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9. Der Schmugglerkapitän

Noch einmal, ehe wir unsern Nobody nach St. Petersburg begleiten und nach seinen eignen Aufzeichnungen schildern, wie er von der bereits erwähnten Gräfin Anita Urlewsky, der Geliebten des Fürsten Petrof, den russischen Kriegsplan gegen Japan erhält, müssen wir unsre Erzählung unterbrechen und eine Episode einschalten, die den Lesern eine lange gewünschte Erklärung bringen soll. Sie beantwortet die Frage:

»Wie kam es, daß Nobody sich mit dem Kapitän Flederwisch verband «

Wie sich diese Ereignisse aneinanderreihten, und wie Nobody schließlich den verzweifelten Kapitän Flederwisch rettete, das soll in nachstehendem erzählt werden; dann erst wird auch manches erklärlich werden, was sich später in Petersburg ereignete.

Bekannt ist zwar, wie die beiden in New-York zusammentrafen, und wie sie nach dem lustigen Kampfe in der Mühle sich für immer zu gemeinsamem Tun verbündeten; aber damals kannte Nobody den Kapitän Flederwisch längst schon – ganz genau – ohne daß dieser es ahnte.

Der berühmte Detektiv hatte unerkannt an Bord des ›Frithjof‹, der Flederwisch gehörte, eine abenteuerliche Reise mitgemacht, deren Hauptzweck allerdings eine verwegene, ins große getriebene Schmuggelei war, die aber insgeheim mit deswegen unternommen wurde, um nach den unermeßlichen Goldschätzen zu forschen, die mit einem kleinen Dampfer in der Gegend der Gallopagosinseln versunken sein sollten.

Kapitän Flederwisch war seinerzeit der berühmteste Schmugglerkapitän, der Schrecken aller Hafen-Zollbehörden, der kühne Held, von dem man sich überall die verwegensten Stückchen erzählte; man wußte, daß er die Schmuggelei nicht aus schnöder Habsucht trieb, sondern einzig und allein der unzähligen Gefahren wegen, die damit verbunden waren und die wohl kein andrer Mann immer sieghaft bestanden hätte.

Die Fahrt Kapitän Flederwischs nach den Gallopagos aber war sein letztes und kühnstes Schmugglerunternehmen. Unbemerkt lenkte Nobody, der daran teilnahm, das Geschick seines spätern Freundes. Er half diesem, die versunkenen Goldschätze zu finden, zugleich aber duldete er, daß ein schweres Mißgeschick den Schmugglerkapitän betraf, daß derselbe, gerade als er seines Erfolges ganz sicher zu sein glaubte, unter dem furchtbaren Verdachte des Mordes verhaftet wurde.

 

»Nordsee – Mordsee,« reimt der Seemann, und in der Tat ist wohl kein Meer so verrufen bei den Schiffern aller Nationen, wie das, dessen Wogen die Küsten Jütlands, des nordwestlichen Deutschlands, Hollands und Englands bespülen, und nirgends sind die Kreuze auf den ›Friedhöfen der Namenlosen‹ so zahlreich, wie auf den friesischen Inseln und an der ›Jammerbucht‹.

Mit fahlgrauem Lichte brach wieder einmal die Nacht an. Nur das Schlagen der Schiffsglocke bewies, daß es wirklich so war, denn der dichte Nebel, der seit viermal vierundzwanzig Stunden über der See lag, bewirkte, daß die Unterschiede zwischen Nacht und Tag kaum bemerkbar waren.

Schwerfällig rollen die Wogen gegen den Bug des Seglers, der seinen Weg ins Ungewisse hinein verfolgt. Stark tropft es aus der Takelage. Gespenstisch ragen die Masten in die dicke Luft, und schon auf kurze Entfernungen sind die Männer und Gegenstände an Bord unsichtbar. Von Zeit zu Zeit dringt aus dem Nebelmeer ein dumpf brüllender Laut; die Sirene eines Dampfers heult. Stöhnend antwortet das Nebelhorn der schlankgebauten Bark dem Warnungsruf.

Erregt schreitet der Kapitän an Deck auf und nieder. Wasserdichtes Oelzeug umhüllt seine riesige Gestalt. Der Südwester ist tief in das von Wind und Wetter gerötete Antlitz gezogen, das ein blonder Bart umrahmt.

Ein kräftiger Seemannsfluch entringt sich den Lippen des Mannes.

»Steuermann!« dröhnt der Ruf über Deck.

»Kapitän!« klingt es von irgendwoher zurück. Dann taucht ganz plötzlich der Gerufene auf, ebenfalls im Oelzeug. Die beiden verschwinden in der Kajüte. Karten sind auf dem Tische ausgebreitet.

»Was meint Ihr, Steuermann, wo wir sind?«

Der Kapitän hat seinen triefenden Südwester unwirsch in eine Ecke geschleudert. Jetzt gleicht der Mann mit dem lichtblonden Haupt- und Barthaar einem jener altnordischen Wikingsrecken, und dazu paßt die breitbrüstige Gestalt.

Der Steuermann zuckt die Achseln. Dann deutet er mit dem Zeigefinger auf einen Punkt der Karte – er hätte auch einen beliebigen andern wählen dürfen, es hätte ebensogut der richtige sein können.

Da poltern Schritte die Treppe herunter. Die Kajütentür wird aufgerissen.

»Kapitän, es klart auf!« ruft der Schiffsjunge den beiden zu.

An ihm vorüber stürmen sie nach oben. Wahrhaftig! Die Nebelmassen sind in Bewegung geraten. Ein tiefer Seufzer befreit die Brust von dem darauf lastenden Druck.

»Es klart auf!«

Wer von der Besatzung abkommen kann, der drängt sich an die Reeling.

Die Blicke aller spähen voraus. Jetzt muß sich's zeigen, wo man sich befindet. Der Kapitän hat den Sextanten bereits in der Hand.

Ein Schrei ertönt – nicht freudig – nicht erschreckt – aber wie von einer schlimmen Ahnung erpreßt.

Mild leuchtet ein Feuer durch die weichenden Nebelmassen. Ein Wegweiser für die verirrten Seeleute – gleichzeitig jedoch auch ein Warner.

Es muß sich sofort erweisen, was es für diese hier bedeutet.

»Ein Feuer voraus – zwei Strich über Backbord!« schreit der Ausguck.

Kapitän und Steuermann schauen einander einen Moment an. Nicht die Furcht hat dieselben erbleichen lassen – die kennt der deutsche Seemann nicht – aber die Verantwortung.

Dort drüben die beiden Feuer reden eine eindringlich warnende Sprache.

Und kaum ist der Alarmruf verklungen, da tönt es abermals über Deck:

»Brandung voraus!«

»Ruder hart Steuerbord!« schreit der Kapitän mit voller Lungenkraft zurück.

Im Nu reißt der Mann am Steuer das Rad herum. Totenstill ist's auf dem Schiffe, nur ein fernes Donnern ist vernehmbar – dort wartet die Brandung auf ihr Opfer.

Niemand regt sich mehr. Der nächste Augenblick muß entscheiden.

Da – ein leises Knirschen – dann ein Ruck – noch einer – und jetzt der letzte.

Krachend kommen die Rahen von oben hernieder und schmettern aufs Deck, auf das die Männer geschleudert worden sind. Ein Stück der Reeling ist zum Teufel.

Fluchend springen die Leute auf.

»Wir sitzen fest!«

»'S ist keine Gefahr fürs Schiff!« sagt der Kapitän gleichmütig – wenigstens scheint es so – dann winkt er dem Steuermanne. Sie steigen abermals in die Kajüte, und nun brauchen sie nur einen Blick auf die Karte zu werfen, da wissen sie, wo sie sind.

»Schade um die Bark!« brummt der Steuermann, denn ihm macht der Kapitän nichts vor. Sie kommen im Leben nicht wieder ab von der Bank. Die Küste ist zwar nahe, eine Insel, aber zwischen ihr und den Festgesegelten wütet die Brandung, und die Wolkenwand, die im Nordwesten aufsteigt, verkündet Sturm.

»Den Raketenapparat?« fragt Jürgens halblaut.

»Geht zum Teufel, Mann! Kapitän Flederwisch hilft sich selber!« knurrt der Kapitän. Er bleibt allein, doch er setzt sich nicht dumpf grübelnd an den Tisch, sondern schreitet unruhig durch den engen Raum, und draußen donnern die Wasser gegen die Planken der Bark. So verstreicht die Zeit.

 

Am Strande drüben drängen sich die wetterharten Gestalten der Inselbewohner, Männer und Frauen, und seltsam hebt sich unter den letztern ein schlankes junges Mädchen im Regenmantel ab, dessen Kapuze von dem blonden, leichtgewellten Haar geglitten ist.

Das ist keine eingeborne Friesin, die sind derber gebaut als sie. Das ist feinere Art, edlere Rasse.

›Imma‹ heißt sie – genau wie die Bark drüben.

Klas Klüsen, der eben durch das Glas gelugt hat, schüttelt das Haupt, ehe er jedoch seine Entdeckung kundgibt, späht er noch einmal hinüber. Sicher muß der Mann gehn.

»Das Dunnerwedder!« Der Priem rutscht aus der rechten in die linke Backentasche. »Fräulein – das ist wahr – es ist die ›Imma‹, Kapitän Flederwisch!«

»Die ›Imma‹«

Ein breites Lächeln geht über die Gesichter der Friesen. Gutmütiger Spott liegt darin.

»Kapitän Flederwisch läßt sich nicht helfen!« sagt einer.

Sie bleiben aber trotzdem alle am Strande. Gehört hat jeder von dem verwegnen Schmugglerkapitän, aber gesehen hat ihn noch keiner. Da lohnt sich's schon, zu warten.

Nur der Lotsenkommandeur, Piet Jensen, schüttelt bedächtig den Kopf.

»Wir kriegen einen Sturm aus Nordnordwest!« sagt er, zu Imma gewendet.

Imma – ein schöner Name – die Fleißige bedeutet er – schaut den Sprecher fragend an.

»Dann kommt er ab?«

»Neeee! Er geht verloren!«

Die Schwester des Kapitäns Flederwisch versteht genug von der Seemannssprache. Sie weiß, daß Piet Jensen das Todesurteil über die Bark da drüben gesprochen hat, aber sie kennt auch ihren Bruder. Er wird nicht zu lange zögern, die Boote auszusetzen.

Was er nur in dieser Gegend zu suchen hatte?

Von allen den Leuten am Strande der Insel ist Imma die einzige, die noch nicht erfahren hat, daß ihr Bruder der berühmte Schmugglerkapitän ist.

Hui – ein Windstoß jagt heran.

Fest muß man stehn, will man nicht von ihm zu Boden geschleudert werden.

Eine Wolke von Wasserstaub oder Regen ergießt sich über die Wartenden, dann wird es wieder ganz ruhig. Jetzt aber schauen bereits viele Augen erst nach der festgelaufenen Bark, dann nach der schwarzen Wolkenwand mit fahlgelben Rändern, die fast den ganzen Nordwesthimmel einnimmt.

»Dimmi, das ist nun Zeit!« murrt Piet Jensen.

»Holt den Signalapparat!« befiehlt der Lotsenkommandeur, gerade als die zweite Bö heranbraust. »Das Rettungsboot klar!«

Die Männer, die heute am Dienste sind, eilen fort, so schnell wie ihre Kleider und ihr Phlegma es erlauben; in verhältnismäßig kurzer Zeit ist der Apparat aufgestellt.

Piet Jensen bedient ihn selbst und läßt die erste Rakete gegen den Himmel steigen, an dem die Wolken mit rasender Schnelligkeit dem Lande zutreiben.

»Braucht ihr Hilfe?«

An Bord der ›Imma‹ versteht man die Frage wohl, aber man beachtet sie gar nicht.

»Kapitän Flederwisch läßt sich nicht helfen!«

Er ist fertig mit der Berechnung, die er anstellte, während er in der Kajüte auf und nieder wanderte. Es klappt alles. Mag die Bark mitsamt der Ladung zum Teufel gehn! Wozu ist sie denn hoch versichert?

Flederwisch steigt an Deck.

Ein einziger Blick trifft die drohende Wolkenwand, der zweite schweift hinüber nach dem Strande der Insel – fast verächtlich. Des Kapitäns scharfes Auge hat ohne Zuhilfenahme eines Fernrohres erkannt, daß die Leute Vorbereitungen zu seiner Rettung treffen.

»Die Boote klar!«

Flederwisch kehrt noch einmal in die Kajüte zurück – er betritt sie zum letzten Male – eine kleine, eiserne Kassette mit den Schiffspapieren nimmt er an sich – vielleicht ist auch Geld drin. So, fertig! Leb wohl, wackere Imma! Du hättest ein rühmlicheres Ende verdient.

Ein donnerndes Krachen – ein scharfes Splittern und dann ein Heulen und Pfeifen und Sausen, als wenn die Hölle ihre sämtlichen Teufel losgelassen hätte!

Zagend tritt der Steuermann zu dem an Bord kommenden Kapitän. Es ist mit ihm nicht gut Kirschenessen, wenn er zornig ist. Aber Flederwischs männlich schönes Antlitz ist ehern und unbewegt. Es bedarf keiner Meldung. Er sieht sofort, daß die Boote verloren sind, zerschmettert beim Versuche, sie auszuschwingen.

»Der Junge ist über Bord gewaschen!« brüllt der Steuermann aus nächster Nähe dem Kapitän ins Ohr, anders kann er sich bei dem Tosen des Nordweststurms nicht verständlich machen.

Flederwisch erwidert nichts. Seemannslos! Da hilft kein Bedauern! Für die alte Mutter des Ertrunkenen wird schon gesorgt werden.

Brecher auf Brecher stürzen über Deck, die Reeling vollends zerschmetternd. Die ›Imma‹ erzittert wie in Todesangst.

Der Strand ist nicht mehr zu sehen. Zwischen ihm und der Bark wütet die kochende, brausende See. Der ›blanke Hans‹ lechzt nach neuen Opfern. Er will sich die todgeweihte Besatzung nicht entreißen lassen.

Ja, wenn der wackere Piet Jensen nicht wäre!

Die Raketen, die eine Rettungsleine zu den Schiffbrüchigen tragen sollten, sind auf halbem Wege vom Sturme ins Meer geschleudert worden. Da hilft es nichts, da muß das Rettungsboot hinaus.

Die Fischerfrauen haben die blonde Imma mit ins Dorf ziehen wollen. Sie aber hat sich verzweifelt gewehrt und ist geblieben.

Der Sturm will ihr die Kleider vom Leibe reißen, die Haare haben sich gelöst und flattern wild um das weiße Antlitz, aber sie stemmt sich fest ein.

Ihr Bruder ist in Gefahr, da darf Imma nicht eher vom Platze weichen, als bis sie den Geretteten in den Armen hält.

Sechzehn Mann haben sich die Korkgürtel um die Leiber geschnallt. Sie verteilen sich auf beide Seiten des Rettungsbootes und schieben es auf dem niedrigen Rädergestell den Strand hinab – hinein in die wildbewegten Wasser.

Jetzt rollt eine mächtige Woge heran, um die kühnen Männer mitsamt ihrer Nußschale zurückzuschleudern. Doch im Nu sind sie ins Boot gesprungen. Die mächtigen Riemen ruhen in den stählernen Fäusten.

»Ho – o – o – o!«

Der Kampf der Friesen mit ihrem Erbfeinde, mit dem ›blanken Hans‹ beginnt – und – er siegt –

Brüllend wälzt er Woge auf Woge heran.

Jetzt hebt eine das Boot auf ihre Schultern.

Es kentert, aber sofort haben die Männer die Leinen erfaßt, die rings um den Rand des Fahrzeugs laufen. Es sinkt nicht, denn die großen, mit Luft gefüllten Kammern am Bug und am Heck halten es über Wasser, und auch die Korkwesten tun ihre Schuldigkeit.

Eine neue Woge schleudert alles zusammen auf den sandigen Strand zurück.

Einen Moment verschnaufen die Friesen, dann schieben sie das Boot von neuem ins Meer – wieder erfolglos.

Achtmal versuchen sie das Wagnis, und achtmal ist ihr Heldenmut vergebens. Zähneknirschend, keuchend stehn sie am Strande, und der greise Piet Jensen schüttelt in grimmiger Drohung die Fäuste gegen die brüllende See.

Hier sind Menschenkräfte ohnmächtig, hier kann Gott allein helfen.

Imma steht wie versteinert. Sie bestürmt die Wackern nicht mit nutzlosen Bitten, aber sie kann es auch nicht verhindern, daß ihr die Tränen in großen Tropfen über die erblaßten Wangen rinnen – salzige Zähren, die sich mit der sprühenden Salzflut des Meeres vermischen. –

Woher er gekommen, wie er so plötzlich mitten unter ihnen auftauchen konnte, das hat später niemand zu sagen vermocht; sie wußten nur, daß er tags zuvor auf die Insel gekommen war.

Ein noch jugendlicher Mann war's, bartlos das edelschöne, energische Gesicht. Ein vom Regen vollkommen durchnäßter, leichter Flanellanzug umhüllte die schlanke Gestalt, und mächtig blitzten die Augen die friesischen Fischer an.

Da wußten alle, was er wollte, und ohne daß er ein Wort zu sagen brauchte, stemmten sich abermals sechzehn kraftvolle Schultern gegen das Boot.

Zum neunten Male verschwand es in der finstern Nacht, und diesmal brachte keine Woge es zum Kentern. Es war, als wenn selbst das Meer sich dem Willen des Unbekannten beugte.

Lange, ewig lange Minuten verstrichen und wurden zu Stunden.

Angstvoll spähten hundert Augenpaare in das Dunkel. Da – auf dem Rücken einer mächtigen Woge kam es heran – am Ruder, aufrecht stehend, der Unbekannte, der tapfere Held – und zwischen den Duchten, den Sitzbänken der Ruderer, kauerten die Geretteten.

Aufjauchzend eilte Imma den mutigen Rettern entgegen. Von neuem erbleichend musterte sie die Leute, die dem Boote entstiegen.

»Wo ist mein Bruder? Wo ist euer Kapitän?« schweigend deutet der Steuermann hinaus auf.

Imma versteht. Als letzter geht der Kapitän von Bord seines Schiffes oder er versinkt mit ihm.

Das zitternde Weib will eine Bitte wagen. Seine Augen begegnen denen des Fremdlings – nur eine Sekunde tauchen die Blicke ineinander, lange genug, um jedem das Bild des andern unverwischlich in die Seele zu bannen.

Imma muß unwillkürlich an St. Michael, den Drachentöter denken, dann sieht sie, wie die Männer zum zehnten Male die Todesfahrt wagen. Wieder steht am Ruder der blonde Held mit den sieghaften Augen, die seine unbeugsame Willenskraft dartun, und wieder spähen alle ins grauenhafte Dunkel.

Wieder verstreichen Stunden – und zum letzten Male kehren die Wackern zurück. Das schöne Mädchen ist in die Knie gesunken.

Triefend von Nässe schreitet der Fremdling auf sie zu. Auf seinen starken Armen trägt er einen Mann mit blutender Stirn – Kapitän Flederwisch – und läßt ihn vor Immas Füßen auf den Sand gleiten.

»Er lebt! Eine fallende Spiere traf ihn!«

Doch Imma sieht nicht auf den bewußtlosen Bruder – sie hat nur Augen für seinen Retter, und plötzlich springt sie auf.

»Ihre Hand – Sie sind verwundet!«

Das Spitzentaschentuch, das vom Regen und Spritzwasser längst durchweicht ist, zieht sie hervor, und ehe er es hindern kann, hat sie ihm die Wunde verbunden; aber kein Wort des Dankes kommt über ihre bebenden Lippen.

Ohne daß Imma weiß, was sie tut, kehrt sie zu ihrem Bruder zurück. Neben diesem kniet bereits der Steuermann, und da schlägt Kapitän Flederwisch die Augen auf.

Er erblickt Imma – er staunt – und dann fragt er:

»Wo ist er?«

Alle wissen, wen er meint, alle spähen nach dem Helden, doch der ist verschwunden, wie er gekommen.

Flederwisch ist aufgesprungen.

»Kanntest du ihn, Schwester?«

Imma schüttelt wie träumend das Haupt.

»Es war Sankt Michael!« murmelt sie.

Piet Jensen tritt zu ihnen.

»Kapitän,« sagt er geheimnisvoll, »wollt Ihr wissen, wer es war?«

Dann beugt er sich weit vor, bis sein Mund das Ohr Flederwischs erreicht.

»Es war Prinz Alfred!«

Dazu macht der Lotsenkommandeur eine Armbewegung. »Von dort drüben!« soll sie bedeuten.

»Bah!« lacht Kapitän Flederwisch. »Prinz Alfred – von dorther? Mann, ebensogut könnt Ihr ihn den Prinzen Niemand nennen. He, was meinst du, Imma, wenn wir meinen unbekannten Retter Nobody taufen? ›Wer hat Euch von der Bark geholt, Flederwisch?‹ wird man mich fragen, und ich werde antworten: ›Wer? Na, wer denn sonst als der Mister Nobody, der Prinz von dorther!‹«

Lachend beschrieb er einen Kreis in der Luft. »Komm, Schwesterlein,« sagte er dann, »ein steifer Grog wird uns gut tun!«

 

In den Flur eines vornehmen Privathauses in dem feinsten Viertel Londons trat ein hochgewachsener, breitschultriger, aber trotzdem schlankgebauter Mann.

Von einem Kleiderständer nahm er einen weiten Mantel und warf ihn über die Schultern, dann preßte er einen breitkrempigen Schlapphut auf die blonden, leicht gewellten Haare.

Der Kapitän Flederwisch war im Begriff, trotz der späten Nachtstunde noch einmal auszugehn. Er hatte nach dem Verlust seiner Bark ›Imma‹ sich zur Regelung der Versicherungsangelegenheit nach London begeben und wohnte dort, wie immer, im Hause seiner Tante, einer unverheirateten, sehr reichen Dame, Miß Muggridge mit Namen.

Hastig tastete der Kapitän noch einmal an seine Taschen, als wenn er sich überzeugen wollte, daß er alles zu sich gesteckt habe, was er brauchte. Dann schritt er durch den Flur bis zu einer Treppe, stieg dieselbe empor, gelangte vor eine Tür und klopfte an dieselbe.

Unmittelbar darauf öffnete er sie und trat in das Zimmer.

Der Mondschein erleuchtete es.

Von dem Bette erhob sich ein untersetzter, kräftig gebauter Mensch, ein Mulatte. Er war vollständig angekleidet, mußte also den späten Besuch noch erwartet haben.

»Bist du fertig, Manuel?« fragte Flederwisch.

Schweigend setzte der Mann eine Mütze auf.

»Ich habe viel Geld bei mir. Bist du bewaffnet?«

Ohne auch jetzt etwas zu erwidern zog Manuel aus dem Aermel seiner Jacke ein langes, breitklingiges Messer, die Hauptwaffe der kubanischen Bevölkerung, eine Machete, mit der man ebensogut hauen, wie stechen kann.

Während er die Klinge im Mondschein funkeln ließ, grinste der Mulatte vielsagend, so daß sein weißes Wolfsgebiß sichtbar ward.

Kapitän Flederwisch nickte.

»Es ist gut,« sagte er, sich zum Gehn wendend. »Wir benützen zunächst einen Wagen, dann aber müssen wir laufen – durch Whitechapel. Niemand darf erfahren, wohin ich mich begebe, welches Haus ich betrete. Schon aus diesem Grunde mag ich mit keinem Konstabler etwas zu tun haben. Du selbst aber kommst mir nur im äußersten Notfall zu Hilfe. Verstanden?«

Manuel nickte grinsend.

