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Die Gymnasialkurse in Berlin

Wieder und wieder hatte sich mir so die Frauenbildung als das zentrale Problem aufgedrängt. Nur erst einmal den geistigen Müßiggang der Frauen aus der Welt schaffen, die Leere an Gedanken und Interessen, die Richtung auf Äußerlichkeiten, die furchtbare Abhängigkeit der Meinungen. Nicht als ob ich die antike Überzeugung geteilt hätte, daß Einsicht sich unmittelbar in Sittlichkeit umsetze – aber es galt doch zunächst einmal die geistigen Motive mehren und einen Stab von Einsichtigen schaffen, um allmählich die Zustände umzubilden. Zu deren Änderung der Männerstaat aus sich heraus nie zu kommen schien.

Aber es schien, als ob er wenigstens anfinge, der Wucht nachzugeben, die immer fühlbarer andrängte. Zwar wurden noch alle Petitionen der verschiedenen Frauenvereine um Zulassung der Frauen zum Studium abschlägig beschieden – soweit es sich um das medizinische Studium handelte, steckten sich dabei die Landtage hinter den Reichstag und dieser hinter jene –, nur Baden stellte sich freundlicher. In Preußen kam man aber 1892 doch auch wenigstens soweit, die Bitte um Zulassung von Mädchen zur Reifeprüfung an Knabenanstalten der Staatsregierung »zur Erwägung« zu überweisen. Diesen kleinen Finger glaubten wir ergreifen zu sollen. So faßten wir den Entschluß, die Realkurse in Gymnasialkurse zu verwandeln, mit dem ausgesprochenen Ziel der deutschen Reifeprüfung. Es war um die gleiche Zeit, wo Frau Kettler (der Verein »Reform«), die unermüdlich für das gleiche Bildungsziel gekämpft hatte, wenn auch aus anderer Richtung herkommend, die Errichtung eines Mädchengymnasiums in Karlsruhe vorbereitete. Im Mai 1893 erließ ich einen Aufruf, in dem die Umwandlung mitgeteilt wurde. Er sprach die Überzeugung aus – die freilich mehr noch eine Hoffnung war –, daß die Behörden allmählich die Einsicht gewonnen hätten, durch Förderung eines sozialen Einflusses, wie er von gründlich gebildeten Frauen ausgehen könne, sowie durch Hebung der Erwerbsfähigkeit der Frauen dem wohlverstandenen Interesse des Staates zu dienen. Bis unsere Kurse die ersten Schülerinnen entlassen würden, sei hoffentlich der Zeitpunkt gekommen, wo diese ihre Studien auf einer deutschen Universität absolvieren könnten.

Während das sechsklassige Reformgymnasium in Karlsruhe teils wegen seiner Angleichung an die schon erprobten Knabenreformgymnasien, teils weil es sich auf das entschiedene Wohlwollen des badischen Landtages stützen konnte, ohne große Widerstände ins Leben trat, waren die Gymnasialkurse zunächst Gegenstand übelwollender und hemmender Kritik. Sie hatten ausgesprochen den Zweck, sich den Bedingungen der Übergangszeit anzupassen, in der das Bedürfnis nach gymnasialer Vorbildung zunächst hauptsächlich bei erwachsenen Mädchen, nicht bei 12-13 jährigen, bestand. Es schien sogar wünschenswert, wenn die Bahnbrecherinnen des Frauenstudiums in Deutschland sich erst in einem Alter für das Studium bestimmten, in dem man mit einiger Sicherheit Richtung und Festigkeit ihres Willens wie ihre geistige Veranlagung einschätzen konnte. Außerdem hatten unsere Erfahrungen und anderseits die erstaunlichen Leistungen junger Mädchen in bezug auf die Ausübung geselliger »Pflichten« gerade in der Zeit zwischen dem 16. oder 17. und 20. Jahre uns gezeigt, daß diese Jahre durchaus geeignet seien, eine konzentrierte, anregende geistige Arbeit mit Erfolg durchzuführen. Die Realkurse hatten erwiesen, daß sich unter diesen Voraussetzungen Methoden finden ließen, die ohne Schädigung des Endziels eine bedeutende Verkürzung der Lernzeit erlaubten. Wir waren uns aber auch bewußt, daß wir mit sehr verschieden vorgebildeten Schülerinnen zu rechnen haben würden und beschlossen von vornherein, die Dauer des Kursus dem anzupassen, d. h. nicht endgültig festzusetzen, sondern die Klassenziele eigentlich von Jahr zu Jahr nach Maßgabe der erlangten Reife für jeden Kursus besonders zu stecken. Kurz, es handelte sich bei uns um einen Versuch aus freier Hand, der die Vorteile und Nachteile eines solchen bot, der aber alle auf feste, »erprobte« Methoden und Ordnungen eingeschworener Geister mit Zweifel und Ablehnung erfüllen mußte.

