Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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3. Ankunft in Bernburg.

Bernburg, die Kapitale des Herzogtums, ist ein an beiden Seiten der Saale wohlgelegenes Städtchen, das zu jener Zeit etwa 7000 Einwohner zählen mochte. Über der Stadt thront malerisch auf einem Felsen das uralte Schloß, die Krone Anhalts. Mit stattlichen Mauern, starken Türmen und einer Mannigfaltigkeit von Gebäuden selbst einem Städtchen gleichend, blickt es hinab auf den Ort und den Strom, welcher, jenen durchschneidend, sich zwischen Rebenhügeln, grünen Wiesen und lieblichen Laubgehölzen hinzieht. Unfern des Schlosses und mit demselben in gleicher Höhe erhebt sich die Kathedrale des Landes, die Schloß- oder Ägidienkirche, welche von einem geräumigen Rasenplatz umgeben ist. Hier liegt in fast ländlicher Einsamkeit die Wohnung des Superintendenten.

Vor diesem Hause fuhr ich am Johanni-Abend des Jahres 1817, auf meinem Gepäcke sitzend, bestäubt und müde in einem einspännigen Leiterwägelchen vor. Die Post, welche jetzt zweimal täglich auf glatter Chaussee in wenigen Stunden von Ballenstedt nach Bernburg hinrollt, ging damals nur zweimal in der Woche, und zwar des Nachts, wo sie denn auf den bösen Wegen so oft umzuschlagen pflegte, daß nur Wagehälse sich dieser Gelegenheit bedienten. Beckedorff hatte daher ein eigenes Fuhrwerk für mich gemietet mit einem besonnenen Kutscher, der auf dem fünf Meilen langen Wege zwar seine richtigen zwölf Stunden unterwegs blieb, mich aber dafür auch mit unzerbrochenen Knochen am Bestimmungsorte abliefern konnte.

Die Herzlichkeit, mit der mich Krummachers empfingen, erfreute mich nicht weniger als die heitere Schönheit des hübsch gelegenen Hauses, denn ich hatte mir unter einer Superintendentenwohnung, nach Art der Dresdner Superintendentur, ein gar gespenstisches Kastell gedacht. Ich ward sogleich in ein freundliches Eckzimmer geführt mit drei hellen Fenstern, die teils nach dem Garten, teils auf die Kirche und den grünen Kirchhof blickten. Hier sollte ich wohnen, und zwar gemeinschaftlich mit zwei wackeren Söhnen des Hauses, dem Primaner Emil und dem Sekundaner Eduard, welcher letztere, kaum ein Jahr älter als ich, mir gleich zum voraus wie ein richtiger Spezialissimus aussah. Der älteste Sohn, der nachmals durch sein eminentes rhetorisches Talent so rühmlich bekannt gewordene Friedrich Wilhelm, studierte damals schon in Jena, der jüngste, mit Namen Julius, obgleich schon Quartaner, gehörte seinen Jahren nach noch so ziemlich in die Kinderstube und logierte bei der Mutter. Außer diesen vier Söhnen zählte die Familie noch zwei Töchter, die ältere, Marie, ein liebliches, auffallend hübsches Mädchen von achtzehn Jahren, und das kleine Julchen, das noch in die Ferkelschule lief und weitere Ansprüche auf Beachtung nicht erhob; indessen half es dasein, und wenn es fehlte, gab's eine Lücke am Familientisch.

Eine Bowle Maitrank, kunstvoll von Mariens Hand bereitet, dazu Gesang und muntere Reden, ließ mich den neuen Hausgenossen schnell bekannt werden. An so fröhlichem Tische glaubte ich noch nicht gesessen, mit liebenswerteren Menschen nie verkehrt zu haben. Arm in Arm mit Eduard und Emil schwelgte ich um zehn Uhr abends die Treppe hinauf nach unserem Zimmer und ging fröhlich schlafen, als ein zufriedener Junge.

Die Hausgenossen

In den weitesten Kreisen, wenigstens soweit die deutsche Zunge reicht, und auch wohl weiter, hatte der Name Krummacher den besten Klang. Der Verfasser der »Parabeln«, des »Sonntags«, des »Festbüchleins«, des »Neujahrsfestes«, der »Paragraphen« und anderer Schriften war in deutschen Landen als Schriftsteller sehr allgemein bekannt und hochgefeiert; wie liebenswürdig er aber als Mensch war, das wußten nur die Hausgenossen und nächsten Freunde, und hierin unterschied er sich sehr wesentlich von vielen anderen berühmten Männern. Am Hof und in der Gesellschaft, die er notgedrungen ab und zu besuchte, galt er für einen würdigen und feinen Mann, doch mußte man ihn des Abends in seiner weißen Pikeejacke und mit der Pfeife bei Weib und Kindern sehen, um den Dichter, ja weit mehr in ihm zu finden, als man auch nach seinen besten Schriften erwarten konnte.

Des Morgens stand er sehr früh auf und war den Tag über tätig in seinem amtlichen Beruf als Landesbischof oder in seinem natürlichen als Dichter; von acht Uhr abends aber bis zur Schlafenszeit lebte er ganz regelmäßig und ausschließlich der Familie. Da saß er zu Häupten der Tafel mit der vollen Würde des Hausvaters, aber auch mit jener freundlichen Hingebung, die das Vertrauen der Kinder weckt, hörte mit Interesse an, was sie ihm mitzuteilen hatten, und war unerschöpflich in Darreichung der reichsten Gaben aus den Schatzkammern seines Kopfes und Herzens. Fehlte es einmal an Anregung zur Unterhaltung, so las er einen Abschnitt aus seinen Lieblingsdichtern Klopstock, Claudius oder Hebel vor, und eine Freude war's und gab jegliches Verständnis, ihn dabei anzusehen, wie sich auf seinem herrlichen Gesicht voll Geist und Leben, voll Offenheit und feinster Erregung alle Nüancen der Dichtung widerspiegelten. Oder auch, er sagte uns ein Lied, eine Ode, einen schönen Vers vor, bis wir sie auswendig wußten. Ward ein Familienfest gefeiert, ein durchreisender Freund bewirtet, oder gab es sonst einen fröhlichen Anlaß, so ward Punsch getrunken und im Chor dazu gesungen, am liebsten die eigenen Lieder des Hausvaters, welche von einem jungen, vielversprechenden Musiker, namens Harder, der nur allzufrüh verstorben ist, in liebliche Musik gesetzt waren. Das waren herrliche Stunden! Die Krummacherschen Kinder sangen sämtlich hell und rein wie Glocken, trafen mit Leichtigkeit die Mittelstimmen nach Gehör, und der Vater sang den Baß, markierte, mit der Hand taktierend, alle Schönheiten des Textes oder der Musik und war dabei so selbstvergessen und ergriffen, daß ihm häufig die Tränen der Rührung in die Augen traten. Dazu wieder scherzte und lachte er mit uns und riß uns zu enthusiastischer Fröhlichkeit hin.