»Kannst du nicht reden, schwarzes Vieh?« fuhr Flederwisch ihn an.

Doch sofort beruhigte er sich wieder.

»Wie gefällt dir unser neuer Steuermann?« fragte er den Mulatten.

Diesmal brummte der Gefragte zwar etwas vor sich hin, aber es blieb unverständlich. Das reizte von neuem den Zorn des Kapitäns.

»Verdammt!« fluchte er. »Glaubst du, ich wüßte nicht, daß du den Mann nicht ausstehn kannst, daß du ihn haßt? Er sieht dir zu ehrlich aus. Du hältst ihn für einen Aufpasser, den ich mir selbst auf den Nacken gesetzt habe. Hahaha! So dumm ist Kapitän Flederwisch nicht. Ich sage dir, Manuel, der Kerl ist zu gebrauchen. Denke an die ›Imma‹, wie wir festsaßen und er uns Mann für Mann von Bord holte!«

»Und wie Eure Schwester ihm die Hand verband!« murrte der Mulatte.

»Hund, was willst du damit andeuten?«

»Andeuten? Sie liebt ihn!«

Der blonde Riese machte eine Bewegung, als wollte er den Frechen mit einem Faustschlag niederschmettern. Plötzlich aber lachte er laut auf.

»Desto besser, wenn du recht hättest! Desto eher würde er Gefallen an unserm Treiben finden – und eine feine Hand an Bord ist er. Jetzt aber merke dir, du Rabenvieh! Wenn du noch einmal eine solche Andeutung fallen laßt, wie eben, dann prügle ich dich räudigen Hund windelweich. Vorwärts! Komm!«

Der Mulatte mußte wirklich eine Hundeseele besitzen. Sein Gesicht war grimmig wie das eines Bullenbeißers, aber treuherzig blickten die Augen seinen Herrn an, und dabei zitterte er, weil dieser ihn hart anfuhr.

Sie verließen die Kammer und das Haus. Es war eine finstre Februarnacht, die Straße schneelos und trocken. Flederwisch ging nach dem nächsten Droschkenhalteplatz, nahm aber nicht ein Hansom, den schnellen, zweirädrigen Wagen, den der geschäftige Engländer benutzt, sondern eines der seltenen, geschlossenen Fuhrwerke mit vier Rädern, das Kab.

»Aldgate Station,« gab er dem Kutscher an.

Manuel stieg nach ihm ein.

Es war eine sehr lange Fahrt. Durch die zugezogenen Fenster drang der brausende Lärm der Londoner Straßen an das Ohr der Schweigenden, dann wieder umgab sie manchmal ein Grabesstille, nur die Pferdehufe klapperten auf dem Holz- oder Asphaltpflaster, wenn der Wagen eines jener zahllosen, stillen Squares passierte, die, wie einsame Inseln im brandenden Weltmeer, in der Riesenstadt verstreut liegen.

Stumm lehnte Flederwisch in einer Ecke; das im Dunkeln glühende Auge des Mulatten war unverwandt auf ihn gerichtet.

Der Wagen hielt. Das lärmende Gewoge an der Aldgate Station, an der Grenze zwischen der City und Whitechapel gelegen, umgab die Aussteigenden. Das verrufene Whitechapel, wo sich alles zusammenfindet, was die Sechsmillionenstadt an Elend und Laster auszustoßen hat, ist bekannt. Allerdings darf man sich nicht ein ganzes Viertel der Armut vorstellen.

Den Hut tief in die Augen gedrückt, überschritt Flederwisch stationenweise die von vier doppelten Wagenreihen belebte Hauptstraße, die elektrisch beleuchtete Whitechapelroad, noch ein Kampf mit einer sich stauenden Menschenmenge, und er verschwand in einer finstern Court, einem Durchgange, einem der Schauplätze der Taten eines Jack des Aufschlitzers.

Als er den Gang auf der andern Seite verließ, hatte sich die Szenerie total geändert. Enge Gassen, in denen sich zwei Menschen kaum ausweichen können, armselige Hütten, eine Totenstille, dann wieder keifende Stimmen, wüstes Lärmen; dann wieder zehnstöckige Lagerhäuser und dazwischen immer eine Spelunke, drinnen an der Bar zechende Bettlergestalten, draußen johlende Männer und sich prügelnde Weiber.

Noch einige Wendungen, und die Schnapsatmosphäre wurde von einem Teergeruch verdrängt. Flederwisch befand sich in der gefährlichsten Gegend Londons, zwischen der Dockstreet oder dem Highway und dem St. Katharinendock liegend, am Tage sehr rege durch den Hafenverkehr belebt, am Abend der Sammelpunkt des schlimmsten Gesindels. Die Matrosen, welche sich von den hier gebotenen Genüssen angezogen fühlen, bilden noch das bessere Publikum; das andre, die eigentliche Einwohnerschaft dieses Viertels, besteht ausschließlich aus Dirnen aller Nationen und deren Zuhältern. Wehe, wer hier auch nur eine Messinguhrkette zeigt! Er kann sicher sein, sie nicht wieder herauszubringen, wenn er überhaupt selbst lebendig wieder herauskommt. Ein Londoner wagt sich gar nicht in diese Mördergrube; nur den Konstabler zwingt die Pflicht, die Gassen abzuschreiten; der gewandte Detektiv treibt sich verkleidet hier herum, die eine Hand am Revolver, in der andern den Totschläger.

Eine wildjohlende Bande von Männern kam die Straße herauf. Plötzlich verstummte der englische Gassenhauer, und im Nu war der Mulatte an Flederwischs Seite.

»Sie haben es auf uns abgesehen,« flüsterte er, und seine Faust verschwand im Aermel.

»Es sind englische Matrosen, mit denen werde ich fertig,« war die gleichgültige Antwort. Der Kapitän schritt weiter, Manuel wieder einige Schritte hinter ihm, die Augen vor Mordlust funkelnd.

Die Matrosen hatten sich verabredet, sie henkelten sich ein, daß sie die hier ziemlich breite Gasse versperrten. Flederwisch mußte vor ihnen stehn bleiben.

»Nun, was soll das?«

»Die Schleuse ist geschlossen, wie Ihr seht,« lachte ein breitschultriger, untersetzter Kerl. »Ein Shilling Zoll, dann kommt Ihr durch.«

Die schlimmste Sorte war das nicht. Es war nur eine rohe Art von Bettelei, die Burschen hatten kein Geld mehr zum Trinken.

»Und wenn ich den Shilling verweigere?«

»Dann müßt Ihr einen Gang mit mir machen, und daß Ihr's gleich wißt: Ich bin Bob Ned, der Championboxer von England.«

Das klang schon eher wie eine Drohung. Was tun? Hier war es das beste, nachzugeben. Flederwisch griff also in das Seitentäschchen des Mantels und drückte dem Matrosen ein Goldstück in die Hand.

Verdutzt betrachtete es der Mann.

»Eine Guinee! Hallo, Platz für den Gentleman, das ist ein wirklicher Gentleman, ein hip hip Hurra für ihn!«

Der Weg durch die brüllenden Matrosen war frei. Aber der Kapitän hatte das Goldstück nicht gegeben, um sich freizukaufen. Hier zeigte sich sein Charakter von einer andern Seite.

»Nein, mein Junge, so billig kommst du nicht davon. Erst sollst du mir beweisen, daß du wirklich ein Championboxer bist.«

Er nahm den Mantel ab und warf ihn dem sich an die Häuserwand schmiegenden Mulatten zu, welcher von jenen noch gar nicht bemerkt worden war. Der Matrose kannte etwas von Edelmut. Er weigerte sich anfangs; schließlich zog er aber doch die Jacke aus.

Der Kampf begann, und bereits nach fünf Sekunden schmetterte Flederwischs Faust dem Gegner zwischen die Augen, daß er wie ein gefällter Stier zu Boden stürzte und stöhnend und mit Blut bedeckt liegen blieb. Der Sieger brauchte nicht zu fürchten, daß sich nun die Kameraden auf ihn stürzen würden. Die Unparteilichkeit in allem, was Zweikampf heißt, ist dem englischen Volke in Fleisch und Blut übergegangen und bildet wenigstens eine Tugend selbst der verkommensten Klassen.

Die Gleichgültigkeit, mit welcher sich Flederwisch von dem Mulatten den Mantel umhängen ließ und seinen Weg fortsetzte, als wäre nichts geschehen, war erkünstelt, denn er hatte plötzlich einen ganz andern, federnden Gang angenommen, welcher seinen innern Stolz verriet.

»Bei dem bist du einmal an den Unrechten gekommen, Bob; aber wer hätte das dem auch zugetraut, – und erst gibt er uns ein ganzes Pfund,« hörte er hinter sich noch sagen, und das war es, was der Kapitän hören wollte. Und je mehr seine Brust vor Eitelkeit schwoll, desto demütiger schlich Manuel hinter ihm drein.

Vor einem baufälligen Häuschen, dessen verhangene Parterrefenster hell erleuchtet waren, blieb Flederwisch stehn und ließ den eisernen Klopfer ertönen.

»Ich habe es mir anders überlegt, du kommst mit hinauf,« sagte er zu dem Mulatten.

Eine ältere, geputzte und geschminkte Frau öffnete. Ohne ein Wort zu verlieren, ging der Kapitän, von dem Bootsmann gefolgt, an ihr vorüber, an einigen Türen vorbei, hinter denen Gläserklingen, Singen und Kreischen erscholl, stieg eine winklige Treppe hinauf, immer an vielen Türen vorbei, eine zweite Treppe, die ihn auf den durch eine Oellampe erleuchteten Bodenraum brachte, und klopfte an der einzigen Tür, die sich hier oben befand und einen Verschlag verschloß.

Der Oeffnende war ein altes, dürres Männchen mit Habichtsnase und Geieraugen, in einen zerfetzten Schlafrock gehüllt.

»Da sind Sie ja, Kapitän,« sagte seine Fistelstimme, die wie ein Kichern klang. »Und wer ist das?« setzte er mißtrauisch hinzu.

»Mein Bootsmann, weiß alles,« war die lakonische Antwort.

»zzziyyy All rightzzz/iyyy, kommt herein!«

Ein kleines Zimmer mit schiefer Vorderwand, eben nur ein Verschlag mit hölzernen Wänden, erbärmlich möbliert, nahm sie auf. Ein Schreibsekretär war der einzige Gegenstand, der nicht vor Altersschwäche zusammenzubrechen drohte. Auf dem wurmstichigen Tische stand die brennende Petroleumlampe, daneben lag ein Revolver.

Es war eine seltsame Szene, welche den Besuch einleitete. Ohne ein Wort zu sprechen, ging Flederwisch mit zwei großen, hastigen Schritten an den Tisch, nahm den Revolver, betrachtete ihn von allen Seiten, erst im Stehn, dann setzte er sich auf den ächzenden Stuhl und brachte die Waffe dicht ans Licht, drehte sie immer wieder in den Händen, hielt sie dicht vor die Augen und wieder weit von sich ab – kurz, er besichtigte sie mit einer Sorgfalt, als prüfe er einen kostbaren Diamanten auf seinen Wert oder eine nicht zu ersetzende Urkunde auf ihre Echtheit, und doch war es nur ein ganz einfacher, dicker, kurzläufiger Revolver, neu, die blanken Teile leicht eingefettet, der Kolben mit zinnernen Figuren ausgelegt, eine ganz billige Waffe, das Stück vielleicht sechs Mark im deutschen Ladenpreis. Flederwisch ließ ihn repetieren, visierte und drückte los, stand auf, prüfte ihn auf seine Handlichkeit, steckte ihn in die verschiedenen Taschen, wie sich diese bauschten, riß ihn heraus, tat, als schösse er, setzte die Mündung sogar mit einer raschen Bewegung gegen die eigne Schläfe.

»Schraubenzieher!« sagte er kurz.

Den hatte der Alte schon in der Tasche des Schlafrocks. Mit zitternden Fingern löste Flederwisch die Schrauben, unterzog die einzelnen Teile einer eingehenden Prüfung, setzte den Revolver wieder zusammen und legte ihn endlich tief aufatmend auf den Tisch.

Während dieses Vorganges hatte der Mulatte unbeweglich wie eine Statue in einer Ecke gestanden, der Alte auf dem ungemachten Bette gesessen und dem Prüfenden zugeschaut. Als dieser jetzt fertig war und sich die Blicke beider begegneten, lag etwas wie Feierlichkeit in ihren Mienen und in der stummen Pause.

»Nun?« fragte der Alte.

»Wenn alle so sind?«

»Einer wie der andre, alles eine Maschinenarbeit. Ist's das rechte Format?«

»Ja, das ist's, gerade das beliebte, um es verborgen bei sich zu tragen und im rechten Moment den Kopf seines Nächsten zu zerschmettern. Ich kenne den Geschmack dort. Kostenpunkt?«

»Zehn Pfund das Gros, die handliche Verpackung in Zentnerkisten extra ein Shilling drei Pence, frei ans Schiff.«

Von neuem betrachtete Flederwisch den Revolver. Er tat es wohl nur, um seine furchtbare Aufregung niederzukämpfen, seine Hände zitterten noch mehr als vorhin.

»Wie sie's so billig machen können?« kicherte der Alte. »Die Menge tut's; aus den Fabrikarbeitern schinden sie's heraus. Aber ohne mich hätten Sie's auch nicht so billig bekommen.«

»Wenn sie alle so sind,« murmelte der Kapitän nochmals.

»Ich garantiere dafür. Es ist doch mein eigner Schaden, wenn's nicht so wäre. Die Fabrik ist reell.«

»Woher kommen sie?«

»Das bleibt meine Sache, wie ich Ihnen schon oft gesagt habe.«

»Hm, 's ist zwar kein ›zzziyyy made in Germanyzzz/iyyy‹ darauf, aber sie kommen doch aus Deutschland. Wieviel und bis wann können sie geliefert werden?«

»In sechs Wochen, so viel Sie wollen. Tausend Tonnen? Sagen wir rund: zwei Millionen.«

»Zwei Millionen, abgemacht!« erwiderte Flederwisch, und es klang wie ein Aechzen.

Der Alte brachte Papier und Schreibzeug herbei und schrieb Zahlen; der Kapitän rechnete ebenfalls in seinem Notizbuche.

»Hundertundvierzigtausend einhundertneununddreißig Pfund Sterling,« sagte er, und der andre bestätigte es.

Es war ein Geschäft von drei Millionen Mark, nicht zu groß für eine ganze Schiffsladung, da kommen oft noch ganz andre Zahlen zur Berechnung, aber ungeheuerlich groß war es für diese Umgebung, und seltsam, wie das Geschäft abgeschlossen wurde.

Wieder war eine feierliche Pause eingetreten, die beiden sahen sich nur an.

»Und was nehmen Sie fürs Schieben, Davis?« ergriff Flederwisch leise wieder das Wort.

»Das wissen Sie: fünfundzwanzig Prozent vom Zoll. Ein Piaster steht auf den Revolver, das sind nach jetzigem Kurse gerade vier Shilling. Hunderttausend Pfund Sterling, ein Viertel davon bar Anzahlung, die ausgemachte Bürgschaft, und Sie haben sich überhaupt um nichts mehr zu kümmern.«

»Abgemacht,« seufzte Flederwisch erleichtert auf.

»Haben Sie's mit? Ich brauche Geld, ich muß den Fabrikanten bezahlen.«

»Bah, das wird bei Ihnen nicht so eilig sein. Ja, ich habe es mit.«

»Junger Mann, solch eine kolossale Schiebung habe ich noch nicht gemacht,« sagte der Alte, und es lag ein Staunen in seinem Tone, das sonst gar nicht zu dem ausgetrockneten Männchen passen wollte; übrigens setzte er auch gleich wieder phlegmatisch hinzu: »Na, wenn Sie die Dinger loswerden können, mir soll's recht sein.«

»Mit Leichtigkeit. Rechnen Sie aus, Südamerika hat zirka siebzig Millionen Einwohner! Wieviel Kinder werden dort jährlich geboren, kein Mensch ist dort ohne Waffe, und das Rätsel ist gelöst.«

»Trotzdem, 's ist viel. Wo wollen Sie die Dinger an Land schmuggeln?«

»Das geht nun eigentlich wieder Sie nichts an, Davis. Von Schmuggeln ist überhaupt keine Rede, es geschieht mit der Erlaubnis einer hochwohllöblichen Regierung.«

»Das machen Sie mir altem Mann nicht weis, ich kenne die Verhältnisse dort unten auch. Diese verhungerten Regierungen lassen zwei Millionen Dollar nicht ohne weiteres fahren. Ja, wenn ein Krieg in Aussicht wäre! Aber davon ist jetzt keine Rede.«

»Was heißt dort unten Regierung?« entgegnete Flederwisch achselzuckend. »Heute Republik, morgen Monarchie, übermorgen Anarchie. Wer dreist ist und Geld hat zum Bestechen, wird Präsident, und wer noch kecker ist und noch mehr Geld hat, wirft diesen hinaus und setzt sich als Kaiser auf den Thron. Na, Davis, Ihnen kann ich es ja sagen, eine Krähe hackt der andern kein Auge aus: solch einen Mann mit Gelüsten nach der Krone gibt es in Quito, einen portugiesischen Kaufmann, der von seiner klugen, englischen Schwiegermama geleitet wird; wahrscheinlich stecken auch noch andre dahinter, englische Kapitalisten und Börsenjobber. Er hat der Regierung die Guanofelder als Pfand abgenommen, hat daher jetzt die Macht in Händen, und ihm liefere ich die Revolver. 'S ist so gerade die richtige Fasson, sie in einem Volkshaufen, wenn so bei der Wahl Mann an Mann steht, aus der Tasche zu reißen und loszuknattern. Und die Rebellion geht weiter. Vielleicht gibt es bald ein vereinigtes Kaiserreich von Kolumbia, Ecuador und Peru.«

»Glück zu!« sagte Davis, der sich wenig für diese Politik zu interessieren schien. »Also Sie meinen, Sie könnten die Kisten gleich so ohne weiteres ohne Zoll an Land schaffen?«

»Nein, nein, das geht nicht. Ich brauche auch noch Deckung, zweihundert Tonnen habe ich noch frei. Das andre, was ich bekommen habe, ist leichter Papierkram, kann ich nicht dazu benutzen. Was schlagen Sie vor?«

»Daß Sie die Fracht nicht als Revolver versichern, kann ich mir lebhaft denken, sonst brauchten Sie mich nicht,« kicherte Davis. »Nach Südamerika? Hm, da gehn am besten Waffen, Oberhemden und Champagner.«

»Unsinn, gerade darauf steht ja der höchste Zoll. Eisengut muß es natürlich sein, nicht ganz zollfrei, sonst sind die Schnüffelhunde nicht zufrieden, wenn sie gar nichts Verzollbares finden.«

Der Alte erhob sich, schlurfte an den Sekretär und entnahm einem Schubfache ein gewöhnliches Türschloß mit daranhängendem Schlüssel. Es trug in einem Stempel den lächerlichen, sich aber an allen guten, billigen Bedarfsartikeln Englands in verschiedenen Variationen wiederholenden Vermerk: Englisches Fabrikat, gemacht in Deutschland.

»Werden Sie das los?«

»Famos, das geht!« rief Flederwisch erfreut. »In sechs Wochen zweihundert Tonnen?«

Auch dieses Geschäft wurde gemacht, die Fracht für das neue Schiff war besorgt. Die beiden besprachen noch, wie und besonders in welcher Reihenfolge die Kisten an das im St. Katharinendock liegende Schiff herangefahren werden sollten, welches geheime Merkmal die Revolverkisten von denen mit den Türschlössern unterschied.

»Nun aber die Anzahlung und die Bürgschaft,« drängte Davis.

Flederwisch zog aus der Brusttasche ein dünnes Päckchen, und während der Alte es in Empfang nahm und jede der vierundzwanzig Tausendpfundnoten prüfend durch die Finger gleiten ließ, bedeckte der Kapitän den ganzen Tisch aus einer andern Tasche mit Zehnpfundnoten, einige Goldstücke hinzufügend.

Immer noch stand Manuel wie eine eherne Statue in der dunklen Ecke. Nur seine Augen bewegten sich, bald blickten sie glühend nach dem Tisch, wo eine halbe Million aufgezählt wurde, bald funkelten sie nach dem Sekretär hinüber, welcher den Schatz aufnahm, bald rollten sie durch die ganze Stube, daß manchmal fast nur das Weiße sichtbar war.

Da zog Flederwisch noch ein Papier hervor, und wieder bebten seine Hände. Kein Wort wurde gesprochen. Der Alte las und nickte zufrieden, die Feder ging von einem zum andern, es wurde geschrieben und unterzeichnet.

Es war eine sehr kalte Februarnacht, das Zimmer ungeheizt, und doch mußte sich der Kapitän immer die dicken Schweißtropfen von der Stirn wischen.

Das ganze Vermögen der Lady Muggridge, seine zukünftige Erbschaft war es, welche er verpfändet hatte, und sie mußte ihm ganz sicher sein, sonst hätte dieser alte Mann sie nicht als Bürgschaft angenommen. Was aber hätte wohl die gute Tante gesagt, wenn sie es erfahren? Nun, vielleicht wäre sie mit dem spekulanten Neffen zufrieden gewesen, der es ja nur tat, um dadurch noch mehr Geld zu gewinnen.

Auch dieses kostbare Papier wanderte in den Schreibsekretär, verfolgt von des Mulatten im Dunkeln glühenden Augen.

Flederwisch hatte sich beruhigt.

»Sie bewahren das viele Geld und die Papiere einfach so in dem alten Holzschrank auf?« fragte er.

»Das Geld bleibt nicht lange drin, geht schon morgen wieder weg, und die Dokumente liegen dort sicher. Warum auch nicht?«

»Na, ich danke! Sie wohnen hier in einer netten Gesellschaft!«

»Sicherer als in jedem andern Hause, die Mädels unten sind die besten Wächter, die schlafen nur am Tage, wenn niemand einbricht. O, sie haben's schon ein paarmal versucht, bei mir hereinzukommen. Aber die Mädels haben es immer gleich gemerkt, wenn jemand auf dem Dache herumkroch, und so leicht geht das auch nicht.«

Der Mulatte fand diese Angelegenheit so interessant, daß er sich schnell umwandte und durch das kleine Fenster spähte. Doch nur einen Blick hatte er hinausgeworfen, dann stand er wieder regungslos wie zuvor da.

»Und wenn's mal brennen sollte,« fuhr der Alte gleichmütig fort, »die paar Papiere sind mit einem Griff in meinen Händen, und verbrenne ich, na, dann mag auch der Plunder verbrennen. Meine Erben kenne ich gar nicht.«

»Den Teufel auch!« fuhr Flederwisch auf. »Dann verbrennen meine fünfundzwanzigtausend Pfund mit, und ich sitze mit dem dicken Kopfe und mit meinem leeren Schiffe in einer schönen Lage da!«

»Ohne Sorge, junger Mann, die nötigen Briefe schreibe ich noch heute abend, und Ihr Geld wird gleich morgen früh in Sicherheit gebracht, wie ich schon sagte. Daß ich's noch heute nacht auf die Post trage, können Sie nicht verlangen, also brauchen Sie nur diese Nacht einmal unruhig zu schlafen, das ist das einzige Risiko, und ein solches muß doch bei so einer Sache sein, sonst machte sie gleich jeder nach!«

Der Alte hatte wohl scherzhaft gesprochen, aber der Kapitän ging nicht darauf ein.

