Friedo Lampe
Von Tür zu Tür
Friedo Lampe

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Das magische Kabinett

Anton, ein junger Kaufmann aus Bremen, fuhr aus dem Schlaf in die Höhe, die Balkontür stand offen, das Meer flimmerte im Mondenschein, still war es im Kaiserhof, nur vom Strande tönte das hohle Rauschen der Wellen herauf. Was war los? Hab' ich nicht eben noch einen dumpfen Schlag gehört? Er mußte auf einmal an den unheimlichen Menschen denken, der seit Tagen die Insel terrorisierte. In immer neuen Gestalten drang er nachts in die Hotelzimmer und schreckte die Gäste und bestahl sie, und immer kam er als ein anderer, so daß man nicht wußte, war das nur eine Person oder eine ganze Bande. Wäre doch erst der berühmte Detektiv aus Berlin da, den man in den nächsten Tagen erwartete, dann bestand doch Hoffnung, daß dies Schreckgespenst endlich gebannt wurde. Der klare, runde Mond spiegelte sich in der großen Scheibe des Kleiderschrankes, der Anton gegenüber an der Wand stand. Aber was war das? Der Mond bewegte sich in dem Spiegel, begann in ihm zu wandern, zu zittern, seine Form zu verändern, die Schranktür knarrte, öffnete sich, öffnete sich weit – und in dem Schrank zwischen Antons Anzügen stand eine dunkle Gestalt, mondbeschienen, ein Mann im Frack, ein Cape über der Schulter, einen Zylinderhut in der Hand, bleich das 74 Gesicht, mit großem hochgezwirbeltem Schnurrbart, diabolischem, spitzem Kinnbärtchen, die Augen starr und stechend auf Anton gerichtet, und der Mann sprang elegant aus dem Schrank, sein Cape flog im Mondenschein, er verbeugte sich und schwang triumphierend den Zylinder: »Voilà!« Anton saß aufrecht starr im Bett, wollte schreien, konnte nicht, wollte die Hand zur Klingelschnur heben, die dicht neben dem Bett hing, aber schon beugte sich der Mann über das Bett, holte eine kleine Schere heraus und schnitt hoch oben die Klingelschnur ab, wie eine Schlange fiel das abgeschnittene Ende in Antons Schoß. »Bitte, bleiben Sie in dieser hübschen Pose, rühren Sie sich nicht – warum sollen wir uns das Leben schwerer machen, als es so schon ist?« sagte der Mann liebenswürdig-kalt mit einer metallharten Stimme und ließ einen kleinen Browning zwischen den Fingern blinken. »Ach, das ist nett, daß Sie bereits alle Ihre bescheidenen Wertsachen auf dem Nachttisch für mich parat gelegt haben – sehen Sie – hokus, pokus, fidibus«, und er strich mit graziösem Schwung Brieftasche, Geldbörse, goldene Uhr und goldene Kette (Anton hatte sie gerade von Onkel Henry geerbt) in den Zylinderhut. »Aber ich vermisse noch die Schlipsnadel mit der großen Perle, die Sie so stolz zu tragen pflegen. Nun, wo ist sie?« – »Weiß ich nicht, sag' ich nicht«, stieß Anton hervor. Oh, ich bin eine Memme, daß ich nicht auf den Balkon 75 hinausspringe und schreie, schreie. »Aber, aber – ist das ein Benehmen? Sieh, da kommt ja schon wieder der kleine Frechdachs aus der Tasche. Ja, was willst du denn, mein Junge?« Der Herr im Frack legte sein Ohr an den Browning. »Pfui, sei doch nicht so ungezogen, so stürmisch. Wissen Sie, was er meinte? Ich will's lieber nicht sagen. Es war zu frech. Also, wo ist die Perle, hm?« – »Sie steckt noch im Schlips, der da überm Stuhl hängt«, brummte Anton, »aber sie ist ja gar nicht echt.« – »Na also, warum dann die Aufregung? Freuen Sie sich, daß Sie das Ding los sind. Talmi-Schmuck, wie unsolide. So, nun muß ich aber machen, daß ich weiterkomme, hab' noch allerlei zu tun hier im Hotel, und die Nachtstunde ist schon weit vorgeschritten. Damit Sie aber fein artig sind und die Gäste nicht durch ungehöriges Lärmen um ihren wohlverdienten Schlaf bringen, so erlauben Sie wohl, daß ich Ihnen diesen kleinen äthergetränkten Wattebausch an die Nase halte, man schläft herrlich danach, aber nun zieren Sie sich doch nicht, so, sehen Sie, nun sind Sie endlich vernünftig, tief atmen, so, so, so . . .«