Ich respektierte und liebte diesen wahrhaft liebenswürdigen Mann sehr bald wie keinen außer meinem Vater; ja ich liebte ihn mit Begeisterung und konnte deshalb nicht »Herr Doktor!« zu ihm sagen, wie ihn andere nannten. Ich gab ihm daher den Namen »der Ätti«, den Vaternamen der »Alemannischen Gedichte«, und so auch nannten ihn später fast alle seine jüngeren Freunde nach meinem Vorgang.

Aber auch die getreue Hausfrau hielt ihn lieb und wert. Sie war einfach, schlecht und recht, lebte ihrer Wirtschaft, versorgte das Haus aufs beste und war voll guter Laune, lustiger Gemeinplätze und Familienwitze, trank auch gern ein Gläschen Punsch mit ihren Kindern und lachte mit ihnen, wie mit Geschwistern. Daß ich ein Fremder war, ließ sie mich nur insofern empfinden, als sie mir einen gewissen höflichen Vorzug einräumte und mich doppelt fütterte.

Auch Marie war sehr gut und pflegsam und, wie gesagt, sehr hübsch. Infolge dieser Eigenschaften war es natürlich, daß ich mich bei Tisch an ihrer Seite wohl placiert fand; doch außerdem bekam ich sie sowohl als ihre Mutter nur wenig zu Gesicht. Knaben wissen noch mit Jungfrauen nichts anderes anzufangen, als daß sie ein heimliches Belieben zu ihnen tragen, und das war auch mein Fall.

Desto leichter aber war mir der Verkehr mit meinen beiden Stubengenossen. Ich fand in ihnen ein paar prächtige Burschen, herzlich, gesellig und unverdorben, forsche Kerls nach unserer damaligen Ausdrucksweise. Der Primaner Emil, der sich zum Abiturientenexamen vorbereitete, war ein lebhafter Sanguiniker, ein feuriger, überaus jovialer Jüngling. Er führte über uns die Herrschaft des Seniorates, des Faustrechts und der Intelligenz, was wir uns gern gefallen ließen, da er der Ältere, der Stärkere und Gelehrtere war. Da er als Primaner die Erlaubnis zu rauchen hatte, ernannte er mich zu seinem Pfeifenstopfer; ein Amt, dem ich nicht ohne Eifer vorstand, weil die Befugnis damit verbunden war, die Pfeife anzurauchen, die dann so trefflich mundete, daß sie mir nur mit Gewalt wieder abgejagt werden konnte. Dabei ließ ich's jedoch bewenden und übertrat das Gebot der Mutter weiter nicht.

Der jüngere Bruder, Eduard, war klein von Gestalt, aber kräftig. Er hatte eine breite Brust, ein plutonisches Lockenhaupt und großes, treuherziges Gesicht mit einem Paar ehrlicher Augen. Ausdauernd fleißig und streng sittlich in Worten und Werken, war er ein ernster, energischer Mensch, ruhig, aber nachhaltig in Haß und Liebe. Sehr großes Wohlgefallen hatte er an derbem deutschem Witz und war selbst reichlich gesegnet mit starken Einfällen und Vergleichungen, daher wir oft hart miteinander lachten. Das bindet junge Leute am schnellsten. Wir schlossen uns ehrlich aneinander und wurden gute Brüder.

Einmal freilich bekam diese Freundschaft auch ihr Loch. Der Grund des Zwistes muß unerheblich gewesen sein, da ich gar keine Erinnerung mehr davon habe. Ich weiß nur, daß wir uns bei den Gurgeln hatten, und wenn auch die Klauen bald wieder losließen, so blieb doch der Friede aus. Eduard sagte, mein Freund sei er gewesen. Das war sein letztes Wort, und ich dachte: »So fahre hin!« – und ging allein spazieren. Wir gönnten uns fortan keinen Blick mehr, sprachen kein Wort mehr miteinander und setzten solchen Brudermord acht ganze Tage und acht Nächte fort, obgleich wir an einer Tafel speisten, an einem Tische arbeiteten und in einem Bette schliefen. Wäre freilich damals der ältere Bruder noch bei uns gewesen, so möchte es so weit nicht gekommen sein; der hatte aber bereits die Universität bezogen, und ohne Vermittelung konnten wir uns nicht wieder zusammenfinden.

In meiner Eigentümlichkeit lag nichts Unversöhnliches, und mein Zorn wäre bald verdampft gewesen, wenn der andere nicht gar zu entschlossen ausgesehen hätte. Dem mochte es ebenso gehen, und beide wollten wir uns in jeder Bedeutung des Wortes nichts vergeben. Zufälligerweise hatten wir damals ein Exemplar des »Don Quijote« auf unserem Zimmer. Wer gerade Zeit hatte, bemächtigte sich des Buches und schwelgte einsam in den Prügelsuppen und sonstigen Erquickungen des Helden. Da ging es denn bisweilen nicht anders, als daß man, die Gegenwart des Feindes und alle bösen Geister vergessend, laut ausplatzen mußte; und wie leicht konnte sich nicht hieran die selbstvergessene Mitteilung der Stelle oder die Frage knüpfen: »Worüber lachst du?« Dann wäre alles gut gewesen. Aber die bösen Geister dominierten, der Haß war Ton geworden, und wenn der eine sich vergaß und lachte, besann sich doch der andere und sah doppelt sauer drein.

So lebten wir, ohne wahrscheinlich selbst zu wissen, warum, in einer Art von Hölle, aus der wir uns selbst nicht mehr erlösen konnten. Dies tat jedoch der Ätti. Eines schönen Abends nämlich führte er uns hinaus, die Saale aufwärts nach den sogenannten Bornaschen Bergen, wo eine Obstplantage zum Kirschenessen einlud. Wir ahnten nicht im entferntesten, daß er von unseren gegenseitigen Gefühlen Kenntnis habe, als er uns plötzlich mitten im Genuß der Kirschen durch das höchst auffällige Verlangen in Erstaunen setzte, wir sollten uns umhalsen. Er wisse, sagte er, daß wir eine elende Dummerei miteinander hätten, das müsse rasch und gründlich abgetan werden.

Wir zögerten und sahen trübe drein; aber der gestrenge Friedensdränger stampfte ungeduldig mit dem Fuße, und an Entrinnen war nicht mehr zu denken. Da taten wir die Arme auf wie Automaten, klappten sie wieder zu und befühlten uns so vorsichtig als möglich. Nichtsdestoweniger war dies kalte Scheinmanöver doch ausreichend gewesen, die zerrissene Freundschaft wieder zusammenzuflicken. Schon auf dem Rückwege lächelte gelegentlich der eine zu des anderen Witzen, und beim Schlafengehen ward zutraulich geplaudert.

