählung und sein Gedicht oder seine Formel seien wichtig.

Gewohnt, jeden Zweifel und jedes Unbehagen durch das Opiat sofort aus dem Wege zu räumen, duldete Richard Perls schließlich nicht die kleinste Unbequemlichkeit, nichts, was den immer schmaleren Fluß seiner Seele störte. Der Widerspruch, ja schon die Antwort zeugten Mißlaune. »Ich will reden, aber antworten Sie nicht, sonst bekomme ich den Kollaps.«

Ich kann die Erinnerungen nicht chronologisch aufschreiben, sondern muß, was sich über drei Jahre hinzog, abgekürzt zusammenrücken.

1896 traf ich ihn in einer Herbstnacht auf dem Marktplatz in Bozen unter den Arkaden, nachdem ich bis dahin ihn nur flüchtig kannte. Er huscht im Mondlicht unter den hohlen Bögen vorüber und als ich ihn ansprechen will, winkt er flüchtig und verschwindet. Er sah verfallen aus, ein Toter auf Urlaub, so daß es grausam schien, ihn zu bemerken. Als ich 1897 ihn in München wiedersah, spritzte er das Opiat ununterbrochen. »Morphin der Alte im leuchtenden Grabe, den ich als Jüngling gesprochen schon habe, hat mich die Wahrheit der Träume gelehrt«, parodierte er und spielte mit der kleinen Spritze, die er als Uhrberlock trug. Er hatte alle nur möglichen Farben auf seines Geistes Palette. Wenn er wollte, so konnte er das simpelste Gespräch in letzte Gesichte und Weistümer überleiten oder das tiefsinnigste stocken machen in Wahnsinn und Witz. Er konnte liebenswürdig verlächerlichen und ehern niederschlagen. Gewachsen war ihm keiner, auch nicht der stärkste von uns, Klages. Aber wenn er alles überflog und alle verspottete, wußte doch keiner, wie elend er war. Plötzlich ergrauten die Augen. Wort und Züge wurden schlaff. Er wankte greisenhaft hinaus und kam nach ein paar Sekunden zurück: lächelnd, feurig, der schöne junge Römer.

Noch einmal wiederholte sich sein Schicksal an einem zart naturseligen, in Hölderlins Hymnenwelt und in Klages Begriffswelt eingespannten jungen Dichter, der eine Zeitlang in München aufgetaucht war, Hugo Eick, aus Bremen gebürtig. Als ich Eick Jahrzehnte später bei mir zu Gaste hatte, war er schon fast geschwunden in das »leuchtende Grab Morphin des Alten«.

Die Blüte in Richard Perls Leben war das Jahr mit George in Frankreich und Flandern. George, jung und unbewußt, trank allen Goldglanz der Erde über Not und Tod hinweg. Perls, uralt, überbewußt, erkannte hinter allem Goldglanz nur der Erde Not und Tod. Der weit erkenntnisärmere Dichter wurde zum Beherrscher des viel reicheren, aber auch viel weicheren Gefährten, der fortan nur lebte, wenn George in München war; sonst verdämmerte er.

In einer Sommernacht bei geöffneten Fenstern, durch die alle Fernen strömten, saßen wir, junge Männer und Frauen, in einem Gartenzimmer beim italienischen Wein, und Perls in grellweißem Oberhemd war unter uns. Er hatte den Rock abgeworfen und die Hemdsärmel abgestreift, um, sobald er schlaff wurde, die nebenliegende Spritze in den Arm stechen zu können. Der Arm war mit Schwären bedeckt, und wenn er die mißbrauchte Haut zusammenzog, floß Blut. Die es sahn, verspürten Ekel und baten ihn aufzuhören, aber er lachte über Sentimentalität und bedrängte uns, doch nur ein einziges Mal die Seligkeit des Morphiums zu verspüren, wozu er denn auch mich beredete, was aber nichts als Übelkeit und Erbrechen zur Folge hatte. Als die Stimmung hochstieg, stülpte er den wallenden Riesenhut einer jungen Malerin aufs Haupt und begann die Pariser Chansonette Judic zu kopieren, unwiderstehlich, tolle Chansons singend, während das Blut abtropfte ins Weinglas. Als wir Abschied nahmen, streckte er sich und begann zu lesen, neugierig schielte ich in das Buch, es waren Abhandlungen aus der Funktionenlehre von Weierstraß, darin arbeitete er, bis der Schlaf kam ... Einige Male wurde der Versuch gemacht, ihn zu retten. Der bekümmerte Vater bemühte Ärzte und Sanatorien; immer lautete die Auskunft: »Der Kranke muß sich verpflichten, einige Jahre in geschlossener Anstalt zu leben.« Aber nach einigen Monaten fand der dem Gift Verfallene Wege zur Flucht. Er reiste hin und her. Er nannte sich »Botaniker meiner Zeit«. Wie alle Morphinisten scheute er keine Lüge, um sich Rauschgift zu schaffen. Einige Monate lang hatte er die Entziehungskur unter Qualen durchgehalten und hatte geschworen, nicht wieder Morphium zu nehmen, als ihm ein leeres Fläschchen in die Hände fiel und der Anblick der Etikette ihn so schmerzlich sehnsüchtig machte, daß er eine Namensunterschrift fälschte, um neues Gift zu bekommen. Hinterdrein verfiel er einem Paroxysmus der Reue. Von morgen ab, von Sonntag, von Montag ab wolle er die Entziehungskur beginnen. Aber Dienstag kommt er bleich verstört, halb sich selber beweinend, halb sich verklagend. Schließlich ließ er sich sinken. Auch die Familie zerwarf sich mit ihm.