Am nächsten Morgen stellte es sich heraus, daß der Herr im Frack tatsächlich nicht nur Anton, sondern noch fünf andere Gäste des Kaiserhofes in der Nacht besucht und in launig-grausamer Weise um einige überflüssige Besitztümer erleichtert hatte. Zum Glück traf am Mittag der 76 berühmte Detektiv Herr Boltz aus Berlin, den man erst in den nächsten Tagen erwartet hatte, auf der Insel ein, ein energischer Herr mit stachlicher Bürstenfrisur, dicken Augenbrauen, durchdringendem Blick und knapper Sprechweise. Er stieg im Kaiserhof ab, und gleich bei seiner Ankunft übergab ihm der Portier einen Brief: »Nun lesen Sie das! Nun lesen Sie das!« rief Herr Boltz, wie von der Tarantel gestochen, und gab den Brief den Umstehenden. »Warte, Bursche, dir soll der Humor bald vergehen! Boltz fackelt nicht lange!« In dem Brief war zu lesen: »Gruß und Segen, mein Meister! Endlich ein Mann von Format auf der Insel, ein Mann, vor dem unsereiner Respekt haben kann. Wie langweilig war der Kampf mit diesen schlappen Philisterseelen und Dilettanten. Nun gibt es echte Gegnerschaft, dramatisches Gegeneinander. Zugleich regt mich Ihre werte Person zu einer neuen Maske an. Der Himmel gäbe, daß ich den kurzen Haarschnitt und die dicken Augenbrauenpolster naturgetreu treffe. Leider ist meine Figur etwas zu groß und zu schlank für einen richtigen Boltz, aber was mir an Gestalt abgeht, will ich durch mimischen Ausdruck, durch detektivisches Blitzen der Augen zu ersetzen, ja, zu übertreffen versuchen. Sollten Ihre Bemühungen diesmal nicht von Erfolg gekrönt sein, so trösten Sie sich damit, daß eine Reise an die See doch immer ihre Reize hat. Ja, nutzen Sie die Gelegenheit und mieten Sie sich 77 einen Strandkorb und vergessen Sie im träumerischen Anschaun des Wellenspiels wenigstens für Augenblicke die Existenz Ihres Sie tief bewundernden Proteus.« – »Du gehst mir doch noch ins Netz, mein Proteus«, murmelte Herr Boltz und entfaltete unverzüglich eine fieberhafte Tätigkeit, versammelte einen Trupp Polizisten um sich und gab jedem einzelnen seine Direktiven, sah die Kurliste durch, ließ sich über alle verdächtigen Gestalten der Insel Bericht geben und unterzog alle Personen, die Herr Proteus mit seinem liebenswürdigen Besuch beehrt hatte, es war bereits eine überaus stattliche Anzahl, einem ganz genauen Verhör. Aber die Gestalt des Verwandlungsfähigen wurde dadurch nicht deutlicher, alle Aussagen widersprachen sich. Einmal war er als der gute alte Fürst B., der alljährlich die Insel besuchte, ein andermal als der bekannte Seifenfabrikant aus Chemnitz, der am Strande eine Villa besaß, dann wieder als der joviale, lustige Kurdirektor aufgetreten, und jedesmal hatte er getreulich das Wesen der Betreffenden nachgeahmt. »Wären Sie nicht ein solcher Schlappschwanz gewesen, wir hätten ihn schon«, sagte Herr Boltz zu Anton. »Sitzt da im Bett und rührt sich nicht.« – »Herr Boltz, das nehmen Sie zurück«, rief Anton, »er hatte einen magischen Blick, er hat mich hypnotisiert.« – »Als er zum Stuhl ging, um die Nadel zu holen, wie leicht hätten Sie ihn da von hinten packen 78 können. Keinen Mumm in den Knochen, das ist alles.« – »Wie wissen Sie, daß die Nadel beim Stuhl war?« fragte Anton überrascht. »Kombination, Intuition, mein Lieber«, funkelte Herr Boltz ihn an, »haben Sie mir nicht gesagt, daß die Nadel noch im Schlips steckte? Na, und wo pflegt man den Schlips hinzulegen? Auf den Anzug, der überm Stuhl hängt.«

Verärgert über Herrn Boltzens ruppiges Wesen und nicht recht zufrieden mit sich selber, ging Anton an den Strand und machte eine große Wanderung, um auf andere Gedanken zu kommen. Bald hatte er den belebteren Teil des Strandes mit seinen Burgen, Badenden, Strandkörben, Badekarren und wehenden Flaggen hinter sich, der Strand wurde einsam und leer, breit und weiß, auf der einen Seite das Meer, auf der anderen die Dünen mit dem falben Dünengras; da lagen unberührt die schönen großen Muscheln, die gläsernen Quallen, nur hin und wieder noch traf Anton auf ein Kind, das einen Drachen stramm an der Leine hielt; oh, hier war Frieden, hier konnte man aufatmen und allen Ärger vergessen. Sein Schritt wurde immer munterer und kühner, er begann zu summen, zu singen und schwenkte kämpferisch sein dünnes Pfefferrohrstöckchen, das er immer bei sich trug. Das war das letztemal, daß ich mich so überrumpeln lasse! Man muß Jiu-Jitsu können, ja, gleich wenn ich nach Hause komme, will ich Jiu-Jitsu lernen. Und 79 dann komm mal an, Proteus. Ein Ruck – und du liegst am Boden. Doch allmählich erlahmt auch der kühnste Schwung. Anton kraxelte auf eine hohe Düne, um sich ein wenig auszuruhen. Der Wind ließ immer mehr nach, wurde zu einem sanften Fächeln, es war die Stunde der blauen Nachmittagsstille, warm war der Sand, weiß und zuckrig, und Anton ließ ihn gedankenlos durch die Finger rinnen und schaute dabei auf einen großen Ozeandampfer, der fern am Horizont hinfuhr, der Rumpf schwarz, mit weißem Aufbau, gelben Schornsteinen und einer niedlichen Rauchfahne – hinfuhr in ferne Länder, in den Süden, in die Südsee. Ach, es faßte Anton eine so bittere Wehmut, mitzufahren, fort von allen Inseln, wo es so scheußliche Proteuse gab, und plötzlich fielen ihm Verse ein, richtige Verse, die sich reimten, denn er war nicht nur ein tüchtiger Kaufmann, sondern auch ein heimlicher Dichter:

In der Südsee liegt eine Insel
Im blauen Meer,
Der Strand ist weiß
Und die Bäume
Von glühenden Früchten schwer.

Oh, das muß ich mir aufschreiben. Schnell holte Anton sein Notizbuch heraus. Wie geht das weiter?

Dort gehn die Menschen unschuldig
Sanftbraun und nackt
Und lachen so gut,
Wie mich Heimweh
Nach dieser Insel packt.