Wie man sich bei Damen insinuiert

Bernburg war damals durch die Schönheit seiner Töchter sehr stattlich illustriert, aber aller Preis und Krone war doch Eduards ältere Schwester, die achtzehnjährige Marie. Das liebliche Mädchen war die Bewunderung der ganzen Schule, und wie schon angedeutet, hatte sie auch in meinem Herzen ihr verstohlenes Altärchen mit Opferdienst und Weihrauch. Sie mochte freilich davon nicht das geringste merken, denn naturwüchsige Knaben behalten ihre zarteren Empfindungen für sich, wenn schon das Bedürfnis, dem geliebten Gegenstande bemerklich zu werden, nicht immer ganz zu unterdrücken ist und sich gelegentlich in Flegeleien kundgibt. In diesem Falle mochte mein Freund August Schönberg sein, als er einmal der Versuchung nicht widerstehen konnte, der Königin seines Herzens an ihrem Geburtstage eine lebendige Maus in den Strickbeutel gleiten zu lassen. Es sollte dies keine Ungezogenheit bedeuten, sondern war nur die den Jahren und Fähigkeiten meines Freundes angemessene Form, sich in Erinnerung zu bringen, und überglücklich war er, die entsprechende Anerkennung dieser Huldigung auf der Stelle mit ein paar scharf gepfefferten Ohrfeigen davonzutragen. Mit ähnlicher Courtoisie Marien aufzuwarten, plagte denn auch mich der Teufel.

Sie hatte nämlich das Vergnügen, eines schönes Abends eine zahlreiche Gesellschaft von jungen Mädchen bei sich zu sehen, welche sie in einem Zimmer bewirtete, das mit dem unsrigen auf gleichem Flur lag. Eduard war ausgegangen, ich ganz allein. Die hellen Stimmen drangen lockend zu mir herüber, und ich konnte des Verlangens nicht Herr werden, auch meinerseits etwas zur Unterhaltung beizutragen. Mittelst gebrauchter Wäsche stopfte ich meine Kleider zu einer menschlichen Gestalt aus, malte ein Papiergesicht daran und stülpte einen alten Dreimaster des Ätti drauf, den ich von einem Schranke des Vorhauses entlehnt hatte. Diesen Krautteufel trug ich leise in den Flur hinaus und setzte ihn dicht vor das Zimmer der Mädchen auf einen Stuhl, so daß er in die Augen fallen mußte, wenn die Türe aufging. Dann lauschte ich mit unendlicher Geduld wenigstens eine Stunde lang am Schlüsselloch.

Endlich öffnete sich die Paradiesespforte, und Marie selbst trat heraus, prallte aber augenblicklich mit einem so durchdringenden Schrei zurück, daß auch ich erschrak und statt eines Vergnügens ein Unglück angerichtet zu haben glaubte. Es folgte ein gewaltiger Tumult, Öffnen und Zuschlagen der Türe mit abwechselndem Zeter-, Chor- und Sologeschrei; ich aber stand die größere Angst aus und war eben im Begriffe, mich hinauszuwagen, um den Spuk hinwegzuräumen, als Christine, die Köchin, mit ihrer Küchenlampe die Treppe hinauf zu Hilfe eilte. Anfänglich stutzte auch sie; bald aber rief sie lachend die jungen Damen heraus, stieß das Spektrum mit dem Fuße um, und das Entsetzen ging nun in die ausgelassenste Lustigkeit über.

Schrecklich war die Rache, welche die übermütigen Mädchen sich jetzt an diesem leblosen Scheusale zu verüben gestatteten. Unter hellem Gelächter ward der arme, hilflos am Boden liegende Balg beleuchtet, verhöhnt, herumgerissen und zu meiner größten Beschämung sogar ausgeweidet. Ein Stück alter Wäsche nach dem anderen zogen sie ihm aus dem Leibe, besahen jedes aufs ausführlichste, und von jedem ward mein eigener, deutlich eingenähter Name laut verlesen, so oft er dastand. Ich müsse herbei und exemplarisch abgestraft werden, rief eine Stimme; aber fort war ich durch die Hintertüre und kam den ganzen Abend nicht mehr zum Vorschein. Ich schämte mich entsetzlich.

Die Mädchen mochten sich trotz alles Schreckens nicht übel amüsiert haben, ich aber hatte eigentlich nichts davon, als daß Marie mir am anderen Morgen im Vorübergehen leichthin mit dem Finger drohte und ich errötend niederblickte, wegen der Wäsche. Der Ätti sagte mir noch obendrein ganz trocken, ich sollte künftig solche Witze lassen.

Musikalische Leistungen

Marie hatte eine überaus herrliche Sopranstimme und sang mit größtem Beifall, namentlich ihres Vaters, der häusliche Musik sehr liebte; doch war es ihr beschwerlich, sich selber zu begleiten, ein Hindernis, an dem die Freude öfters scheiterte. Ich meinerseits hatte schon seit ein paar Jahren Klavierstunden gehabt, die auch in Bernburg weitergingen, nicht weil ich besondere Freude an der Musik gehabt hätte, am wenigsten an derjenigen, die ich selber machte, sondern weil die Eltern es so haben wollten. Jetzt kam ich auf den Gedanken, diese Stunden zur Einübung der Begleitungen für Mariens Gesänge auszubeuten, und das gab neuen Eifer. Mit einer solchen Sängerin zusammenzuwirken, war herzerhebend, schmeichelhaft und auch sehr dankbar, denn der Ätti hörte seine Tochter nun um so öfter singen. Marie sang mit Lust für ihren Vater, mit größerer Lust spielte ich für sie, und so kamen wir alle drei auf unsere Rechnung.

Je besser aber unsere Hauskonzerte jetzt von Tage zu Tage klangen und gelangen, je mehr auch wuchs mein Interesse für die Musik an sich, und es entstand zuzeiten ein immer wärmeres Verlangen nach selbständigerer Leistung. Nur das Klavier schien mir dazu nicht recht geschaffen. Wohl war es insoweit gar nicht übel, als es mich in zweckmäßigere Berührung mit Marien brachte, als jener ingeniöse Einfall mit dem Popanz dies vermocht hatte, außerdem aber, und für sich selber, langweilte mich der herzlos hämmernde Ton desselben um so mehr, als sich der Klang damaliger Instrumente zu den heutigen noch obendrein wie Kindertrommeln zu Kesselpauken verhielt. Welch eine andere Lust und welch himmlisches Vergnügen, dachte ich, müßte es sein, wenn diese Tasten sängen, etwa wie Mariens Stimme, oder wenn es auch nur wie Violinensaiten wäre. Mein Klavierlehrer, ein Herr Schmelzer, welcher Organist an der Ägidienkirche war, warf mir vor, daß ich zu wenig übe. »Ja!« seufzte ich, »wenn das Ding nur besser klänge, aber dieses Klimper-Klamper ennuyiert einen auf die Länge.« Da schlug der gute Mensch mir auf der Stelle Orgelstunden vor.