Dem entsprach denn auch die Aufnahme in der Presse. Nicht nur der »Ulk«, sondern auch sehr ernste Schulmänner verulkten die ganze Idee. Der Stadtschulrat, dem der Plan gleichzeitig mit der Bitte um Weitergewährung der städtischen Schulräume eingereicht wurde, hat sich nach dem Bericht eines Augenzeugen bei der Lektüre des Plans »gebogen vor Lachen«. Die städtische Schuldeputation konnte sich denn auch nachher bei Bewilligung der Räume in der Charlottenschule nicht versagen, auszusprechen, daß der Plan ihres Erachtens in vieler Beziehung zu weit gehe, und gab anheim, eine Einschränkung namentlich im Lateinischen, Griechischen und der Mathematik vorzunehmen. Zum Glück brauchten wir uns dieser vormundschaftlichen Fürsorge nicht zu unterwerfen.

Zwei Umstände wirkten dann erleichternd. Ein Ausschuß, der sich auf Anregung von anderer Seite her in Berlin zur Begründung eines ähnlichen Unternehmens wie das unsere zusammengeschlossen hatte und bedeutende Männer der Wissenschaft zu seinen Mitgliedern zählte, gab seine Pläne zugunsten der unseren auf und wandte uns seine Unterstützung zu. Daß Fachmänner wie Delbrück, Diels, Dilthey, Döring, von Gneist, Harnack, Helmholtz, Paulsen, Pfleiderer, Pierstorff, Waetzoldt, Ziegler u. a. m. weder die abgekürzte Vorbereitung (sie betrug für die nächsten Jahrgänge 3½ bis 4 Jahre) noch unsere Pensen für unmöglich hielten, hatte schließlich doch etwas zu bedeuten. Das zweite war die mir eigentlich aufgezwungene Konzessionierung der Anstalt. Ich glaubte mich mit dem Hinweis auf Victoria-Lyzeum und Letteverein, die beide ohne Konzession Vorbereitungskurse auf staatliche Prüfungen eingerichtet hatten, der Konzessionierung entziehen zu können, und damit der Neues so oft hemmenden Staatsaufsicht, von der ich in dem unerbetenen Gutachten der Berliner Schuldeputation ja schon einen Vorgeschmack bekommen hatte. Aber es half mir nichts; ein Paragraph – wenn ich nicht irre, aus den dreißiger Jahren – trug den Sieg über meine Wünsche davon. Die Konzession wurde erteilt und die Anstalt war nun ein ordnungsmäßig eingereihtes Glied im preußischen Schulbetrieb. Das war für viele, an saubere Etikettierung gewöhnte Gemüter schon eine Beruhigung. Zur tatsächlichen Förderung aber wurde es dadurch, daß wirklich so etwas wie ein Wunder geschah: wir wurden einem Manne unterstellt, der uns völlig vorurteilslos und mit aufrichtiger Teilnahme an dem Experiment entgegenkam: dem Provinzialschulrat Pilger. Er hatte sich freiwillig erboten, uns in sein Ressort zu übernehmen und ließ mir freie Hand, indem er ausdrücklich anerkannte, daß ich nach meinen Erfahrungen imstande sein müsse, zu beurteilen, was gut begabte erwachsene, wollende junge Mädchen in kleinen Klassen unter ausgewählten Lehrern und nach besonderen Methoden zu leisten vermöchten. Die Stunden, in denen er hospitierte, sind unseren Schülerinnen, obwohl er scharf zufaßte, immer Freudenstunden gewesen, weil er feines Verständnis für die so ganz jeder Schablone entfallenden Methoden hatte und selbst die neuen Wege mit ihnen ging.