»Weiß nicht,« meinte er, »wenn ich so ein alter, einsamer Mann wäre, der immer große Summen bei sich hat, möchte ich doch nicht hier wohnen. Ueberdies könnten Sie sich auch ein anständigeres Quartier nehmen, daß man nicht bei Nacht und Nebel zu Ihnen schleichen muß!«

»Ja, Sie sind auch eine Ausnahme. Ich kann mich nicht allein nach Ihnen richten. Die Kapitäne, mit denen ich solche Schiebereien mache, sind sonst alles derbe, vierschrötige Kerle, die in so ein Haus passen und einmal unten einkehren. Was kann ich dafür, daß Sie ein Gentleman sind?«

»Dafür machen Sie aber auch mit mir andre Geschäfte. Es ist schon gut, Sie sind ein filziger Geizhals, Davis. Das Haus bildet allein da unten eine Goldgrube, und ich möchte wissen, was Sie schon zusammengescharrt haben. Dabei leben Sie von Wasser und Brot. Oder haben Sie mir einen Kognak anzubieten?«

»Nein,« kicherte der Alte, »da müssen Sie hinuntergehn. Oder soll ich Ihnen einen heraufholen? Ein Shilling das Gläschen.«

»Lassen Sie nur! Wenn ich bloß wüßte, wie Sie zu den Verbindungen gekommen sind, daß Sie heute einen ganzen Dampfer mit Essig befrachten können, und derweilen sind Spirituosen in den Fässern, und morgen eine ganze Schiffsladung zollfreie Nägel liefern, und wenn man sie auspackt, sind es Uhren geworden. Sollte man denn glauben, daß in dieser armseligen Spelunke Aufträge ein- und auslaufen und über Summen abgeschlossen wird, welche das Herz manches großen Bankiers erzittern machten?«

Flederwisch blickte sich in der Dachkammer um, und als er über der Tür den Spruch: »Gott segne deinen Eingang« las, lachte er laut auf.

»Jeder Mensch hat seine Profession,« meinte Davis, »und versteht er sie, ist nüchtern und kein Spieler, so bringt er es zu etwas. Ich verstehe mich darauf, Schiffsfrachten zu vertauschen, und ich begreife wieder nicht, wie Sie es fertig bringen können, zwanzigtausend Zentnerkisten unbemerkt an Land zu schmuggeln. Ich war in meinen jungen Jahren auch draußen auf See, habe auch bei Nacht und Nebel Spirituosen fässerweise nach Long Island gepascht und ein schönes Geld dabei verdient, versorge ja manchen Kapitän mit geeigneter Ware, aber daß man die Sache so im großen betreiben kann, das haben Sie mir erst mit der ›Imma‹ gezeigt. Und nun gar zwei Millionen Revolver! Wenn Sie nur einen Shilling am Stück verdienen! Aber Sie stecken doch den ganzen Zoll in Ihre Tasche! Mann, Kapitän, Sie müssen doch schon längst ein vielfacher Millionär sein?!«

Flederwisch hatte sich achselzuckend erhoben, ohne eine Antwort zu haben, er fühlte den lauernden Blick, der diese Frage begleitete, und wieder färbte sich sein Antlitz vor innerer Aufregung dunkelrot.

»Wenn Sie in Südamerika sind,« ließ sich des Alten Fistelstimme wieder vernehmen, »können Sie sich ja gleich die Tonne Gold ehrlich verdienen.«

»Was schwafeln Sie da?«

»Vielleicht finden Sie das Goldschiff.«

»Welches Goldschiff?«

»Haben Sie die Abendzeitungen noch nicht gelesen?«

»Nein.«

»Ein kleiner mexikanischer Dampfer wird vermißt, von Accapulco nach Panama, mit fünfzig Tonnen ausgeschmolzenen Goldbarren an Bord.«

»Alle Wetter!« flüsterte Flederwisch und sank auf den Stuhl zurück.

»Das Gold ist von der englischen Münze zusammengekauft worden, aus Kalifornien, Mexiko und überallher, war bezahlt, wurde in Accapulco als einfaches Frachtgut auf einem mexikanischen Dampfer aufgegeben, sollte nach Panama gehn, von dort über den Isthmus nach Portobello, wo schon ein englisches Kriegsschiff zum Empfange bereit lag. Das Schiff ist einfach weg, schon seit vier Tagen ist es überfällig, und man kann hier keine Hoffnung mehr haben, sonst würde man nicht hunderttausend Pfund – das sollen zwei Prozent sein – schon dem zusichern, der nur eine Mitteilung macht, wo das Schiff geblieben ist.«

Der Kapitän stierte vor sich hin und wühlte mit den Fingern im Haar.

»Wieviel sind fünfzig Tonnen wert?«

»Berechnen Sie es sich doch aus den zwei Prozent: fünf Millionen Pfund Sterling! Es muß sehr feines Gold sein, fertig zum Prägen. Klingt sehr viel, aber für die englische Münze ist das eine Kleinigkeit.«

»Fünf Millionen Pfund Sterling – hundert Millionen Mark – sie liegen vielleicht auf dem Meeresgrund! Was sich überhaupt da unten für Schätze angehäuft haben mögen! Davis, ich möchte nur vierundzwanzig Stunden ein Walfisch sein, ich wollte mir die Backentaschen tüchtig vollstopfen. Haben Sie die Zeitung hier?«

»Nein, die ist unten. Wahr ist es aber, alle Spalten stehn voll davon, sonst hätte ich's nur für die Phantasie eines Zeitungsschreibers gehalten; denn das will mir gar nicht in den Kopf, daß solch ein Schatz als gewöhnliches Frachtgut verschickt wird. Sind die denn verrückt?«

»Das verstehn Sie nicht, so wird es in Amerika immer gemacht. Das Washingtoner Schatzamt zum Beispiel schickt Gold- und Silbersummen stets als ordinäres Frachtgut, manchmal mit der Begleitung eines Bankbeamten, manchmal auch ohne den, oft Hunderte von Millionen, Banknoten gehn in einfachen Briefen fort, die Erfahrung hat gelehrt, daß dies sicherer ist als die umfassendsten Vorsichtsmaßregeln, die Spitzbuben werden weniger darauf aufmerksam gemacht. Denn was ist solch einem amerikanischen Gauner unmöglich! Der stiehlt gleich einen ganzen Eisenbahnzug und ein ganzes Kriegsschiff, wenn's nur lohnend ist. Diebstähle kommen freilich trotzdem noch oft genug vor, dann aber haben meistens die Beamten ihre Hand selbst im Spiele. Haben Sie nicht die köstliche Geschichte gehört, die drüben vor Jahren passierte? Vom Schatzamt in Washington werden zwei Kisten mit Gold nach San Francisco abgeschickt, sie gehn als das Gepäck zweier Beamten mit, die sich für Bleirohrreisende ausgeben müssen, und der Inhalt der Kisten ist denn auch als Bleirohr deklariert. Sie kommen in San Francisco an, die Kisten sind unverletzt, und als sie aufgemacht werden – wissen Sie, was drin ist?«

»Steine! Die Beamten oder die Gepäckschaffner haben unterwegs das Gold durch Steine ersetzt.«

»Nein, eben Bleirohre waren drin, wie angegeben! Die Gesichter der beiden Beamten möchte ich gesehen haben, hahaha! Denn die haben das Gold sicher nicht gestohlen, der eine ist auch im größten Elend gestorben. Das Gold ist sehr einfach schon im Washingtoner Schatzamt verschwunden, die Kisten sind überhaupt mit Bleirohren vollgepackt worden, und zwar auf höhern Befehl, denn die Sache ist dann von oben totgeschwiegen worden. – Fünf Millionen Pfund Sterling! Heiliger Gott, wenn ich wüßte, wo die lägen!«

Flederwisch kam gar nicht darüber hinweg, er wühlte sich noch immer im Haar.

»Na, wenn ich das wüßte, und sie wären für mich erreichbar, ich würde mich nicht mit zwei Prozent begnügen,« sagte Davis offenherzig.

Der Kapitän stand wieder auf und reckte sich.

»Davis, haben Sie wohl eine Ahnung, was so eine kleine Insel von ein paar Quadratmeilen kostet? So etwa in der Südsee oder sonstwo, vielleicht spanisch oder holländisch – nur so ungefähr den Preis. Solche Käufe sind ja oft genug abgeschlossen worden, habe mich aber nie darum gekümmert, und da kann man sich gleich um das Hundertfache verrechnen.«

»Was davon die Elle kostet? Nein, weiß ich nicht, ich handle nicht mit Inseln. Sie wollen wohl eine Kohlenstation darauf anlegen? Das ist riskant.«

»Kohlenstation!« höhnte Flederwisch. »Eine – Insel für verhungerte Geizhälse will ich anlegen. Nein, es ist nur ein Streit mit einem Bekannten, der alles besser wissen will. – Mister Davis, in sechs Wochen liegen die Revolver und Türschlösser in vorschriftsmäßiger Verpackung im Katharinendock, oder Gottes Tod über Sie! Wenn mir noch etwas einfallen sollte oder ich habe Ihnen sonst etwas mitzuteilen, so schicke ich Ihnen dort meinen Bootsmann. Sehen Sie sich ihn an! Gute Nacht, Davis! Komm, Manuel!«

In die regungslose Statue kam Leben, sie folgte ihrem Meister.

Einsam lag die Straße da. Nach einigen Schritten blieb Flederwisch stehn und wandte sich um, sein Auge suchte das schwach erleuchtete Fenster im zweiten Stock. Ein Seufzer entstieg seiner Brust, als er die Hand wie beschwörend gegen das Haus erhob.

»Wenn doch die Baracke in Flammen aufginge, und du mit, verfluchter Wucherer!«

»Amen!« erklang es hinter ihm. »Heute nacht noch, Kapitän?«

Wie vom Blitz getroffen drehte Flederwisch sich um und blickte in das grinsende Gesicht des Mulatten.

»Um Gottes willen,« sagte er tödlich erschrocken, »Mensch, da würden ja meine fünfundzwanzigtausend Pfund mit verbrennen, für nichts und wieder nichts! Aber wahrhaftig,« setzte er gezwungen lachend hinzu, »das war ein frommer Wunsch von mir!«

Er setzte seinen Weg fort, sein lebender Schatten folgte ihm lautlos.

 

Der Morgen brach an. Das auch während der Nacht nie ersterbende Leben in den Straßen der Riesenstadt setzte wieder mit voller Wucht ein. Aber alle die Tausende, die geschäftig ihren Bureaus und Werkstätten zueilten, gönnten sich unterwegs eine kurze Rast, um den schreienden Zeitungsjungen ein Extrablatt abzukaufen.

»Ein Raubmord in der Fleetstreet!«

Ganz London sprach davon, nicht weil ein Raubmord verübt worden war und der Raubmörder nach vollbrachter Tat das Haus in Brand gesteckt hatte – das ist ja in der Riesenstadt etwas sehr Gewöhnliches – sondern weil der ›Morning Leader‹, infolge seiner dreisten Sprache eine der gelesensten Zeitungen Londons, polizeilich konfisziert worden war. Das war in dem freien England, wo man selbst den König beliebig titulieren darf, in der Tat ein bedeutendes Ereignis, und es sollte wegen eines Berichtes über diesen Mord geschehen sein. Viele Hunderte von Nummern waren aber doch herausgekommen. Diese wurden jetzt von den glücklichen Besitzern auf der Straße verauktioniert, wie in England die Zeitungen ja überhaupt nur auf der Straße verkauft werden. Wer das Blatt erstanden, las den betreffenden Bericht, erzählte natürlich seinem Nachbar nichts davon, sondern verkaufte ihm das schon in Stücke zerfallende Papier einige Pence oder auch gleich einige Shilling teuer. Daneben stand der Policeman, der heute morgen vielleicht die Stereotypplatten mit Beschlag belegt hatte. Diesen nachträglichen Verkauf aber hinderte er nicht, das war erlaubt – weil man in der Eile das Verbot dagegen vergessen hatte.

Selbstverständlich beschäftigten sich auch die andern Zeitungen mit dem Fall, aber abgesehen von einigen Widersprüchen war es immer dasselbe: Nach Mitternacht wurde die Feuerbrigade von St. Georges durch Großfeuer alarmiert. In einer der Dockstraßen brannte es. Die Dampfspritzen vom Katharinendock rückten auch mit aus. Es gelang schnell, den brennenden Dachstuhl zu löschen – niedergebrannt war das Haus demnach gar nicht – die Eindringenden fanden den Eigentümer des Hauses, den alten Davis, tot in seiner ausgebrannten Kammer liegen, den Schädel mit einem beilartigen Instrument gespalten; alle Gelder und Wertsachen waren verschwunden.

Also ein Raubmord lag vor, und der Täter hatte, um sein Verbrechen zu verdecken, Feuer angelegt. Sein Plan war ihm jedoch nicht gelungen. Jede Spur des Mörders fehlte freilich noch.

Der ›Morning Leader‹ aber begnügte sich nicht mit diesen Feststellungen. Er führte des weitern folgendes aus:

Nein, hier lag kein Raubmord vor. Er war nur fingiert worden, um dem Verdachte eine falsche Richtung zu geben. Die Kammer war ausgebrannt; was hieß das? Ein Stuhlbein hatte Feuer gefangen, der Tisch war etwas angekohlt, der Schreibsekretär noch weniger, und dazwischen lag die Leiche des alten Mannes. Das Feuer war nach oben geschlagen, der Dachstuhl brannte und rief die Feuerwehr herbei. Aber der Sekretär war vollkommen ausgeräumt worden, das war der Schwerpunkt der Sache!

Wie der mit seinem Scharfsinn prunkende Zeitungsschreiber weiter erörterte, mußte der frühere Schiffsmakler, wegen Unreellität disqualifiziert, der aber, wie bewiesen werden konnte, doch noch mit Reedereien Geschäfte machte, welche das Licht des Tages scheuten, unbedingt Bücher geführt haben, er mußte doch irgendwelche Papiere besitzen! Man fand jedoch in dem Schreibsekretär und in dem ganzen Raume nicht ein einziges Zettelchen Papier, dagegen war bemerkt, leider nicht beachtet worden, daß in dem offnen Kamin, neben dem die Lampe mit zerbrochenem Ballon stand, ein großer Haufen von verbranntem Papier gelegen hatte.

Nicht ein Dieb, dem es um Geld und Wertsachen zu tun war, sondern ein Schuldner von Davis hatte die Tat begangen oder ein andrer in dessen Auftrag, was dasselbe war. Er hatte den Alten ermordet, die Papiere, die ihm von Wert waren oder ihn belasteten, sich angeeignet, dann wollte er das Haus in Brand setzen. Falls das Feuer aber gelöscht wurde, ehe er das Werk der Vernichtung vollbracht hatte, gab er dem ganzen das Aussehen eines Raubes, nahm also auch Geld und Wertsachen mit, und schließlich verbrannte er auch noch sämtliche Bücher und Schriftstücke, die er vorfand, sie im Ofen mit Petroleum tränkend, falls diese etwas ihn Belastendes enthielten.

Dann kam noch ein Nachtrag: Henry Davis, ein sehr reicher Mann, war als schmutziger Geizhals bekannt. Das Haus, in dem er wohnte, war übel beleumdet. Die Mieterin desselben hat bereits Aussagen gemacht, die bestätigten, daß Davis im großartigsten Maßstabe Schiffs- und Frachtenschieberei und unerlaubte Geldgeschäfte betrieb. In einem seiner Geschäftsklienten oder verzweifelten Opfer hatte man also den Täter zu suchen. Sonst fehlte noch jede Spur. Die Untersuchung des Schreibsekretärs nach einem Geheimfach oder nach einem Papier hatte noch nichts ergeben. –

Die Londoner Polizei tappte im Dunkeln. Sie konnte den geschäftlichen Beziehungen, die der Ermordete gepflegt hatte, nicht nachforschen, eben weil jeder Anhaltspunkt dafür fehlte.

Wie die Kunde von dem furchtbaren Ende des alten Schiffsmaklers, mit dem er noch wenige Stunden zuvor zusammengewesen war, auf den Kapitän Flederwisch wirkte, soll sofort beschrieben werden.

Hier sei nur noch betont, daß das Geheimnis, das über dem Raubmorde lag, wohl nie aufgeklärt worden wäre, wenn nicht Nobody gerade in London geweilt hätte, um den Kapitän Flederwisch zu beobachten.

zzziyyy Nobody ward Zeuge der blutigen Tat.zzz/iyyy Er hatte sie vorausgeahnt. Er kannte auch den Mörder, den er keinen Augenblick aus den Augen gelassen hatte.

Das entsetzliche Drama selbst aber hatte sich so schnell abgespielt, daß der alte Davis nicht mehr gerettet werden konnte.

Nobody allein hätte also den Mordbuben der strafenden Gerechtigkeit zu überliefern vermocht. Er tat es nicht, und er hatte seine guten Gründe dafür.

Erst viel später, aber gerade zur rechten Zeit, enthüllte Nobody in ›Worlds Magazine‹, das er selbst begründete, wie unsre Leser wissen, das Geheimnis, und da freilich staunten die Londoner nicht wenig – da klang der Name Noboby abermals bewundernd von Mund zu Mund – und auch unsre Leser werden dem berühmten Detektiven ihre Bewunderung nicht versagen, wenn sie erfahren, wie er noch monatelang täglich mit dem Mörder des alten Schiffsmaklers verkehrte, wie Nobody selbst mehrfach durch diesen Verbrecher in größte Lebensgefahr geriet, und in welcher dramatischen Weise er der rächenden Justiz endlich ihr Opfer überlieferte.

 

Das Spitzentuch, mit dem die blonde Imma ihm die Wunde an der Hand verbunden hatte, in der Tasche, fein säuberlich verwahrt in zartem Seidenpapier, wie jeder Seemann es mit derartigen Andenken tun würde, war der junge Held von der Frieseninsel nach London gekommen. Er wollte, nachdem er den berüchtigten Schmugglerkapitän Flederwisch bisher nur von fern beobachtet hatte, nunmehr in unmittelbare Beziehungen zu demselben treten, und wie schon angedeutet, gelang es ihm bereits am ersten Abend, nicht nur jenes heimliche Geschäft zu belauschen, das Flederwisch mit dem alten Davis abschloß, sondern auch die Katastrophe, der letzterer zum Opfer fiel.

Wie vom Donner gerührt saß Kapitän Flederwisch da, als er am gemeinschaftlichen Frühstückstisch beim ersten Blick in eine Zeitung die fettgedruckten Worte sah. Der ehemalige Schiffsmakler Henry Davis ermordet, seine Wohnung vollständig ausgeraubt, sein Haus niedergebrannt – mehr las Flederwisch nicht, es war zuviel für ihn, er hatte nur noch so viel Geistesgegenwart, sein Taschentuch herauszureißen und es vor das Gesicht zu halten, um mit der Entschuldigung des Nasenblutens schnell in sein Zimmer fliehen zu können.

Davis tot, alles verbrannt! Da war es ja, was er gewünscht hatte. Der starke Mann aber zitterte wie Espenlaub und warf sich stöhnend auf das Sofa.

Hatte Davis noch Zeit gefunden, das Geld für die Schmuggelware an den Lieferanten abzuführen? Wenn nicht, dann hatte Flederwisch die 25.000 Pfund Sterling unwiderruflich verloren.

Denn an wen sollte er sich halten? Etwa die Sache dem Gericht übergeben? Da wäre es vielleicht noch besser gewesen, sich an den Raubmörder zu wenden. Welche Firma war es, die die Revolver geliefert hatte? Denn selbst wenn sie schon bezahlt worden war, so wußte sie vielleicht und sehr wahrscheinlich nicht, an wen sie zu liefern waren. Alles ging durch Davis' Hände. Durch Rundfragen diese Firma ausfindig zu machen, das durfte der Kapitän gar nicht wagen, aus einem Grunde nicht, der gleich erwähnt werden soll. Sonst brauchte ja auch das Geschäft mit Davis nicht ein so heimliches gewesen zu sein.

Der Verlust der halben Million bedeutete Flederwischs pekuniären Ruin. Denn jetzt half ihm niemand mehr. Nun, dann hätte er sich, wenn es gar keinen Ausweg mehr gab, einfach eine Kugel vor den Kopf geschossen.

Wie ganz anders aber, wenn Davis vor seinem Tode die Lieferung bezahlt hatte, diese richtig ankam und alle Schuldscheine und sonstigen Papiere verbrannt waren!

Dann hatte Flederwisch mit einer halben Million eine Fracht erworben, die er schon hier in London sofort für sechs Millionen losschlagen konnte, die ihm in Südamerika, ehrlich verzollt, noch mehr einbrachte – und dann das andre! Wenn das geplante Schmuggelgeschäft ging! Doch daran wollte er jetzt gar nicht denken! Der Kopf wirbelte ihm.

Nicht also vor Angst, sondern vor Erwartung, vor furchtbarer Ungewißheit zitterte und stöhnte der Kapitän. Dabei schalt er sich einen Narren, den Bericht nicht zu Ende gelesen zu haben. Jetzt wagte er nicht mehr, in das Frühstückszimmer zurückzugehn, nach der Zeitung zu greifen, schon fürchtend, man könne ihn gleich mit dem Ermordeten – oder womöglich gar mit dem Morde selbst – in Verbindung bringen.

Als es an seine Tür klopfte, wußte er sich indes zu bezwingen.

Ein Dienstmädchen brachte die Post, darunter Zeitungen. Sie enthielten seine Erlösung wenigstens von einer Qual.

»Der ›Morning Leader‹ ist konfisziert worden,« konnte sich das Mädchen nicht enthalten, die große Neuigkeit mitzuteilen.

»Warum?«

»Weil der Schiffsmakler Davis ermordet worden ist, es hat etwas Verbotenes darin gestanden, der Milchmann hat es mir ...«

»Manuel!«

Vor dem gerufenen finstern dienstbaren Geiste entwich das Mädchen schnell ans dem Zimmer. Herr und Knecht schauten sich eine Zeitlang schweigend an, des Mulatten dicke Lippen begannen sich nach und nach zu einem Grinsen zu verziehen.

»Davis ist ermordet, sein Haus ist niedergebrannt,« brach Flederwisch endlich das Schweigen.

»Weiß es, freut mich, Ihr habt es ja gewollt,« grinste Manuel, und lauernd ruhten seine Augen auf dem erregten Kapitän.

»Schweig!« herrschte dieser ihn erregt an. »Hältst du mich etwa für solch einen Schurken, daß ich jemanden ermorden lasse? Wenn ich einmal einen Menschen ermorden wollte, dann führte ich es wenigstens selbst mit eigner Hand aus. Entweder oder! – Der ›Morning Leader‹ ist wegen eines Berichtes konfisziert worden, suche mir eine Nummer zu verschaffen, koste sie, was sie wolle. Hast du Geld? Hier, meine Börse!«

Der lauernde Ausdruck in des Mulatten Gesicht hatte sich bei den ersten Worten in ein leises Staunen verwandelt. Doch diese Veränderung war dem aufgeregten Flederwisch entgangen.

Als Manuel aus dem Zimmer ging, ließ er hinter seines Herrn Rücken verächtlich die Unterlippe hängen.

In höchster Spannung wartete Kapitän Flederwisch die Rückkehr des Mulatten ab. Die Zeit erschien ihm unerträglich lang; aber schon dämmerte eine neue Hoffnung in ihm auf, und sie ward immer kräftiger, je mehr er darüber nachdachte.

Der neue Steuermann, den Flederwisch tags zuvor für das Schiff geheuert hatte, was er erst noch kaufen wollte, hatte ihm erklärt, daß er geneigt sei, sich mit einem erheblichen Kapital, das ihm vor kurzem als Erbschaft zugefallen sei, an dem Unternehmen zu beteiligen, welches der Kapitän plante. Anfangs hatte dieser das Anerbieten schroff abgewiesen, denn er wollte niemanden außer dem Mulatten zum Mitwisser haben. Dann hatte er seine definitive Entscheidung bis heute aufgeschoben.

