Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Im Pfarrhaus zu Buch am Ahorn.

Das Dörfchen dieses Namens lag, abgeschieden von der Welt, mit seiner Gemarkung größtenteils eingeschlossen in einem an Buchen und Ahornbäumen reichen Walde.

In den zwei Jahren, die ich dort zubrachte, sah ich kaum andre Fremde, als Wallfahrer, die »vom heiligen Blut« in Walldüren kamen, und Zigeuner, die ebenso plötzlich erschienen, als verschwanden. – Die Wallfahrer zogen betend und singend, mit Kruzifix und Fahnen, durch den ganz evangelischen Ort, ohne sich aufzuhalten. Wenn die Prozession nahe genug ans Dorf kam, eilten die Kinder herbei, stellten sich zu beiden Seiten der Dorfstraße auf, streckten die Hände gegen die Wallfahrer und erhielten von ihnen kleine Stücke eines gelblichen, faden Gebäcks. – Die Zigeuner verweilten einige Tage draußen vor dem Dorfe und schlugen am Waldsaum ein Lager auf; die Weiber und Kinder liefen in die Häuser zu den Bauern, wahrsagten und holten Brot, Speck und Eier, Milch und Butter. Ich ging mit den andern Kindern hinaus an den Wald. Sie lagerten ums Feuer und brieten gerade ihr Lieblingsgericht am Spieße, – fette Igel.

Der große Forst, der das Dorf umgab, hatte abgelegene Stellen, wo, nach Versicherung des Försters, der in dem nahen Ahornhofe einsam wohnte, echte Wildkatzen im Dickicht hausten. Ich selbst sah eines Tages tief im Wald eine riesige Katze sich in einer mächtigen Ahornkrone von Zweig zu Zweige schwingen.

Pfarrer Ganz und seine Frau standen beide im Beginn der 31 dreißige und waren herzgute Leute. Sie hatten keine Kinder und behandelten mich wie ihr eigenes. So kam ich leicht über das Heimweh weg und fühlte mich bald zu Hause.

Einen besseren Erzieher hätte ich nicht haben können, als diesen kleinen, klugen und nie verdrossenen Landpfarrer. Er war ein vergnügter Student gewesen und im Predigerrock kein Kopfhänger geworden; er liebte Kinder und verstand es ausgezeichnet, mich den ganzen Tag zu beschäftigen. Ein großer Kanzelredner war er sicherlich nicht, doch besaßen seine Predigten eine Eigenschaft, die der badische Prälat und Dichter Hebel als die beste bezeichnet, sie waren – kurz. Auch seine Gelahrtheit reichte nicht weit, für mich jedoch weit genug.

Wie bei dem Pfarrer, war ich auch bei der Pfarrerin gut aufgehoben. Sie sorgte für mein leibliches Gedeihen und ihre Mehlspeisen waren köstlich. Fleisch kam nicht täglich auf den Tisch, und ich vermißte es nicht; Mehlspeisen und Obst zog ich dem besten Braten vor.

Mein größtes Leibessen waren ihre zarten Kartoffelklößchen, sie sah mir liebevoll zu, wenn ich sie von dem Teller verschwinden machte, doch konnte sie zuletzt dem Gatten zurufen: »Lieber Ganz, wird es nicht doch des Guten zu viel?« Er aber lachte, weil er besser wußte, was der gesunde Magen eines Knaben zu leisten vermag und wie man ihn bei außergewöhnlichen Zumutungen leicht vor Schaden behütet: er dehnte den Spaziergang nach Tische ein Stündchen länger aus.

Der Unterricht meines Mentors erstreckte sich auf Latein und Französisch, im zweiten Jahr auch auf Griechisch, er lehrte mich Rechnen und Geometrie, Naturlehre, Geschichte und Erdkunde, diese gefiel mir am besten. In den freien Stunden wurde regelmäßig spazieren gegangen, ich spielte in Hof und Garten, las und zeichnete, mit besonderer Vorliebe kolorierte und zeichnete ich auch Landkarten nach Anweisung meines Lehrers. Spielend erwarb ich mir dadurch gute geographische Kenntnisse; ich fertigte sogar geschichtliche Karten der Weltreiche Alexanders des Großen, der Römer und Karls des Großen. Er gab mir aus seiner wohlbestellten Bibliothek 32 Zimmermanns mehrbändige Länder- und Völkerkunde in die Hand, an der ich mich nicht satt lesen konnte.

In der letzten Zeit meines Aufenthaltes ergriff mich eine gefährliche Lesewut. Der Pfarrer bewarb sich um die Pfarrstelle in Unterschüpf, mußte mehrmals verreisen, und ich wurde deshalb weniger überwacht. Ich hatte bisher nur die Fabeln Aesops, Hagedorns munteren Seifensieder und die unverfänglichen Gedichte eines Lichtwer und Gellert kennen gelernt. Die lebhafte Schilderung der greulichen Katzenmusik in Lichtwers lehrsamer Erzählung mit der Nutzanwendung: »Blinder Eifer schadet nur,« versetzte mich in ein krampfhaftes Lachen, aus dem ich den ganzen Abend nicht herauskam. Während des Pfarrers Abwesenheit machte ich mich nunmehr hinter Zschokkes Abällino und seine Novellen, die meine Phantasie mehr als gut erregten, zuletzt ritt ich sogar auf Wielands Hippogryphen ins alte romantische Land, wozu es noch mindestens sechs Jahre Zeit gehabt hätte.