So ebnete sich der Pfad äußerlich etwas. Es wurde Ende November von den beiden an der Frage der Gymnasialbildung der Mädchen interessierten Kreisen eine feste »Vereinigung zur Veranstaltung von Gymnasialkursen für Frauen (Frauengymnasium)« begründet, die sich Ende Dezember folgenden Vorstand wählte: Heinrich Prinz zu Schönaich-Carolath, Vorsitzender; Professor Dr. Stephan Waetzoldt, stellvertretender Vorsitzender; Redakteur Gustav Dahms, Schriftführer; Hofbuchhändler W. Moeser, Schatzmeister; Beisitzende: Ulrich Henschke, Hedwig Heyl, Luise Jessen, Helene Lange, Anna Schepeler-Lette, Karl Schrader, Friedrich Spielhagen. Ehrenvorsitzender: Georg von Bunsen.

Eine Reihe von Männern und Frauen in hervorragender Lebensstellung traten der Vereinigung bei. Eine kleine regelmäßige Einnahme erwuchs den Kursen durch die Jahresbeiträge; zur Deckung der Kosten reichte sie nicht hin, trotzdem die Leitung auch hier ehrenamtlich geführt wurde. Der Besuch war ja naturgemäß weit geringer als in den Realkursen. Da half denn die mütterliche Fürsorge, die Hedwig Heyl dieser Frauensache wie so mancher anderen zuteil werden ließ. Sie führte uns Frau Wentzel-Heckmann zu, die durch sie für ein Unternehmen interessiert, das ihren sonstigen Wohlfahrtsinteressen ganz fern stand, uns über die nächsten schweren Jahre hinweggeholfen hat, bis die Kurse sich selbst erhalten konnten.

Aber was waren diese äußeren Sorgen gegen die Verantwortung, die mein in dieser Beziehung immer schweres Gemüt belastete! Ich habe einmal irgendwo gelesen, daß der erste Versuch mit Chloroform um ein Haar verhängnisvoll geworden wäre. Nur ein Zufall verhinderte, daß er an einem Kranken vorgenommen wurde, der dann ohne Narkose während der Operation starb – was selbstverständlich auf Kosten des Chloroforms gesetzt worden wäre und seinen Siegeszug verhindert hätte. Was an dieser Geschichte wahr ist, weiß ich nicht, aber sie fiel mir immer wieder ein, wenn ich in unserer Gymnasialklasse, die 13 Schülerinnen zählte, hospitierte. Schon bei der Aufnahmeprüfung hatte ich gemerkt, daß sie – bei einzelnen guten Schülerinnen – als Ganzes unter dem Durchschnitt dessen blieb, was wir in den Realkursen gewohnt waren, was mir in der Regel selbst im Seminar zur Verfügung gestanden hatte. Wie sollten wir mit dieser Klasse den Beweis für unsere Sache liefern? Da erwies es sich denn als ein Glück, daß die sechs Schülerinnen unseres letzten Realkursus, der noch neben der neuen Klasse zu Ende geführt wurde, sich entschlossen, das für die Gymnasialreife nötige Griechisch noch zu erlernen, um sich dann als erster Kursus der Reifeprüfung zu unterziehen. Hier war eine gut begabte und geschulte Klasse, wie wir sie bei unserem Versuch vorausgesetzt hatten; so wurde sie denn mit Freuden als Oberkursus aufgesetzt und mit so viel Griechisch beglückt, als sie irgend haben wollte; Mathematik und Naturwissenschaften, in denen das Ziel des Gymnasiums schon erreicht war, konnten mehr zurücktreten.