80 Anton sagte sich die Verse noch einmal laut und mit klangvoller Stimme vor. Da hörte er dicht neben sich einen Seufzer. Er drehte sich rum und errötete: »Mein Gott, wie peinlich.« In einer Dünenmulde saß ein junges Mädchen, mit hochgezogenen Knien, eine rundliche Blondine in einem weißen Mullkleid, das mit blauen Vergißmeinnicht bestickt war, und neben ihr stand aufgespannt ein roter Sonnenschirm, und das Mädchen sah Anton so freundlich und traurig an aus ihren hellen, grauen Augen. »Ja, auf so einer Insel, da möchte man leben«, sagte das Mädchen. »Haben Sie es auch satt, möchten Sie auch fort?« fragte Anton und setzte sich neben sie. »O so satt«, sagte das Mädchen, »ich möchte endlich meine Ruhe haben. Dies Wanderleben, ich sage Ihnen, bis hierher steht es mir. Und dann die ewige Aufsicht. Vierzehn Tage sind wir nun schon hier, aber glauben Sie mir, dies ist der erste Nachmittag, den ich allein bin. Und auch nur deshalb, weil ich meinem Vater einfach ausgekniffen bin.« – »Warum läßt er Sie denn nicht allein«, fragte Anton. – »Weil er Angst hat, daß ich irgendeine Herrenbekanntschaft mache – er fürchtet, mich zu verlieren, und er braucht mich doch bei seiner Arbeit, ich bin doch sein Hauptclou. Ich kann ihn ja verstehen, aber sehen Sie, andererseits möchte ich doch auch so gerne heiraten. Ich passe ja gar nicht für dies Wanderleben. Ich möchte so gerne einen eigenen 81 Haushalt haben und Kinder kriegen und kochen, ich bin keine Künstlernatur, und ex will mich partout dazu machen.« – »Was sind Sie denn, sind Sie Schauspielerin? Wer ist Ihr Vater?« – »Haben Sie schon mal von Bufferini gehört?« fragte das Mädchen. »Bufferini?« sagte Anton. »Das ist doch der Zauberkünstler, der jetzt im Konversationshaus auftritt.« – »Ja, das ist mein Vater.« – »Ein Zauberkünstler?« rief Anton, »und Bufferini – dann sind Sie wohl gar eine Italienerin?« – »Nein, nein« sagte das Mädchen, »wir heißen in Wirklichkeit Baumann und sind aus Hannover.« – »Und Sie müssen auftreten, mit Ihrem Vater zusammen?« – »Ja, ich helfe ihm, muß ihm die Geräte reichen, alles sauber halten, die Maschinerie bedienen, und dann bin ich doch seine Hauptnummer. Ich bin ein großartiges Medium für ihn. Er hypnotisiert mich, und dann habe ich ganz fabelhafte hellseherische Fähigkeiten. Ich hab's ja zuerst selber nicht geglaubt, daß ich das kann, aber es muß ja wohl wahr sein, alle Leute sagen es.« – »Eine Hellseherin sind Sie?« Anton konnte es gar nicht fassen. »Und dabei sind Sie so einfach und natürlich.« – »Bin ich auch«, sagte Fräulein Baumann, »bitte, glauben Sie nicht, daß etwas Geheimnisvolles und Dämonisches an mir dran ist. Ich bin ein ganz nüchternes, vernünftiges Mädchen, und ich möchte auch nichts anderes sein. Aber nun muß ich machen, daß ich nach Hause komme, um acht 82 beginnt ja schon die Vorstellung. Nein, bitte, begleiten Sie mich nicht, Papa könnte uns zufällig sehen – er würde mir furchtbare Szenen machen, er ist ja so reizbar. Wollen Sie heute abend nicht mal in die Vorstellung kommen? Ja? Oh, das wäre nett!«

Als Anton im Kaiserhof ankam, trat ihm Herr Boltz mit grimmigem Gesicht entgegen. »Wissen Sie, wer in meiner Abwesenheit hier war? Proteus! In meiner Maske, als Hans Boltz. Er hat sich meinen Zimmerschlüssel geben lassen und meine ganzen Papiere durchwühlt und flegelhafte Bemerkungen an den Rand meiner Akten geschrieben. Mein Koffer ist aufgebrochen und mein Geld daraus verschwunden. Ein paar Polizisten, die mich aufsuchen wollten, hat er die irrsinnigsten Befehle erteilt, und sie haben sich wahrhaftig düpieren lassen. Stranddisteln sollen sie für ihn in den Dünen suchen! Man faßt sich an den Kopf.« – »Wer garantiert uns nun dafür, daß Sie wirklich Herr Boltz sind und nicht Herr Proteus«, sagte Anton hinterlistig lächelnd, aber auf einmal wurde ihm ganz sonderbar zumut, verwirrt guckte er sich Herrn Boltz an. »Das werde ich Ihnen bald beweisen, daß ich Boltz bin. Proteus' letzte Stunde hat geschlagen. Hier, lesen Sie.« Herr Boltz blätterte die Kurzeitung auf und wies auf eine Anzeige: »Heute abend erstes Auftreten des weltberühmten Magiers Giacomo Bufferini. Unübertroffener Meister der 83 Zauberei, des Hellsehens und der indischen Geheimkunst. Ausgezeichnet mit der großen Medaille von Mailand. Beginn acht Uhr im kleinen Saal des Konversationshauses.« – »Das ist er«, rief Herr Boltz. – »Unmöglich, das ist ja unmöglich«, sagte Anton. – »Sind Sie hier Detektiv oder ich? Na also! Ich habe sein Bild im Konversationshaus gesehen. Höchst verdächtig. Ich fordere Sie auf, heute abend mit mir zur Vorstellung zu kommen.« – »Das wäre ja schrecklich«, flüsterte Anton. »Schrecklich?« sagte Herr Boltz, »Mann, freuen Sie sich doch – heute abend wird sich alles klären!«

Gegen Abend kam ein stärkerer Wind auf, die verkrüppelten, zähen Bäume, die um den Platz vorm Konversationshaus standen, rauschten, Wolken fuhren über den Himmel und verdeckten für Augenblicke den matt aufglimmenden Vollmond. Auf dem Platz vorm Konversationshaus waren Gerüste für ein Feuerwerk errichtet, das am Abend zu Ehren des Fürsten B., der heute seinen siebzigsten Geburtstag feierte, abgebrannt werden sollte. Lange vor Anfang hatte sich schon eine große Menge versammelt. Herr Boltz und Anton schritten eilig über den Platz ins Konversationshaus. Kaum hatten sie sich auf ihre Stühle gesetzt, den Blick noch einmal über den dichtgefüllten Saal schweifen lassen – es war ein kleiner intimer Raum, weiß und elegant, von duffen Milchglaskugeln erhellt, da erklangen ein 84 paar abgehackte Tanzrhythmen, die Milchglaskugeln erloschen, und Giacomo Bufferini trat vor den roten Samtvorhang, um den ersten Teil des Programms Doktor Faustus' magisches Kabinett einzuleiten. Das Rampenlicht zeigte einen Herrn im Frack mit bleichem Gesicht, langem hochgezwirbeltem Schnurrbart und spitzem, diabolischem Kinnbärtchen, der sich graziös verbeugte, seinen Zylinderhut schwenkte, sein kurzes Cape wehen ließ und mit einer harten, schneidenden Stimme maliziös lächelnd sang:

Ich bin der Doktor Faust,
Vor dem es allen graust,
Aus Blech da mach' ich Gold,
Bin allen Frauen hold,
Dem Teufel hab' ich mich verschrieben,
Nun darf ich alle, alle lieben,
Das Gretchen und die Helena –
Moment, Moment, gleich ist sie da.
Euch alle führ' ich hinters Licht,
Und merkt es nicht, nein, merkt es nicht!