Das war ein großes Glück gewesen, wie Flederwisch sich jetzt sagte. Er war bereits entschlossen, das Geld seines neuen Steuermannes anzunehmen. Er konnte es brauchen, und sein Geschäftsgeheimnis wollte er trotzdem wahren.

Endlich erschien Manuel wieder. Er brachte den ›Morning Leader‹ und reichte das Blatt schweigend seinem Herrn.

Dieser deutete nach der Tür. Der Mulatte verschwand, und nun erst überflog Flederwisch hastig den Bericht, der bereits im Auszug wiedergegeben wurde.

Aus leichtbegreiflichen Gründen hatte die Kriminalpolizei diese Zeitungsnummer konfiszieren lassen. Es konnte ihr nicht gelegen kommen, daß das, was sie über den Fall erfahren hatte und dachte, in die breite Oeffentlichkeit gelangte.

Flederwisch sank auf das Sofa und gab sich einem dumpfen Brüten hin.

Jetzt kamen alle, die mit Davis in geschäftlicher Beziehung gestanden hatten, in den Verdacht der Täterschaft, auch er – wenn man es herausfand! Würde dies aber noch geschehen? Von dem Verdachte des Mordes wollte er sich wohl bald reinigen; aber kam es jetzt auch nur heraus, daß er mit Davis Geschäfte gemacht, so war es mit seiner Karriere als Seemann für immer aus, er hatte sich auch als Kapitän unmöglich gemacht – hatte sich pekuniär und moralisch ruiniert.

Doch er mußte erst abwarten. Warten! Ein schreckliches Wort für diesen Mann. Er begann im Zimmer auf und ab zu rasen, er bekam wirklich Nasenbluten, und so wie er mochte jetzt noch manch andrer Mann, der mit Davis verkehrt hatte, sich der Verzweiflung hingeben und jedesmal mit stockendem Herzschlag zusammenschrecken, wenn die Haustür ging, denn es konnte ein Kriminalbeamter mit dem Verhaftbefehl sein.

 

Nehmen wir einstweilen schnell Kenntnis davon, was der Seemann denn eigentlich unter einer ›Schieberei‹ versteht.

Unter gewöhnlichen Verhältnissen ist es der Regierung und der Steuerbehörde ganz gleichgültig, was aus ihrem Lande exportiert wird, d. h. sie kümmert sich nicht um jeden einzelnen Fall. Nur der Eingang wird wegen des Zolles kontrolliert. Dagegen ist es manchmal dem fremden Konsul sehr von Interesse, zu wissen, was nach dem Lande, das er vertritt, abgeht.

Gesetzt den Fall, der englische Konsul in Hamburg erfährt, ein Dampfer wird mit Schießpulver nach Indien befrachtet. Wozu? Die englische Armee in Britisch-Indien braucht kein Schießpulver aus Deutschland, in Indien selbst gibt es Pulverfabriken, oder es wird aus England bezogen. Die Hindu dürfen nicht einmal Waffen tragen. Da liegt die Vermutung sehr nahe, daß es unter die Eingebornen für einen vorzubereitenden Aufstand gepascht werden soll. Ganz sauber kann die Geschichte jedenfalls nicht sein.

Die Ausfuhr hindern kann der Konsul nicht. Aber er wird sofort die Regierung seines Landes von dem Falle in Kenntnis setzen, und in Indien wird man das Schiff mit der verdächtigen Fracht beaufsichtigen oder es womöglich gleich aus allen Häfen ausweisen.

Aber der englische Konsul braucht gar nicht davon zu erfahren. Der deutsche Fabrikant, bei dem der indische Agent das Schießpulver bestellt, kümmert sich nicht darum, wohin seine Ware geht. Es muß nur ein Schiffsmakler gefunden werden, welcher die Sache in die Hand nimmt und seine vertrauten Kapitäne hat. Solch ein Schiffsmakler hat z. B. gleichzeitig noch eine Ladung Mehl nach Schweden zu besorgen. Nun vertauscht er einfach die Frachten, das Mehl geht in Pulverfässern und als Pulver designiert nach Schweden ab, wo es ohne Umstände eingelassen wird, und das Schießpulver wird als Mehl in Mehlsäcken auf das nach Indien bestimmte Schiff verladen. Obenauf kommt noch eine Schicht Säcke mit richtigem Mehl – platzt beim Verladen ein Sack, desto besser, nur kein Pulversack darf platzen – und die Sache ist zzziyyy all right.zzz/iyyy Das Seemannsamt, die Steuerbehörde und die Konsuln kümmern sich nicht darum, wenn den hungernden Indiern Mehl gebracht wird. Der Schiffsmakler aber hat die Frachten ›geschoben‹. Es läßt sich denken, daß hierzu ein wohlorganisiertes Heer von Agenten gehört, über die ganze Erde verteilt. Alle solche Unternehmer arbeiten eben unter einer Decke sich gegenseitig in die Hand – vielleicht teilen sie auch den Gesamtgewinn – und sind daher in der Lage, alle nur möglichen Frachten zu vertauschen. Die Folge davon ist, daß sie zu verschlagenen Betrügern werden, indem sie direkt den Schmuggel begünstigen, wofür sie sich natürlich entsprechend bezahlen lassen.

Der Schiffsmakler, welcher der einfachen Schieberei überführt ist, wird wegen falscher Buchführung, Vorspiegelung falscher Tatsachen und noch wegen andrer Vergehen bestraft und ihm die Konzession entzogen; der Kapitän, der ihm gedient, ohne daß ihm direkter Schmuggel nachgewiesen werden kann, verliert zwar nicht sein Patent, aber er findet, trotz aller sonstigen Tüchtigkeit bei keiner soliden Reederei mehr Stellung.

 

»Ein Gentleman wünscht den Herrn Kapitän zu sprechen,« meldete eine eintretende Dienerin.

Sofort fuhr Flederwisch zusammen.

»Ist's ein Seemann?«

»So sieht er nicht aus. Er ist im Gesellschaftsanzug,« entgegnete das Mädchen.

»Er soll eintreten!«

Eine Minute später stand der Gemeldete vor dem Kapitän.

»Sie sind's, Steuermann?« rief dieser. »Warum nannten Sie der Dienerin nicht Ihren Namen?«

Der hochgewachsene, blonde, junge Mann lächelte.

»Sie vergaß, mich darnach zu fragen,« erwiderte er leichthin.

Allerdings, wenn diesen ideal schönen Menschen ein Weib sah, dann konnte es verschiedenes vergessen. Da mußte es an andres denken, da klopfte das Herz so ungestüm, daß der Kopf nicht zur Geltung kam.

»zzziyyy All right!zzz/iyyy« lächelte jetzt auch Flederwisch, dann deutete er auf einen Sessel. »Nehmen Sie Platz, Herr Werner!«

Alfred Werner, so hatte sich gestern der junge Mann genannt, der den Kapitän bereits einmal aus Todesnot gerettet hatte, ließ sich in den Polsterstuhl sinken.

»Sie haben schon von dem Morde in der Fleetstreet gehört?« begann Flederwisch das Gespräch, denn der Gedanke an das grauenhafte Ereignis beherrschte ihn noch vollständig.

Das Gesicht des Steuermanns ward ernst.

»Gewiß,« sagte er ruhig. »Es wird deswegen mancher heute und die folgenden Tage keine Ruhe mehr finden.«

Der Kapitän erblaßte. Er mußte sich gewaltig zusammennehmen, um nicht aufzufahren und seinem Gegenüber zuzuschreien: ›Woher weißt du das? Hast du etwa auch schon mit Davis zu tun gehabt?‹

»Sie spielen auf die Gerüchte an, die über die geheimen Geschäfte des Ermordeten im Umlauf sind?« fragte er in Wirklichkeit, und er hoffte, daß Werner das leise Beben seiner Stimme nicht hören würde.

»Jawohl,« nickte dieser. »Uebrigens ist der Täter in ganz raffinierter Weise zu Werke gegangen. Er muß mit seltener Kaltblütigkeit gehandelt haben. Jedenfalls hatte er ein großes Interesse an den spurlos verschwundenen Papieren.«

»Das stand in den Zeitungen,« bemerkte Flederwisch, um nur etwas zu sagen.

»Es kann kein Europäer gewesen sein,« fuhr der Steuermann fort.

Wieder erbleichte der Kapitän.

»Woraus schließen Sie das?« fragte er mit erzwungenem Lachen. »Sie scheinen eine ausgezeichnete kriminalistische Begabung zu besitzen.«

»Richtig, mein lieber Flederwisch,« sagte da Nobody, der ja die Rolle des Steuermanns Alfred Werner angenommen hatte, zu sich, »und du wirst bald an dir selber noch mehr von dieser Begabung erfahren.« Laut aber entgegnete er: »Nun, man kombiniert eben in solchen Fällen, und die Wildheit, mit der dieser Mord verübt ward, brachte mich zu der Ueberzeugung, daß nur ein Farbiger, vielleicht auch ein weißer Südländer Davis ums Leben gebracht und beraubt hat. Sie kennen ja diese heißblütigen Gesellen aus eigner Erfahrung, Kapitän. Uebrigens,« fuhr er ablenkend fort, »kam ich wegen Ihrer Entscheidung in betreff der Geldangelegenheit. Wie steht es damit?«

Flederwisch schrak zusammen. Er hatte mit seinen Gedanken ganz wo anders geweilt.

Ein Farbiger sollte nach der Ansicht dieses Menschen da den Makler Davis ermordet haben? Zum Teufel, wenn Manuel –?!

»Ach, ja. Ich bestellte Sie heute. Es liegt mir nicht viel daran, aber ich möchte Ihnen gern gefällig sein – wieviel besitzen Sie denn, Mister Werner?«

»Sie meinen, wieviel die Erbschaft betrug? Hier, sehen Sie selbst!«

Er zog ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen aus einer Brusttasche seines eleganten Gehrocks und reichte es dem Kapitän.

Etwas hochmütig nahm dieser es entgegen. Die paar tausend Shilling!

Trotzdem wickelte er das Papier sorgsam ab, und er merkte nicht, wie scharf sein Steuermann ihn dabei beobachtete.

Die Finger Flederwischs begannen zu zittern. Er vermochte die Banknoten, die er hielt, kaum zu zählen. Gerade fünfzig Stück waren es, jede zu tausend Pfund – fünfzigtausend Pfund – über eine Million Mark. Das mußte eine sonderbare Erbtante gewesen sein.

Am meisten aber imponierte dem Kapitän Flederwisch, wie Alfred Werner dieses beträchtliche Vermögen aus der Rocktasche gebracht hatte. Das war ein feiner Trick, den mußte er bei der ersten Gelegenheit nachmachen.

Die Erziehung Flederwischs durch Nobody begann also bereits.

»Nun, Kapitän?« fragte dieser. »Könnten Sie die Summe noch unterbringen?«

»Ja, aber, Mann, das ist doch eine Million!«

»Eben deswegen! Ich weiß wahrhaftig nichts mit dem Gelde anzufangen!«

»Kaufen Sie sich doch selbst ein Schiff!« rief Flederwisch.

»Als Steuermann?« lächelte Werner.

»Ach so! Richtig! Das geht nicht! Wie dachten Sie sich denn die Sache?«

»Ganz einfach! Sie kaufen das Schiff, das Sie im Auge haben und benutzen dazu mein Erbe, oder Sie beteiligen mich sonstwie an Ihrem nächsten Unternehmen. Wollten Sie nicht nach Südamerika?«

»Nach – Südamerika?« wiederholte Flederwisch aufs neue verwundert.

»Sprachen Sie nicht gestern davon?«

»Jawohl – es kann sein –«

»Na, also! Ich mache Ihnen keine Vorschriften. Benutzen Sie das Geld nach Belieben, Kapitän, und lassen Sie mir, bitte, rechtzeitig sagen, wann ich mich Ihnen zur Verfügung zu stellen habe.«

Flederwisch hielt die fünfzig Tausendpfundnoten noch in der Hand, aber diese zitterte nicht mehr. Er betrachtete die Summe bereits als sein Eigentum.

»zzziyyy Wellzzz/iyyy,« sagte er nach kurzem Ueberlegen. »Etwas Schriftliches muß sein. Ich verstehe es nicht aufzusetzen. Kommen Sie heute nachmittag in das Bureau des Rechtsanwaltes Perkins – um vier Uhr – ich werde dort sein. Und Ihr Dienst? Der beginnt morgen früh – ich habe eine Masse Vorbereitungen zu erledigen.«

Der Steuermann verbeugte sich mit tadellosem Anstand, dann verließ er das Zimmer und das Haus.

Als er die Straße betrat, schaute er unbemerkt zu einem Fenster empor.

»Sie hat gewartet,« murmelte er leise vor sich. »Die schöne Imma hat mich wiedererkannt! Was soll daraus werden? Verraten darf ich mich nicht, und zu einer flüchtigen Tändelei ist Flederwischs Schwester doch zu gut.«

Er hatte recht. Am Fenster stand die blonde Imma und schaute mit klopfendem Herzen und wogendem Busen hinunter zu dem kühnen, herrlichen Mann, der ihr in der furchtbaren Sturmnacht den Bruder rettete. Imma hatte nach dem Unbekannten geforscht, aber sie hatte nichts über ihn zu erfahren vermocht.

Nur darüber waren sich alle Fischer einig, daß es der tüchtigste Seemann gewesen, den sie gesehen – wenn nicht ein vom Himmel zur Rettung erschienener Engel. Als dann der Pfarrer in der Kirche für die Rettung der Schiffbrüchigen einen Dankgottesdienst abhielt, legte er der Predigt die Worte unter: Wie hieß der barmherzige Samariter? Niemand weiß es, die Bibel nennt nicht seinen Namen, und er hat auch nicht seine Belohnung abgeholt.

Heute erst hatte sie ihn wiedergesehen, vorhin, als sie eben zum Fenster trat, war er plötzlich unter den Passanten aufgetaucht. Mit stockendem Herzschlag hatte Imma ihn erkannt. Sie hatte das Fenster öffnen und ihn anrufen wollen, da war er quer über die Straße herübergekommen und ins Haus getreten – in ihr Haus! Imma hatte sich nicht zu fragen getraut, zu wem er kam – vielleicht zu ihrem Bruder – sie wartete, bis er wieder gehn würde, und inzwischen erlebte sie noch einmal die Ereignisse jener Sturmnacht.

Nun endlich sah Imma ihn wieder! Sie wollte, alle Scheu vergessend, rufen, aber wie hieß er denn? Sie bog sich weit, weit aus dem Fenster, nur um ihn zu sehen – da verschwand er um die Ecke. Sie war unglücklich. Dann erschrak sie heftig, ein Arm hatte sich um ihren Leib geschlungen.

»Schwesterchen, du wirst zum Fenster hinausstürzen. Wem zuliebe riskierst du denn dein Leben?«

»Ach, Paul, du bist es – nach dir – ich habe dich nicht kommen sehen,« stammelte sie verwirrt.

»Und doch bist du vor lauter Ausspähen ganz rot geworden? Schwesterchen, Schwesterchen!« drohte er lächelnd mit dem Finger. »Nun, du brauchst nicht gleich ein beleidigtes Gesicht zu machen, du hast dich nur zu weit hinausgelehnt. Was macht Tante?«

»Sie beaufsichtigt das Decken des Mittagstisches; da sei ich nur im Wege, sagte sie. Sie gibt das Essen, nur um dein neues chinesisches Porzellanservice zu zeigen – o, und was hast du mir mitgebracht!«

Sie erfaßte mit beiden Händen die seinen.

»Das Beste, was ich finden konnte, und doch noch nicht genug für meine liebe, schöne Schwester. Hast du das riesengroße Paket endlich ausgepackt? Schade, daß ich nicht dabeisein konnte. Du erwartetest wohl, etwas ganz andres darin zu finden als nur ein kleines Brillantkollier? Ja, ich hatte es ungefähr fünfhundertmal eingewickelt. Aber ich sehe dich ja schon in Toilette, und du trägst es nicht?«

»Es ist zu wertvoll.«

»Für dich ist nichts zu wertvoll, mir nicht, und deiner ist der Schmuck jeder Fürstin würdig. Du wirst es doch anlegen, mir zuliebe?«

Eine grenzenlose Zärtlichkeit sprach aus jedem seiner Worte, aus seinen Augen, wie er ihre Hand streichelte. Es war ein schönes Bild geschwisterlicher Liebe.

 

Der Lebensgang des Kapitäns Flederwisch ist bereits an andrer Stelle kurz geschildert worden, hier braucht nur noch nachgetragen zu werden, was jener Matrose nicht gewußt hatte.

Paul Müller, bekannter unter dem Namen Kapitän Flederwisch, war nicht beim Steuermannsexamen hängen geblieben. Er war sogar Reserveoffizier der kaiserlichen Marine, nur machte er kein großes Aufhebens davon, so gern er auch sonst renommierte. In England gab man nicht viel auf den Offizierstitel.

Nachdem aber Pauls Vater gestorben war, hatte sich herausgestellt, daß von dem vermeintlichen großen Vermögen desselben nur noch ein verschwindend kleiner Rest vorhanden war. Den Sohn traf diese Erkenntnis jedoch weniger hart als die Tochter, die blonde Imma, die nun aus dem trauten Vaterhaus hinaus sollte in den Strudel des Lebens, um als Erzieherin ihr Brot zu verdienen. Dem Bruder wollte sie nicht zur Last fallen.

Da hatte dieser sie überredet, erst einmal einer alten Tante in London einen Besuch abzustatten.

Diese Lady Muggridge hatte über Katzen, Hunden und dem Hüten ihrer Schätze das Heiraten vergessen, entgegen ihrer Schwester in Deutschland, von der sie im Charakter ohnedies grundverschieden war. Mit fragendem Staunen empfing sie den unangemeldeten Besuch der ihr ganz unbekannten Schwesterkinder, um schon nach einer Woche über dem ritterlichen Neffen ihre Katzen vergessen zu haben. Es war dem geschmeidigen Paul ein leichtes gewesen, sich in das Herz der alten Jungfer zu schmeicheln.

Imma blieb ganz im Hause der kränklichen Dame, wenn auch nur wegen des Bruders geduldet. Dieser musterte als zweiter Steuermann auf einem englischen Kauffahrer an, wurde noch auf derselben Reise zum ersten ernannt, bestand bei seiner Rückkehr das Kapitänsexamen für große Fahrt – für einen deutschen Marineoffizier ja alles Spielerei – machte noch eine Reise als Kapitän und sah sich dann nach einem eignen Schiffe um.

Wenn er aber geglaubt, die reiche Tante würde ihm eins kaufen, so hatte er sich geirrt. In Geldangelegenheiten hörte die Herrschaft des sonst vergötterten Lieblings auf. Beerben würde er sie, das hatte sie selbst gesagt; aber bei Lebzeiten bekam er keinen Penny, das merkte er jetzt. Schließlich brachte er doch die Summe zusammen, um für billiges Geld die ›Imma‹, eine hölzerne Bark, aber ein guter Segler, kaufen zu können. Noch schwerer wurde es dem unbekannten, jungen Kapitän, eine Ladung für das Schiff zu bekommen; hatte er es doch nicht einmal versichert, weil er, wie er hochmütig sagte, so etwas gar nicht nötig habe, er tat, als könnten ihm Sturm und Klippen nichts anhaben.

Endlich gelang es ihm doch, eine Ladung wertlosen Plunders nach New-York zusammenzubringen. Da plötzlich kam der Name der ›Imma‹ und ihres Kapitäns in aller Mund. Die elende Bark hatte alle bestehenden Rekorde gebrochen. Kapitän Paul Müller war von Liverpool nach New-York in nur elf Tagen gesegelt, und zurück, vom umgesprungenen Winde begünstigt, in nur wenig längerer Zeit.

Um zu verstehn, was das bedeutet, dazu muß man ein Seemann sein, und was dies für das see- und sportliebende England heißt, einen Engländer, der einem guten Kricketspieler eine fürstliche Leibrente aussetzt und ihm ein Denkmal errichtet. Kurz, Paul wurde plötzlich mit Aufträgen überschwemmt, die ›Imma‹ wurde in den Zeitungen besprochen wie das Rennpferd, das im Derby gesiegt hat, und da dem Kapitän das fabelhafte Glück treu blieb, da es schien, als habe er dem Wind und Wetter zu befehlen, wurde sein Name weit über die Seemannskreise hinaus berühmt, so berühmt wie der eines englischen Jockeis, der nicht unter tausend Pfund in den Sattel steigt. Damals kam auch der Name Kapitän Flederwisch für ihn auf.

Bald konnte er, von Kredit unterstützt, Ladungen auf eigne Rechnung nehmen; er wurde also zugleich Handelsherr; auch hierin zeigte er wahres Genie, und noch waren nicht fünf Jahre vergangen, als Kapitän Flederwisch für einen schwerreichen Mann galt, welcher einerseits Kredit über Millionen besaß, während ihm andre Firmen nicht einen Shilling anvertraut hätten.

Wie es möglich ist, als handeltreibender Seemann so schnell in die Höhe zu kommen, und was überhaupt bei der Seefahrt verdient wird, kann hier mit kurzen Worten erläutert werden, und es ist um so interessanter, als in nicht beteiligten Kreisen darüber noch eine völlige Unkenntnis herrscht.

Nehmen wir ein Schiff von 1000 Tonnen an, das ist für einen Segler ziemlich groß, für einen Dampfer noch sehr klein. Es nimmt von Amerika nach Europa volle Fracht Kaffee, also 1000 Tonnen, die Tonne hat 20 Zentner, das sind 2 Millionen Pfund Kaffee, und wenn pro Pfund nur 1 Pfennig Fracht gerechnet wird, so erhält der Schiffseigentümer schon 20.000 Mark. In Wirklichkeit ist es aber noch mehr. Die Beköstigung der Besatzung pro Woche und Kopf kostet 5 Mark – die Schiffe haben ja alles zollfrei, sie verproviantieren sich da, wo es am billigsten ist, in Amerika kostet z. B. ein Pfund Fleisch 10 bis 15 Pfennig – die Heuer pro Monat ist durchschnittlich, die Offiziere mit eingerechnet, 80 Mark, das sind so kleine Zahlen, daß sie bei einem Dampfer gar nicht in Betracht kommen. Ein Dampfer von 1000 Tonnen braucht bei einer mittleren Geschwindigkeit von 10 Knoten, 25 deutsche Meilen die Stunde, pro Tag à 24 Stunden 15 Tonnen Kohlen, à 20 Mark, das sind bei einer zehntägigen Fahrt von England nach New-York 3000 Mark, so daß also solch ein kleiner Dampfer jedesmal innerhalb von 10 Tagen 15.000 Mark rein verdient, dabei noch ganz bescheiden gerechnet, selbst wenn er nach jeder Fahrt in Dock geht.

Die Segelschiffahrt dagegen ist mehr ein Hasardspiel. Ein Segler kann bedeutend mehr einbringen als ein Dampfer, denn bei ihm fallen täglich die 300 Mark Kohlenkosten fort; er kann dies aber wieder zusetzen, wenn sich die Fahrt durch ungünstigen Wind verzögert.

Ein eisernes oder stählernes Schiff kostet pro Tonne zu bauen 300-400 Mark, der Prozentsatz des Verdienstes wäre demnach ein ungeheuerlicher, wenn nicht eins unerwähnt gelassen worden wäre: die Versicherung von Schiff und Ladung. Die frißt alles wieder auf und sorgt dafür, daß das Kapital höchstens zehn Prozent Zinsen abwirft.