Wie groß die organisatorischen Schwierigkeiten waren, darauf sei nur hingedeutet. Wir waren darauf angewiesen, Gymnasiallehrer im Nebenamt zu beschäftigen. Es waren ihnen aber nur vier Stunden nebenamtlicher Beschäftigung behördlicherseits zugestanden. So mußten wir einen sehr großen Lehrkörper von Fachlehrern beschäftigen. Für ihre Auswahl war mir zweierlei maßgebend. Vor allen Dingen: der Glaube an die Sache. Lehrer, die von ähnlichen Überzeugungen erfüllt waren, wie jener Schulrechenlehrer: »Mächen können nich rechnen«, konnte ich nicht brauchen. Nur solche Lehrer konnten die von all ihren Gewohnheiten abweichenden Voraussetzungen erfüllen, die von der Möglichkeit dieser Erfüllung fest überzeugt waren und sie wünschten. Daneben war große Sicherheit im Unterrichten selbstverständliches Erfordernis. Für die Oberklassen nahmen wir nur Lehrer, die in den Prüfungskommissionen ihrer Anstalten saßen, die Ziele und Wege also vollkommen überschauen konnten. Unter diesen Umständen konnte dann Freiheit der Methode zugestanden werden. Es ist z. B. im Griechischen nebeneinander die alte, auf der Grammatik aufbauende Methode und die sofort mit der Lektüre der Anabasis beginnende ausprobiert worden. Das setzte dann wieder voraus, daß derselbe Lehrer mit der Klasse weiterging; besonders in der Mathematik hatte er auf dem von ihm selbst geschaffenen Unterbau auch die Weiterführung zu übernehmen.

Jeder Lehrer aber, welches Verfahren er auch einschlug, hatte, das war ja Voraussetzung, mit selbständiger privater Arbeit zu rechnen; der Reife der Schülerinnen entsprach ja auch ein Unterrichtsverfahren, bei dem nicht eingepaukt, sondern mehr nur geleitet und kontrolliert wurde. Das gab eine ganz andere Einstellung zur Arbeit. Leichtere lateinische Schriftsteller wurden zu Hause gelesen; die Klassen waren klein genug, um es dem Lehrer zu ermöglichen, etwa bei einzelnen sich ergebenden Schwierigkeiten helfend einzugreifen. Ergaben sie sich einmal für eine ganze Klasse und wollte die Zeit nicht reichen, so wurden Stunden eingeschoben – ein individualisierendes Verfahren, das eine stete Verständigung zwischen Leitung und Lehrern erforderte, die sich auch reibungslos vollzog. Ohne den guten Willen und das aufrichtige Interesse unserer Lehrer würde ich den ganzen Plan nicht haben durchführen können. Wie es ihnen gelungen ist, die besondere Art ihrer Aufgabe zu erfassen und die nötige Fühlung mit den Schülerinnen herzustellen, geht aus dem Gutachten hervor, das einzelne von ihnen über den Unterricht im Griechischen, Lateinischen und der Mathematik abgegeben haben. Sie finden sich in der » Geschichte der Gymnasialkurse für Frauen zu Berlin«, die Dr. Gertrud Bäumer auf Grund des aktenmäßigen Materials verfaßt hat. (Berlin, W. Moeser, Buchdruckerei, 1906.)

Ich selbst habe keine Stunden in den Gymnasialkursen übernommen. Ich glaubte jeden formalen Grund zu etwaigen Schwierigkeiten vermeiden zu sollen. Auch den mir so lieben deutschen Unterricht übernahm ich daher, als nicht akademisch gebildet, offiziell nicht. Da sich aber doch bei den meisten Kursen herausstellte, daß gerade hier die akademische Bildung, zumal bei jüngeren Lehrern, nicht unbedingt alles bedeutete und ein Bedürfnis nach einer Ergänzung bestand, die auch unserer besonderen Auffassung von Leben und Bildung Rechnung trug, so bürgerte sich der Brauch ein, daß ich mit den Schülerinnen noch etwas philosophische Propädeutik trieb; auch Aufsatzübungen kamen wohl dazu. Natürlich hatte ich auch bei der Konzessionierung der Kurse angeboten, die wissenschaftliche Leitung in die Hände eines Akademikers zu legen; ich war sehr froh, daß man darauf nicht einging und mir in bezug auf die Leitung keinerlei Schwierigkeiten machte. Denn das stand mir ganz fest: eine zünftige Leitung würde viel mehr Hindernisse gefunden und sie schlechter überwunden haben als die von entschiedenem Erfolgwillen und hoffnungsfrohem Optimismus erfüllte unzünftige.