Anlaß des Zerwürfnisses war, daß er seine Geliebte heiraten wollte, Marie Schlafhorst, eine Bildhauerin, einige Jahre älter als er, kräftig, energisch, hilfreich, aber ohne zartere Empfindsamkeit, von der er sagte: »Sie hat für mich den Reiz der letzten Blätter im Herbst.« Das sinkende Lebensfeuer schwelte um diese Frau. Ihr brachte er mit Blumen seinen letzten armen Vers:

»Ich gehe heim zum winterlichen Pfad,
Ich soll die Blumen nicht mehr schaun, die süßen
Und wenn einst keimt die holde Frühlingssaat –
Du darfst die lichten Schwestern von mir grüßen.«

Das junge Mädchen bestritt im letzten Lebensjahr die Pflege des Versinkenden mit ihrer Arbeit, versetzte, verkaufte, lieh, so daß nach dem Tode eine große Schuldenlast da war.

Wenn George nach München kam, so merkten es die Epheben an kurzen Reskripten. War er geneigt, Freunde und Freundinnen zu empfangen, dann erschien ein Bote mit dem Kärtchen, auf dem in der steilen Schrift Ort und Stunde der Zusammenkunft bestimmt war. Dann kümmerte man sich um Blumen, schöne Geräte, Musik, schmückte die Gartenzimmer oder Ateliers so heimelig als jeder vermochte. George brachte ein neues Gedicht oder hörte, was die andern inzwischen gedacht und gedichtet hatten. Alle waren arm. George lebte in Frankreich und Italien mit drei oder vier Mark den Tag, und immer sprach sich die Befürchtung herum, er werde in das väterliche Weingeschäft eintreten müssen. Er härmte sich und seine Haare ergrauten schon in der Jugend, aber er war zu stolz, vom selbstgewählten Wege zu weichen und etwa bei anschwellendem Ruhme Angebote der Öffentlichkeit anzunehmen, für eine Zeitschrift einen Beitrag herzugeben oder in reichen Häusern vorzulesen. Nie nahm er von solchen Angeboten Notiz, so große Honorare man ihm auch bot. Dieser ehernen Sittlichkeit dankte er seine Gewalt über reine Herzen.

Richard Perls blühte auf durch jeden Gruß Georges, und da dieser in München weilte, so schickte er mich zu ihm, er möge kommen. Die Aussprache solle sein Leben schließen. Aber der Leib war schrecklich entstellt. Professor Klaußner, ein kalter Chirurg, der kein Leiden scheute, hatte Tränen im Auge, als er den Unrettbaren verließ. George erklärte: »Ich kann das schöne Bild nicht beflecken, ich muß ihn im Gedächtnis bewahren, wie er in Flandern war. Helfen, erretten kann ich nicht, und um nicht in Gefahr zu kommen, aus krankem Gefühl seiner Bitte zu weichen, werde ich München sogleich verlassen.« Wäre nun der Gezeichnete stark genug gewesen, dann hätten wir ihm die geladene Waffe gegeben. Aber dies konnte niemand ausführen als die Braut, und die bettelte um jeden Aufschub. Allmählich ging sein Wesen in Irrsinn über, doch blieb der Geist bis zuletzt geschmeidig. Ich haßte Georges Härte und begriff sie doch, als ich Perls das letzte Mal sah, in einer Wanne voll heißen Wassers, weil schon die Berührung des Hemdes die von Geschwüren bedeckte Haut folterte. Er schrie und wimmerte; kein Wärter hielt stand; ein junger Freund, der ihn freiwillig pflegte, verfiel dem Irrsinn. In die schreckliche Bilderflucht mischten sich religiöse Vorstellungen, dazwischen in lichten Augenblicken Selbstspott. Er schrie: »Ich bin ein gekreuzigter Römer« (so hatte George ihn genannt), und selbstspottend: »Markus Portius Perls«. Und dann: »Nein, Christus, der war auch ein Jude.« Er bekam Morphium im Übermaß, aber es war furchtbar, wie zäh der schöne Leib widerstand, bis der gute Tod kam.

Wenn ich hier einige Erinnerungen aus späteren Jahren einfüge an den merkwürdigen Mann, der als eine Art Gegenkönig dem Georgekreise gegenübertrat, – teils auf die hochgriechische Überlieferung (Pindar, Aeschylos), teils auf den germanischen Norden, zumal auf Algernon Swinburne, ähnlich sich stützend, wie George sich stützte auf Parnassiens und Symbolisten Frankreichs – dann geschieht es, weil die wenigen Male, wo seine Spuren meinen Weg kreuzten (er war mit einer mir verwandten Frau verbunden) mein Nachdenken erregten, wie wenn ein ungeheurer Meteor am Horizonte aufblitzt.