Keine Gesellschaft wird es wagen, Schiff und Fracht unversichert zu lassen, schon ein kleiner Dampfer mit Kaffee repräsentiert einen Wert von 2 Millionen Mark, welche in jeder Minute für immer verschwinden können; das könnte höchstens ein einzelner Geschäftsabenteurer tun, der zzziyyy va banquezzz/iyyy spielt. Und Kapitän Flederwisch tat es. Daher mußte er enorme Einnahmen haben, um so mehr, als er nur eigne Fahrten machte, d. h. nie einen kostspieligen Lotsen an Bord nahm, auf Reede ankerte und so das Ankergeld, in einigen Häfen pro Stunde 100 Mark, ersparte; er nahm Fracht auf eigne Rechnung und bezahlte bar, seine Gewinne mußten kolossal sein – aber bei einem Unglück konnte er sich ruiniert haben und andre vielleicht auch.

Denn wie es mit ihm stand, ob er eignes Geld besaß oder mit fremdem arbeitete, das wußte niemand. An Land trat er auf, als hätte er über unermeßliche Schätze zu gebieten, hatte viele noble Passionen, doch dies bedeutete alles nichts. Es handelte sich nur darum, wie dieses Hasardspiel zur See noch einmal enden würde. Jedenfalls galt der Kapitän, bereits als Engländer nationalisiert, für den besten Seemann, und der ritterliche Abenteurer hatte einen Nimbus um sich verbreitet, der ihn bald zum Volkshelden machte. Bei seiner letzten Reise mit der ›Imma‹ hatte er das Schiff einem Freunde gegenüber aus Gefälligkeit nun aber doch einmal versichert, nur für diese eine Fahrt mit 50.000 Pfund, und wieder wurde er vom Glücke verfolgt.

Er erlitt den Schiffbruch bei den westfriesischen Inseln, und die Versicherungssumme mußte ihm ausgezahlt werden.

Jetzt erst konnte und wollte Kapitän Flederwisch ins große arbeiten, und ein scheinbarer Zufall, der ihn mit dem Steuermann Alfred Werner zusammenführte, half ihm abermals zu 50.000 Pfund Sterling, da konnte er den besten Segler kaufen und auch noch die Ladung bar bezahlen.

Daß Flederwisch wenigstens zum Teil anders rechnete, ist bereits erzählt worden.

 

Im Privatkontor der Firma Gebrüder Higgins, der größten Schiffsbauer Londons, saßen einige Herren um einen mit Schriftstücken und Zeichnungen bedeckten Tisch. Nach lebhaftem Gespräch war jetzt eine tiefe Stille eingetreten; alle diese ältern Männer, außer den beiden Brüdern Higgins der Geschäftsführer, ein Buchhalter und einige Ingenieure, blickten mit gespanntem Schweigen, das sich unverkennbar mit Ehrfurcht paarte, auf den jungen Mann, welcher, an dem Federhalter kauend, unverwandt auf das vor ihm liegende Papier stierte, wohl ohne die Zeilen zu lesen.

Es war der Kapitän Flederwisch, aber hier trat er ganz als ›Seegigerl‹ auf.

Alles an seinem Aeußern war mit geckenhafter Eitelkeit berechnet. An den Anzug aus feinstem, seidenartigen Stoffe hatte ein erster Schneider seine ganze Kunst verschwenden müssen. Unter der blendend weißen Manschette sah man ein Brillantarmband blitzen. Die Finger der kräftigen braunen, aber sorgsam gepflegten Hand waren mit kostbaren Ringen förmlich bepanzert. In dem rotseidenen Schlips stak das Meisterwerk eines Juweliers, und an den Füßen saßen zierliche Lackschuhe – kurz, Kapitän Flederwisch machte hier den Eindruck eines eitlen Gecken.

»Die Zahlungsbedingungen sind doch äußerst leichte,« ließ sich da der ältere Higgins vernehmen, »und wie gesagt, Kapitän, es ist ein Segler, wie Sie ihn noch nicht unter Ihrem Kommando gehabt haben.«

Fürwahr, wer den berühmten Kapitän Flederwisch nicht kannte, der hätte sich diesen jungen Herrn mit Lackschuhen und Armband schwerlich als wetterfesten Kapitän an Bord eines Segelschiffes vorstellen können.

Die Worte hatten ihn aus seinem Brüten geweckt. Ein geringschätziges Zischen kam über seine Lippen. Mit einer hastigen Bewegung tauchte er die Feder in die Tinte und setzte mit kräftigen Zügen seinen Namen unter den Kontrakt.

Das von der Firma Higgins auf Risikoverkauf neuerbaute Segelschiff aus Stahl, auf netto 2000 Tonnen registriert, 2600 Tonnen Kargo tragend, das die Probefahrt glänzend bestanden hatte, war durch diese Unterschrift in den Besitz des Kapitäns Flederwisch übergegangen. Der volle Preis betrug 40.000 Pfund Sterling, und nach einem zweiten Schriftstück, welches jetzt dem Käufer vorgelegt wurde, war der vierte Teil der Summe bar auszuzahlen, der Rest in gewissen Terminen zu begleichen.

Doch der junge Kapitän griff nicht wieder zur Feder, verpflichtete sich nicht wieder durch Unterschrift. Er tastete mit der Hand nach der Brusttasche und blickte zerstreut um sich. Man erwartete, daß er nunmehr sein Scheckbuch ziehen würde.

Kapitän Flederwisch aber wiederholte nur mit staunenswertem schauspielerischen Talent den imponierenden Trick, den er von seinem Steuermanne Alfred Werner gelernt hatte.

»Wo habe ich denn –«

Sein Blick fiel auf das in keinem englischen Kontor fehlende Büfett, mit den zu einem englischen Geschäftsabschluß ebenso unumgänglichen Whiskyflaschen und Gläsern besetzt.

»Bitte, Mister Long, geben Sie mir doch dort das Päckchen herüber.«

Der Genannte reichte ihm das kleine, in Zeitungspapier gewickelte Paket, welches Flederwisch bei seinem Eintritt vor zwei Stunden achtlos auf den Nebentisch gelegt, sich auch nicht wieder darum gekümmert hatte. Er löste die Umhüllung, grüne Banknoten kamen zum Vorschein, er ließ den Rand flüchtig durch die Finger schnellen und warf sie dem Chef der Firma hin.

»Vierzig Tausendpfundnoten! Der Kasten gehört mir! Zählen Sie nach!« sagte er mit affektierter Gleichgültigkeit. Dann, als ihn noch alle wieder mit jener unsichern Ehrfurcht anblickten, sprang er plötzlich auf und schlug mit der flachen Hand so auf den Tisch, daß das Tintenfaß ausspritzte. »Frithjof soll sie heißen – die Frithjof!« rief er mit kräftiger, sonorer Stimme; es klang wie hervorbrechender Jubel; so blitzte es auch in seinen Augen auf, und er mußte mehrere Gänge durch das Zimmer machen, um seiner für die englischen Geschäftsleute unbegreiflichen Erregung Herr zu werden.

Es war eine mittelgroße, schlanke, elegante Gestalt, auch der stolze, elastische Schritt war gar nicht der eines an schwankende Bretter gewöhnten Seemannes, aber wiederum verriet schon der muskulöse Hals, daß man sich in diesem Manne vollkommen täuschte, wenn man ihn allein nach seinem Aeußern beurteilte.

Ruhiger kehrte er auf seinen Sitz zurück. In einer Minute war das Geschäft beendet, ein Geschäft, wie es der Schiffsbauer so kurz und glatt noch nicht abgeschlossen hatte. Denn es handelte sich dabei um fast eine Million, und dieser Mann, nachdem er einmal gesonnen war, das Schiff zu nehmen, tat jetzt, als hätte er eben eine Kleinigkeit im Laden gekauft, als wäre das Barbezahlen etwas ganz Selbstverständliches, ja, wickelte die 800.000 Shilling aus einem alten Zeitungspapier heraus!

Wie konnten die Herren auch ahnen, daß sich eine ähnliche Szene erst vor kurzem in der Wohnung Flederwischs abgespielt hatte, und daß da dieser der Erstaunte gewesen war?

»Ja, Frithjof soll sie heißen,« wiederholte der Kapitän. »Die Taufe findet erst statt, wenn das Schiff fix und fertig ausgerüstet ist. Zehntausend Pfund werde ich an seine Einrichtung nach meinem Geschmack wenden – ja, zehntausend Pfund – ich denke, in zwei Monaten, die Herren sind natürlich dazu eingeladen.«

»Frithjof?« fragte der jüngere Higgins, einige Gläser auf den Tisch setzend. »Merkwürdiger Name, habe ihn noch nie gehört! Lieben Sie Whisky, Kapitän?«

Alle diese Herren machten nicht nur auf Bildung Anspruch, sondern waren als Engländer auch wirklich gebildet, doch der stolze Engländer will von ausländischer Literatur kaum etwas wissen, und so hatte von den Anwesenden niemand auch nur etwas von der Frithjofssage gehört. Der deutsche Kapitän schien sich nicht verpflichtet zu fühlen, sie darüber zu belehren, auch war ein andres Thema angeregt worden. Fragen wurden laut, er mußte ausführlich erzählen, wie er vor einigen Wochen sein letztes Schiff, eine Bark, verloren hatte. Nur der Schiffsjunge hatte dabei seinen Tod in den Wellen gefunden.

Der Kapitän bediente sich beim Erzählen eines Tones und Ausdruckes, der ganz seinem Aeußern entsprach: hochtrabend, renommierend, jedes Wort beleidigend, nämlich dadurch, daß die Zuhörer meistenteils selbst ehemalige erfahrene Seeleute waren, gegenüber dem jungen Fant überhaupt ernste, alte Männer, und ein Wunder war es nur, daß sie so andächtig bewundernd zuhörten und, wenn sie doch einmal ein Wort wagten, sich – um einen deutlichen Ausdruck zu gebrauchen – über den Mund fahren ließen. Nur Er war ein Seemann, nur Er wußte und konnte alles, die andern waren für ihn gar nichts. Und daß sich dies sogar der alte, reiche Schiffsbauer bieten ließ, daran konnte sicher nicht nur der gute Geschäftsabschluß schuld sein, noch weniger imponierten dem die Diamanten und die Lackschuhe; hier mußte etwas ganz andres vorliegen, was den englischen Herren solchen Respekt einflößte.

Der Erzähler wurde unterbrochen.

Nach kurzem Anklopfen trat ein Mann ins Zimmer, ein dunkelfarbiger Mulatte in Seemannsanzug, zwar weit über Mittelgröße, aber durch seine gedrungene Bauart, die mächtigen Schultern und den ungeheuren Stierkopf kleiner erscheinend, als er wirklich war. Er war nicht mehr jung, sein bartloses Gesicht mit der breiten Nase und den wulstigen Lippen zeigte tiefe Falten, aber dabei alles von einem steinharten Ausdruck. Wie der Mann bewegungslos an der Tür stand, die Anrede erwartend, das Auge, dessen Weißes von unzähligen blutigen Aederchen durchlaufen war, unverwandt auf den jungen Kapitän geheftet, glich er einer Statue aus Erz.

»Was gibt es, Manuel?« fragte dieser.

Mit dröhnendem Schritt seiner schweren Schuhe ging der Mulatte auf Flederwisch zu und überreichte ihm ein Kuvert. Der Kapitän erbrach es, las das Billett und lachte.

»Meine Schwester ist zu liebenswürdig, mehr noch vorsichtig,« sagte er leichthin, »sie teilt mir mit, daß meine Tante, bei der auch ich wohne, leider wohnen muß, heute mittag Tischgäste hat, und zwar auch Damen, das ›Damen‹ unterstrichen. Das heißt nämlich mit andern Worten: erscheine anständig, betrink dich nicht! Hahaha, diese Weiber!«

Er mußte gar nicht wissen, wie frivol und seiner Schwester gegenüber geringschätzend diese Worte klangen, doppelt frivol für die Ohren von englischen Gentlemen, und welchen schlechten Charakterzug er dadurch offenbarte.

Immer noch lachend, füllte er ein großes Wasserglas mit Jamaika-Rum.

»Hier, Kerl, zeige, was du verträgst!«.

Selbst die ehemaligen Seeleute, an Spirituosen gewöhnt, sahen fast mit Entsetzen, wie der Mulatte den halben Liter des furchtbar starken Getränkes, flüssiges Feuer, mit einem Zuge hintergoß, ohne eine Miene zu verziehen. Ebensowenig hatte er das Glas erhoben, etwa den Herren Gesundheit wünschend, wortlos setzte er es wieder hin; schweigend und finster stand er da.

»Ist das nicht Ihr Bootsmann, Kapitän?« fragte ein Ingenieur mit leisem Befremden.

»Mein Bootsmann! Und was für ein Kerl, was? Eine Bulldogge in Menschengestalt! Ja, ich füttere die Bestie aber auch gut, daß der Wutstoff in den Blutzellen zur Entwicklung kommt. Dorthin an die Tür stelle dich!«

Manuel gehorchte.

Sein Herr nahm vom Büfett eine große Scheibe Roastbeef und warf sie ihm mit einem »Fang!« geschickt zu; noch geschickter aber fing sie der Mulatte, nur mit den Zähnen, ohne die Hände zu benutzen, und so verschlang er das halbblutige Fleischstück hinter seinem glänzenden Wolfsgebiß.

Es war etwas dabei, was die Anwesenden äußerst unangenehm berührte. Ein Bootsmann bildet die Uebergangsstufe zum Offizier, er will mit Respekt behandelt sein, der Kapitän aber behandelte den seinen wie einen Hund, und so benahm sich der Mulatte auch. Das war gar kein Mensch mehr, er erniedrigte sich selbst zum Tier. Es schien ihm sogar zu gefallen; sein Bulldoggengesicht verzerrte sich zu einem freundlichen Grinsen, und das wollte wiederum zu dem Trotz nicht passen, der sich sonst darin ausprägte. Es war eine ebenso beleidigende und abscheuliche, wie unheimliche Szene.

»Verschwinde, Kerl!« befahl jetzt Flederwisch.

Der Mulatte machte kehrt und verließ das Zimmer ohne Gruß, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Dort, wo er gestanden, bedeckten den Boden Blutstropfen, die von seinen Lippen geflossen waren.

Es folgten noch einige geschäftliche Auseinandersetzungen, während welcher Flederwisch jetzt den Likörflaschen, sich Mischungen bereitend, trotz der Warnung seiner Schwester, wiederholt zusprach, bis ein Diener meldete, des Kapitäns Wagen sei vorgefahren.

Dieser empfahl sich mit einem »zzziyyy Good bye!zzz/iyyy« Die Herren aber eilten an die Fenster, von einem und demselben Gedanken beherrscht, als sie jenen in die vor dem Hause harrende Equipage steigen sahen, leichtfüßig, graziös, ganz harmonierend mit dem eleganten Gefährt, bespannt mit zwei feurigen Rossen.

»Ein seltsamer Mensch, ein vollkommenes Rätsel!« meinte der jüngere Higgins kopfschüttelnd.

»zzziyyy Never mindzzz/iyyy,« entgegnete der ältere Bruder, »er hat bezahlt, und ob er nun einen Scheck ausstellt oder die Tausendpfundnoten aus dem Frühstückspapier wickelt, was geht's uns an? Jedenfalls ist es ein Vergnügen, mit solch einem Manne ein Geschäft zu machen.«

Nur der erste Buchhalter, ein bejahrter, kleiner Mann mit träumerischen Augen, stand abseits und blickte gedankenvoll nach den häßlichen Blutflecken am Boden.

»Nun, was denken denn Sie von diesem deutschen Kapitän?« wandte sich lächelnd ein Ingenieur an ihn.

Der alte Buchhalter galt für einen Schwärmer und Philosophen, welcher gern über den Zweck des Daseins und die Bestimmung des Menschen nachgrübelte.

Mit einem Seufzer erwachte der Gefragte aus seinem Brüten.

»Schade, daß er kein Engländer und nicht einige Jahrhunderte früher geboren worden ist. Er wäre ein gewaltiger Held geworden.«

»Ja, ein kühner Seeräuber!« lachte der andre.

»Er ist auch jetzt ein gewaltiger Mensch,« entgegnete der Kleine feierlich, und dann setzte er leise hinzu: »Und daran wird er zugrunde gehn!«

 

Bevor Kapitän Flederwisch der Einladung der Lady Muggridge zum Mittagessen entsprach, ließ er sich noch zum Rechtsanwalt Washington Perkins fahren, den er in dessen Privatarbeitszimmer fand.

Perkins war auch Notar und stand in reger geschäftlicher Verbindung mit Lady Muggridge, deren Reichtümer er verwaltete. Durch die Empfehlung der Dame war er auch zu Flederwisch in Beziehungen getreten und erteilte diesem oft anscheinend uneigennützige Ratschläge in Geldangelegenheiten.

Der Rechtsanwalt war nicht gerade mit einem einnehmenden Aeußern begabt. Auf zierlichen, wohlgeformten, aber viel zu dünnen Beinchen ein plumper Rumpf mit Embonpoint, auf dicken, kurzen Hals unbeweglich ein Kopf gesetzt mit zurücktretender Stirn, darüber glattgestrichen das spärliche Haar, ein nichtssagendes Gesicht, mit hervorquellenden Augen, ein Mund mit schmalen Lippen, die fast von einem Ohre bis zum andern reichten.

Der Beschreibung nach ist solch ein Froschgesicht überaus abstoßend, aber in Wirklichkeit ist es nicht der Fall, im Gegenteil, es macht meist einen gutmütigen Eindruck, und so war es auch bei Mister Perkins, obgleich die Natur sein Antlitz zum Ueberfluß noch mit Pockennarben entstellt hatte. Außerdem sind die Besitzer solcher Froschphysiognomien gewöhnlich Männer von großer Geisteskraft, und so blickten auch die wässerigen Augen des Rechtsanwaltes durch die Gläser der Brille recht klug in die Welt.

Er hatte dem Kapitän auch jenes Dokument ausgestellt, laut dessen er als alleiniger Erbe des Vermögens seiner alten Tante beglaubigt wurde, jenen Schein, den der ermordete Davis als Bürgschaft empfangen hatte, und der seit der Schreckensnacht mit den andern Papieren zusammen spurlos verschwunden war.

Kapitän Flederwisch hatte, wie bekannt, von seinem Steuermann Werner bar 50.000 Pfund Sterling empfangen. Ebensoviel hatte die Versicherungssumme für die ›Imma‹ betragen, und von dieser Riesensumme hatte der Kapitän doch nur 65.000 Pfund verausgabt. 10.000 Pfund wollte er noch auf die innere Ausstattung des neuen Schiffes verwenden, da blieben ihm, kleinere Nebenausgaben mitgerechnet, immer noch 20.000 Pfund, also ein recht hübsches Kapital. Trotzdem kam Flederwisch einer Anleihe wegen zu seinem Rechtsanwalt.

Ein Bureauvorsteher, den der Kapitän noch nicht hier gesehen hatte, und der allein in dem eigentlichen Geschäftsraum weilte, meldete den Besuch seinem Herrn an, dann zog er sich in das Vorderzimmer zurück. Hier eilte er sofort zur Eingangstür, verriegelte sie sonderbarerweise und lauschte dann einen Moment.

Es war alles still. Klienten waren außerhalb der Expeditionszeit nicht zu erwarten.

Leise huschte der sonderbare Bureauvorsteher zu der Türe, die ins Arbeitszimmer seines Chefs führte, beugte sich nieder, legte das eine Ohr an das Schlüsselloch und horchte.

»Dachte ich es mir doch,« murmelte er nach geraumer Zeit, »er will noch mehr Geld haben, aber daß er dafür bereit sein könnte, auf die Zumutungen des Mister Perkins einzugehn, das traue ich dem Flederwisch von einem Schmugglerkapitän denn doch nicht zu! Ha, Nobody,« fuhr der Mann nach einer kurzen Pause ebenso leise fort, »das war ein glücklicher Einfall, daß du dich probeweise von diesem Rechtsanwalt engagieren ließest!«

Ohne durch eine Miene zu verraten, daß er ihr Gespräch belauscht hatte, stand der Bureauvorsteher an seinem Pult, als die Herren die Expedition durchschritten. Der Inhalt der Unterredung aber war ein recht schwerwiegender gewesen.

»Nun, mein lieber Perkins, haben Sie das Geld aufgetrieben?«

Mit diesen Worten war Kapitän Flederwisch in das Arbeitszimmer getreten.

Langsam erhob sich der Rechtsanwalt. Er hatte den Kommenden erwartet.

»Zehntausend Pfund habe ich aufgetrieben, fünftausend verschaffe ich Ihnen bis morgen,« entgegnete seine fettige Stimme, »beides zu zehn Prozent.«

Flederwisch stieß einen Fluch aus, schleuderte den feinen Filzhut auf das Sofa und setzte sich.

»Wieder zehn Prozent! Immer zahlen und immer zahlen! Ist denn nur jeder Geldmann zum Halsabschneider geworden? In Deutschland wäre das Wucher!«

»In England nicht. Bei mäßigen Zinsen verlangt man wenigstens sichere Papiere, und wer sein Geld bei Ihnen riskiert, tut es nur gegen hohe Zinsen.«

»Ist es bei mir nicht etwa ebenso sicher?«

»Durch die Versicherung, das ist aber auch alles, und zu der mußte ich Sie erst bewegen. Daß Sie bisher Ihr Schiff nie versichert haben, hat Sie in den Ruf eines gefährlichen Spekulanten gebracht. Sie können froh sein, daß ich eine solche gewaltige Summe überhaupt noch für Sie zusammengebracht habe. Dann gibt es bei der Seefahrt auch noch andre Fälle zu bedenken. Ihre Gläubiger rechnen damit, daß sie doch einmal das leere Nachsehen haben könnten, wenn Sie sich auf etwas einließen, was das Gesetz nicht erlaubt, etwa auf einen Schmuggel ...«

Bisher hatte der sonst so stolze Flederwisch ruhig zugehört. Er mußte dem Rechtsanwalt tief verpflichtet sein, daß er es überhaupt tat. Jetzt fuhr er empor, und mit wildem, fast verstörtem Ausdruck blickte er den Sprecher an.

»Was sagen Sie da?« stieß er rauh hervor. »Was trauen Sie mir zu?«

»Nun, nun,« beschwichtigte der andre, ohne ihn anzusehen, »ich meinte ja nur, daß es eben Fälle gibt, bei denen man den ganzen Einsatz trotz der Versicherung mit einem Schlage verlieren kann. Mir fiel gerade der Schmuggel ein. Ebensogut hätte ich sagen können, wenn Sie ohne Lichter fahren – diese sind durch Zufall ausgegangen. Sie werden gerammt – weder für Ihr Schiff, noch für Ihre Ladung wird ein Penny Ersatz geleistet. Das kann bei Staatspapieren und Grundstückshypotheken doch nicht vorkommen.«

Der Kapitän hatte sich wieder beruhigt, und leise, fast wie klagend, ganz seltsam kontrastierend zu dem schönen, stolzen, kühnen Antlitz, kam es über seine Lippen:

»Sie haben recht. Aber ich – aber ich – unter welcher Arbeit, unter welchen Strapazen und Gefahren muß ich mein Geld verdienen! Ich schlage mein Leben hundertmal dafür in die Schanze; die glühende Sonne dorrt meine Knochen aus; eisige Wogen lassen mein Blut erstarren, oft lechze ich nach einem Trunk faulenden Wassers, und von Würmern zerfressenes Hartbrot ist meine Nahrung, ich arbeite, ringe und darbe – und alles, alles nur für andre!«

Perkins entgegnete auf diesen Gefühlsausbruch nichts, er wandte sich ab und griff nach den Geschäftsbüchern. Beide gingen dann dieselben durch.