Diesen Optimismus schöpfte meine an sich schwere Natur aus dem Verkehr mit den jungen Mädchen und dem Zuhören in den Stunden. Es war ein bemerkenswerter Unterschied zwischen der Arbeit im Seminar und der in den Kursen. Wenn dort der Schwerpunkt im Stoff lag und das Einpauken schließlich doch nur bis zu einem gewissen Grade vermieden werden konnte, so war hier geistige Betätigung das Wesentliche, der Stoff nur Mittel und Nebenzweck. Das gab eine ganz andere Einstellung, eine ungleich größere geistige Frische, die körperliche Rückwirkung übte. Wir haben im ganzen einen recht günstigen Gesundheitsstand gehabt; in Betracht zu ziehen ist zwar dabei, daß solche, die körperlich oder geistig der Sache nicht gewachsen waren, das in den Kursen weit eher merkten als im Seminar und den Versuch aufgaben. Die aber mitkamen, haben durchweg große Freude an der Arbeit gehabt, ließen sich auch durch die unsichere Lage, durch das immer wieder in irgendeiner unfreundlichen Zeitungsnotiz zum Ausdruck kommende ablehnende Verhalten der Öffentlichkeit und die wenig verlockende Aussicht, vor einer fremden, sicherlich voreingenommenen Kommission ihre Prüfung ablegen zu müssen, nicht stören. Sie werden kaum gemerkt haben, wie tröstlich mir ihr vergnügtes Lachen und ihre nie getrübte Freude an der Arbeit gewesen ist.

So konnten wir Ostern 1896 unsere ersten sechs Schülerinnen zur Prüfung anmelden. Sie wurden dem Königlichen Luisengymnasium in Berlin überwiesen. In einer kleinen Wirtschaft in der Nähe schlugen wir für die – gemeinsamen! – Prüfungstage unser Hauptquartier auf. Hier wurden beim Essen (Störungen der Eßlust konnte ich nicht feststellen) Berichte erstattet, Bemerkungen und Befürchtungen getauscht, letzte kleine Wiederholungen versucht und alle Möglichkeiten der noch kommenden Stunden besprochen. Kleine Mißerfolge wurden nicht tragisch genommen; so war eine der mathematischen Aufgaben nur von wenigen gelöst worden; wir stellten fest, daß sie schon in das Pensum des Realgymnasiums fiel, also hier nicht hätte gegeben werden dürfen. Aber sie vertrauten mit Recht darauf, daß sie sich im Mündlichen schon wieder »heraushauen« würden. – Das Prüfungsergebnis war für die Öffentlichkeit eine große Überraschung. Alle sechs Schülerinnen bestanden mit gutem Erfolg; sie hatten, wie der Kultusminister später im Abgeordnetenhause bemerkte, »reichlich so viel, zum Teil mehr geleistet als unsere jungen Männer«. So war, nachdem inzwischen in zwei Einzelfällen privatim vorbereitete Abiturientinnen (in Düsseldorf und in Sigmaringen) die Prüfung abgelegt hatten, zum erstenmal von einer größeren Anzahl Frauen, die in einer eigens für sie errichteten Anstalt vorbereitet waren, die Reifeprüfung bestanden und damit auch für die Methoden Zeugnis abgelegt worden. Der Beweis für die so vielfach bestrittene Fähigkeit der Frauen zu gymnasialer Bildung war damit unter erschwerenden Umständen erbracht.

Es war doch ein Aufatmen, als diese erste Stufe erreicht war. Vgl. »Unsere ersten Abiturientinnen«. Monatsschrift »Die Frau«, 3. Jahrgang, S. 449. Die Namen unserer Ersten waren: Johanna Hutzelmann, Else und Margarete von der Leyen, Ethel Blume, Irma Klausner, Katharina Ziegler. Die Presse stellte sich mit der ihr eigenen Fähigkeit zu Bekehrungen nach Erfolgen um; kaum wollte es noch jemand »gewesen sein«. Die Abiturienten eines Knabengymnasiums begrüßten die Kolleginnen als » mulae«; die Göttinger Studentenschaft sandte ihnen einen Glückwunsch. Niemand hätte wohl damals gedacht, daß noch zwölf Jahre ins Land gehen würden, bis Preußen sich zu dem Entschluß durchrang, das weltstürzende Experiment einer ordnungsmäßigen Zulassung weiblicher Abiturienten zu seinen Hochschulen zu wagen. Eine der vielen Illustrationen zu der Allmacht des konservativen Geistes im alten Preußen.