»Verdammt«, flüsterte Anton, »das ist er, das ist der Kerl, der in meinem Zimmer war.« – »Abwarten, wollen ihn erst noch etwas beobachten, um ganz sicher zu gehen«, antwortete Herr Boltz. Der rote Samtvorhang glitt auseinander, Doktor Faust stand in seinem magischen Kabinett. Ein reizend eingerichtetes Zimmer, ein kleiner Salon mit grüner Seidentapete, einem schöngeschwungenen Biedermeiersofa, das blauseiden überzogen war, Marmortischchen, auf denen 85 Glaskästchen, Flaschen, ein Goldfischbehälter, ein Vogelbauer, Vasen und hohe Palmen standen, am Boden schwarzlackierte Truhen, an den Wänden altertümliche Porträts und Musikinstrumente, von der Decke hing ein kleiner Kristalllüster, der den Salon strahlend erhellte. Doktor Faust warf sein Cape auf einen Stuhl und tanzte mit eckigen Bewegungen durch das magische Kabinett und summte: »Ich bin der Doktor Faust, vor dem es allen graust.« Und dann vollführte Doktor Faust, immer tanzend und summend und leise hart auflachend, die tollsten Kunststücke. Er nahm ein Kartenspiel vom Tisch, und die Karten flogen langsam, einzeln, aus seiner Hand an die Wand und blieben dort sitzen, er zerschnitt einen großen Bogen Seidenpapier, den er zusammengefaltet hatte, die kreuz und quer in fiebernder Eile, und es entstanden die wunderbarsten Ornamente, er holte aus seinem Zylinderhut ein kleines rosa Kaninchen, setzte es auf einen Stuhl, deckte ein Tuch darüber, und als er es wieder wegzog, stand eine Palme da – Eier liefen über seine Schulter den Arm hinunter und verwandelten sich in seiner Hand in Küken – roter Wein in einem Glase wurde blau und weiß und grün – die Bilder an den Wänden begannen sich zu bewegen und ihre Plätze zu verändern – eine Lampe auf dem Tisch führte einen kleinen Tanz auf – der Teppich rollte sich auf und zurück – die Deckel der lackierten Truhen 86 sprangen hoch, und Schlangen, Löwenköpfe, Teufelsfratzen schossen heraus. Doktor Faust wurde immer wilder, begeisterter, berauschter, er griff in ein Goldfischglas, aß einen Goldfisch auf, noch einen und noch einen, und dann zog er aus dem Frackhemd, in der Magengegend, einen Fisch nach dem anderen wieder hervor – er schoß mit einer Pistole in die Luft, und ein Schwarm von Tauben flog aus der Mündung und flatterte im Zimmer umher – und dazu spielte immer das Klavier leise, jazzartig, in ruckenden, aufstachelnden Rhythmen. Aber plötzlich blieb Doktor Faust starr und sinnend stehen, und dann rief er mit beschwörenden Armbewegungen: »Jetzt Helena, jetzt Helena, jetzt endlich ist die Stunde da.« Grüner Dunst quoll aus dem Boden, ballte sich immer dicker, undurchdringlicher, das Klavier wirbelte Trommelschläge, von draußen, vom Platz vorm Konversationshaus drang das Geknatter des beginnenden Feuerwerks herein, das Aufjauchzen der Menge, der grüne Dunst verzog sich, das Klavier spielte eine schmelzende Melodie, und an eine Säule gelehnt stand Helena, steinern wie eine Statue, mitten auf der Bühne im strahlenden Licht des Kristallüsters. Doktor Faust nahm seinen Zylinderhut ab und sank in einer vergötternden Geste vor ihr auf die Knie.

Anton gab es einen Stich. Denn trotz der gräßlichen Aufmachung erkannte er sie wohl. Die 87 Arme, die Gute, die Rührende, da mußte sie nun als schöne Helena auftreten, in einem lang fließenden weißen Gewand, um die Hüften einen goldenen Gürtel, und das Gewand floß über ihre Füße und den Sockel, auf dem sie stand, damit sie größer erschien und stattlicher, und auf ihrem Kopf türmte sich eine hohe schwarze Lockenperücke, in die ein silbernes Band geschlungen war und eine lange Locke fiel ihr nach vorn über die Schulter, und ihr Gesicht war weiß geschminkt mit einem knallroten Mund und scharfgezogenen schwarzen Augenbrauen, und sie rührte und regte sich nicht und sah starr lächelnd ins Publikum mit ihren grauen, klaren Augen. Und der Doktor Faust sprang hoch und rief:

Weit kommst du aus dem Reich der Schatten,
Nun sollst du Kunde uns erstatten
Von dem, o schöne Helena,
Was kommen wird, was einst geschah –
Denn alle Zeiten sind dir nah.
Du schwebest in der Ewigkeit,
Durchblickest allen Raum und Zeit!