Rudolf Borchardt entstammte einer Berliner Judenfamilie, deren Lebenshaltung nicht unähnlich war der zerklüfteten Talmikultur meines eignen Elternhauses. Aus dieser für die dichterische Natur allerungünstigsten Umwelt entwuchs ein Knabe, dessen wohl von keinem zweiten Zeitgenossen erreichte sprachlich-dichterische Begnadung nur von einer einzigen verhängnisvollen Eigenschaft überboten wurde: Dem männischen Willen zu geistiger Usurpatur. Aus diesem heroisch gespannten Wollen aber brach eine Erhabenheit der Kunst und des Könnens, die je nach Gunst oder Abgunst als die höchste Glorie unsrer gegenwärtigen Kultur oder als ihr fragwürdigstes Hochstaplertum gedeutet werden konnte, sicherlich aber das würdigste Phänomen ist zum Nachdenken für einen Psychologen. Denn für diesen körperlich unscheinbaren, aber straff gereckten, immer ritterlichen, immer männlichen, immer heldisch gerichteten Mann gab es nichts Alltägliches, Nüchternes, sondern was die Zauberhand anpackte, das ward zu Gold, und aus den geringsten, ja läppischen Begegnungen der Wirklichkeit filterte die übersteigernde Phantasie solche Geistigkeit, daß man nie wissen konnte, ob er beichtete oder verbog. Eine solche Vorherrschaft des Willens rückte ihn aus dem Reigen der Dichter an die Seite der Tatmenschen, machtwilliger Eroberer, Staatsmänner, Politikanden, napoleonisch größer nicht minder wie jener, die, gleich dem brülldeutschen Schwarm der Gegenwart, sich und die Masse zum Taumel erhitzen an den Ideologien von Nation und Vaterland, an Blutvergottung und Rassenwahn. Aber auch den Propheten glich er, den Fanatikern und Ketzerrichtern, die, gleich dem ihm wesensverwandten Karl Kraus, vom Wortgeist und Sprachrausch her schöpferisch werden. – Ich kannte bei Borchardt auch Züge, die im Licht des gemeinen Menschenverstands einfach als Prahlhanserei, Aufschneiderei, ja als Schlimmeres zu betrachten wären und dennoch zusammenhängen mit Grundwurzeln der dichterischen Seele, deren erhabene Bildkräfte überwuchert wurden von einem unmenschlich rechthaberischen Willen zur großen Leistung. Denn wie die wahrhaft Gläubigen eines jeden Glaubens stets nach Absurditäten verlangen, an denen die Kraft ihres Glaubens sich bewähren kann (zu dem Nichtabsurden, schon dem schlichten Verstande Klaren, bedarf es ja gar nicht der Kräfte des Glaubens), so forderte eine Geistigkeit wie die Rudolf Borchardts stündlich gewaltsame Aufgaben. Schon daß ein jüdischer Mensch, in welchem die formend sprachschöpferische Kraft vieler altgeschulter Gehirne zu einem nicht mehr überbietbaren Formungsvermögen sich aufgipfelte, schon daß ein »Jude« sich zum Lebensziel setzt, das Standbild der deutschen Art, der Träger des reinsten Deutschtums zu sein, erklärt sich nur aus diesem Bedürfnis nach Erprobung und aus dem menschlichen Wahn, just das für uns Schwere auch für groß zu halten. Er muß sich aufwerfen, auftrumpfen, so daß inmitten der Freude an seiner Schönheit der willig Genießende doch zugleich einen Rippenstoß empfängt: »Merkst du auch, Zeitgenosse, was ich für ein Kerl bin?« Ich hörte gegen Ende des Weltkrieges aus Borchardts Mund das Wort: »Dieser Krieg war nötig, um zu beweisen, daß ich kein Feigling bin«, wohl das naivste Frevelwort, das ich gehört habe. Aber dieser Mann hat mich nachdenklich gemacht über den Zusammenhang von Lüge und Leben und hat mir die herzmarternde Angst hinterlassen, daß hinter jeglicher Gestaltung, nicht etwa nur hinter dem durch und durch aus Wunscheinblendungen und Illusionen gewobenen Mythos der »Weltgeschichte«, ja daß auch schon hinter jeder Personalgeschichte und selbst hinter der Biographie, die wie diese hier nach schlichter Redlichkeit strebt, schon die lebenerhaltende, lebenverklärende Macht vorbewußter und subtiler Lüge brennt. Wahrheit hat das Einmaleins. Wirklichkeit wird gedichtet und nur eines ist entscheidend: War das erlebt? Als Rudolf Borchardt auf meiner Stube übernachtete, schloß ich Schrank und Schubladen ab und sagte: »Damit Sie mich nicht ausrauben und verschwinden«; wir lachten und doch war mir nicht ganz unernst dabei, denn dies war das Merkwürdige: selbst die böse Tat hätte meine Ehrfurcht vor dem Genius nicht zu mindern vermocht und während ich beispielsweise eine durchaus anstands- und ehrverhaftete Welt wie die Thomas Manns als kernverlogen, defekt, ja schäbig empfinde, könnte die Borchardtwelt trotz ihrer Lüge mich nicht irre machen an ihrer Wahrheit und trotz Verbrechen und Schuld nicht meinen Glauben auslöschen, daß die Größe dieses Mannes weit weniger dichterisch als ethisch heroische Größe ist. Da ich diese schwierigen Gedankengänge hier nicht weiter verfolgen darf, so beschließe ich sie mit einigen auf Rudolf Borchardt bezüglichen Sätzen aus meinem Hauptwerk: »Der Untergang der Erde am Geist«, zumal ich meine Bedenken auch heute nicht besser zu formulieren wüßte als es mit diesen Sätzen geschah:

»Eine bange Frage der Menschenzukunft taucht vor uns auf. Kann vom Geiste her oder richtiger gefragt kann von der Kraft des geisthervortreibenden Wollens her das schöpferische Lebenselement übertroffen, kann es vielleicht gar ersetzt werden? Jedes Werk wie jedes Wort kann einmal unwillkürlich gewachsen, also Lebensausdruck sein, kann aber auch willkürlich hervorgebracht also als Lebensaufdruck verwendet werden. Und diese beiden Möglichkeiten, das schöpferisch-gestaltende und das schaffend-formende Prinzip, können im Menschen als dem Knotenpunkte beider, sich so mannigfach verkreuzen, daß es im einzelnen Falle nicht mehr möglich wäre, zu entscheiden, ob hinter einer viel könnenden Fruchtbarkeit eine schöpferische Natur verborgen liege oder ob der Schaffende ein mehr oder minder starkes zeugendes Element nur benutzt und ausgemünzt habe. Ja, noch ganz andre und viel verwickeltere Möglichkeiten können vorliegen. Das Unbewußte kann den Anstoß geben zu einem mittelbaren Vorgang wissenden Schaffens, ohne selber in diesen Vorgang einzutreten. Oder von der Technik und von der Form her kann das Elementarische gleichsam künstlich aufgeregt werden. Wie aber ein künstliches Parfüm und sei es aus dem Kote der Gasse gefiltert, die natürlichen Düfte der Blumen weit hinter sich lassen kann oder wie die im Tiegel erzeugten Farbenspiele die Farbenspiele der Natur zu übertreffen vermögen, so kann auch das Werk der Kultur eine zweite, offenbar vollkommenere Natur an die Stelle der ursprünglichen setzen. Durchschauen wir nun aber die Erhabenheiten unsrer geistig-sittlichen Ersatzwelt, darin nicht das Schicksal mehr gebietet: »Werde, der Du bist«, sondern der alles saugende Geist vorschreibt: »Ich bin, was ich aus mir mache«, dann stehn wir grauengeschüttelt vor den Abgründen der menschlichen Eitelkeit. Wir fühlen: Auch im herrlichen Kunstwerk atmet jene leise Lüge, welche nicht etwa auf Mangel an Würde oder sittlicher Kraft hindeutet, sondern im Gegenteil: durch Würde und durch Persönlichkeit das Schicksal um seine Tragik betrügend, einen geistigen Kosmos vom Wollen her unangreifbar festigt, aber eben dadurch den Naturuntergrund hochstaplerisch verfärbt, mehr kündigend als zu offenbaren steht.«

Jetzt aber soll ein Ereignis aufdämmern: Eine Erscheinung, von der aus unsre Wege sich spalteten: Klages aufrufend zum Kosmisch-Irrationalen, mich spornend zu Sozialethik und Ratio.

Alfred Schuler war, als er uns begegnete, 1894, ein schon bemooster Student der Archäologie, welcher Wissen sammelte, ohne ein praktisches Ziel, begütert genug, um sich auch Examina schenken zu können. Er war behäbig, gedrungen, beinah feist, was man heute einen »Pykniker« nennt, Geheimniskrämer und etwas dalberig, und sein glattrasierter dicker Cäsarenkopf saß auf einem stämmigen, aber weibischen Unterbau. Er war halb Schweizer, halb Münchner, Schüler der Archäologen Traube und Furtwängler, hatte große Kenntnisse aus spätlateinischer, hellenistischer und byzantinischer Paläographik, sammelte damals fast ausschließlich Symbole, Riten und liturgische Formen, die mit dem Eros zusammenhingen, und es gab nichts Antik-Religiöses, was bei ihm nicht mit dem Eros zusammenhing. Aller Eros aber zerfiel für ihn in zwei Teile: den realen Eros der Nähe; so nannte er alles, woran man sich stößt und was uns daher als Objekt erscheint und bewußt macht, und den idealen Eros der Ferne, womit er das selbe meint, was ich mit dem alten Worte Ahmung bezeichnete. Schulers hedonisch-heidnische, alles »Moralische« verabscheuende Einstellung erklärte sich aus seiner Homoerotik, die weiblich und primitiv, nur von männlicher Stärke fasziniert wurde, von jungen Soldaten und Matrosen, Boxern und Ringern, von muskelfesten Arbeitern im Arbeitskittel und von den starkbrüstigen Bauernbuben im Gebirglerkleid. Ihnen gegenüber fühlte er sich als Spätling aus Klaudier- und Julier-Zeiten, den ein Regiefehler der Natur statt ins flammende neronische, in dies scheinheilige viktorianische Zeitalter geworfen hatte. Er schrieb, von Nietzsche und Bachofen erfüllt, kosmogonische Strophen, von denen er glaubte, daß nur eine Seele sie völlig nachfühlen könne, die Kaiserin Elisabeth von Österreich, die gleich ihm ins falsche Zeitalter geraten, schwer und einsam der Vergangenheit nachdämmerte. Mit großem Aufwand an Zeit und Geld wurde die Dichtung in altertümlicher byzantinischer Schrift in Platten geritzt und jeder Buchstabe mit Gold gefüllt. Diese Weihetafeln sollten der Kaiserin überreicht werden, sie werde daran die verwandte Seele spüren; aber ehe noch das große Werk vollendet war, wurde Elisabeth in Genf ermordet.