Wer war glücklicher als ich, als wir zuerst das Orgelchor erstiegen und Schmelzer mich vor allen Dingen in die Eingeweide des Rieseninstrumentes führte, mir dessen Mechanismus zu erklären. Da standen die Pfeifen wie Regimenter aufmarschiert, eiserne und hölzerne, dickleibige und schlanke, fingerlange Zwerge und haushohe Giganten in dichtgedrängten Reihen neben-, über- und untereinander – eine gewaltige Heerschar; und wenn sie alle auf einmal ihre Stimmen erheben wollten, sagte Schmelzer, so würden die Kirchenfenster platzen wie beim Kanonendonner.

Im Kommando dieser braven Schreier sollte ich nun geübt werden und widmete mich dem neuen Studium mit allem Eifer. Zwar verursachte mir die ungewohnte Handhabung oder vielmehr Fußhabung des Pedales anfänglich einige Wadenkrämpfe, die jedoch überwunden wurden, und schon nach Wochen munterte mich mein Lehrer auf, demnächst beim Ausgange des Gottesdienstes den Ausfeger zu spielen, indem er bemerkte, daß nur derjenige den rechten Vollgenuß an einer Kunst habe, der sich getraue, sie auch öffentlich auszuüben. Ein leichtes Stückchen ward zu diesem Zwecke bis zum Überdrusse eingeschult, so daß ich's mit geschlossenen Augen spielen und der Öffentlichkeit mit Zuversicht entgegensehen konnte.

Als die Zeit sich aber erfüllt hatte, als der Ätti Amen sagte und der Schlußvers gesungen war, da war's anders. Eine widerwärtige Unsicherheit fuhr mir in die Eingeweide, und mühsam kroch ich auf die Orgelbank. Nun war auch der Segen gesprochen, der Ätti schwieg und – gleichermaßen schwieg die Orgel.

Da stieß mich Schmelzer an: »So treten Sie doch los!« und los trat ich. Ob es die rechten Tritte waren, und ob das Manual recht einfiel? – ich muß das ungesagt sein lassen; aber die Kirche leerte sich im Umsehen.

Während des Mittagsessens äußerte der Ätti sein Befremden über jenen Exodus der Orgel. Schmelzer, sagte er, wähle zu gelehrte Musik, und solche Dissonanzen seien fast unerträglich. Da errötete ich aufs lieblichste und gestand, ich sei's gewesen.

»Nun,« erwiderte der Ätti, »beruhige dich, mein Jüngelchen! kein Meister wird geboren, und immerhin hast du die Gemeinde schnell genug hinausgebracht.« Auch ließ ich mich durch dies Debüt von meiner Orgel nicht verscheuchen und rettete meine Ehre wenigstens insoweit, als ich in der Folge zu mehrerer Zufriedenheit des Ätti spielte.

Zwei Kanzeln

Ich will nicht leugnen, daß ich an protestantischen Gottesdiensten die meiste Zeit nur wenig Geschmack gefunden habe. Endlose Predigten und Lieder versetzten mich, gleich schlaflosen Nächten, leichtlich in Zustände peinlicher Ungeduld. In Bernburg ging es übrigens damit noch leidlich, obgleich die Kirche selbst, vom Fürsten Viktor Amadeus zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts neu erbaut, in Geschmacklosigkeit exzellierte und ein Wahrzeichen des frivolen Sinnes jener Zeit war. Nach reformierter Weise ohne Altar und jegliches geistliche Symbol, glich sie mit ihren doppelten Logenreihen und blaugesprenkeltem Anstrich etwa dem Redoutensaale eines mittleren Gasthofes, an den nicht viel gewendet worden. Das einzige Bildwerk, das sie aufzuweisen hatte, war ein kolossales Wappen, das nächst der herrschaftlichen Loge die ganze Altarwand bedeckte und von zwei hochaufgerichteten, riesenhaften Bären mit schwarzem Pelz und goldenen Kronen gehalten wurde, welche sich als die eigentlichen Gegenstände der Verehrung zu präsentieren schienen.

Als ich, später in Tirol reisend, von einem dortigen Bauern gefragt wurde, welches Tier ich anzubeten pflege – sein Pfaffe hatte ihm gesagt, der ganze Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten bestehe darin, daß erstere Gott anbeteten, letztere aber Tiere, die, je nach den Ortschaften, verschieden seien – fiel mir allerdings die Bernburger Schloßkirche wieder ein. Diese hatte auch damals keinen Reiz für mich, und noch weniger die Lieder, die darin gesungen wurden, deren altklug aufgeklärte Prosa mich vielmehr ennuyierte; aber einmal dauerte der Gottesdienst nur halb so lange als in dem lutherischen Sachsen, und dann war der Prediger niemand anders als mein geliebter Ätti.

Dieser mochte damals in einem Übergang begriffen sein von subjektiver Herzensfrömmigkeit zu dem Glauben an das geoffenbarte Gotteswort, und demgemäß trug seine Predigt, wie sein ganzes Wesen, auch den doppelten Charakter der Frage und Antwort, des Suchens und Findens. Sowohl die Demut des einen als die Freudigkeit des andern sprachen sich in ihm und seiner Rede aus.

Rollers Predigt ruhte, ja bisweilen schlief sie auf dem objektiven Grunde einer fest und fertig kristallisierten kirchlichen Dogmatik, während Krummacher Entdeckungen machte und dann aufs tiefste ergriffen und mit hoher Begeisterung von demjenigen zeugte, was ihm persönlich klargeworden war. Geistlose Begeisterung freilich langweilt noch schmerzlicher als schläfrige Rede, wenn letztere nur einen tüchtigen Gegenstand hat; aber mein teurer Ätti war Dichter von Gottes Gnaden, er war ein genialer Mensch, hatte allezeit Salz bei sich, und seine Worte waren Kraft und Leben und durchglüht von einem Hauche jener lebendigen Liebe und herzlichen Teilnahme, die zu Herzen geht.

Dazu mußte man diesen Prediger ansehen. Er trug zwar keinen Chorrock aus dem sechzehnten Jahrhundert, wie die Lutheraner, sondern stand nach reformierter Weise nur im schwarzen Frack auf seiner Kanzel, mit jenem damals zur geistlichen Kleidung gehörigen seidenen Küstermäntelchen, das in leichten Falten vom Rücken niederfiel; doch sah er wie ein echter Kirchenmann aus, und der verklärte Ausdruck seines herrlichen Gesichtes predigte nicht minder als seine Worte. Ich wäre ihm gern bisweilen um den Hals gefallen, wenn er auf seiner hohen Kanzel zu erreichen gewesen wäre.