Der junge Kapitän hatte wohl Ursache, einmal zu verzweifeln, aber kein Recht, zu klagen, und ebenso zeigte es sich hier, daß er auch Grund hatte, seine Geschäfte von einem Freunde, der etwas davon verstand, nicht aber von einem berufsmäßigen Bankier führen zu lassen.

Mit Schulden hatte er begonnen – das war unvermeidlich gewesen – aber die Schuldenlast war fort und fort gewachsen, trotzdem die Bücher enorme Einnahmeposten verzeichneten – die Ausgabe war immer größer gewesen. Auch Perkins war als Gläubiger stark beteiligt; selbst der Schwester kleines Kapital war mit verwendet worden, ohne deren Wissen; jetzt hatte Flederwisch eine Schuld von über einer Million und jährlich mehr als 30.000 Pfund Zinsen zu zahlen, und die wollten allerdings auch erst mit einem Schiffe verdient sein. Wiederum aber bewies die Buchung, daß die Zinsen regelmäßig und pünktlich beglichen worden waren. Es war ein rätselhaftes Gemisch von Ordnung und Liederlichkeit: große Summen verschwanden spurlos, und dabei war der Kapitän kein Spieler. Das Geld zerrann ihm eben unter den Händen.

Der Rechtsanwalt, der bisher gestanden hatte, entlastete seine dünnen Beinchen, indem er den schweren Körper auf einen Stuhl fallen ließ. Er putzte mit einem gewaltigen Taschentuche erst die Nase, dann die Brillengläser und drehte sich endlich Flederwisch zu.

»Wie soll das enden?« begann er mit väterlicher Teilnahme.

Aber der Gefragte befand sich jetzt nicht mehr in sentimentaler Stimmung. Trotzig warf er den Lockenkopf zurück und lächelte.

»Gut, sehr gut! Mit dem neuen Schiffe wird es anders! Sie werden staunen, wie ich mich ändern werde, die Frithjof faßt doppelt so viel, wie die Imma, ich werde doppelt so viel verdienen, mehr noch, ich habe ein kolossales Geschäft mit ihr vor, es macht mich zum reichen Mann. In einem Jahre ist alles gedeckt, ich verspreche es Ihnen. Passen Sie auf, was für Summen ich Ihnen abliefern werde! Bah, was haben denn die lumpigen paar tausend Pfund zu bedeuten?«

Perkins schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich traue Ihren guten Vorsätzen nicht mehr. Sie sind ein Geschäftsgenie, aber ein leichtsinniges, wie die Genies einmal sind. Sie haben das neue Schiff nicht zu teuer gekauft, aber wozu diese Unsummen für die innere Ausrüstung? Ihre Schiffskabine soll ein wahrer Prunksalon werden, mit Mahagoni verkleidet ...«

»Das ist mein einziges Vergnügen,« unterbrach ihn Flederwisch schnell. »Meinen Beruf verstehe ich, ich arbeite, ich scheue nichts, ich kann darben, aber dafür will ich mich auch mit etwas Komfort umgeben.«

»Dagegen will ich gar nichts sagen. Aber wozu in aller Welt diesen Luxus, den Sie mit Ihrer Mannschaft treiben?«

»Mann, das verstehn Sie nicht! Dafür habe ich die beste Mannschaft der Welt an Bord; jeder Matrose ist bei mir ein Mann vom Scheitel bis zur Sohle, ich habe sie mir einzeln zusammengeholt aus allen Erdteilen, jeder ist unbezahlbar, und durch sie eben kann ich leisten, was ich im Segeln leiste.«

»Doch, das verstehe ich als Engländer, daß Sie mit dem Geschäft den Sport verbinden ...«

»Nein, eben weil Sie ein Engländer sind, können Sie mich nicht verstehn,« unterbrach ihn Flederwisch wieder, diesmal aber aufspringend, und mit einer ganz unmotivierten Leidenschaft. »Ihr Engländer huldigt dem Sport mit Leib und Seele, ihr betet das im Derby siegende Pferd an, für euch Engländer aber ist es doch nur ein Tier, ihr taxiert nur seine Knochen, Muskeln und Sehnen. Bricht es zusammen, so wird es getötet, und eure Liebe wendet sich dem Nachfolger zu. So ist für euch die schnellste Jacht auch nichts weiter als eben eine Jacht aus Holz. Ganz anders bei mir! Mein Schiff ist nicht nur meine Freude, mein Stolz, es ist mit mir verschmolzen, ich fühle seinen Herzschlag und seine zitternde Kampfbegier, sich mit Sturm und Wogen zu messen, es erbebt unter meiner Faust wie das Roß, und auch das Schiff fühlt mit mir, und zum Schiff gehört die Mannschaft! O,« fuhr er mit wachsender Leidenschaft fort und streckte die geballte Faust empor, »in der Frithjof will ich mein Ideal verwirklichen, ein Schiff will ich schaffen, wie es die Welt noch nicht geschaut hat, ein Heldenschiff, bemannt mit Helden, und der Kühnste und der Stärkste und der Edelste ist der König ...«

Er brach kurz ab, sank zurück und strich sich das Haar aus der Stirn.

»Doch was phantasiere ich Ihnen da vor! Nicht einmal Imma versteht mich, kein Mensch, am wenigsten ein beefsteakliebender Engländer wie Sie.«

Allerdings, für Perkins waren es ganz unverständliche Worte gewesen.

»Sie sind ein Phantast,« meinte er trocken.

»Das bin ich, ich sage es ja selbst. Aber ich bin auch der Mann, mein Ideal zu verwirklichen.«

»Das wäre ja alles recht schön und gut, wenn Sie nur auf einer geordneten Unterlage aufbauten. Ich will nichts davon sagen, daß Sie die ganze Mannschaft behalten, auch wenn das ganze Schiff nichts zu tun hat, was freilich kein andrer Kapitän tut, daß Sie Gehälter zahlen, als wären die Matrosen Künstler, daß Sie sie, wenn angängig, mit wahrer Hotelkost füttern. Auch davon will ich nicht sprechen, daß Sie jetzt wieder für alle beim ersten Schneider neue, eigne Uniformen bestellt haben, daß Sie ihnen richtige Schlafsalons bauen lassen. Das sind Passionen, die Sie sich noch leisten können. Wie ich gehört habe, hat jetzt jeder auch noch ein Zweirad bekommen, damit er in Afrika oder China mit Ihnen spazieren fahren kann. Kostenpunkt: vierhundertundfünfzig Pfund, nur erstklassige Maschinen, dort liegt die Rechnung. Aber ist es denn nötig, daß Sie den Matrosen in jedem Hafen glänzende Feste geben, bei denen der Champagner in Strömen fließen soll? Muß das denn zu allem übrigen auch noch sein?«

»Jawohl, das muß sein!« entgegnete Flederwisch trotzig, wenn auch lächelnd. »Basta, meine Burschen sollen sich amüsieren, das ist nun einmal meine Freude!«

Der Rechtsanwalt schneuzte sich wieder, dann legte er die fleischige Rechte dem Kapitän vertraulich aufs Knie.

»Ich möchte mit Ihnen einmal ganz offen über Ihre Lage sprechen.«

»Ich dächte, Sie ließen es nie an der nötigen Offenheit fehlen. Nur keine Epistel mehr, bitte! Oder können Sie mir einen Vorschlag machen, wie ich meine Gläubiger mit einem Schlage loswerde? Dann höre ich gern zu.«

»Ich glaube, ich kann es.«

»Ah, das wäre?« rief Flederwisch überrascht.

Aber erst mußte er sich doch gefallen lassen, daß ihm Perkins nochmals seine bedrängte Lage auseinandersetzte. Wenn ihm jetzt jemand eine Hypothek kündigte, kam das neue Schiff zzziyyy sub hasta.zzz/iyyy Immer ungeduldiger wurde der Kapitän. Das wußte er alles selbst. Dann aber horchte er hoch auf, als jener fortfuhr:

»Ich habe jetzt gerade alle meine Gelder flüssig bekommen. Ich kündige sämtliche Hypotheken und stecke mein ganzes Geld in Ihr Schiff und Ihre Unternehmungen, und zwar nur zu drei Prozent, hören Sie? Zu nur drei Prozent! Dies allein bedeutet für Sie schon eine jährliche Ersparnis von siebentausend Pfund, mit der Sie mich abbezahlen. Außerdem bin ich bereit, mich mit noch einigen Tausenden zu beteiligen, denn die zweitausend Tonnen Ihres neuen Schiffes wollen auch geladen sein, und Sie operieren doch wieder auf eigne Faust, und selbst, wenn Sie ganz billige Fracht nehmen, kommen Sie unter einer halben Million nicht weg. Ich vertraue Ihrem Finanzgenie, ich beteilige mich daran, nur zu drei Prozent. Nun?«

Auf Flederwischs Gesicht trat ein seltsamer Zug hervor, ein Gemisch von Unglauben, freudigem Erstaunen und Mißtrauen. »Alle Teufel, höre ich recht? Mensch, Perkins – daß Sie dick in der Wolle sitzen, weiß ich ja – aber warum haben Sie mir diesen Vorschlag nicht schon früher gemacht?«

Der Zug der freudigen Ueberraschung schwand, nur der des Mißtrauens blieb, und der Kapitän irrte sich nicht – eine Gefälligkeit sollte der andern wert sein.

»Paul,« fuhr Jenkins noch vertraulicher fort, »Sie hatten Ihre Schwester erwähnt. Sie steht ganz allein in der Welt, denn Sie sind ja nie zu Hause ...«

»Bitte, Imma hat ihre Tante,« fiel Flederwisch ein, nur um einen Augenblick Zeit zu gewinnen. Er sah den Mann mit dem pockennarbigen Gesicht, den Glotzaugen und den Froschschenkeln, und daneben tauchte das liebreizende Bild seiner Schwester auf.

»Die kränkliche Dame kann ihr erst recht keine Stütze sein. Uebrigens, Sie verstehn, wo ich hinaus will, also offen: Sie kennen mich, meine Verhältnisse und meinen Charakter, ich bin Ihrer Schwester in Gesellschaften begegnet, ich liebe Imma, und ich glaube, sie ist mir nicht abgeneigt, wenn ich auch noch keine Gelegenheit hatte, ihr in Worten das zu sagen, was mich seit langem für sie erfüllt ...«

Flederwisch hörte nicht mehr, was jener weiter sprach. »O, du Schuft, du willst mir meine Schwester abkaufen!« dachte er. »Du hast meine schwache Seite erkannt und willst mich daran fassen, aber meine Ehre taxierst du doch zu niedrig.«

»Wollen Sie auf meinen Vorschlag eingehn?«

»Auf was für einen Vorschlag?« erwachte der Kapitän aus seinen Gedanken.

»Daß Sie bei Ihrer Schwester mein Fürsprecher sind. Es ist selbstverständlich, daß ich für meinen zukünftigen Schwager Interesse habe und ihm helfe, wie ich kann.«

Er hatte das ›zukünftig‹ betont, und das gab den Ausschlag. Es war in der Tat kein unbilliges Verlangen, es war ein Geschäft; Perkins wußte, welch großen Einfluß Flederwisch auf die unerfahrene Schwester ausübte.

Der Kapitän erhob sich, er war Geschäftsmann und Gentleman zugleich.

»Lieber Freund,« sagte er mit möglichst herzlichem Tone, »ich habe durchaus nichts gegen Sie, es sollte mich freuen, Sie als meinen Schwager begrüßen zu können, und ich werde auch zu meiner Schwester für Sie sprechen, auf mein Wort! Doch jetzt kann ich Ihr Anerbieten erst recht nicht annehmen. Ich weiß, Sie meinen es nicht so; aber es verträgt sich nicht mit meiner Ehre; mir käme es vor, als hätte ich meine Schwester verkauft. Nichts für ungut, wir bleiben die Alten, und das Weitere wird sich finden!«

Es war zugleich sein Abschiedswort gewesen, er ging.

Der Rechtsanwalt aber stand oben mitten im Zimmer und blickte nach der Tür, welche sich hinter der eleganten Gestalt geschlossen hatte; jetzt war der gutmütige Ausdruck des Gesichts verschwunden. Die wässerigen Augen funkelten boshaft, und ein namenlos verächtlicher Zug lagerte sich um die breiten Lippen.

»Du Narr,« machte sich das, was der Mann dachte, endlich in Worten Luft, »du elender, eitler, aufgeblasener Hanswurst du! Du sagst mir, es vertrüge sich nicht mit deiner Ehre, deine Schwester zu verkaufen? Hast du, geckenhafter Abenteurer, denn überhaupt noch Ehre? Du bist noch zu etwas ganz anderm fähig! Ein Ende mit Schrecken nimmt es noch mit dir! Ich ahne, ich ahne, deine Wege gehn schon sehr dicht am Zuchthaus vorüber. Warte, wir sprechen uns wieder, wenn die Quelle, welche du in ein grundloses Loch leitest, erschöpft ist, und deine Schwester bekomme ich schließlich auch ohne dich!«

Nobody, der neue Bureauvorsteher, saß tief gebeugt über seinen Akten, und doch entging ihm kein Wort dieses Selbstgespräches.

 

Imma, von der hier die beiden eben in so geschäftsmäßiger Weise gesprochen hatten, führte nicht eben ein freudenreiches Dasein im Hanse der englischen Tante. Sie wußte nicht nur, daß sie bloß als Anhängsel des Lieblings geduldet wurde, sie bekam dies sogar öfter von der rücksichtslosen Dame zu hören; nun sie einmal da war, konnte sie die alte, kränkelnde Tante pflegen. Sie verdiente sich also ihr Brot schwer genug.

Auch Imma schwärmte für den schönen Bruder, den kühnen Seehelden, sie liebte ihn mit der ganzen Kraft ihrer Seele, und doch stieß eine unsichtbare Macht sie von ihm ab. Es war das Gefühl der reinen Unschuld, welche ahnend vor der mit Sünden besteckten Atmosphäre des abenteuerlichen Mannes in sich zusammenschauert, und ihre weiße Stirn brannte stets noch lange, wenn seine Lippen sie berührt hatten, sie scheute sich, ihm den unentweihten Mund zu bieten.

Ganz anders Lady Muggridge! Wenn sich Paul in London befand, mußte ihr Abgott natürlich bei ihr wohnen, und es war selbstverständlich, daß er hier als untadelhafter Gentleman auftrat. Aber die alte Jungfer forderte ihn selbst auf, zu erzählen, wie es draußen zuging, sie wollte galante Abenteuer hören, es konnte ihr nie toll genug werden, und Flederwisch konnte allerdings erzählen, und wenn Imma bei solchen Gelegenheiten auch ferngehalten wurde, ihre keuschen Ohren bekamen doch manches zu hören, was sie um des geliebten Bruders willen bis zum Tode betrübte.

Aber noch etwas gab es, was sie manchmal in Pauls Gegenwart erzittern ließ. Sie war sich ihrer Hilflosigkeit und Schwäche bewußt, und sie fühlte den mächtigen Eindruck, den der wilde Mann nicht nur auf sie, sondern fast auf jeden Menschen mit nicht ganz gestähltem Charakter ausübte. Sie bebte unter seinem Blicke, wie die Taube unter dem der Schlange, wenn diese auch gesättigt ist.

Deshalb war es ihr überaus peinlich, daß der Bruder sie überrascht hatte, als sie dem blonden Fremden nachschaute. Flederwisch aber merkte nicht, warum die Schwester so tief errötet war.

Er gab sie aus seinen Armen frei und sagte:

»Es freut mich, daß ich dich einmal allein sprechen kann. Bitte, setze dich, ich habe eine Frage – es betrifft deine und meine Zukunft.«

Erschrocken sank Imma plötzlich auf einen Stuhl. Das war einer jener Momente, da sie sich ihrer Schwäche bewußt ward, und noch mehr ihrer willenlosen Ohnmacht dem starken Bruder gegenüber. Dann befand sie sich stets wie in einem hypnotischen Banne. Sie wußte noch gar nicht, was kommen würde, aber schon jetzt schrie es in ihrem Innern: ›Nein, nein, ich tue es nicht!‹ während ihr Mund schon bereit war, zu allem ›ja‹ zu sagen.

Der Kapitän hatte erst einen Gang durchs Zimmer gemacht, ehe er sich der Schwester gegenübersetzte.

»Sieh mich nicht so angstvoll an, Imma, ich will ja nur dein Bestes, das weißt du doch. Laß uns offen miteinander reden. Wir sind doch in der Welt allein aufeinander angewiesen – vorläufig wenigstens. Also kurz gefaßt! Es hat soeben jemand bei mir um deine Hand angehalten.«

Imma legte die Hand auf das Herz, dessen Schlag plötzlich aussetzte.

»Wer?« flüsterte sie tonlos.

»Rechtsanwalt Perkins. Er glaubt deiner Neigung sicher zu sein und hofft bestimmt, dich glücklich machen zu können.«

»Ich kenne ihn gar nicht,« murmelte Imma, »aber wenn du es wünschest ...«

»Mädchen, was fällt dir denn ein?« lachte er hell auf. »Bin ich denn Herr über deinen Leib und deine Seele, daß du dich so gebärdest? Nein, ich wünsche es nicht, so gut Perkins auch meine Interessen wahrt – sympathisch war er mir niemals. Ich dachte nur, du fühltest vielleicht für ihn ...«

»Nein, nein, ich liebe ihn nicht!«

»Beruhige dich doch nur,« lachte der Bruder, »du brauchst ihn ja nicht zu heiraten.« Dann fuhr er fort: »Der Rechtsanwalt gestand mir seine Neigung zu dir, bat mich, sein Fürsprecher zu sein, und ich habe hiermit meine Pflicht als Ehrenmann getan. Trotzdem,« – seine Stimme nahm wieder einen ernsten und doch zugleich zärtlichen Ton an – »Schwesterchen, ich möchte weiter über deine Zukunft mit dir reden. Wenn ich dir sage, daß du einen Beschützer brauchst oder besser einen Gatten, so brauchst du nicht an eine Spekulation meinerseits zu denken. O, solche Gedanken sind mir überhaupt ja ganz fremd. Mein Beruf hält mich von dir fern, eine zweite Heimat kann dir dieses Haus doch nie werden. Die Tante ist alt und schrullenhaft. Du stehst ganz allein, und nach ihrem Tode müßtest du dir doch wieder ein neues Unterkommen suchen. Nimm denn auch einmal den Fall an, es passierte mir ein Unglück auf einer meiner weiten Seefahrten. Du bist dann ohne jede Hilfe und Stütze in einem fremden Lande, ja, selbst ohne hinreichende Geldmittel, um dich vor Not und Entbehrungen zu schützen. Laß uns einmal offen gegeneinander sein, Imma! hast du schon an eine Heirat gedacht?«

»Nein,« lispelte sie, und es klang so naiv, daß der Kapitän wieder lächeln mußte.

»Na denn, liebst du jemanden? Aber sage nicht: den lieben Gott, dich und die Tante! Himmel, du bist doch kein Kind mehr! Du verstehst mich doch! Liebst du einen Mann?«

Da tauchte vor Immas Augen jener Unbekannte auf, dessen blutende Hand sie verbunden und den sie heute ganz unvermutet wiedergesehen hatte. Ihr Herz sagte ja, und ihr Mund verneinte des Bruders Frage.

Flederwisch blickte sie forschend an. Er glaubte, die Frauen von Grund aus zu kennen, aber das spiegelte ihm nur seine Eitelkeit vor – er kannte sie gar nicht, höchstens eine gewisse Sorte. Daher war er überzeugt, daß seine Schwester die Wahrheit sprach.

»Nun, Imma,« fuhr er fort, »du weißt, wie ich die Welt ansehe. Von Vorurteilen betreffs des Standes bin ich schon längst abgekommen. Für mich gilt der Mann nur durch sein Können. Heirate, wen du willst, er soll mir als Schwager willkommen sein, und daß meine Schwester ihr Herz keinem Unwürdigen schenkt, weiß ich. Aber du bist noch jung und unerfahren und – nimm es mir nicht übel – schrecklich naiv. Du kannst dich täuschen und betrogen werden. Dann müßte eine rauhe Hand kommen und dir manch schreckliche Stunde bereiten. Darum laß einen Erfahrenen für dich wählen – du bestätigst nur die Wahl – und wenn nicht, dann ist es auch gut! Gestattest du also, daß ich mich, solange ich noch hier bin, nach einem geeigneten Manne umsehe und ihn dir als Freier zuführe? Sieh, ich frage: Gestattest du? Von einem Zwange ist also keine Rede. Ich möchte mein Schwesterchen so gern in guten Händen wissen und glücklich dazu, dann wäre ich einer großen Sorge enthoben. Darf ich?«

Wieder bejahte Imma, während ihr Herz stürmisch verneinte und rief:

»Den du mir vorschlägst, den nehme ich sicher nicht, den kann ich nicht lieben!«

Ihr Bruder küßte sie auf die Stirn; aber die Stelle, die seine Lippen berührt hatten, brannte wie Feuer. Imma schauderte zusammen.

»So, nun möchte ich einmal von mir selbst reden,« fuhr Flederwisch dann fort. Er stand auf und ging mehrmals hin und her, bis er vor Imma stehn blieb.

»Schwesterchen, was meinst du, wenn ich heiratete?«

Freudig erstaunt blickte sie zu ihm empor. Ihr war die Ehe ein Sakrament, durch dessen Weihe ihrer Meinung nach der böseste und wildeste Mensch gut und sanft werden mußte. Für ihren Bruder kam freilich nur der zweite Fall in Frage. Wenn Imma das Wort ›Heirat‹ vernahm, dann hörte sie Glockengeläute, Orgelschall und die feierliche Stimme des Priesters; dann sah sie ein trauliches Heim und ein Gärtchen; eine junge Mutter schaltete am Herd und lehrte die spielenden Kinder; der Vater kam nach Hause und hob den jauchzenden Kleinsten an die Brust; und wenn er auch ein Seemann war, er hatte doch ein Heim, nach dem er sich sehnte.

»Ach ja, Paul, heirate!«

Imma sprang auf, ergriff des Bruders Hände und sah ihn mit überglücklichen Augen an.

»Nicht wahr, es ist Trudchen Böhme? Habe ich es erraten?«

Ein schattenhaftes, spöttisches Lächeln huschte über Flederwischs Züge. Er hatte mit dieser Freundin Immas, der Tochter eines in London ansässigen deutschen Agenten, neulich öfter getanzt und dem nach seinem Geschmack hausbacknen Mädchen absichtlich etwas den Kopf verdreht.

»Nein, Trudchen Böhme ist es nicht,« antwortete er. »Höre mich an, Imma! Ich will mich dir anvertrauen, ich muß es, allein kann ich mein Geheimnis nicht mehr wahren, es sprengt mir das Herz – so albern, so schwach ist der Mensch. Sage aber der Tante nichts, niemandem – hörst du? Das ist Bedingung – niemand soll etwas davon wissen, wenigstens vorläufig nicht.«

Wieder war Imma wie gelähmt niedergesunken. Was war das? Keinesfalls die Weise, wie man beginnt, wenn man ein süßes Geheimnis aus übervollem Herzen einem andern mitteilen will, leise hatte er gesprochen, scheu; er blickte verstört um sich; jetzt ging er in heftiger Erregung auf und ab, blieb etwas abseits von ihr stehn, stützte den Arm auf die hohe Lehne eines Stuhles, und wie er erzählte, ohne sie anzusehen, in abgerissenen Sätzen, ganz in die Erinnerung versunken, schwärmerisch, keuchend, fluchend, manchmal schluchzend, wußte er wohl nicht mehr, daß er seine Schwester vor sich hatte. Er sprach zu sich selbst, vergaß ihre Anwesenheit.