Wenn man unter dem Licht der Geschichte die unendliche Kleinheit des Schrittes betrachtet, der mit so viel Mühe und Aufwand geistiger Energien getan war, so ist der Gedanke tröstlich, daß die Anspannung und Auswirkung geistiger Kräfte an sich Leben und Glück ist und daß nur Kraftanspannung auch wieder Kräfte löst und geistigem Dienst gewinnt. Und das ist schließlich bedeutsamer als eine staatliche Reifeprüfung. Das eben haben aber diese Jahre für viele gebracht. In wie manches Mädchenleben haben mich Briefe und mündliche Rücksprache hineinsehen lassen, das abgeschlossen im Familienschoß unbefriedigt verdämmerte, des Augenblicks wartend, wo »was käme und es mitnähme«. Und mit welchem Erfolg setzte so ein junger Geist sich ein, wenn der Weckruf irgendwie in seine Umzäunung hineinklang, wenn er zum Bewußtsein der Kraft und der Verpflichtung erwacht war. Ich will aus der Fülle einen Fall herausgreifen. Da ist die Tochter eines ostfriesischen Landarztes, eine von vier Schwestern, in behaglich üppigem ländlichen Dasein aufwachsend, dem verwitweten Vater nur nötig wie etwa die Töchter Karls des Großen diesem: zur Freude und Auffrischung. Als Surrogate, die ein ausgefülltes Leben vortäuschen müssen, die üblichen: Malen, Musik, Geselligkeit, Reisen, etwas überflüssige Handarbeit. Die Unrast verkümmernder seelischer Kräfte macht sich immer wieder geltend, als Schuld angerechnet und auch wohl empfunden, da man es doch »so gut habe auf der Welt«. Daß eben dies verzweifelte »Guthaben« ohne vorangegangenes Ringen und Schaffen unerträglich ist, wer hatte dafür wohl im verflossenen Jahrhundert bei unseren jungen Mädchen Verständnis gehabt? Da fällt der Blick der zu einer Besorgung nach dem nahen Emden Gekommenen auf das erste Heft der Zeitschrift »Die Frau« im Schaufenster eines Buchladens. Sie holt es sich, und der einführende Aufsatz »Was wir wollen« hat hier einem Menschenleben die Richtung geben dürfen. Das gleiche Heft bringt einen Aufsatz über unsere neugegründeten Gymnasialkurse, und der Entschluß, sie zum Zweck der Vorbereitung auf das medizinische Studium zu besuchen, steht fest. Was war aber an Widerständen zu überwinden, zunächst bei dem eigenen Vater, der später die Vorbereitungsarbeit der Tochter mit reinster Freude und tätiger Teilnahme begleitet hat, vor allem aber bei dem großen Kreise der Verwandten und guten Freunde! Auch wer sich nie um das Tun und Treiben des jungen Mädchens gekümmert hatte, fühlte sich im Augenblick so dringender Gefahr verpflichtet, vor der Extravaganz eines solchen Schrittes, vor allem aber auch vor dem »großen Babel« Berlin zu warnen! Was da an Hindernissen zu nehmen war, daran reicht die Phantasie der jungen Mädchen der Jetztzeit überhaupt nicht mehr heran. Wo sie jetzt gepflasterte Wege gehen, oft in der naiven Überzeugung, daß sie immer gepflastert gewesen seien, mußte damals erst gerodet werden, und von jeder, die den unwegsamen Pfad einschlug, wurde verlangt, daß sie mit Hand anlege, die Verantwortung mit trage, den Nachfolgenden den Weg leichter mache, als er ihr selbst geworden war. Von dieser Verpflichtung ist jede unserer ersten Schülerinnen durchdrungen gewesen und hat sich in der Vorbereitungs- und der Studienzeit danach gehalten. Heute darf Dr. med. Hermine Heusler-Edenhuizen, von der ich soeben erzählt habe, auf eine große, an Erfolgen überreiche Tätigkeit als Ärztin und Operateurin in Berlin zurücksehen, die schöne Aussicht auf weitere Mühe und Arbeit vor sich.