Und er fixierte sie lange und scharf – fuhr ihr leicht mit der Hand über die Stirn – das Klavier spielte gedämpft in weichen Mollakkorden – da fielen ihr die Augen zu, und sie stand da, schlafend, steinern, in dem magischen Kabinett. Von draußen hörte man den wimmernden Jammerschrei einer Rakete, ihr Aufplatzen in einem sanften Puff, das »Ah« der Zuschauer und das 88 einsetzende Blechgeschmetter einer Marinekapelle. Doktor Faust wandte sich dem Publikum zu: »Nun, meine verehrten Herrschaften, werde ich zu Ihnen hinunterkommen, und die schöne Helena wird wahrheitsgetreu alle meine Fragen, die ich an sie richte, beantworten.« Er stieg über eine kleine Holztreppe ins Publikum und ging durch die Reihen und begann Schlag auf Schlag Fragen zu stellen: »Wie heißt diese Dame? Ist sie verheiratet? Wieviel Kinder hat sie? Wo wohnt sie auf der Insel? – Hier das Taschentuch des Herrn, was für ein Monogramm steht darauf? – Dieser Herr, wie lange gedenkt er noch auf der Insel zu bleiben? – Diese junge Dame, wo war sie heute nachmittag um vier Uhr? – Dieser Herr, wo ist er zu Hause? Was hat er für einen Beruf? – Diese Brieftasche, die ich hier aus der Jacke ziehe, was enthält sie? Dieser Brief, an wen ist er gerichtet? Wird der Herr die Dame heiraten? – Dieser Herr, ist er ein Raucher, und was raucht er? Er ist Witwer? Und seit wann? Hat er wieder Heiratsabsichten? – Dieser Schüler, was will er werden? Mediziner? Und warum? Weil sein Vater Mediziner ist?« – Und so weiter, und so weiter, und mit klarer, ruhiger Stimme, teilnahmslos wie die Wahrheit selbst, sagte die schöne Helena ihre Antworten, und alles stimmte, und die Leute schüttelten die Köpfe vor Staunen, lachten, waren peinlich berührt, flüsterten, summten, das war ja 89 unheimlich, ein Teufelsmädchen, wenn er nur nicht zu mir kommt und was über mich fragt, säßen wir doch etwas weiter hinten im Saal. Auch Anton und Herr Boltz saßen ziemlich weit vorne in der fünften Reihe und direkt neben dem Gang. Und schon stand Doktor Faust neben Herrn Boltz und fragte: »Wie heißt dieser Herr?« – »Er hat viele Namen, deshalb nennt er sich Proteus, aber sein wahrer Name ist Paskin«, sagte die schöne Helena. Proteus? Proteus? ging ein Gemurmel durch das Publikum. »Was für einen Beruf hat der Herr?« – »Er war Schauspieler, aber jetzt ist er Einbrecher«, klang es klar und unerbittlich. Herr Boltz sprang auf, auch Anton. »Nun aber Schluß, das ist ja eine bodenlose Frechheit. Also so wollen Sie das drehen, nee, mein Lieber, so haben wir nicht gewettet. Meine Herrschaften, ich glaube, wir müssen die Vorstellung abbrechen, ich habe ein Wörtchen mit Herrn Bufferini zu reden. Herr Bufferini, folgen Sie mir.« Das Publikum hatte sich von den Stühlen erhoben: »Das ist ja unerhört! Was bedeutet das? Was ist denn los? So eine Flegelei – den Herrn einen Einbrecher zu nennen!« Ein dichter Kreis schloß sich um Herrn Boltz, Anton und Bufferini. Da drängte sich der dicke, gemütliche Kurdirektor zu ihnen durch: »Aber Herr Bufferini – das geht doch ein bißchen zu weit, das ist doch kein Scherz mehr, wie können Sie Herrn Boltz so beleidigen!« Herr Bufferini stand ganz verdattert da und biß sich 90 auf die Lippen, seine hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen zitterten: »Tut mir furchtbar leid, aber sie sagt die Wahrheit, sie kann ja gar nicht anders. Sollte sie sich denn diesmal irren? Das ist noch nie vorgekommen.« – »Die Wahrheit«, lachte Herr Boltz, »nun gut, mein Lieber, wenn Sie denn absolut die Wahrheit hören wollen, so sei es denn! Wär' mir lieber gewesen, wir hätten die Sache in aller Stille abgemacht. Herr Kurdirektor, meine Herrschaften, dieser Mann, der mich durch seine Tochter beschuldigt, der berüchtigte Proteus zu sein, er selber ist dieser Proteus. Ich bin heute hierhergekommen, um ihn zu entlarven, Herr Bufferini hat wohl Wind davon bekommen und möchte mich auf diese Weise unschädlich machen.« Herr Boltz wandte sich an Anton. »Erkennen Sie in Herrn Bufferini den Mann wieder, der in der vorigen Nacht in Ihr Zimmer im Kaiserhof gedrungen ist und Sie bestohlen hat?