Zu der Zeit, wo Alfred Schuler mir bekannt ward, spielten wunderliche und dunkle Schwebungen in den geistigen und menschlichen Bindungen zwischen George, Schuler und Klages. Der ganze Georgekreis schien erschüttert. Drohungen, Prozesse, Racheschwüre, Verfluchungen überstürzten sich, und immer stand alles in Beziehung zu einer weltgeschichtlichen oder kosmischen »Weltwende«. Der eine warf dem andern vor, daß er das leidige Ich, das nur-geschichtliche der Sachlichkeit, der Wahrheit vorziehe, und kaum je wurde gespürt, daß es keine tollere Selbstvergötterung gibt, als des Menschen Wahn, in seiner Person der Anzeiger metaphysischer Mächte zu sein und die einfache Not und Forderung der Tage überfliegen zu können.

Während eines Winters und Frühlings waren Schuler wie ich fast die einzigen Gäste im Kloster Schäftlarn im Isartal. Zeitweise teilte unsre Einsamkeit die Gräfin Franziska Reventlow, die allerlei Aufgefangenes zu einer Satire auf die Schwabinger Mysterien verwendete, sowie Adolphe Appia, in seiner Lebensstimmung Schuler wesensverwandt, aber geschliffener und klarer, wenn auch unbegabter. Schuler, redselig, bis zur Geschwätzigkeit, erschloß sich uns auf den winterlichen Wegen und am Wirtshaustisch, doch wäre zu jener Zeit, wo er zeitweise auch mit Klages entfremdet war, es mir nie eingefallen, in ihm etwas anderes zu sehn als eine kauzige Mischung von Scharlatan und Genie, von Prahlhans und Schwärmer. Er lebte zusammen mit einer ihn betreuenden alten Dame, nicht minder kauzig als er. Das alte eulengesichtige Fräulein, wenn ich nicht irre, seine Mutterschwester, hatte unter dem Namen Johanna von der Nahmer ein wunderliches Buch, betitelt »Hetärenbriefe« erscheinen lassen. Beide lebten in einer antikischen Traumwelt. Der dritte im Bunde war Peter, ein schwarzer Kater, der aber kein gemeines Katzentier war, sondern die hieratische Wiedergeburt eines Gottes, wie denn alles was die drei begannen und was sie betraf, mit erstaunlichem Nimbus umgeben ward und Zeit und Raum überspringend, in die vorgeschichtliche Ferne wies, wenn nicht gar auf ein schlechthin metaphysisches Geheimnis. Schuler hatte sich angewöhnt, so sehr in symbolischer Gedankenwelt zu atmen, daß schlechthin alles, nicht zum wenigsten sein Essen und Trinken, schließlich aber sogar seine Verdauung und sein Schlaf symbolisch gedeutet wurde. So entsinne ich, wie er eines Abends alle Gerichte der Speisekarte zu siderischen und chtonischen Geheimnissen in Beziehung brachte, über den Sinn des Lauches, der Radieschen und des Schinken Tiefsinniges offenbarend und wie er ein ander Mal uns einen Vortrag hielt über den Sinn des jungfräulichen Hymen als der Versinnlichung des an die Lust geketteten Willens zu Leiden und Tod. Auch Peter wurde symbolisch gedeutet, er war der wiedereingekörperte Anubis, und als er eines Tages entlief, wurden Gendarmerie, Feuerwehr und Turnerschaft von Schäftlarn und Ebenhausen alarmiert und weithin die Wälder und Felder abgesucht. Von der Fernen- und Blutessenzenlehre, die Schuler vortrug, habe ich erst spät den Zusammenhang begriffen, als sie mir in den Klagesschen Formulierungen aus dessen Schriften neu entgegentrat. Denn was Schuler selber beim abendlichen Bierkrügel oder im Winterwald hervorsprudelte, das erschien mir, der an der Peripherie dieser esoterischen Kreise den nur ungern gesehenen Kritiker spielte, nur als Selbstvergottung der mindestens doch als Selbstrechtfertigung einer merkwürdigen Existenz, von der ich viel zu viele Fragwürdigkeiten unmittelbar vor mir sah, als daß ich das Sachliche hätte unbefangen aufnehmen können, ohne Einmengung von Psychologie und Moral. – Zwei Säulen trugen das metaphysische Weltbild. Zunächst und vor allem gründete sein Religionssymbolismus auf den Schriften Johann Jakob Bachofens, die damals noch fast unbekannt waren. Schuler entnahm ihnen eine unerschöpfliche »Antithetik«, welche immer neu umspielte den ihn selber stark beunruhigenden Gegensatz des Männlichen und Weiblichen, Solarischen und Irdischen. Denn er selber war der klarste Typ der hermaphroditischen Doppelnatur, gleichsam wie eine terzlose Quinte, weder zur Dur- noch zur Mollseite gehörig. Neben Bachofens Schriften aber befruchtete ihn immer neu der damals vergötterte Jakob Burckhardt, dessen Buch über den Kaiser Konstantinos er mit endlosen Umschweifen erläuterte. Wesentlich aber erschien mir für Schuler, daß seine zweifellos echten Inspirationen keineswegs aus Natur und Landschaft, sondern aus Kultur und Geschichte stiegen. Keiner in diesem erstaunlichen Kreise besaß die einfache Verbundenheit der demütigen Geschöpfe, denn sie sahen zwar im Geiste den Gegenpol der Lebensoffenbarung, aber waren doch erschrecklich stolz auf ihren Geist. Sie vergötterten zwar des Lebens okeanisch flutende Unübersehbarkeit, aber hatten sich gesichert hinter Mauern oder Damm, hinter Schloß oder Turm. Und wenn sie den Willen zur Macht haßten, der das Natürliche übermächtigt, so forderten sie eben für diesen Haß Gültigkeit.