Das war ein Fall von vielen. Zu den Hindernissen, die die Familientraditionen bildeten, traten dann noch allgemein die Hindernisse im Studium selbst. In keinem deutschen Bundesstaat wurden 1896 Frauen zur Immatrikulation oder zu staatlichen Prüfungen zugelassen. Viele – besonders medizinische – Hörsäle blieben ihnen noch verschlossen. Mißtrauen und Feindseligkeit lauerte noch überall. Die Leistungen mußten sie besiegen. Sie lieferten den Stoff zu den Gutachten, die die Regierungen von den Fakultäten einzogen. Stark erschwerend wirkte auch die ziemlich unbegreifliche Tatsache, daß die Universitäten, die den deutschen Studentinnen so ablehnend gegenüberstanden, ziemlich wahllos ungenügend vorgebildete Ausländerinnen zuließen, deren Unwissenheit und mangelhafte Leistungen dann wieder zur Bekämpfung des Frauenstudiums ausgebeutet wurden. Aber allmählich setzte sich doch in der Studentenschaft wie bei einer steigenden Zahl von Dozenten die Überzeugung von dem Berufsernst der Frauen durch. Und daß u. a. zwei Schülerinnen der Kurse, Hermine Edenhuizen und Frieda Busch, an der Universität Bonn ihr Staatsexamen mit der Note »sehr gut« und die Doktorprüfung summa cum laude bestanden und damit, wie ausdrücklich hervorgehoben wurde, eine schon seit Jahren an der Universität nicht mehr erreichte Höhe der Leistungen bekundeten, wog schwer für die Einschätzung des Frauenstudiums.

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Im Jahre der Eröffnung der Gymnasialkurse (1893) hatte ich noch eine weitere Aufgabe zu lösen versucht. Ich hatte die Monatsschrift »Die Frau« begründet. Sie sollte einen Gedanken verwirklichen, der mich schon häufig beschäftigt hatte. Uns fehlte ein Organ, das in anderer Weise in den Dienst unserer Sache gestellt werden konnte als ein Vereinsblatt, das die Frauenbewegung mehr in ihrer kulturellen Bedeutung, in ihrer ganzen Breite und Tiefe vertrat. Die Schwierigkeit bestand aber darin, wie frühere Versuche gezeigt hatten, daß Blätter, die rein auf der Grundlage der Frauenbewegung standen, keinen genügenden Leserkreis hatten und sich buchhändlerisch daher nicht rentierten. So war u. a. die Zeitschrift »Die Frau im gemeinnützigen Leben«, die wertvolle Beiträge brachte, am Eingehen. Es konnte sich daher zunächst nur darum handeln, auf einer Art von Familienblattgrundlage einen weiteren Leserkreis zu gewinnen; das war schließlich auch das beste Mittel, die vorsichtigen, gewissenhaften Väter und Mütter, die wir doch haben mußten, allmählich für unsere Gedanken und neuen Bildungsziele zu gewinnen. Bei meinem Mangel an Fühlung mit Verlegern und meiner Unkenntnis der ganzen technischen Seite einer solchen Zeitschrift hatte ich bisher keinen Weg zur Verwirklichung dieser Pläne gefunden. Da führte mir der Zufall einen gewandten Redakteur zu, der gerade das besaß, was mir mangelte, und der gleichfalls eine Frauenzeitschrift plante. Ich ahnte damals wenig, daß so ziemlich das größte Hindernis für ein aus eigenem Blut zu schaffendes Blatt ein »gewandter Redakteur« ist, der selbstverständlich und ganz berechtigt mit anderen Voraussetzungen an die Durchführung geht, dem ein solches Blatt »Unternehmen« ist. So wurde »Die Frau« auf einer Basis eröffnet, die mir selbst nur zum Teil zusagte; erst als ich noch im Lauf des ersten Jahres das Blatt ganz in eigene Leitung übernahm und die mir fremden Ansätze, die gemacht waren, um ein »breites Publikum« zu gewinnen, beseitigte, konnte es sich allmählich zu dem entwickeln, was es werden sollte. Zunächst noch mit fachlich geschulter männlicher Mitarbeit unter Anpassung an die zuerst gewählte Form und die geistigen Bedürfnisse der deutschen Familie, dann mehr und mehr rein auf Frauenarbeit gestellt, zu einem Organ für die Frauenbewegung sich entwickelnd, das weniger ihrer Vereinsarbeit als ihren inneren Problemen und ihrem geistigen Gehalt dienen sollte. Daß es kein »Unternehmen« wurde, am wenigsten ein »lukratives«, brauche ich kaum zu versichern; die Opferwilligkeit einer Anzahl befreundeter Frauen und das Entgegenkommen des Verlags halfen die bei solchen Blättern immer mißliche finanzielle Seite ordnen, bis sich die Zeitschrift durch ihre Abonnenten selbst deckte.