« Anton guckte zu Boden und nickte bedrückt: »Ja.« – »Na also«, sagte Herr Boltz, »Herr Bufferini, folgen Sie mir sofort zur Polizei. Draußen stehen bereits zwei Polizisten, die Sie mitnehmen werden.« Herr Bufferini begann am ganzen Körper zu fliegen: »Was sagen Sie? Ich ein Einbrecher? Ich dieser Proteus? Ich bin ein ehrlicher Mann, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdient. Aber mit uns Artisten kann man ja alles machen. Uns traut man ja alles zu. Herr Kurdirektor, ich bin nicht der 91 Proteus, glauben Sie mir doch. Oh, es ist eine Gemeinheit. Sie wollen mich diese Nacht in Ihrem Zimmer gesehen haben, junger Mann? Das ist eine Verleumdung, die Ihnen noch teuer zu stehen kommen wird. Geschlafen hab' ich, meine Tochter kann es bezeugen. Hannchen«, wandte er sich zur Bühne, »wo war ich die ganze letzte Nacht?« Die schöne Helena stand noch immer regungslos mit geschlossenen Augen da und sagte leise: »In deinem Bett, Papa.« Und dann begann sie zu wanken und zu schwanken und schlug plötzlich auf den Boden hin wie eine gestürzte Marmorfigur. Eine Welle der Erregung im Publikum. »Meine Tochter, mein Kind«, schrie Doktor Faust und stürzte auf die Bühne. Anton, Herr Boltz, der Kurdirektor und viele Leute ihm nach. »Nun fassen Sie doch mal mit an«, rief Herr Bufferini Anton zu, »anstatt ehrliche Leute um ihren guten Ruf zu bringen, tun Sie lieber was Nützliches.« Und Anton und Herr Bufferini trugen die ohnmächtige schöne Helena zu dem blauen Sofa und betteten sie darauf. »Hannchen, mein Täubchen, was fehlt dir denn, ach, ich hatte dich in der Aufregung ja ganz vergessen.« Herr Bufferini streichelte ihr den Arm und die Backen. »Lassen Sie das, Herr Bufferini, oder richtiger Herr Max Baumann aus Hannover«, sagte Herr Boltz kalt und triumphierend, »es nützt Ihnen nichts mehr, den liebenden Vater zu spielen. Lassen Sie Ihre Tochter jetzt – das ist ja 92 doch nur alles Anstellerei, Ablenkungsmanöver, ich muß sagen, Sie sind gut aufeinander eingespielt – folgen Sie mir endlich.« – »Nein, nein«, stöhnte Herr Bufferini auf, »es ist zu unverschämt! Ich bin schuldlos! Ich bin nicht Proteus, zum Teufel noch mal, ich lasse mich nicht abführen. Ein Glas Wasser für mein Hannchen.« – »Herr Boltz, sind Sie denn auch wirklich so sicher, daß Herr Bufferini identisch mit diesem Proteus ist?« fragte schüchtern der Kurdirektor. »Es kann doch auch sein«, wagte Anton plötzlich zu sagen, Herrn Boltzens unnachsichtliche Härte empörte ihn, »daß Proteus nur die Maske von Herrn Bufferini benutzt hat.« – »Sehr richtig, junger Mann, sehr richtig, Sie scheinen allmählich zur Vernunft zu kommen«, rief Herr Bufferini mit einem leisen Aufzucken von Hoffnung im Gesicht. »Ja«, fuhr Anton fort mit festerer Stimme, »das hat doch sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, denn Proteus hat doch auch andere Rollen gehabt, den Fürsten B., den Herrn Kurdirektor, und da muß er doch ohne Bart gewesen sein, Herr Bufferini aber hat einen Schnurrbart und einen Kinnbart, Herr Boltz, ich verstehe nicht, daß Sie das nicht bedacht haben.« – »Unsinn«, sagte Herr Boltz, »nun faseln Sie doch nicht so törichtes Zeug, das hält uns doch nur auf – Herr Bufferini, Herr Max Baumann aus Hannover, hat keinen Bart.« Und Herr Boltz trat dicht an Herrn Bufferini, an Doktor Faust, 93 an Herrn Max Baumann aus Hannover heran und riß ihm kalt und rücksichtslos die Bärte aus dem Gesicht. »Angeklebt, sind Sie nun überzeugt?« Hilflos und zuckend trat Herrn Baumanns blasses, knochiges Gesicht mit den nervös flackernden Augen hervor. »Nein, nein, jetzt aber Schluß«, rief Herr Boltz, »da nützen alle Gefühlsduseleien nichts. Baumann, kommen Sie!« – »Holla, holla, langsam, langsam«, tönte da eine Stimme aus dem Hintergrund. Aller Augen richteten sich voll Erstaunen auf den Kühnen, der es in diesem Augenblick noch wagte, den großen gefürchteten Boltz in der Ausführung seiner Pflichten zu unterbrechen, oder wohl gar ihm zu widersprechen. Der arme Narr, wie würde der harte Boltz ihn zurechtstauchen, ihm den Kopf waschen!