Als ich jedoch zu diesem Zwecke einmal, gleich nach der Kirche, auf sein Zimmer ging, fand ich ihn in augenscheinlicher Bewegung; es schien, als habe er geweint, vielleicht gebetet. Ich wollte mich zurückziehen, wie ich gekommen; allein er rief mich an, und da er hörte, was mich hergeführt, schloß er mich mit Herzlichkeit in seine Arme. In späteren Jahren hat er mir bekannt, wie ich ihm damals zum Trost gewesen sei, weil er die Kanzel in der mutlosesten Stimmung verlassen habe. Seine große Kirche war stets gedrängt voll Menschen, sie saßen Kopf an Kopf und hörten ihren Bischof mit Erbauung an, während dieser selbst sich doch anklagte, daß ihm alle Begabung fehle, die Wahrheit an den Mann zu bringen. Blöden Kandidaten pflegte er zwar zu sagen, sie sollten frisch das Maul auftun und denken, daß es lauter Kohlköpfe seien, die da unten säßen; er selbst aber war so weit davon entfernt, die Gemeinde für ein Kohlfeld zu halten, daß er sie ihres ungeschickten Predigers halber oft bitterlich beklagt hat.

So bescheiden war dieser Mann, daß er es selbst mir, dem unbärtigen Knaben, nicht verargte, wenn ich, an dieser oder jener Äußerung, die sich mit der mir anerzogenen Ansicht nicht vertragen wollte, Anstoß nehmend, ihn befragte. Er ließ sich immer freundlich mit mir ein, berichtigte mich oder gab mir wohl auch recht. »Du hast den Buchstaben für dich,« sagte er mir einmal, »und vielleicht fährst du damit am besten. Bleibe bei dem, wie du gelehrt bist!«

Im Grunde genommen störte es mich wenig, daß die Reformierten den Begriff der Sakramente anders faßten als wir Lutheraner; hatten sie doch die Sache, und schienen sie sich doch dem Tische des Herrn mit derselben Beugung und mit demselben Glauben an die genugtuende Kraft des Blutes Christi zu nahen wie auch wir. Wenn die Krummachersche Familie kommunizierte, schloß ich mich daher nicht aus, und weder ich noch andere sahen darin einen Abfall von meiner Kirche. Zwar gab es in Bernburg noch eine Anzahl Lutheraner, denen das heilige Abendmahl von Zeit zu Zeit in der kleinen, ihnen eingeräumten Kapelle des Gottesackers durch einen lutherischen Geistlichen verabreicht wurde, und dorthin wollte auch mich der Ätti anfangs weisen. Ich fühlte aber schon damals, daß Glaubensgemeinschaft bindender sei als eine bloß äußere kirchliche Zugehörigkeit, und der aufrichtige Herzensglaube meines hochverehrten Pflegevaters war mir erbaulicher als die orthodoxe Spendeformel, die in jener Kapelle wohl gesprochen, aber keineswegs geglaubt wurde. Auch kann ich in der Tat nicht sagen, daß ich damals an dem einfachen Tische der Reformierten durch die heilige Handlung weniger ergriffen worden wäre als an den heimischen Altären.

Inzwischen ließ ich mir an den Gottesdiensten der Ägidienkirche doch nicht so ganz genügen; ich suchte vielmehr bisweilen noch einen anderen Prediger auf, dessen Rede mir nicht weniger zu Herzen ging als die des Ättis. Dieser andere war Katholik, und seine Kanzel hing draußen an der Schloßmauer hoch über der schäumenden Saale wie ein Schwalbennest. Darin hockte die Gemeinde, aus mir allein bestehend, und zog sich den Prediger aus der Tasche.

Um die schönen Sommersonntage bestens auszunutzen, stand ich früher als gewöhnlich auf und ging noch vor dem Frühstück hinaus ins Freie, am liebsten in den nahgelegenen Schloßgarten, der, eingefriedigt von hohen krenelierten Mauern, mit seinen Orangenkübeln, Zwergbäumen und geschorenen Hecken den größten Reiz für mich hatte. Die Aussicht in die Ferne fiel natürlich weg; es war aber durch die alte Mauer ein Pförtchen gebrochen, das auf einen kleinen steinernen Altan führte, der außerhalb frei über dem Abhange des Felsens schwebte. Trat man hier hinaus, so tat sich ein weites, überraschend schönes Bild auf. Fast steilrecht blickte man hinunter auf die Saale, die, durch Wiesen, Büsche und Gehölze hingleitend, am Fuße des Schloßfelsens in ihrer ganzen Breite schäumend über ein Wehr stürzt und dann mit tanzender Welle zwischen die Alt- und Bergstadt Bernburgs einläuft. Die malerischen Häusergruppen der Stadt, ihre Türme, Gassen und Plätze liegen wie Spielzeug an den Ufern, und darüber hinaus erblickt man Rebenhügel und Felder, endlich, die Landschaft krönend, den fernen Brocken wie ein Dunstgewölk.

Die Entdeckung dieses Plätzchens achtete ich für einen Hauptgewinn meines Bernburger Lebens. Ich besuchte es fleißig und lauschte hier in verstohlener Einsamkeit der sanften Predigt des alten Mystikers, dessen Büchlein von der »Nachfolge Christi« mir Beckedorff geschenkt hatte, und dessen Worte mein jugendliches Herz wie Äolsharfenklang berührten. Dann leuchtete der Morgen um mich her, so zauberhaft in Licht und Farben, es dampfte die Stadt und rauschte tief unter mir der Strom, und ich zerfloß in süßer Schwärmerei. O, es ist unbeschreiblich, welcher Entzückungen und Seligkeiten eine Knabenseele fähig ist, wenn sie den Staub der Schule abgeschüttelt!

Mein Christentum war freilich weit mehr Sache des kindischen Spielens und Genießens als einer ernsten Beugung unter die Zucht des göttlichen Wortes, und darüber hinaus kam ich zeit meiner ganzen Jugend nicht. Die Seele durchlebte paradiesische Feierzeiten, da der Bräutigam noch bei ihr war, daher sie aß und trank und jauchzte und es sich wohlsein ließ. Ich war gut unterrichtet, kannte sehr wohl die Glaubenssätze meiner Kirche und zweifelte nicht im geringsten an der Verderbtheit meiner Natur; aber ich ließ mir keine grauen Haare darum wachsen, weil ich die Macht des Bösen tatsächlich noch zu wenig an mir selbst erfahren hatte. Die Sünde schlief noch gutenteils in meinen Gliedern, und wo sie etwa erwacht, erkannte ich sie kaum, oder doch ihr Gift nicht. Ich glaubte ihrer mit Leichtigkeit Herr werden zu können, sobald es mir beliebte, und dem philosophischen Kaiser Mark Aurel konnte es kaum natürlicher erscheinen, ein guter Mensch zu sein, als mir. Ja, wenn ich an der Brustwehr des Altans lehnte, die Herrlichkeit der Schöpfung um mich her zum Tempel Gottes wurde und aus den milden Worten des alten Pater Thomas die Lockstimme des Erlösers an mein Herz schlug, so war ich fest entschlossen, ein Heiliger zu werden. Ich kannte weder die Festigkeit des Himmels noch meine Schwäche und wußte nicht, wie Hochmut, Selbstsucht und Sinnlichkeit mich an die Tiefe ketteten.

Gewöhnlich dauerten diese Wallungen auch nur so lange, als ich auf dem Altan weilte, die Saale brauste, die Stadt zu meinen Füßen im Morgenlichte dampfte und die Zauber einer uralten Mystik mich umspannten. Anders wieder war meine Stimmung, wenn das Leben mir wirkliche Gelegenheit zur Heiligung bot.