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So waren die neunziger Jahre von innerlich reich machender Arbeit erfüllt (der Tätigkeit in der Frauenbewegung, die stets nebenher lief, wird noch besonders gedacht werden) – da schien plötzlich die ganze Zukunft mit allem, was mir daran wertvoll sein konnte, in Frage gestellt.

Mein Privatleben ist planmäßig in diesen Aufzeichnungen außer acht gelassen worden. Aber gegen Ende der neunziger Jahre kreuzte es meine Arbeit an der empfindlichsten Stelle: eine in ihrem Ursprung lange rätselhaft gebliebene Augenerkrankung mit schweren körperlichen Begleiterscheinungen nahm mir in tückischem allmählichen Fortschreiten langsam jede Möglichkeit des Lesens, Schreibens und intensiven Arbeitens. Meine Lehrtätigkeit war damit aufgehoben; ich war dankbar, die Leitung der Kurse an den damaligen Direktor der Königlichen Augustaschule, Professor Dr. Wychgram, abgeben zu dürfen, der sich stets warm für unsere Sache eingesetzt hatte. Die Vereinstätigkeit war auf das schwerste gehemmt. Ich fühlte meine ganze geistige Existenz bedroht. Sekretärinnen von der üblichen Art konnten mir nichts nützen; ich brauchte jemand, der mir vorarbeitete, der geistige Dispositionsfähigkeit, umfassende Kenntnisse, die Möglichkeit der Einstellung auf meine besondere Arbeit mitbrachte; jemand, den zu finden ich verzweifeln mußte. In dieser Zeit der schwersten geistigen Not ist Gertrud Bäumer zu mir gekommen. Ich brauche kaum ein Wort weiter hinzuzufügen. Daß wir nun gemeinsam zunächst das »Handbuch der Frauenbewegung« Es erschien 1901 bis 1906 bei W. Moeser, Buchhandlung, Berlin S. 1. Teil: Die Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern. 2. Teil: Frauenbewegung und soziale Frauentätigkeit in Deutschland nach Einzelgebieten. 3. Teil: Der Stand der Frauenbildung in den Kulturländern. 4. Teil: Die deutsche Frau im Beruf. 5. Teil: Die deutsche Frau im Beruf. Praktische Ratschläge zur Berufswahl. aufbauen konnten, daß ich wenigstens meine Vereinstätigkeit fortzusetzen imstande war, daß »Die Frau« nicht Schiffbruch zu leiden hatte, sondern jetzt erst zu dem werden konnte, was mir vorgeschwebt hatte, das alles hat mich in dieser Zeit schweren Leidens immer noch das Glücksgefühl empfinden lassen, das von geistigem Schaffen untrennbar ist. Ja, daß neben mir jetzt die Energie einer jungen, neuen Welterfassung meine Arbeit teilnehmend und verstehend mit förderte, wurde ein geistiger Gewinn, der dem schweren Verzicht fast eines vollen Jahrzehnts auf eigenes eindringendes Weiterstudium in mancher Beziehung fast die Wage gehalten hat. Was aber mehr als alles galt: ich sah die Nachfolge gesichert. Ich wußte, das Werk, an dessen Grundlagen ich mitgeschaffen hatte, war nun sicher, emporzuwachsen, dem Licht entgegen. Was ich persönlich nicht mehr zu sehen hoffen durfte, die Zukunft würde es verwirklichen. Das war eines der intensivsten Erlebnisse, die einem geistig Schaffenden überhaupt beschieden sein können. Es steht hinter allem, was ich aus den späteren Jahren noch zu berichten habe.


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