In der ersten Reihe des Zuschauerraums saß ein Herr, ein freundlicher, korpulenter Fünfziger, mit grauen Schläfen, Glatze, einer Brille auf der Nase, die Hände im Schoß gefaltet, und schaute gemütlich betrachtend zur Bühne hinauf, als sähe er sich ein Schauspiel an. Dann stand er auf und kam langsam auf die Bühne geschritten. Ganz still war es unter den Zuschauern geworden, und alle verfolgten mit Spannung die Dinge, die sich nun entwickeln würden. Mein Gott, was war das für ein interessanter Abend. Diese Proteus-Affäre war ja viel prickelnder als alle Zauberkünste des Herrn Bufferini. »Wissen Sie, mein Lieber«, sagte der fremde Herr, »für Ihre 94 Verwandlungskünste habe ich ja immer durchaus Verständnis und Bewunderung gehabt, für Ihre Menschenquälereien aber nie. Ja, mein lieber Paskin, ich bin nun doch gekommen, obgleich Sie mir telegraphiert haben, daß meine Anwesenheit nicht mehr nötig ist. Ich sehe ja, sie ist nötig. Sie finden den richtigen Proteus doch nicht. Ihr Blick ist zu sehr getrübt. Aber das ist ja verständlich, das ist ja menschlich.« Herr Boltz hatte den korpulenten Herrn angeglotzt wie eine Erscheinung, sein Mund bebte: »Nein, nein, nein . . .« Aber dann lachte er plötzlich höhnisch auf: »Aha, verstehe, ein Komplice von Bufferini – den Dreh kennen wir. Sollte mich nicht wundern, wenn er gleich behauptet, ich sei der Proteus, haha, und er sei Boltz.« – »Paskin, lassen Sie doch die Fisematenten. Nachdem Sie Herrn Bufferini seiner schönen Bärte beraubt haben, gestatten Sie wohl, daß ich nun an Ihnen einige kleine Demaskierungskünste vornehme.« Und der fremde Herr streifte ihm das Bürstenhaar vom Kopf, zog ihm die dicken Augenbrauen ab – es kam das scharfe, brutale Gesicht eines jungen blonden Mannes heraus, der verlegen und tückisch vor sich hinlächelte. »Darf ich Ihnen vorstellen«, sagte der fremde Herr, »Herr Proteus, der Sie so geärgert hat. Ja, Herr Bufferini, Ihr Fräulein Tochter hat ihn ganz richtig erkannt, alle Achtung, sie hat Talent. Paskin ist ein alter Bekannter von mir, ein erstklassiger Verwandlungskünstler, ein 95 ausgezeichneter Schauspieler, aber kein großer Menschenfreund. Ja, Paskin, nun müssen Sie wohl mal wieder mit mir kommen.« Der Herr holte eine Handschelle aus der Tasche und legte sie Paskin um das Handgelenk. Was war denn mit Paskin los? Wo war sein Mut, sein Witz, seine Frechheit? Er war in sich zusammengesackt, den Kopf auf der Brust, und ließ ja alles willenlos mit sich geschehen. Eine traurige Gestalt! Mit den Haaren schien ihm, wie Simson, alle Kraft genommen, ja, wie ein Schauspieler stand er da, der eben noch einen großen König gespielt hat und dem der Direktor nun das Engagement für die nächste Saison aufkündigt. – »Ach, verzeihen Sie, daß ich mich noch nicht vorgestellt habe«, sagte der Herr, »ich bin Boltz. Hier meine Karte. Ja, Paskin hat mir vor langer Zeit einmal Ausweise gestohlen und liebt es seitdem, hin und wieder als Boltz aufzutreten. Ich muß sagen, er macht es nicht übel. Er trifft da genau die populäre Vorstellung, die sich durch schlechte Filme und Groschenromane in den Köpfen festgesetzt hat. Paskin hat mir im Namen der hiesigen Polizei ein Telegramm geschickt, daß mein Kommen nicht mehr vonnöten sei, da man Proteus bereits gefaßt habe. Nun, das Telegramm hat mich nur zu noch größerer Eile angetrieben. Ach, da sind ja schon die beiden Polizisten, die Paskin für Herrn Bufferini herbestellt hatte. Leute, führt Paskin nun zur Polizei, aber aufgepaßt, daß er 96 euch nicht entflutscht. Der Junge ist flink und falsch wie eine Schlange. Herr Bufferini, darf ich Sie noch einen Augenblick sprechen? Verehrte Herrschaften, bitte, gehen Sie nach Hause, ich glaube, für heute ist die Vorstellung aus. Ich nehme an, Sie sind trotzdem alle auf Ihre Kosten gekommen. Guten Abend, guten Abend.« Völlig perplex, sprachlos standen die Leute da, wollten gar nicht weggehen, wollten immer mehr sehen. »Aber nun gehen Sie doch«, sagte Herr Boltz, der wirkliche Boltz, »sehen Sie denn nicht, daß Fräulein Baumann die Ruhe nötig hat?« Und es war etwas so Befehlendes und Drohendes in seiner Stimme, daß sich der Saal nun schnell leerte. Paskin wurde abgeführt, Herr Boltz verschwand mit Herrn Bufferini in einem Nebenraum – und auf einmal stand Anton allein auf der Bühne, dunkel wurde der Zuschauerraum, nur die Bühne erglänzte scharf im Licht des Kristallüsters, und nur sie war noch da, da lag sie noch immer bewußtlos, Fräulein Hannchen Baumann, verkleidet als die schöne Helena, lag auf dem blauen Sofa inmitten des magischen Kabinetts und ringsherum all die Zaubergeräte, die Kästen, Gläser, Kugeln, Pistolen, das Goldfischglas, das Vogelbauer, die Palmen und Musikinstrumente. Und es war auf einmal ganz still. Nur von ferne das Zischen und Knattern vom Feuerwerk und die Klänge der Marinekapelle, an den Fenstern das dumpfe Stoßen des Seewinds.