Unsere Spaziergänge richtete der Pfarrer ebenso unterhaltend als nützlich ein. Er lehrte mich alle Sträucher und Bäume des Waldes kennen; wir gruben Pflanzen aus und versetzten sie in den Garten am Pfarrhaus, schrieben ihre botanische Namen auf kleine Schilde und befestigten sie an Stäbe, die wir daneben steckten. – Auch lehrte er mich im Wald ein Spiel, das mir vielen Spaß machte. Ich kletterte an jungen, schlanken Birken bis nahe zum Gipfel hinauf, faßte dann den Stamm mit beiden Händen und ließ die Beine los. Meine Last bog das Bäumchen sachte mit mir zur Erde, ich kam stehend auf den Boden und ließ den Stamm fahren, im Nu schnellte die Birke in die alte gerade Stellung zurück. Das Vergnügen war groß, aber eines Tages nahm das Spiel ein unerwünschtes Ende. Ich war wie immer an dem Bäumchen zum Gipfel hinaufgeklettert, hatte ihn gefaßt und die Beine losgelassen, da entglitt der Stamm meinen Händen, und ich tanzte durch die Luft herab auf den Boden, wo ich weich im Laube niederfiel. Der Pfarrer erschrak, lief herzu, doch hatte ich keinen Schaden genommen. Ich durfte von da an das schöne Spiel nicht wieder üben.

33 Die Leute in den großen Städten halten das Leben auf dem Lande für einförmig und langweilig, es bietet jedoch für Kinder bessere und gesundere Unterhaltung als die Stadt. Zugleich lernen sie eine Menge nützlicher Dinge kennen, die dem Stadtkinde häufig zeitlebens bis zur Lächerlichkeit fremd bleiben. In das hastige, aufregende Treiben der Städte können sie später noch frühe genug eingeführt werden. Ich betrachte es noch heute als ein Glück, daß ich den größten Teil meiner Kindheit auf dem Lande verlebt habe. In jeder Jahreszeit gab es neues zu schauen: im Frühling pflügen und säen, Stecklinge setzen, pfropfen und Bäume schneiden, im Sommer Heu und Getreide ernten, im Herbste zahlreiche Früchte von Feld und Garten einheimsen, im Winter Arbeit genug in Scheune und Stall. In den Weingegenden kommen noch die Freuden des Rebenherbstes dazu; in Buch am Ahorn gab es keine Rebgärten, man kelterte, wenn ich mich recht erinnere, nur Aepfel und Birnen.

Wie stolz war ich, wenn ich im Sommer hochthronend auf dem Erntewagen mit den vorgenannten Kühen in den Pfarrhof einziehen durfte, und welch ein Vergnügen, in der Scheune von hoch oben herabzuspringen in das duftende Heu! – Herrlich war es auch in der Erntezeit nach der Heimkehr vom Felde, wenn ich müde und hungrig mit dem Gesinde das köstliche Roggenbrot und Wurst oder Käse teilen durfte und den säuerlichen Wein dazu kosten. Was ist gegen solchen Genuß das Zuckerbrot des städtischen Konditors? – Das Feinste aber brachte das Schlachtfest im Winter, wenn es würzige Metzelsuppe gab mit zartem Wellfleisch und die Dorfjugend in den Pfarrhof kam, um die Brühe und die leckeren Bissen mitzukosten.

Jedoch nicht immer ruht idyllisches Glück auf den ländlichen Hütten. – An einem Herbstabend war der Pfarrer mit mir nach dem nahen Dorfe Brehmen spazieren gegangen. Die Sonne begann eben unterzusinken, als wir aus dem Walde tretend das Oertchen vor unseren Füßen liegen sahen. Plötzlich schlugen Flammen aus dem Dachgiebel eines der Häuser, und in wenigen Minuten flog das Feuer, vom Winde getrieben, von Haus zu Haus, von Scheune zu Scheune. Heu und Frucht lagen aufgespeichert darin, das gierige 34 Element verzehrte die mühsame Arbeit eines ganzen Jahres; die rote Lohe sprühte hoch gen Himmel Mit Furcht und Grauen sah ich das traurige Schauspiel. Die armen Leute eilten hilflos auf der Brandstätte umher. Gelassener, als es eine städtische Bevölkerung zu tun vermocht hätte, nahmen die Bauern ohne Geschrei und Lärm ihr Unglück hin.

Eilend waren zwei Jahre bei dem Pfarrer dahingegangen, er riet meinem Vater, mich nunmehr auf ein Gymnasium zu bringen. Ungern schied ich von ihm und seiner Gattin. Was mir beide gewesen, habe ich erst als Mann völlig würdigen gelernt. Auf dem Pfarrhaus wurde mir durch Gewöhnung an geregelte Arbeit ein Segen für das ganze Leben mitgegeben. – Ich sollte leider die guten Leute niemals wiedersehen. Der Pfarrer wurde nach Schüpf versetzt, einer weit angenehmeren Pfarrei, als die von Buch am Ahorn, aber er durfte das Glück nicht lange genießen. Die Ruhr, die 1834 im Herbste die Gegend heimsuchte, raffte beide in einer Woche hinweg. 35

 

 


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