Die Schule

Zur Schule war's ein weiter Weg, der viermal des Tages durchmessen wurde, und zwar im Trabe, was hinwärts keine Kunst war, da es bergab ging, zurück aber eine Probe gesunder Lungen. Die ganze Bergstadt durch, über die Brücke und den Markt, fast bis zum Ende der Altstadt: da lag die uralte gotische Marienkirche und dicht dabei die Schule, die eben auch nicht zum jugendlichsten aussah. Es war ein düsteres Gewinkele, eine dunkle Katakombe, so alt und reizlos als die Leichname, die man hier ausgrub und verehrte, tote Sprachen nämlich und Grammatik. Beim ersten Eintritt dachte man, daß alle grüne Weide jetzt ein Ende habe.

Dennoch lobe ich mir jene alten, rußigen Schulhäuser von damals, die viel besser waren, als sie aussahen. Hinter ihren grämlichen Gesichtern war nach deutscher Weise doch ein recht munterer Geist, und jugendlicher Frohsinn gedieh gewiß nicht schlechter als in der kalten Vornehmheit moderner Schulpaläste. Gearbeitet aber wurde auch nicht weniger als in diesen, wenn auch in anderer Fasson. Man hatte nicht so viel Lehrobjekte, zersplitterte sich weniger und gestattete dem Privatfleiß freieren Raum. Heutzutage wird ohne Frage mehr gelehrt, als gelernt werden kann: dazumal war's umgekehrt. Ein wesentlicher Wert ward eigentlich nur dem Studium der lateinischen Sprache beigemessen, welche sich zu den übrigen Disziplinen wie der Jupiter zu seinen Satelliten verhielt und maßgebend war für alles übrige. Zwar lernte man auch anderes, wenn man wollte, Lateinisch aber auch, wenn man nicht wollte, und wer die Schule durchgegangen, nahm wenigstens diese eine Sprache als sicheren Erwerb und Grundlage alles weiteren Studiums für sein Leben mit.

Gleich am Tage nach meiner Ankunft war ich vom Rektor selbst einer lateinischen Prüfung unterworfen und infolge davon als Ultimus nach Tertia gesetzt worden. Über dies bescheidene Ergebnis freute ich mich insoweit, als ich bei meinem vielfach unterbrochenen Unterrichte, trotz meiner vierzehn Jahre, doch nur auf Quarta rechnen durfte. Andererseits war es freilich beschämend, daß sich unter den 29 Tertianern über mir so manches fast jugendliche Kindlein mit seiner Vogelstimme fand. Ich mußte mich daher zusammennehmen, um bei der nächsten Versetzung aufzusteigen, und tüchtig arbeiten, wobei mir denn freilich die anregende Persönlichkeit des Klassenlehrers sehr zu statten kam.

Dieser, der Professor Fr. Günther, ein noch junger, doch der gelehrten Welt bereits bekannter Mann, war der geborenste Magister. Mit angenehmem Äußeren, feinen Manieren und liebenswürdig jokosem Wesen verband er die außerordentlich glückliche Gabe, fast allen seinen Schülern ein gutes Gedächtnis beizubringen, indem er sie für die Gegenstände seines Vortrags wahrhaft zu interessieren wußte. Ich war fleißig wie nie vordem in meinem Leben und kam schnell vorwärts, sogar im Griechischen, das ich früher nie getrieben hatte, nun aber privatim mit so gutem Erfolge nachexerzierte, daß ich schon nach wenigen Monaten am Klassenunterrichte teilnehmen konnte.

Zu Michaelis war Versetzung; einige Tertianer wanderten nach Sekunda, und Quartaner, unter denen auch Julius Krummacher war, füllten die Lücken. Darauf gestaltete sich die Klasse zur Klausur und schrieb ein lateinisches Proloco, um danach die Kräfte zu bemessen und demgemäß die Sitze zu verteilen. Es war ein Wettlauf, in welchem jeder ohne Zweifel sein Bestes tat. Am andern Morgen streifte mich Günther auf dem Schulwege an und gratulierte; doch wußte ich nicht, wozu, bis ich, in der Schule angelangt, von den bereits anwesenden Mitschülern als Primus angeschrien und begrüßt ward.

Primus! Es sind zwar nur zwei kleine Silben; aber wer ist wohl durch die Schule gelaufen und kennt nicht die Größe ihrer Bedeutung? Der Primus ist der König beim Scheibenschießen und muß schon für den besten Schützen gelten; er ist der Erste unter allen und der Großwürdenträger der Klasse. Mir war's wie einem Träumenden. Daß ich nicht der Letzte bleiben würde, hatte ich wohl gedacht; aber der Erste? Nun konnte ich meinen Eltern schreiben, daß ich was geworden, und überdem von jetzt an in dem angenehmen Eckchen sitzen, dicht unter dem Katheder, wo sich mein Vorgänger, ein gewisser Stieler aus Berlin, so stattlich ausgenommen hatte. Das war des Glücks genug! und dennoch – es war nichts anderes als ein Traum und eine Täuschung, wie alles Erdenglück.

Wohl war ich Primus oder »Biermops«, wie's der Schulwitz travestierte, und nahm fürs erste auch meinen Platz als solcher ein, jedoch nur auf Grund von Günthers alleiniger Korrektur, welche, wie ich jetzt erfuhr, die Schüler keineswegs auf Treu und Glauben anzunehmen, sondern allerhöchstselbst noch einer Kontrolle zu unterziehen hatten. Jede Arbeit ging noch einmal durch jede Hand, und jeder tat sein Bestes, seinen Vordermännern womöglich noch eins anzustreichen. Es war eine erbarmungslose Ährenlese von etwa übersehenen Schnitzern.

Gerechnet wurde nach ganzen und nach halben Fehlern, und zwar so, daß Sprachfehler für ganze, Schreibfehler für halbe galten. Ich, der ich gar keinen Fehler gehabt und daher auch kein Interesse hatte, die unter mir Sitzenden noch zu verschlechtern, blickte gleichgültig in die mir vorgelegten Hefte – als plötzlich die Stimme meines Nachbars laut ward. Dieser, der wegen seines hochgestellten Organs den Beinamen »Piepvogel« führte, war so glücklich gewesen, in meiner Arbeit noch drei halbe Fehler, vergessene i-Punkte und dergleichen, aufzustöbern, und da er selbst nur einen ganzen, wenn auch sehr sündlichen Sprachfehler hatte, so verstand es sich von selbst, daß er der wahre Biermops war.

Es hatte eine höhere Gerechtigkeit entschieden, denn dieser Piepvogel war in der Tat gelehrter als ich. Ich mußte aus meinem vornehmen Eckchen weichen, in welchem sich jener sogleich zurechtfand, als wenn er da geboren wäre. Günther reichte ihm glückwünschend die Hand, indem er bedauerte, mir falsche Hoffnung gemacht zu haben, und das war das Ende dieser lehrreichen Geschichte.