97 Und Hannchen Baumann schlug plötzlich die Augen auf und sah Anton vor sich stehen: »Was ist denn? Warum liege ich hier? Wie kommen Sie hierher? Mein Gott, was ist denn los? Ist die Vorstellung zu Ende? Der Saal ist ja ganz leer. Wo ist Papa? Träume ich? Sagen Sie, träume ich?« Sie richtete sich auf, setzte sich im Sofa zurecht und ordnete die hohe schwarze Lockenperücke: »Wie kommt es denn, daß ich hier als die schöne Helena sitze?« – »Ach, Fräulein Baumann«, sagte Anton, »Sie sind während der Vorstellung etwas ohnmächtig geworden.« – »Ohnmächtig«, rief Fräulein Baumann, »Gott, wie schrecklich! Ist es sehr aufgefallen? Was hat Papa gesagt? Das ist mir ja noch nie passiert.« –»Nein, nein, es ist gar nicht aufgefallen. Ach, Sie ahnen ja nicht, was sich alles ereignet hat, während Sie – abwesend waren. Nein, nein, Ihr Vater kann stolz auf Sie sein, das hat Herr Boltz auch gesagt, denn Sie haben ja diesen gräsigen Kerl, diesen Paskin, entlarvt.« – »Ich – entlarvt? Paskin? Wer ist das? Ich verstehe nichts.« – »Das erfahren Sie alles später. Ich sage Ihnen, toll war das. Aber nun ist alles geklärt. Nun erholen Sie sich erst mal.« – »In Ohnmacht gefallen mitten in der Vorstellung! Papa,. ich sage ja, daß die Hypnose meine Gesundheit angreift. Ich halte das nicht länger aus.« – »Ja, Fräulein Baumann, Sie müssen hier raus, das ist mir ganz klargeworden, Sie passen ja gar nicht in dies Milieu.« – 98 »Wie soll ich hier denn raus? Ich möchte ja so gern, aber wie soll ich denn?« – »Ich wüßte wohl schon einen Weg«, sagte Anton zögernd, »aber ich weiß nicht – vielleicht lachen Sie mich aus. Sie kennen mich ja kaum, Sie müßten mich natürlich erst noch etwas genauer kennenlernen. Aber meinen Sie nicht, daß Sie mich eines Tages – ich meine nur, daß so ganz in der Ferne die Möglichkeit besteht – komisch, ich hatte vom ersten Augenblick an das Gefühl, Sie wären eine Frau für mich.« Anton blickte sie herzlich und verschämt an mit seinem guten, runden Gesicht. »O Gott«, sagte Fräulein Baumann und saß ganz steif da. Man konnte unter der Schminke nicht sehen, ob sie rot wurde, aber ihre Augen glänzten, und dann liefen ihr die Tränen über die Backen und tropften in ihren Schoß. »Das wollten Sie tun? Wie schön? Mich wollen Sie haben?« Anton setzte sich neben sie und faßte ihre Hand und streichelte sie sacht: »Ich suche ja schon so lange ein Frau, aber Sie sind die erste, die mir gefällt. Sie sollen es gut bei mir haben. Sie kennen meine Verhältnisse ja nicht, aber ich kann gut eine Frau ernähren, ich habe ein Haus geerbt mit einem Garten.« – »Einem Garten«, flüsterte Fräulein Baumann, »mit einer Laube? Nein, nein, es geht nicht, was werden die Leute sagen, wenn Sie die Tochter eines Zauberers heiraten?« – »Pah, die Leute, darum kümmere ich mich auch gerade. Und was wollen Sie denn? Sie sind die 99 Tochter eines Künstlers, eines ausgezeichneten Künstlers, vor dem man nur Respekt haben kann.« – »So, kann man das?« ertönte da die Stimme Herrn Bufferinis, der gerade noch beim Eintreten diese letzten Worte gehört hatte, »freut mich, junger Mann, daß Sie die Meinung über mich geändert haben. Aber was machen Sie hier bei meiner Tochter?« – »O Papa«, sagte Hannchen Baumann, »stell dir vor – aber reg' dich nicht gleich so auf – Herr . . . Herr . . .« – »Wolde«, flüsterte Anton ihr zu, »Anton Wolde.« – »Wie?« fragte Hannchen Baumann. »Anton Wolde«, flüsterte Anton noch einmal. »Ja, Herr Wolde und ich . . .« – »Kennt ihr euch denn?« – »Wir haben uns heute am Strand kennengelernt.« – »Mit diesem Menschen läßt du dich ein, der deinen Vater in den schlimmsten Verdacht bringt?« – »Aber Herr Bufferini«, rief Anton, »das war doch ein Mißverständnis, es tut mir ja so leid, können Sie mir denn nicht vergeben? Wie konnt' ich denn wissen, wenn Herr Paskin so täuschend Ihre Gestalt annimmt, daß . . .« – »Na gut, lassen wir das! Und was ist nun, Hannchen?« – »Ja, Papa, also Herr Wolde und ich . . . wir haben eventuell die Absicht . . . wir möchten uns wohl – natürlich nur, wenn du auch einverstanden bist . . .« Fräulein Baumann bekam einen merkwürdigen kleinen Hustenanfall und konnte nicht weiterreden. »Was denn? Was denn? Müssen denn heute alle an meinen Nerven zerren? Mein Kopf, 100 mein Kopf.« – »Ja, wir möchten uns wohl heiraten.« – »Was? Was? Ich werde wahnsinnig! Auch das noch! Nein, das ist zuviel.« Herr Bufferini sank in einen Sessel und streckte die Beine von sich. »Herr, haben Sie es denn darauf abgesehen, mich zugrunde zu richten? Erst sagen Sie, daß ich dieser Proteus bin, und nun haben Sie die Stirn, mir meine Tochter zu nehmen, und das alles in einer Stunde.« – »Was hat er denn, warum ist er denn so böse auf Sie?« fragte Fräulein Baumann. »Fräulein Baumann, das kann ich Ihnen nicht so schnell erzählen, aber ich bin unschuldig, das weiß Ihr Vater auch ganz genau. Herr Bufferini, lernen Sie mich kennen, dann werden Sie sehen, daß ich ein anständiger Mensch bin. Ich werde Ihre Tochter auf Händen tragen. Begreifen Sie denn immer noch nicht, daß sie nicht für die Bühne geschaffen ist, daß sie dies Leben, diese Hypnose, nicht aushält?« Plötzlich sprang Herr Bufferini auf vom Sessel und stellte sich vor Anton hin und sah ihn sich genau an. Sein blasses Gesicht zuckte, und seine flackrigen Augen blickten verzweifelt: »Wie heißen Sie?« – »Anton Wolde.« – »Wo sind Sie zu Hause?« – »In Bremen.« – »Beruf?« – »Kaufmann, See- und Feuerversicherungen.« – »Und Sie meinen es wirklich gut mit meiner Tochter? Und Hannchen, du hast Vertrauen zu ihm?« – »Ja, Papa.« – »Na, ich muß mir die Sache überlegen. Ich weiß ja schon seit langem, daß du weg von mir 101 willst. Der Augenblick mußte ja kommen. Aber was mach' ich denn ohne schöne Helena? Meine Hauptnummer ist kaputt.« – »Papa, da findest du doch ein anderes Medium. Dora Schneider, zum Beispiel, wollte doch schon lange mit dir zusammen arbeiten. Soll ich morgen mal an sie schreiben?« – »Wollen mal sehen, ich kann jetzt nicht mehr, es ist alles zuviel für mich. Ich muß erst mal schlafen, bin ja so müde, so müde.« – »Armer, guter Papa«, sagte Hannchen Baumann und schmiegte sich an ihn an, »aber kannst du denn nicht verstehen, daß ich auch mal etwas glücklich sein möchte?« – »Sollst du ja auch, sollst du ja auch, mein Kind, es ist ja vielleicht alles richtig so, aber es ist doch so schwer für mich.« Und er begann zu schluchzen und seine Tochter zu umarmen und zu küssen. »Meine Nerven, meine Nerven. Entschuldigt mich, ich kann nicht mehr.« Und er schwankte hinaus.

Und nun standen sie allein einander gegenüber, Hannchen Baumann, die Tochter des Zauberers, die schöne Helena, und Anton Wolde, der Kaufmann aus Bremen, See- und Feuerversicherungen, allein in dem magischen Kabinett, und der Kristallüster funkelte, und draußen knallten, knatterten, zischten und rauschten die Raketen und großen Feuerräder zusammen in einem gewaltigen Schlußeffekt, und Goldregen sprühte in Fontänen und üppigen Garben, und die Menge schrie »Ah« und »Oh«, und die Marinekapelle 102 spielte einen Triumphmarsch. Und Fräulein Baumann sagte: »Wer hätte heute nachmittag, als wir uns in den Dünen trafen, gedacht, daß alles so kommen würde.« – »Ja«, sagte Anton, »und nun stehen wir auf einmal zusammen in dem magischen Kabinett, wie ist das alles komisch.« Und er druckste so herum und guckte sie so sonderbar an und lächelte verschämt, und da nahm sie sein gutes Gesicht in beide Hände und zog es zu sich heran und gab ihm einen herzhaften Kuß. 103

 


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