So weit die formungslosen Ferngesichte Schulers ins Faßliche übertragbar waren, hatten sie den folgenden Kern.

Die absolute metaphysische Wirklichkeit, hinter dem Schleier Raum-Zeit und hinter der Kausalkette der Geburten, ist wesenseins mit den im Blute bewahrten Bildern. Das heißt mit jenen sich im Stoffe einkörpernden Bildmächten, welche aus Tiefen der Zeit, aus Fernen des Raumes (die beide eines sind), sich andrängen ans Einzelwesen im »Eros der Ferne«. Es verhält sich aber der Raum als das Äußere zu der Zeit als dem Inneren gar nicht anders, als wie überhaupt sich Leib verhält zur Seele, so daß man die Zeit als Seele des Raumes bezeichnen kann. Und wie die Zeit den Raum in sich auftrinkt, so die Seele alles »Stoffliche«. Würde nun aber die Seele, die gleich der Erde das »Grab der Bilder« ist, Zeitalter und irdischen Ort durchbrechen, dann vermöchte sie die in ihr ruhenden Bilder, die Toten, alle zurückzubeschwören, da ja der Toten zeitloses Bild weder entsteht noch vergeht, sondern ewig ist. Schuler nun aber behauptete, daß er und er allein in diesem versachlichten Zeitalter das Wunder der »Sprengung des Grabes« erlebt habe, indem seine Einkörperung »Jetzt und Hier« zersprang, und die von ihm früher gelebte Stufe, nämlich die neronische Cäsarenzeit, deutlich wieder gegenwärtig ward. Alle anderen Fachgenossen, Archäologen, Historiker, Philologen seien auf dem Holzwege, indem sie aus Einzelfunden und Einzelspuren zusammenstückeln, was doch er aus zeitloser Urschau heraus, sich so bewußt machen könne, wie der Seher und wie die Pythia das räumlich Entfernte, das zeitlich Entwesene als unmittelbar daseiend erleiden. So zeigte er sich denn stets bemüht, antike Kultgeräte, Statuen, Spangen, Lämpchen und Werkzeug aus zeitzersprengender Gegenwart heraus zu deuten, fordernd, daß sein archaisches Entdecken unmittelbar wahr sei, im Gegensatz zum bloßen Wissen und Forschen seines Lehrers Furtwängler, von dem er sagte, daß er vom Alten immer das Neueste, vom Neuen immer das Älteste wisse, aber von keinem je was wirklich gewesen sei. Natürlich verwarf Furtwängler, wenn ich mit ihm über Schüler sprach, aufs schärfste die ganze Symbolwissenschaft, wollte auch von Bachofen nur wenig anerkennen. Mit dieser Seherfähigkeit und seinem »Eros der Ferne« begründete Schuler seine Abneigung, sich jemals an wissenschaftlicher Arbeit zu beteiligen, an Ausgrabungen, Museumstudien, Gräberforschung. Ja, er verschmähte auch das Reisen in die Länder seiner Forschung. Nur ein einziges Mal fuhr er, der an den Umkreis Münchens Gebannte, auf wenige Tage nach Rom und behauptete nach der Rückkehr, er habe aus Erberinnern des Blutes mit hellsichtiger Sicherheit die Bauten und Wege des ältesten Rom wiedererinnert und in einem Tempel Weisungen von Pan empfangen. Die Begegnung mit Pan wollte er nicht symbolisch, sondern durchaus wirklich genommen sehn. Zu den Weltreisen, die ich plante, den Büchern, die ich las, den vielen Menschen, an die ich mich fortschenkte, sagte er nur: »Ich bleibe in diesem Stuhle und lasse Zeiten und Räume alle in eines bei mir antreten.«

Es möge hier bemerkt sein, daß ich Erfahrungen wie die mit Schuler, in den späteren Jahren noch von manchen andern Magiern zu berichten hätte. Rudolf Steiner, Franz Hartmann, Max Seiling und andere, die aus dem Lager der Okkulten mir nahe traten, sprachen stets von ihrer Zeit-Raum-Überwindung, von ihrer Fernwirkung und Neueinkörperung. Aber nur in zwei Fällen stieß ich auf eine ähnliche Echtheit des Wirklichen. Das erste Mal geschah es bei einem Mädchen, das in der Hypnose bald das ferne Indien, bald das Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und in einem dritten Zustande das Leben auf einem andern Stern sinnfällig greifbar verwirklichte, in ihren drei Zuständen auch die drei Sprachen der drei Zeiten und Schauplätze sprach: ein ungelöst gebliebenes Rätsel, über welches der Psychologe Flournoy in Genf ein denkwürdiges Buch schrieb (»Des Indes à la Planète Mars«). Das zweite Mal wars, als ich einen Massenmörder begutachtete, der mehr als sechzig Knaben mordete, indem er ihnen die Kehle durchbiß und ihr Fleisch genoß, im Äußern ein harmloser, mannweiblicher Zwittertyp, der doch in den verschlagenen Wolfsaugen die Wirklichkeit trug schrecklicher Nachtmahr- und Wolfslegenden aus Urzeiten.