»In Quito war es, in Ecuador. Ich hatte von Guayaquil eine Reise dorthin gemacht, mir die Hauptstadt zu besehen. Ich weiß nicht, mich führte mein Geschick, mein Glück oder mein Unglück, in die Franziskanerkirche. Ja, den Altar von Diamanten wollte ich besichtigen. Und da sah ich sie! Es war Morgen. Die Orgel summte; in einer Ecke sang ein Pfaffe; Chorknaben durchschritten die Kathedrale und schwangen die Weihrauchgefäße. Ein süßer Duft erfüllte den Raum und betäubte mich. Und da sah ich sie. Sie kniete vor dem Muttergottesbilde und betete. Und da sah ich sie.«

Mit angstvollem Staunen blickte das Mädchen nach dem Bruder, der nur noch unartikulierte Laute von sich gab und mit den Fingern im Haar wühlte.

»Sie war schön wie ein Engel,« fuhr er dann fort, und es klang wie Zähneknirschen, »nein, schön wie die Sünde, wie ein sündhafter Engel! Ja, wie ein sündhafter Engel, der Buße tut! Denn sie betete! Wie ein sündhafter Engel! Die spanische Mantille war ihr von den Schultern geglitten. Und ich sah auch diese. Und ich kniete auch nieder, verdammt, ich kniete nieder und betete, betete sie an. Meine Augen durchbohrten sie und sahen noch mehr. Und daß ich nicht wahnsinnig geworden bin, wundert mich heute noch. Dann ging sie fort, und ich folgte ihr. Sie wohnte bei einer Verwandten, einer alten Megäre. Ich verschaffte mir Zutritt. Und ich fand sie noch schöner. Ich sah sie auch allein. Ich bat und flehte und bettelte und – ich glaube, ich habe auch geweint. Ich gab ihr seidne Tücher und seidne Kleider und glitzernde Geschmeide und Juwelen – und sie warf es mir vor die Füße. Ich lockte sie nach Guayaquil. Aber das Weib war klug wie eine Schlange. Ich wollte sie mit Gewalt auf mein Schiff schleppen. Da zeigte sie mir, wie man sich mit seiner eignen Haarflechte erwürgt. Und lebendig wollte ich sie haben! Ah, sie war verdammt schlau. Heiraten! Aber nur in meiner Heimat wollte sie sich trauen lassen, meine Verwandten als Zeugen. Oder eine Bürgschaft. Dann folgte sie mir auch aufs Schiff. Hunderttausend Dollar, und die vermaledeite Hexe ging keinen blutigen Cent herunter. Ich riß mich los. Ich war ja ein wahnsinniger Narr. Und ich kann nicht, kann ja nicht! Tod und Hölle ...«

Er schrak zusammen, blickte sich scheu um, sah seine Schwester, erschrak nochmals.

»Du hier, Imma?« hauchte er.

Ihr Aussehen mußte ihm auffallen. Er raffte sich zusammen, ging auf sie zu und ergriff ihre Hand. Sein Lächeln war ein durch krampfhafte Gewalt erkünsteltes.

»Siehst du, so geht's, wenn man verliebt ist. Da weiß man nicht einmal, was man spricht. Ja, ich werde Carmencita heiraten.«

Imma antwortete nicht; sie sah den Bruder mit entgeisterten Augen an.

»Nun, Schwesterchen, was sagst du zu meinen Heiratsgedanken?«

»Paul, ich bitte, tue es nicht!«

Es hatte flehend, verzweiflungsvoll geklungen, aber er schien es nicht zu hören, denn wie er jetzt auflachte, das klang natürlich.

»Warum denn nicht? Ja, ich weiß, ich habe dir da durch meine unsinnigen Worte ein nettes Bild entworfen. Nein, es ist ein braves, ehrbares Mädchen, das wirst du wohl selbst herausgehört haben, und was du sonst merkwürdig findest, das mußt du meinem bizarren Charakter und den ganzen Verhältnissen zugute rechnen, denn es ist ja eine spanische Südamerikanerin. Die Sache ist also die: meine nächste Reise mit dem neuen Schiff geht wieder nach Guayaquil, und dort wird sich das Kommende entscheiden. Mache ich das erwartete große Geschäft, so stelle ich die Bürgschaft von hunderttausend Dollar. Ich heirate Carmencita gleich dort, nehme sie wahrscheinlich auch an Bord, sie bleibt bei mir. Das ist dir wohl nichts Auffälliges. Habe ich die Summe aber nicht überflüssig, so fährt meine Braut mit einem Passagierdampfer nach London, und die Hochzeit findet nach meiner Rückkehr hier statt. Ob sie mich dann auf meinen Reisen begleitet oder hierbleibt, wird sich später entscheiden. Nun frage ich dich, Imma, wenn der letztre Fall eintreten sollte, ob du Carmencita als meine Braut empfangen und als deine Schwägerin behandeln willst. Es ist eine exotische Blume, sie kommt fremd hierher, und ich liebe sie über alles in der Welt. Willst du ihr eine Schwester sein?«

Viel, viel Unverständliches gab es für Imma. Seine klaren Auseinandersetzungen waren nur noch mehr dazu angetan, sie in Verwirrung zu setzen. Nur darin fand sie nichts, daß er seine junge Frau gleich mit an Bord nehmen wollte; das tun besonders englische Kapitäne sehr oft, Frau und Kinder kommen gar nicht wieder von Bord. Jetzt aber wurde sie nur von einem Gedanken beherrscht: er hatte an ihre Schwesterliebe appelliert.

»Ich will, Paul!« sagte sie feierlich.

»Ich danke dir, und mehr Worte bedarf meine Schwester nicht, um mich zu beruhigen.«

Er wollte sie küssen; doch sie senkte schnell das Haupt, daß seine Lippen nur das Haar berühren konnten, und er war daran gewöhnt.

»Es bedarf noch einiger weitern Erklärungen,« fuhr er fort. »Daß meine Braut eine Bürgschaft verlangt, könnte dir auffallen. Carmencita ist eine Farbige, eine Quadrone. Stelle dir nicht etwa eine Schwarze vor, ihre Haut ist weiß wie frisch gefallener Schnee ... Doch das kennst du ja bei deiner Bildung selbst, ebenso aber wirst du wissen, wie verachtet in Amerika, ganz speziell im spanischen Süden, die Farbigen sind. Und ist der Mann schön wie Apollo, tugendhaft wie Cato, wäre er ein gottbegnadetes Genie, durch seine Schöpfungen bewiesen – seine Ur-Ur-Urgroßmutter war eine Negerin, also gehört er zum Auswurf der Menschheit. Dies gilt erst recht vom farbigen Weibe; hier aber kommt das Weib als solches in Betracht. Es ist in ganz Südamerika rein unmöglich, daß eine Weiße einen Farbigen heiratet. Allerdings kann ein Liebesverhältnis einmal vorkommen, die Liebe entspringt ja dem unvernünftigen Herzen, dann aber gibt es nur zweierlei, den Tod oder Flucht aus Amerika. Die schönen Farbigen dagegen scheinen nur dazusein, um von den weißen Männern vorübergehend geliebt zu werden; so sind die Mulatten, Terzeronen, Quadronen, Quintonen und so weiter entstanden, und auf allen lastet der Fluch der Verachtung. Das ist die Gemeinheit der Herren der Schöpfung. Ich bin natürlich über so etwas erhaben. Nun wirst du jedoch Carmencitas Forderungen verstehn. Sie liebt mich, sie hat es mir unter Tränen gestanden, aber meine Geliebte will sie nicht werden, dazu steht sie zu hoch, und sie traut auch meinen Schwüren nicht, sie kann es nicht, das liegt in den Verhältnissen; daß ich sie wirklich heiraten will, kommt ihr so unmöglich vor, als wenn hier ein Schustergeselle um die Kronprinzessin wirbt, und sie traute mir auch nicht, wenn ich sie in ihrer Heimat ehelichte. Denn sie ist ja nicht die einzige ihrer unglücklichen Rasse, welche stolz auf ihre Jugend hält, aber wie leicht wird auch die Vorsichtigste in dem käuflichen Amerika betrogen. Die Hochzeit und alles war nur Schein, und dann steht sie wieder rechtlos und verlassen da. Deshalb sagt sie: entweder die Trauung in deinem Lande in Gegenwart deiner Verwandten – oder sie verlangt eine für ihre Begriffe kolossale Bürgschaft in Geld, und sie hat recht, denn sie kann nicht wissen, daß ich, obgleich unter englischer Flagge fahrend, ein Deutscher bin. Im übrigen ist sie durchaus gebildet, weiß sich in der gewähltesten Gesellschaft zu bewegen und ist, für dich wohl die Hauptsache, ein gutes, liebes, braves Mädchen.«

»Ich will, Bruder!« sagte Imma wie vorhin, aber mit viel weicherem Tone, und schon lange tropften aus ihren Augen große Tränen. »Ach, wenn sie doch lieber hierherkäme!«

»Also, Imma, es bleibt unter uns. Die Tante braucht noch nichts zu erfahren, ich weiß, sie hat besondre Pläne mit mir vor, und da darf ich ihr nicht ohne weiteres einen Strich durch die Rechnung machen. Wir werden die Sache schon mit diplomatischer Schlauheit arrangieren. Verzeih, ein Geschäft ruft mich.«

Er ging, blieb in der Mitte des Zimmers plötzlich stehn, neigte Kopf und Oberkörper zurück, streckte beide Arme sehnsüchtig aus, und begeistert, jauchzend erklang seine prächtige Stimme:

»O, hätten ein Eiland wir, schimmernd und hehr,
Verlassen und einsam im bläulichen Meer,
Wo die ...«

»Doch nein,« brach er kurz ab, »nicht dieses Eiland der Liebenden – eine nordische Felseninsel im Sturm, und eine Heldenschar darauf, die Brandung donnert, und die Schwerter klirren, blutende Wunden und Todesröcheln, aber es klingt wie Siegesjubel, denn es sind Helden – und ich bin ihr König und sie die Königin. Ach, Imma, warum gleichst du nicht mir!«

Er eilte hinaus.

Imma war allein mit den auf sie einstürmenden Gedanken, bis ein Poltern sie aus ihren Träumen schreckte. Es war Manuel, der Mulatte, welcher vor dem Schreibtisch stand und unter verdrießlichem Brummen Bücher und Papiere durcheinanderwarf. Sein unhörbares Hereinschleichen erklärte sich aus seinen nackten Füßen, was sich in dem parkettierten Salon seltsam genug ausnahm.

Imma fürchtete sich vor dem unheimlichen Gesellen, welcher mit im Hause wohnte, wie er seinen Herrn überhaupt nie verließ, hier aber in unverschämtester Weise auftrat. Nur der Kapitän hatte ihm zu befehlen, niemand weiter, jedem andern gegenüber hatte er nur Trotz und Rücksichtslosigkeit, machte auch bei Lady Muggridge keine Ausnahme, und diese ließ sich das gefallen, wie sie überhaupt alles verehrte, was mit ihrem Neffen in Verbindung stand, sie amüsierte sich sogar über die Unverschämtheit des Mulatten.

»Was suchen Sie, Mister Manuel?« fragte Imma schüchtern.

»Sie wissen's doch auch nicht liegen,« war die mürrische Antwort, »die Schiffsliste – die Weibsbilder haben sie doch wieder verkramt!«

»Es war aber niemand an dem Tisch.«

»Ja, kennen wir, im Ausreden seid ihr alle gleich – da ist sie!«

Das war so eine Probe seines Auftretens im Hause. Er ging hinaus, den Tisch mit durchwühlten Schubfächern in wüster Unordnung lassend. Mehr die Beschämung über sich selbst, daß sie sich solch eine Behandlung gefallen ließ, als der Zorn trieb Imma das Blut in die Wangen, als sie dem finstern Manne nachsah. Wehe, wer dessen Haß einmal auf sich zog! Wenn man diesen Mulatten beobachtete, mußte man jenen recht geben, welche behaupten, die Neger seien überhaupt keine Menschen, sie hätten wohl Vernunft, aber keine Seele. Manuel besaß große geistige Fähigkeiten, er beherrschte fast alle Kultursprachen, wie man solches Sprachtalent überhaupt vielfach bei der Negerrasse – und bei Slaven – findet; wenn sein Herr ihn als dressierten Pudel vorführte, ließ er ihn fünfstellige Zahlen im Kopfe multiplizieren. Aber er besaß kein Herz, kein Gemüt. Es war ein gefährliches Spielzeug, welches sich der junge Kapitän da zugelegt hatte, ein gezähmter Panther. Es war eine abenteuerliche Geschichte, wie er zu ihm gekommen war. In einem kubanischen Hafen, gleich bei der ersten Reise mit der ›Imma‹, sah er, wie eine wütende Volksmenge den Polizisten einen verhafteten Schwarzen entriß, um ihn am nächsten Laternenpfahl zu hängen. Der herkulische Mulatte wehrte sich verzweifelt, doch wäre sein Schicksal besiegelt gewesen, wenn ihn nicht Flederwisch, abenteuerlich wie immer und ebenso wie immer alle Gesetze verhöhnend, mit seinen Matrosen herausgehauen und in Sicherheit gebracht hätte, was ihm dann eine schwere Summe kostete. Damals war es ihm nur darum zu tun gewesen, seinem ritterlichen Charakter entsprechend, dem Unterliegenden gegen die Uebermacht beizustehn; jetzt war Manuel sein Bootsmann, er sei ein tüchtiger Seemann, sein treuer Hund, und damit basta. Was er aber begangen hatte, daß er verhaftet wurde und gelyncht werden sollte, darüber herrschte Unklarheit; wenn der Kapitän davon erzählte, gab er immer irgend einen andern Grund an, der ihm gerade einfiel. Etwas Sauberes konnte es nicht sein. –

Am nächsten Tage harrte Immas eine große und freudige Ueberraschung.

Sie saß allein am Fenster, mit einer Stickerei beschäftigt. Da ertönte ein heiteres Lachen aus dem Nebenzimmer. Die Tür, die in dieses führte, stand offen, und Paul trat ein.

»Komm, Schwesterchen,« sagte er gutgelaunt, »ich will dir meinen neuen ersten Steuermann vorstellen. Es ist ein alter Bekannter. Ich hätte ihn schon gestern zu dir gebracht, als er sich bei mir meldete, aber mir fehlte es an Zeit. Jetzt jedoch sollst du ihn kennen lernen.«

Der Kapitän führte Imma durch das Nebenzimmer in ein drittes, und dort – der Herzschlag des Mädchens stockte – stand in schwarzem Gehrockanzug der blonde Held von der Frieseninsel – Sankt Michael. Lachend deutete Flederwisch auf ihn.

»Kennst du ihn noch, unsern Prinzen von Nirgendwo, unsern Noboby, wie ich ihn nannte? Jetzt hat er mir allerdings seinen Namen verraten müssen – Herr Alfred Werner – meine Schwester Imma!«

Der blonde Recke verbeugte sich tief und mit vollendetem Anstand, und Imma hatte inzwischen vermocht, die verlorne Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Nie, nie sollte jemand merken, was in ihrem Herzen für den Retter ihres Bruders lebte. Eine innere Stimme sagte dem schönen Mädchen, daß dieser Mann da hoch über ihr stehe – nicht gesellschaftlich, denn er war ja nur ein Untergebener ihres Bruders – Imma aber empfand instinktiv, daß eine unübersteigliche Schranke sich zwischen ihr und ihm erhob, die durch nichts beseitigt werden konnte.

In diesem Augenblick begrub Imma ihre Liebe zu dem stolzen, schönen und kühnen Mann, von dem sie bisher nicht einmal den Namen gewußt hatte!

Kapitän Flederwisch freute sich noch immer, daß die Ueberraschung so gut geglückt war. Hinter dem Steuermann aber stand Manuel, am Tische lehnend, die muskulösen Arme über der Brust verschränkt, und ließ die dicke Unterlippe hängen.

»Nun, findet ihr denn gar keine Worte?« rief der Kapitän lachend, als Imma und Alfred noch immer schweigend voreinanderstanden. »Also, Steuermann, Ihr könnt jetzt gleich Eure – halt, in Gesellschaft per Sie, an Bord und überhaupt in allen dienstlichen Angelegenheiten per Ihr – jetzt sind Sie mein Gast, Herr Werner, und verzeihen Sie, wenn ich Sie manchmal in Erinnerung an jene Sturmnacht Nobody nenne! Also lassen Sie Ihre Sachen herbesorgen. Manuel hier wird Ihnen dabei helfen. Er ist mein Bootsmann, mein Diener, mein Sklave und mein Hund, treuer als Gold, lernen Sie ihn nur erst kennen. Er hat Ihnen unbedingt zu gehorchen, auch an Land, und wenn er einmal dickköpfig oder unverschämt ist, dann schlagen Sie ihm das kolbige Nasenbein ein – auf meine Rechnung; er fühlt sich manchmal nicht ganz wohl, wenn er nicht seine Tracht Prügel weg hat!«

Imma fing den furchtbar gehässigen Blick auf, der aus des Mulatten Augen auf den neu angemusterten Steuermann schoß, es war ihr plötzlich, als kralle sich eine eiskalte Faust in ihr Herz.

Aber da verbeugte Kapitän Flederwisch sich bereits vor seiner Schwester – bot ihr den Arm und führte sie in den Salon zurück, welcher bald eine große Gesellschaft meist älterer Damen aufnehmen sollte, denen Lady Muggridge ihren schönen, stattlichen und reichen Neffen und Seehelden präsentieren wollte.

 

Die Ausrüstung und Designierung eines neuen Schiffes bringt viel Arbeit mit sich. Flederwisch verwertete seinen ersten Steuermann als Korrespondenten, Kommis, Kopisten, Markthelfer und Laufburschen; er selbst ging mit gutem Beispiele voran, und wer den jungen, leichtlebigen Kapitän nur aus der Gesellschaft kannte, hätte in ihm nimmermehr den an alles denkenden Geschäftsleiter, den weitblickenden Spekulanten und den nimmer rastenden Arbeiter vermutet. Jedoch gab es, abgesehen von seinem wirklichen Geschäftstalent, eine sehr einfache Erklärung für diese Doppelnatur: Flederwisch strengte alle seine Kräfte an, um möglichst viel Geld zu verdienen, weil es seine Leidenschaft war, dasselbe wieder zu verschwenden. Dieses Einsetzen aller Kräfte verlangte er auch von seinem Personal, um ihm dann wieder die größten Freiheiten zu geben.

Imma bekam Alfred nur an der gemeinsamen Tafel zu sehen. Lady Muggridge fand Gefallen an dem weitgereisten und doch so bescheidenen Seemanne, der gut zu erzählen verstand, dessen Bildung in jedem Fache beschlagen war. Flederwisch beteiligte sich an der Unterhaltung und suchte seinen Maat in Erzählungen von humoristischen Abenteuern zu Wasser und zu Lande zu überbieten, er zog oftmals Gesellschaft heran, und hatte der Kapitän den Steuermann des Abends nicht zu einer geschäftlichen Besprechung mitgenommen, so entwickelte sich am Teetisch ein gemütliches Familienleben.

Besonders gefiel Imma, daß ihr Bruder seinen Steuermann durchaus als Gentleman behandelte, in Gesellschaft wie in der Familie, ihm gegenüber auch nie wieder in jenen Ton verfiel, den er bei der Vorstellung angeschlagen hatte.

Wie erschrak sie daher, als sie einmal im geheimen Zeuge wurde, wie Paul in seiner Arbeitsstube Herrn Werner wegen eines ganz geringfügigen Versehens hart anfuhr, ihn – wie man sagt – ›abtoffelte‹, und zwar in einer Weise, die sich kaum der schüchternste Lehrjunge hätte gefallen lassen. ›Dummkopf, Einfaltspinsel, grüner Junge‹ waren die mildesten Ausdrücke, die meisten Worte bestanden aus Tiernamen. Die entsetzte Imma glaubte, nein, sie hoffte sogar, jetzt müsse da drinnen etwas Schreckliches passieren, jetzt müßten Stühle umstürzen, ein Ringkampf entstehn, ein Mann müsse zu Boden geschlagen werden, mindestens mußte Alfred ihrem Bruder die Papiere vor die Füße werfen und gehen – nichts von alledem, kein Wort der Entgegnung fiel: einige Minuten später erschien der Steuermann mit unbefangener Miene am Tisch und ließ sich von Paul wie immer mit freundlicher Höflichkeit begegnen, dieselbe erwidernd. Keine Spur von Zorn, Aufregung und Verletztheit. Traurig sah ihn Imma manchmal während des Essens an – ach, sein Glorienschein strahlte nicht mehr so hell wie sonst!

Flederwisch mußte geschäftlich nach Liverpool, vielleicht auf acht Tage. Daß ihn der Mulatte begleitete, war selbstverständlich. Alfred blieb hinter einem Tisch mit Stößen von Briefen zurück, welche alle beantwortet sein wollten; es gab Rechnungen zu kontrollieren, den Schiffsproviant aufzustellen, das Loggbuch anzulegen, die vielen Förmlichkeiten mit den Behörden zu erledigen, außerdem auch noch persönlich den Fortgang der innern Einrichtung auf dem Schiffe zu beobachten – eben alle jene Arbeiten, welche sonst das wohlgeschulte Personal des Bureaus einer Schiffsreederei unter sich verteilt. Kapitän Flederwisch hatte allerdings schon bewiesen, daß er dies alles ganz allein fertig bringe, nun verlangte er einfach, daß es ein andrer auch allein könne, und so wälzte er die ganze Last auf die Schultern seines Steuermanns.

Trotzdem fand dieser hin und wieder Zeit, mit Imma zu plaudern, dabei aber benahm er sich, wenn auch als Gentleman, doch immer als der Untergebener ihres Bruders.

Eines Tages fand Imma ihn über einem großen Stoß von Briefen, und sie brachte selbst noch eine Menge eben eingelaufener Schriftstücke dazu.

»Was steht denn nur in all den vielen Briefen? Hat denn mein Bruder wegen des neuen Schiffes eine so große Korrespondenz?«

»Viele Briefe wären allerdings nicht nötig, es sind oft Anfragen, welche nur aus Höflichkeit beantwortet werden müssen. Ich hatte ja auch Ihrem Herrn Bruder geschrieben, ob er mich nicht anstellen könne, als ich vernahm, daß er ein neues Schiff ausrüste. Hier sind noch hunderte solcher Anfragen von Steuerleuten.«

»Sie hatten erst geschrieben? Das weiß ich gar nicht. Ich dachte, Sie wären nur so zufällig als erster Steuermann angenommen worden.«

»Mein Schiff, der Hamburger Dampfer ›Merkur‹ war in Marseille an eine französische Reederei verkauft worden. Mir wurde zwar gleich eine andre Kapitänsstelle angeboten ...«

»Eine andre Kapitänsstelle?« unterbrach ihn Imma erstaunt. »Ich denke, Sie sind Steuermann?«

Nobody mußte die einmal übernommene Rolle durchführen, und daher antwortete er:

»Ich besitze das Kapitänspatent für große Fahrt, fahre schon seit drei Jahren als Kapitän von großen Dampfern. Sie wundert das, daß ich nun wieder als Steuermann gehe und gar auf ein veraltetes Segelschiff? Ich glaubte, Sie kennten diese Verhältnisse. Zunächst gibt es zahllose Seeleute, welche zwar das Steuermannsexamen schon gemacht haben, aber noch als Matrosen fahren müssen, weil sie als Steuerleute noch nicht ankommen können, und nicht jeder, der das Kapitänspatent besitzt, bekommt gleich ein Kommando. Ach, da muß man manchmal gar lange warten! Dann muß auch der Seemann beständig lernen, und seine beste Schule ist das Segelschiff. Ich war ja Zeuge, wie Kapitän Flederwisch die Imma verlor, und als ich hörte, daß er ein neues Schiff auszurüsten gedenke, bewarb ich mich sofort schriftlich um die Stelle. Als ich nicht gleich eine Antwort bekam, reiste ich direkt hierher, und es ist mir ja geglückt. Ja, ich wäre als Matrose mitgegangen – als Schiffsjunge, wenn es nur angängig gewesen, nur um Ihren Herrn Bruder segeln sehen zu können, um ihm die Kommandos und Kunstkniffe abzulauschen. In allen Häfen der Welt, wo die ›Imma‹ je das Ankermanöver ausgeführt hat, kennt man ihn als den tüchtigsten Kapitän, ich habe selbst gesehen, wie er ohne Lotsen mit vollen Segeln in den schwierigen Hafen von Algier einfuhr, und seitdem war es immer mein sehnlichster Wunsch, einige Fahrten unter seinem Kommando machen zu können. Nun darf ich ja sogar neben ihm auf der Brücke stehn.«

Ein namenloser Stolz schwellte Immas Herz, als sie solche Worte über ihren Bruder aus diesem Munde hörte, denn dieser Mann war weder der Lüge noch der Schmeichelei fähig. Aber ihrem Charakter gemäß konnte sie nun auch nicht mehr davon sprechen, sie mußte von etwas anderm anfangen.