Nach Günther gefiel mir unter den Lehrern, die in Tertia unterrichteten, am besten unser Rektor, der Professor Gottfried Herzog. Er mochte damals ein Mann von etlichen und fünfzig Jahren sein; doch schien er wegen seiner gebeugten Haltung und grauen Haare bedeutend älter. Beide Übel waren, wie man sagte, urplötzlich über ihn gekommen, da einer seiner Pensionäre, der Sohn seines Jugendfreundes, beim Baden in der Saale ertrunken war. Der Schmerz hierüber wie über die Unversöhnlichkeit der Eltern soll ihn auch bis ins Grab begleitet haben. Herzog war ursprünglich Theolog gewesen, aber, auf der Universität schon am Glauben irre geworden, hatte er in ehrenwerter Gewissenhaftigkeit kein geistliches Amt begehrt, sondern die Schule vorgezogen, bei welcher er des Supranaturalisnms entraten zu können meinte und auch entriet. Übrigens war er ein tüchtiger Schulmann, der die Anstalt wesentlich gehoben hatte und sich ohne Poltern oder sonderliche Strenge bei Lehrern und Schülern in dem Ansehen zu erhalten wußte, das ihm als Rektor zukam. Zwar nannten wir ihn unter uns nie anders als den »alten Gottfried«, aber es sollte dies ebensowenig eine Respektlosigkeit sein, als es in Preußen die vulgäre Bezeichnung »alter Fritz« für einen großen König ist.

Alles, was ich in Tertia lernte, dankte ich vorzugsweise dem Einflusse dieser beiden Männer, die mich namentlich für die alten Sprachen so zu begeistern wußten, daß ich mehr darin tat, als ich nötig hatte, z.B. den ganzen ledernen Eutropius, der in der Schule nicht gelesen wurde, zu meinem Privatvergnügen schriftlich ins Deutsche übertrug. Die übrigen Lehrer und Kollaboratoren, die mir geringeren Eindruck hinterließen, brachten wenigstens keinen Schaden, ja ein paar von ihnen, der Kantor und der Franzose, verhalfen in entgegengesetzter Weise der Klasse erst recht zum Vollgenuß des Schülerlebens, indem sich der moralische Zwang, den die Bernburger Schule so gut wie jede andere auferlegte, an ihnen gewissermaßen bezahlt machen konnte.

Immerhin mag es einem Kantor schwer genug sein, sich auf gelehrten Schulen auch nur den notdürftigsten Respekt zu verschaffen; wenigstens hatte der unsrige nicht diese Gabe. In seinen Schreib- und Rechenstunden wurden, wenn die Klasse sich einer Erholung bedürftig fühlte, sehr reichliche Allotria getrieben, die gegen ihn gelegentlich auch außerhalb der Schule fortgesetzt wurden. Vieles ertrug er auch geduldig, teils aus Bequemlichkeit, teils aus physischer Kurzsichtigkeit; wurde ihm aber doch einmal das Ding zu bunt, so ruinierte ihn seine maßlose Heftigkeit vollends.

So war es vorgekommen, daß während der Freiviertelstunde, in der die meisten Dummheiten vorkamen, ein Schüler über mannshoch an der äußeren Kirchwand aufgeklettert war, um einem kleinen, dort postierten Heiligen sein Butterbrot in den Mund zu stecken. Seit multis saeculis, sagte er, sperre jener das Maul auf, und es sei Zeit, ihm endlich etwas hineinzuschieben. Indessen war es Winter, und die steinernen Vorsprünge der Kirche waren so kalt, daß der mitleidige Kletterer mit verklommenen Händen bald wieder abfiel. In diesem Augenblicke aber schwenkte der Herr Kantor um die Ecke. Er hatte das Klettern an der Kirche oft verboten, und da seine blöden Augen gerade einen lichten Moment haben mochten, so empfing er jenen mit einer dreimal gepfefferten kantorhaften Ohrfeige, welche auf der Stelle erwidert wurde.

Eine derartige Erwiderung war ein Attentat, das vor den Schulsenat gehörte, aber obgleich der Frevler, anstatt relegiert zu werden, nur das Karzer zu besehen kriegte, so schien uns dieses doch wieder einer neuen Genugtuung zu bedürfen. Schlag für Schlag, so meinten wir, das hätte gerade ausgereicht; aber das Karzer war eine neue Auszeichnung, die erst abverdient werden mußte. Es ward daher beschlossen, dem Herrn Kantor dafür noch ein besonderes Promemoria angedeihen zu lassen.

Als besagter Herr sich demnächst auf der Eisbahn blicken ließ, wurde er höflichst ersucht, im Stuhlschlitten Platz zu nehmen. Dies war eine Artigkeit, die wir den beliebteren Lehrern zu erzeigen pflegten, an die jener aber nicht gewöhnt war. Er mochte daher denken, daß er wegen der Ohrfeige, die er empfangen, vollends versöhnt werden sollte, nahm die Einladung mit feinem Lächeln an, und – fort flog er, wie vom Sturm dahingerissen. Wer ihn eigentlich schob, wußte er nicht, kaum wußten wir es selbst, denn sechs bis acht kräftige Läufer umschwärmten den flüchtigen Schlitten, der sich jeden Augenblick in anderer Hand befand. Es schien, es wolle keiner dem anderen die Ehre gönnen, den Herrn Kantor zu bedienen. So rasten wir mit ihm dahin, daß ihm und uns die Sinne fast vergingen, bis bei einer plötzlichen Wendung das leichte Fuhrwerk umschlug und der unglückliche Insasse zehn Schritte weit auf seiner eigenen Gelegenheit fortschoß.

Laut scheltend über die heillose Unvorsichtigkeit desjenigen, der etwa schuld sei, baten wir tausendmal um Verzeihung, halfen dem Gefallenen auf, nötigten ihn wieder auf sein Stühlchen, und das Spiel begann von neuem. Anfangs fuhren wir langsam, dann immer schneller, bald aber schwärmten wir wieder dahin wie eine Windsbraut, aber da lag der Schlitten mit Ach und Krach zum zweiten Male auf dem harten Eise. Zum dritten Male einzusteigen, war der Gefeierte nicht zu bewegen, sondern hinkte sich zu Fuß an den entfernten Landungsplatz.

Ich muß bekennen, daß, obgleich ich damals die »Nachfolge Christi« studierte, mir bei dieser Eisfahrt doch kein Gedanke an ein Unrecht kam. Man kann eben, je nachdem es die Gelegenheit gibt, abwechselnd fromm und ruchlos sein, und jedenfalls hatte ich es lediglich der Gnade Gottes zu danken, daß ich bei dieser Gelegenheit nicht zum Mörder wurde.