Die Magie des närrischen Naturspiels Alfred Schüler wirkte gewaltig auf die große spekulative Phantasie von Ludwig Klages, der durch diesen Gefährten zum ersten Mal in die Mythenwelt Johann Jakob Bachofens geführt wurde. Ich dagegen glaubte nicht und zweifelte nicht, sondern erinnerte mich von der Klinik her, daß in vielen Fällen von Vision oder Halluzination, deren subjektive wie metaphysische Realität ja nicht zu bezweifeln ist, eine wenn auch abergläubisch verbogene Religionsmystik herangezogen wurde. Schuler hatte lebenslang Muße. Er war von Zeitgeist und Landesreligion unabhängig. Er hatte riesige Bildungswelten und Wissenschaften zur Verfügung. Er konnte, gleich Klages, unabhängig von Familienbindung, um das eigene Ich den Mantel kosmischer Theorien weben. Und seine Theorie der magischen Blutleuchte lehrte Folgendes: Der mit Fernschau begnadete Erotiker kann, gleich den Zugvögeln, jede Raumferne als Nähe leben, weil er diese Ferne ist.

Und da die Innenseite des Raumes »Zeit« ist, so umspannt die Seele des Sehers mit allen Räumen auch alle Zeiten. Nur die an Raum, Zeit und dinglicher Wirklichkeit Erblindeten leben abgesperrt und stoßen sich wund an Nähe und Aktualität, indes der zeitentrückte Erotiker Helena und Kleopatra im Bette hat, sei's auch nur in Gestalt dieser empirischen Bauernmagd, so wie der Kater Peter ja »nur in der Empirie« dies gräuliche Vieh, metaphysisch aber der wieder eingekörperte Anubis ist.

Für Ludwig Klages, der freilich im Gegensatz zu Schuler immer zugleich auf die Forderung der Stunde und der Zucht blickte, waren die pythischen Sprüche des Zeitentrückten dasselbe, was für Sokrates Delphi, Eidos und Daimonion war. Mir aber war die Erfahrung geläufig, daß wir Menschen, Weiser wie Tor, unsern letzten Tiefsinn, unsern klarsten Scharfblick in den Dienst unsres Wunschglaubens stellen. In jenen Jahren wollte ich eben nichts sein als kritischer Aufklärer. Selbst wenn Schuler der größte aller Seher wirklich gewesen wäre, damals wäre er für mich ein »medizinischer Fall« gewesen. Daß nun aber sein Orakel, ein Wust archaischer Dunkelheit mit hie und da aufblitzenden gewaltig gedrängten Bildern, auf Klages, auf George, auf Wolfskehl anders wirkte als auf mich, das mußte ich mir erklären mit jener Ausnahmestellung, welche Schulers metaphysische Lehre den Dichtern einräumte, im Gegensatz zu aller sonstigen Vulgärmenschheit. Klages, ewig starr in logische Gedankenmasse verpanzert und kaum je natürlich daherkommend, sondern auf Stelzen oder auf Flügeln, hoch zu Roß oder hoch vom Dreifuß, – Klages ersehnte zutiefst das Zerspringen seiner Eiskrusten. Schuler aber, immer gelöst, schwamm in trübe schwelender Feuerlust. Die Überhöhung war klar. Der eine bedurfte des Ersatzes für eine kargende Erotik, der andere der Rechtfertigung für eine ausschweifende. Um sich das zu erhalten, was dem auswertenden Menschen nun doch einmal nötig ist, das reine Gewissen, war keine Metaphysik so wohlgeeignet wie diese, welche die Moral und das gesamte Christentum (einschließlich Buddhismus) als Ausdruck der »schlechten Blutaura« verpönt, aber selbst dem Nero und Kaligula Rechtfertigungen schafft auf der symbolischen Bühne des sublunaren Theaters.

Da der Weg aus der dunklen Unermeßlichkeit des Lebens ins Enge, Helle, Meßbare des wachen Geistes nun einmal der Weg ist, welchen die Natur im Menschen genommen hat und nehmen mußte (ob wir nun Bewußtheit »billigen« oder nicht), so gab und gibt es keinen Dichter und keinen Denker des Menschengeschlechts, dem Schuler und mit ihm Klages nicht einen »Lebensfrevel« schuld gaben, Heraklit beging den Frevel am Leben, indem er vom Feuer sich hinwandte zum Licht. Goethe beging diesen Frevel, indem er den Faust enden läßt in der Erkenntnis, daß es unsres Lebens Sinn sei, das Element des Unermeßlichen einzudämmen und »die zwecklose Kraft sinnloser Elemente« umzuwandeln in Rosengärten für notleidende Menschen. Plato beging den Lebensfrevel, indem er das rein geistige Ideenreich und nicht die Mutter Erde für das wahrhaft Seiende hielt, und Spinoza beging den Frevel, indem er die Liebe zu Gott als eine geistige Liebe schildert. Kurz nach der kosmischen Lebenslehre der beiden Dionysiker wurde jeder Denker verdächtig des Logismus, Semitismus, Judaismus an dem Punkte, wo er anfing, menschlich zu denken.

Ich aber mußte, wie sich in der Folge zeigen wird, schon aus Not und um der Not willen diesen Weg gehen. Dadurch wurde mein ganzes Leben zum beständigen »Auseinandersetzen« mit dem Freunde der Jugend. Ein Ringkampf feindlicher Dioskuren hub an, deren einer zum Geiste hin, deren anderer vom Geiste fort wollte, bei gemeinsamer Erkenntnis der Lebenswunde. Ich bat meinen Stolz, der mich bewahren möge vor dem Klageliede des guten Kämpfers über sich selbst. Denn kein Zustand schien und scheint mir eines Menschen so unwürdig, als des Denkens Weheschrei über das Denken. Wir können ja doch unmöglich dazu Geisteswesen sein, daß wir die Episode Menschheit ausfüllen mit der Trauer über den Verlust des vom Geist noch freien Naturlebens. Stein und Pflanze, Nacht und Erde zu sein, dazu hatten und haben wir alle Ewigkeit. Das Nichtmenschliche bleibt uns ewig unbenommen. Jetzt aber bin ich nun mal ein Mensch. Und so laßt mich versuchen, ein rechter Mensch zu sein. Dazu aber verhilft mir keine kosmische Metaphysik, dazu bedarf es der Werthaltungen und Werte. So geschah es denn bewußt, daß ich vor mein erstes philosophisches Werk »Schopenhauer, Wagner, Nietzsche« das folgende Motto aus Ovid setzte:

»Prisca juvent alios, ego me nunc denique natum
Gratulor. Haec aetas moribus apta meis.
Anderen taugt wohl die Ferne. Ich aber, Kind dieser Tage
Spiegle in Sitte und Art einzig die jetzige Lage.«

Dazu freilich kam auch das Folgende:

Die Betrachtung des personalen Lebens unter metaphysischer Optik führte bei Schüler wie bei Klages zu einer Vergottung des Blutes, die sich (zuerst unbewußt, später ganz bewußt) auch gegen mich kehrte, den Gefährten des Ehemals. Jene Jahre der Jugend, an denen einst Anteil hatte, der nun vergessen werden sollte, gewannen unter dem Gesichtspunkt der Metaphysik eine überpersönliche Bedeutung. Unsre Personen waren nur die Durchgangspunkte oder Schauplätze von »Vitalereignissen im Kosmos«. Was waren nun unsre dichterischen Aufflüge? Abendröte der am Geiste vergletschernden Allnatur. Was für mich nur psychologisch-biographisches Bekennen war: Leiden am schlaflosen Wissen –, bei Schuler, bei Klages war es ein Zustand im Universum, dessen Mittelpunkte ihre Personen gewesen waren. Und diese Sonder- und Ausnahmestellung der Personen wurde folgendermaßen begründet: Weil das Wiedererwecken und Wiedererinnern der herrlicheren, vom Geiste erschlagenen Vorwelt gebunden sein sollte an die Erberinnerungen des Blutes und weil das Blut der »Pelasger«, der urtümlichen Arier, der »unverkümmerten Heiden« versickert, ja vampyrisch aufgetrunken sein sollte in der Wüste des verhaßten Eingottes und Geistgottes aus Juda, so war auch der Klages-Schulerschen Lebenslehre nur der »Nicht-Jude« fähig, jene Lebensmysterien der Vorwelt noch zu erspüren. In diesem Sinne sagte Schuler, wenn ich seinen Orakelsprüchen willig lauschte: »Sie fühlen noch unjüdisch« oder von Klages, dem er damals gram war: »Ich spüre immer neu das Klagessche Judenblut.« Und da ihm, als wiederverkörpertem Neronen ein Punierhaß im Blute leuchtete, die semitischen Phöniker aber dem Moloch huldigten, »der die Kinder zum Opfer fordert«, so war die äußerste Ekelvokabel in Schulers reichem Geheimvokabular das Wort »Molochitisch«, womit gemeint war: alles Lebensunfrohe, Lebensneidische und das Leben Aufzehrende. Vor allem aber Luther und Kant.

Damit wurde auch ich gestempelt, in Jahren, wo mir zwar nicht wehetat, daß ich von nun ab durchaus Gegenpol des Lebensfrohsinns sein sollte, wohl aber, daß einfach vergessen werden sollte, was bis dahin uns heilig gewesen war. Denn mußte durchaus »überwunden« und »abgestoßen« werden, gut, so war es Sternengebot; warum aber mußte das Bild des Knaben getötet werden, der ich gewesen bin? Auch den allwissenden Meisterphilologen kommender Jahrhunderte wird es nie gelingen, an dem gewaltigen Bau, welchen Ludwig Klages als der einzig Dauerhafte dieses Kreises der Nachwelt hinterläßt, je herauszuspüren, woher die Bausteine gebrochen wurden. Die ältesten sind heiß von meinem Blut. Andere sind gebrochen in den verschütteten Schachten Wilhelm Jordans. Ganze Grundrisse gab Theodor Lipps her, das sichere Tragwerk Melchior Palagy. Die Romantiker gaben die Schmuckstücke. Bachofen und Schuler das Gewölbe. Es wurde ein ungeheurer Bau. Aber nie, wenn überhaupt je ein frohes Liebeswort gegönnt ward einem noch Lebenden, ist ein Mitstreber anders erwähnt worden denn »kritisch«. Nur in einem Falle ist das anders. Schüler war kein Mitlebender, Mitstrebender. Schuler hatte keinen Ehrgeiz und verschenkte im Wirtshaus seine Urschauer und Ferngesichte jedem, der darum wissen wollte. Dieser aber ist der einzige aus allen Freunden unsrer Jugend, zu dem Ludwig Klages sich bekennt ...

Alfred Schuler wurde 1921 der Erde zurückgegeben. Aufrecht stehend, in der Gewandung des römischen Patriziers. Verfügungsgemäß auf dem Sarkophage die Inschrift: »ultima lux«.


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