Mehr noch als unserem Kantor war es dem französischen Sprachmeister gegeben, die Bestialität der Klasse zu erwecken. Er war ein Naturalfranzose, ein kleiner, vertrockneter Mann mit pechschwarzen Haaren und limonenfarbenem Teint, welchen letzteren wir jedoch geneigt waren, nicht bloß seiner keltischen Abstammung, sondern vielmehr dem Umstande zuzuschreiben, daß Monsieur sich niemals wusch, denn wie der obberegte Fürst Putjatin in Dresden alle Misere des Lebens dem Genusse ungerösteten Brotes zuschrieb, so er dem Waschen. Er hielt dies geradezu für menschenmörderisch, und allerdings führte er an sich selber den Beweis, daß seine Unreinlichkeit ihm wenigstens nicht auf den Magen fiel, denn er hatte einen berühmten Appetit, konnte essen zur Zeit und Unzeit, soviel er wollte, und es bekam ihm alles trefflich wohl. Daß er einst in Prima vor aller Augen einen ganzen gebratenen Puter zu sich genommen habe, welchen ihm ein Schüler vom Lande zum Frühstück angeboten habe, wurde erzählt. Nach der Mahlzeit habe er seinen erbsfarbenen Überrock mit Stolz auseinandergelegt und sich, zum Zeichen, daß noch Raum vorhanden, auf den hohlen Unterleib geschlagen.

Dieser Gelehrte hatte eine Lieblingsidee, zu der die Anschauungen romanischer Rasse überhaupt zu neigen scheinen. Wie der berühmte Cartesius sich bewogen fühlte, die Tiere für bloße Maschinen zu halten, und Fontenelle, als man ihm vorwarf, daß er seinen Hund malträtiere, sagte: » Cela ne sent rien!« so behauptete auch unser Franzose – ganz im Widerspruche mit der Bedeutung des Wortes » animal« – daß die animaux keine Seelen hätten.

»Das Tier hat keiner Seelen!« pflegte er uns zu belehren und war so felsenfest in dieser Ansicht, daß ihn alle die geistreichen Züge, die wir zur Abkürzung der Stunde von Hunden, Katzen, Ratten und Kanarienvögeln anzuführen hatten, nicht im geringsten zu erschüttern vermochten. Seine Gründe waren gewissermaßen Pietätsgründe. Er wolle, sagte er, auch das allertoteste Äring nicht mehr herunterschlucken, wenn es beseligt wären, und wenn wir Butter und Käse äßen, das von einer Seelen gemacht ist, so wären wir Kannibalen. Trieben wir es mit unserem Widerspruche zu weit, so konnte er in die ergötzlichste Berserkerwut geraten, mit dem ersten besten Lineale über die ersten besten Köpfe hauen, was ihm keiner übelnahm, und die deutsche Sprache aufs grausamste zerfleischen.

Am aufgebrachtesten sah ich diesen Gallier übrigens bei einer ganz anderen Gelegenheit. Wir hatten einen baumlangen Menschen in der Klasse, von zirka 18 Jahren, einen gutartigen Jüngling, der aber aus mangelnden Fähigkeiten in Tertia gewissermaßen gestrandet war. Dieser wurde, obgleich er nichts weniger als Überfluß an Witz zeigte, wie lucus a non lucendo »Kiau« genannt. Er hatte eine auffallend lange und weit aus dem Gesicht hervorragende Nase, mit welcher er unablässig geneckt ward. Unter anderem sagte ihm der platte Schulwitz nach, daß er, abends nach Sonnenuntergang an der Saale kühlem Strande lagernd, seine Nase ins Wasser gleiten ließe, da dann die Fische, nicht nur Schmerlen und Gründlinge, sondern auch Karpfen, Lachse, ja Störe, danach schnappten und mit Leichtigkeit herausgezogen würden. Von der Fischmast sei er so groß geworden. Bei solchen und ähnlichen Verleumdungen konnte er mit dem ehrlichsten Gesichte von der Welt beteuern, es sei gar nicht wahr.

Nun traf sich's einmal in der Zwischenstunde, daß dieser Kiau, die Hände auf dem Rücken, hochaufgerichtet am Ofen lehnend, gedankenlos ins Leere starrte. Unterdessen erkletterte ein Mitschüler, ein sehr kleiner und außerordentlich behender Mensch, mit Namen Fiedler, den Ofen von der entgegengesetzten Seite, schob sich oben auf dem Bauche fort, bis seine Augen über Kiaus Nase waren, und dann plötzlich von oben herab dem Träumerischen in die Nüstern greifend, riß er diesem den Kopf gewaltsam in die Höhe.

Der arme Kiau, der weder wußte, wie ihm geschah, noch wie er sich von dieser Angel befreien sollte, brüllte sehr vernehmlich, während die zunächst Stehenden mit Linealen und Bücherriemen so lange auf seinen Peiniger einhieben, bis dieser losließ. Aber damit war's noch nicht genug; der kleine Fiedler ward vom Ofen gezogen, und in großmütiger Aufwallung für den unschuldig mißhandelten Kiau verurteilte die Klasse ihn einstimmig zum Galgen. Schnell waren einige Schnupftücher zusammengebunden, dem Delinquenten unter den Armen durchgezogen und er über dem Katheder aufgehangen. Da hing er mitten auf der schwarzen Tafel, wie ein Schaustück, aber nicht so ruhig. Wütend schleuderte er Arme und Beine und sprudelte – weniger aus Schmerz, als weil ihm Gewalt geschehen – reichliche Ströme aus allen fünf Quellen seines empörten Angesichts.

In diesem Augenblicke klinkte das Türschloß, und alle waren wir auf unseren Plätzen. Der sehr verspätete Franzose trat ein und war wie verdonnert beim Anblick des Gerichteten. Als er aber vollends in diesem seinen fleißigsten Schüler und Mignon erkannte, brach er in hellen Zorn aus. Es seien höchst erbärmliche Spitzbübereien, schrie er, und wir sollten augenblicklich das Kind abhängen. Keiner rührte sich. Es ward entgegnet, das sei kein Kind, sondern ein seelenloses Tier. »Ein Fisch,« rief einer, »der an Kiaus Nase angebissen hat!« Ein Dritter belehrte, es sei eigentlich ein Parricida, weil der Größe und dem Alter nach Kiau sein Vater sein könne. Endlich schrie alles durcheinander, und der betäubte Franzmann, der nur halb verstehen konnte und am wenigsten begreifen mochte, was Kiau mit seiner geschwollenen Nase bei der Sache sollte, stürzte racheschnaubend aus der Klasse, um den Rektor zu holen.

Nun war es Zeit, das Fischlein abzuhängen; wir wischten ihm eilig das Gesicht ab, stauchten es auf seinen Platz, und als der Rektor eintrat, saßen wir alle sittig hinter unseren französischen Heften. Ich, als der zeitige Custos morum, mußte referieren, was vorgefallen. Ich tat es der Wahrheit gemäß, und mit alleiniger Ausnahme des tugendhaften Kiau hatte zur Genugtuung des Franzosen die ganze Klasse ein Stündchen nachzusitzen.


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