»Ist es denn wirklich wahr, daß der Kapitän auf See einen Ungehorsamen gleich totschießt?« fragte sie in ihrer naiven Weise, und sie ahnte nicht, welche Bedeutung die Frage einst für sie erlangen würde.

»So schlimm ist es nicht,« lächelte Alfred, fuhr dann aber sehr ernst fort: »Freilich, das Recht steht immer auf seiner Seite. Es gibt an Bord nur einen Willen, und das ist der des Kapitäns; unbedingter Gehorsam gegen ihn ist die erste Pflicht des Seemanns. Wer dem Kapitän den Gehorsam verweigert, macht als Gefangener die Reise mit, unter Umständen in Eisen, und eine sehr harte Bestrafung wartet seiner. Lehnen sich nur zwei in Verabredung gegen ihn auf, vielleicht in einer geringfügigen Sache, so ist das schon Meuterei, das englische Seegericht kann diese mit dem Galgen bestrafen. Wer aber auch nur eine Hand gegen den Kapitän erhebt, den darf er auf der Stelle töten, und alle Gerichte der Welt sprechen ihn frei.«

»Das ist furchtbar,« flüsterte Imma.

»Das ist gerecht. Der Kapitän ist als unumschränkter Monarch an Bord seines Schiffes anerkannt, heilig und unverletzlich, und das muß sein! Ein Schiff, auf welchem auch nur zwei gleichzeitig befehlen wollten, würde nicht den ersten Sturm bestehn kommen.«

»So besitzt der Kapitän eine furchtbare Macht. Wenn er sie nun mißbraucht?«

»Die Macht des Kapitäns über seine Leute ist unbegrenzt. Ist er ein roher Patron, schlägt er, mißhandelt er die Matrosen, die Offiziere – ohne Murren muß man alles hinnehmen, will man sich nicht sein Recht verscherzen. Denn im nächsten Hafen kann man ihn ja verklagen, und er wird bestraft, sogar härter als ein andrer Mensch, eben wegen seiner Macht; wegen jeder Beleidigung muß er sich verantworten, und einem Offizier steht es ja frei, ihn zum Zweikampf zu fordern. Aber an Bord darf er nichts gegen ihn unternehmen!«

»Auch Sie würden sich sogar geduldig schlagen lassen?« fragte Imma leise, und es lag ein seltsamer Klang darin.

»Mein Fräulein,« antwortete Alfred, »man muß immer unterscheiden, was man tun zzziyyy sollzzz/iyyy, und was man im Impuls des Augenblickes tun zzziyyy würdezzz/iyyy. Von dem letztern darf man eigentlich gar nicht sprechen, da soll man nur sagen: Der Herr führe uns nicht in Versuchung! Doch ich glaube meinen Charakter zu kennen. Ja, ich würde mich beherrschen. Ich stelle mich unter das Gesetz und verlange daher von dem Gesetze, daß es mich schützt oder, wenn dies im Augenblicke nicht angängig ist, den Beleidiger meiner Ehre bestraft!«

Er hatte zuletzt in einem feierlich gehobenen Tone gesprochen, und es war auch ein bedeutungsvolles Wort gewesen. Wie ganz anders dachte da Flederwisch! Er war der Mann der Selbsthilfe, bei ihm war das Recht die rohe Kraft, der trotzige Mut und das klingende Geld. Wie erhaben waren dagegen die Grundsätze dieses Mannes!

»Bitte, nur noch eins!« forschte Imma weiter. »Ich verstehe immer noch nicht, ich habe mich noch gar nicht darum gekümmert. Sie sprechen doch nur immer vom Bordleben, wenn das Schiff also auf hoher See ist. Da läßt sich ja die Notwendigkeit eines bedingungslosen Gehorsams begreifen. Aber nun an Land, wenn Sie auch schon sein Steuermann sind, darf Sie denn da mein Bruder beleidigen, Sie ausschelten und ...«

Verlegen brach sie ab; sie war persönlich geworden.

»Ich weiß, woran Sie denken, Sie müssen Zeuge einer Szene zwischen ihm und mir geworden sein,« sagte er langsam. »Es tat mir leid, Fräulein, wenn Sie mich falsch beurteilten. Das ist keine Kunst, die Arbeit hinzuwerfen und seiner Wege zu gehn; das ist keine Kunst, wieder zu beleidigen oder im Duell als Märtyrer zu sterben. Aber ohne Murren zu gehorchen, treu auszuharren, sich selbst zu bezwingen, wenn man auch einmal eine Ungerechtigkeit einzustecken hat, das will gelernt sein, und wer es nicht lernen will, dem bringt es das Schicksal mit harter Hand bei, und ganz besonders der Seemann muß es gelernt haben, um selbst dereinst befehlen zu können. Ja, Fräulein, ich bin stolz darauf, es in dieser Kunst schon so weit gebracht zu haben. – Uebrigens hat dies alles nichts zu bedeuten,« setzte er in leichterm Tone hinzu, »wir Seebären sagen uns manchmal Grobheiten und meinen es dabei herzensgut, und ich glaube, Ihr Herr Bruder ist ein ausgezeichneter Mensch.«

Wie beschämt hatte Imma tief den Kopf sinken lassen.

»Es ist doch furchtbar, wenn der Mensch, wie ein Kapitän, solche Macht über andre besitzt, wie leicht kann er sie mißbrauchen!« sagte sie, nur um ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Er darf sie aber nicht mißbrauchen, oder er wird bestraft dafür. Freilich, das ist eine schlimme Sache. Wenn der Kapitän etwas verlangt, was die Sicherheit des Schiffes oder der Mannschaft gefährdet, wenn das jeder gesunden Vernunft einleuchten muß, oder wenn er direkt zur Ausführung eines Verbrechens auffordert, dann kann und muß ihm der Gehorsam verweigert werden, er kann sogar von der Mannschaft überwältigt werden, denn er könnte ja irrsinnig geworden sein. Solche Szenen kommen besonders bei den der Trunksucht frönenden Kapitänen oft genug vor. Zum Mörder, Seeräuber oder Halunken braucht aus Gehorsam natürlich niemand zu werden. Es gibt aber auch noch heikle Fälle. Zum Beispiel, der Kapitän befiehlt mir, von dem auf hoher Reede ankernden Schiffe eine Kiste im Boot an Land zu bringen, sie irgendwo abzuliefern. Durch Zufall erfahre ich, daß Schmuggelwaren darin sind. Was soll ich tun? Gehorche ich, so begehe ich wissentlich einen Betrug. Gehorche ich nicht, hat der Kapitän das Recht, mich krummschließen zu lassen. Erst an Land kann ich ihn anzeigen, das bedingen ja schon die Verhältnisse, dann ist es aber vielleicht zu spät, der Betrug, vielleicht sehr verhängnisvoll, ist bereits geschehen. Das sind eben die Fälle, wo jeder Mensch den Kampf zwischen Verstand und Herz selbst ausfechten muß, und die Gesetze wissen das zu würdigen, indem kein Gericht die Mannschaft zwingen kann, gegen ihren Kapitän zu zeugen.«

Es trat eine kleine Pause ein. Der Steuermann ordnete die Briefe, Imma stand seitwärts am Schreibtisch, die Augen niedergeschlagen.

»Und in demselben Verhältnis wie Sie zum Kapitän, steht der Bootsmann zu Ihnen?« begann sie dann leise.

»Ja, sobald ich als Offizier Wache gehe und auch sonst, wenn es der Dienst erfordert, nur daß ich dem Kapitän die letzte Entscheidung überlassen muß und er meine Befehle aufheben kann.«

»Wenn sich nun der Bootsmann gegen Sie tätlich vergeht?«

»So wäre dies geradeso, als hätte er sich gegen den Kapitän selbst vergriffen. Töten dürfte ich ihn allerdings nur in höchster Notwehr.«

Aengstlich sah Imma ihn lange an.

»Ach Gott, wenn mein Bruder nur den Manuel entlassen wollte! Es ist ein so roher Mensch, ich vergehe vor Angst.«

Da schellte die Tante nach ihr. Imma mußte fort.

Nach zehn Tagen kam Flederwisch unvermutet zurück, in der heitersten Laune, blühend wie eine Rose. An der Hand fehlte ihm ein Diamantring, dafür trug er plötzlich am kleinen Finger einen Damenreif, und Manuel hatte von der Schläfe bis zum Kinn ein breites, weißes Pflaster, das einen frischen Messerhieb verdeckte.

Die Frithjof lag fix und fertig im St. Katharinendock am großen Quai des Hafens, eines jener ungeheuren Segelschiffe, wie sie jetzt immer mehr gebaut werden, allen Fortschritten der Maschinentechnik und Elektrizität zum Trotz, denn auch die Kunst, den Wind auszubeuten, schreitet vorwärts, und was der Mathematiker in stiller Studierstube am Schreibtisch berechnet, der Physiker im Laboratorium beobachtet, kommt auch dem Seefahrer zugute. Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Zeit der Segelschiffe sei vorüber. Noch jetzt hat z. B. Deutschland achtmal so viel Segler wie Dampfer, und nie werden diese jene völlig verdrängen. Stürme und Winde werden noch mit Milliarden von Pferdekräften wehen, wenn alle Kohlenlager der Erde erschöpft sind, man wird die Elemente ausnutzen lernen, wenn auch nicht gerade allein den Wind durch Segel.

Die Taufe war von Lady Muggridge vollzogen worden, welche wohl mehr aus geschäftlichen Rücksichten als aus Galanterie von Kapitän Flederwisch als Patin gebeten worden war.

In dem Salon unter Deck, welcher wirklich eher für die ersten Kajütenpassagiere eines Schnelldampfers bestimmt zu sein schien als für den Kapitän eines Segelschiffes, war eine zahlreiche Gesellschaft versammelt, und viele waren von weither gekommen, auch aus Deutschland, ehemalige Kameraden und Bekannte von schon ältern Jahren, und Flederwisch hatte mit guter Absicht jene eingeladen, deren er sonst gar nicht mehr gedacht. Nur Rechtsanwalt Perkins hatte abgesagt, aus leicht begreiflichen Gründen.

Obgleich die Gerichte ausschließlich in der Kambüse, der Schiffsküche, zubereitet wurden, ließ das Essen dem verwöhntesten Gaumen doch nichts zu wünschen übrig, Flederwisch konnte mit seinem schokoladenfarbigen Koch aus Indien prahlen; er hatte ihn tatsächlich in der ersten Küche von Paris ›studieren‹ lassen, und so hätte sich auch kein französisches Hotel der von den Händen des italienischen Stewards arrangierten Tafel und seiner Geschicklichkeit beim Servieren zu schämen brauchen; desgleichen waren Biere, Weine und Champagnersorten nicht nur zu dieser Gelegenheit bezogen, sondern sie hatten in einem von der Eismaschine gekühlten Raum ihr festes Lager.

Alles Reichtum, geschmackvolle Pracht, Luxus – es war wohl keiner unter all den geladenen Jugendfreunden und bemoosten Häuptern, die einst gesagt, das traurige Ende des leichtsinnigen Jungen sei vorauszusehen gewesen, welcher jetzt nicht den jungen Kapitän beneidete oder doch anstaunte, der so etwas aus sich gemacht hatte, der auf seinem Schiffe freier als ein König herrschte; und manche Dame träumte davon, wie herrlich es wäre, könnte sie das Herz dieses Mannes erobern, wie romantisch, könnte sie mit ihm als Königin auf dem stolzen Schiffe durch die weite Welt fliegen. – Aber er war ein Schmetterling, der von Blume zu Blume flatterte und sich nicht fangen ließ.

Gerade jedoch solche Gedanken waren es ja, welche der eitle Kapitän erwecken wollte, deshalb hatte er ja die, welche ihn früher gekannt und dereinst verurteilt hatten, eingeladen, er wollte bewundert, angestaunt, beneidet sein, und wie sie ehrfürchtig zu ihm emporsahen, so blickte er verächtlich auf sie herab.

Nur mit einem Manne an Bord hatte Flederwisch sich in die Bewunderung der Gäste zu teilen, mit seinem ersten Steuermann Alfred Werner, die Rede war selbstverständlich auf den Schiffbruch gekommen, den die Imma erlitten hatte, und so konnte die Heldentat nicht verschwiegen werden, durch die der Steuermann die gesamte Besatzung, sowie Flederwisch selbst gerettet hatte.

So sehr letztrer auch spottend über jene Affäre hinwegzukommen sich bemühte, er konnte nicht hindern, daß Alfred zeitweise der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit ward, daß gar manche vornehme und schöne Dame insgeheim einen Vergleich zwischen dem Kapitän und seinem Steuermann anstellte, und daß erstrer dabei nicht gewann.

Auch hier gab man jenem Lotsenkommandeur nicht unrecht, der den Retter der Schiffbrüchigen als einen Prinzen bezeichnet hatte.

Trotzdem ahnte natürlich noch niemand, welchen ruhmvollen Klang dereinst der Name ›Nobody‹ haben würde, den Flederwisch auch jetzt wieder seinem Steuermann gab.

Der Kapitän aber war viel zu gut gelaunt, um sich dauernd in Mißstimmung versetzen zu lassen. Stundenlang unterhielt er die Gesellschaft mit dem Vorführen seiner Leute, er ließ sie wie im Variété auftreten. Sie marschierten als chinesische Kapelle, und zwar in echten, seidenen Kostümen, mit Tsching und Kong auf und parodierten die musikalischen Zopfträger in köstlicher Weise. Zwei Matrosen traten als exzentrische Clowns auf und ließen die Lachmuskeln der Zuschauer nicht zur Ruhe kommen. Ein Sachse bewies sich denen, welche Deutsch verstanden, als unvergleichlicher Improvisator in sächsischer Mundart. Jedes Thema, welches ihm aufgegeben wurde, behandelte er in Knüttelversen mit wirklich geistreichem Witz. Ein andrer Deutscher entpuppte sich als ein wahrhafter Violinvirtuose und produzierte sich dann noch als Herkules. Er wurde aber noch übertroffen durch einen Schweizer, der Latein und Griechisch beherrschte. Ein andrer bewies seine Geschicklichkeit im Harpunenwerfen, die er sich auf einem Walfischfahrer angeeignet hatte – kurz, jeder der vierunddreißig Mann starken Besatzung besaß irgend eine spezielle Fertigkeit.

»An Deck, meine Herrschaften, die Polonäse beginnt!« rief endlich Kapitän Flederwisch.

Das Deck bot allerdings einen Tanzboden, wie ihn in gleicher Größe kaum ein Vergnügungslokal aufwies.

In Überraschungen für seine Gäste war Kapitän Flederwisch überhaupt groß. Hatte die Gesellschaft vor kaum einer Stunde das Verdeck noch in seiner ursprünglichen Einrichtung gesehen, so glich es jetzt einem geradezu märchenhaft dekorierten Saal. Eine aus Matrosen gebildete Kapelle ließ ihre muntern Weisen ertönen, und es wurde lustig unter freiem Himmel getanzt.

Mitten im Tanze brach Flederwisch plötzlich ab. Eine schwarze Katze, die vermutlich von dem dicht neben der Frithjof liegenden Schiffe herübergekommen, war zwischen den sich drehenden Paaren hindurchgehuscht. Der Kapitän aber besaß, wie so viele Menschen, einen ihm selbst unbegreiflichen Widerwillen gegen alle Katzen, und ihm zuliebe hatte Lady Muggridge alle ihre Lieblinge aus dem Katzengeschlecht abgeschafft.

»Fangt die Katze! Ueber Bord mit ihr!« rief er heftig.

Noch ehe die Matrosen jedoch die Jagd nach dem Tiere beginnen konnten, tauchte hinter einer Palmengruppe der Mulatte Manuel wie ein dunkler Schatten auf, hatte mit einem Sprung und Griff die Katze erhascht, die sich eben hinter die Segelleinwand flüchten wollte – er mochte derb zupacken, denn sie schrie jämmerlich – und verschwand mit ihr unter der Back, dem erhöhten Vorderteile des Schiffes, wo sich altem Herkommen gemäß auch die Schlafräume der Matrosen befinden.

Zufällig hatte Imma zu derselben Zeit dem ersten Steuermann ihres Bruders gegenüber den Wunsch geäußert, einmal unter seiner Führung die innere Einrichtung der Frithjof zu besichtigen.

Sie begaben sich durch den Salon zurück in den Korridor im ersten Zwischendeck, von wo Türen in die einzelnen Kabinen führten, über jeder ein Schildchen mit blanken Messingbuchstaben, angebend, wer in dem Räume wohne oder wozu dieser diene. Hier hatte der Kapitän seine große Schlafkabine, seine Schreibstube, seinen Wohnraum, seine Badeeinrichtung – alles Bequemlichkeiten, wie man sie nur auf großen Dampfern findet.

›Erster Steuermann‹ stand an einer Tür. Imma sah ein helles, für ein Schiff geräumiges Wohngemach, an der ein fast so großes Schlafzimmer grenzte. Beide Räume waren behaglich und modern eingerichtet.

Ein mißtönendes Geschrei unterbrach die Plaudernden, es klang in diesem niedrigen, nur von dünnen Eisenplatten umgebenen Zimmer schrecklich, es war wie das Schmerzgejammer eines kleinen Kindes; dazwischen kamen nicht zu schildernde Töne vor.

»Was ist das?« fragte Imma tödlich erschrocken und klammerte sich an Alfreds Arm.

Aber auch dieser wußte keine Antwort zu geben, regungslos saß er da und lauschte. Bald war es, als sei das Geschrei dicht neben ihm, dann schien das immer stärker werdende Geheul und Gewinsel aus der Tiefe des Kielraums zu kommen. Es schien ein Kind zu sein, im furchtbarsten Schmerze schreiend, aber Kinder befanden sich ja gar nicht an Bord.

»Ich weiß es,« rief Alfred aufspringend, »es ist die Katze, Manuel martert sie gewiß. Bleiben Sie! Ich komme gleich wieder.«

Er ergriff die noch brennende Lampe und stürzte hinaus, ohne zu beachten, daß Imma ihm folgte.

In einem Hellegat, das ist ein fensterloser Raum, als Niederlage dienend, hing eine Lampe an der Wand, und im Scheine derselben vollbrachte der Mulatte sein teuflisches Werk. Er hatte der Katze die Füße gebunden, das Maul mit einem Holzpflock weit auseinandergespannt, um sie am Beißen zu hindern, und sie so an einem an der Decke befestigten Strick aufgehängt. Sein Arm blutete aus einer Schmarre, das Tier hatte ihn gekratzt, und nun übte er Wiedervergeltung, wenn er nicht allein aus grausamer Wollust marterte, denn mit teuflischer Freude, die in seinen Zügen zu lesen war, weidete er sich an den Zuckungen seines Opfers.

»Halunke!« donnerte da eine Stimme. Eine Faust traf den Kopf des Mulatten, klirrend fiel das Messer auf die Eisenplatten, und taumelnd stürzte er selbst nieder.

Nur einen Moment freilich blieb er liegen, dann sprang er mit einem unartikulierten Wutschrei auf, die blutunterlaufenen Augen stierten auf den Gegner; sie erkannten den Steuermann; die rechte Hand fuhr in das dichte, wollige Haar, wie eine blaue Flamme zuckte es durch die Luft, und mit dem Sprunge eines Tigers stürzte Manuel sich auf Alfred, hinter dem ein gellender Schrei des Entsetzens erklang.

Der Steuermann aber hatte den Sprung berechnet, er fing die Faust auf, welche den kleinen Dolch, der sein Herz getroffen hätte, umklammerte. Es knackte.

Brüllend vor Schmerz ließ der Mulatte die Waffe fallen; die beiden Männer hatten sich zum Ringkampf gepackt, ein Wolfsgebiß lag an Alfreds Kehle, aber ehe es sich einschlagen konnte, wurde Manuel emporgehoben und krachend zu Boden geschmettert, daß er besinnungslos liegen blieb. Dies alles hatte kaum drei Sekunden gedauert.

»Hallo, was geht hier vor? Ruhe an Bord!« ertönte Flederwischs befehlerische Stimme. Er stand im Türrahmen, seine stammenden Augen überflogen den Raum und bohrten sich in die des Steuermanns. An der Wand lehnte halb ohnmächtig Imma. Sie war Alfred leise gefolgt.

Dieser deutete auf die verstümmelte Katze.

»Da, Kapitän, so hat dieser Schuft Euern Befehl, die Katze zu beseitigen, ausgeführt. Ich schlug ihn zu Boden, er raffte sich auf und warf sich mit dem Dolch auf mich.«

Doch Flederwisch, der ganz als despotischer Kapitän auftrat, schien sich auf Seite seines rohen Bootsmanns stellen zu wollen.

»Warum schlugt Ihr ihn zu Boden?« fragte er scharf und drohend.

Da richtete Alfred sich hoch empor, den zornigen Blicken des andern fest begegnend.

»Warum? Weil ich empört war! Weil er es verdiente! Und so würde ich jeden züchtigen, der auf diese Weise ein Tier martert.«

»Was?!« brauste Flederwisch auf. »An Bord meines Schiffes ...«

Er brach plötzlich ab; seine zornsprühenden Blicke hatten die Schwester gestreift, mit einem Male lachte er belustigt auf.

»Recht so, daß Ihr den schwarzen Hund gezüchtigt habt! He, du räudiges Scheusal, steh auf! Munter! Das hat dir nichts geschadet!«

Er trat den Mulatten mit Füßen. Manuel kam allmählich zu sich, richtete sich etwas auf, griff an den Kopf und schaute verwirrt um sich.

»Tue nicht so, als könnten dir deine Hirnschale und Knochen überhaupt gebrochen werden. Steh auf, bitte dem Steuermann ab!«

Diese Worte wirkten wie ein hypnotischer Befehl auf den Farbigen. Manuel stand vollends auf, sein eben noch verzerrtes Gesicht nahm einen demütigen Ausdruck an; nochmals aufgefordert, Abbitte zu leisten, trat er in kriechender Haltung vor Alfred hin und murmelte wie ein Kind etwas davon, daß es ihm leid täte und er es nie wieder tun wolle.

Der Steuermann beachtete ihn nicht, er beschäftigte sich mit der zitternden und der Sprache noch nicht fähigen Imma.

»Er hat Sie verwundet,« war das erste, was sie hervorbrachte.

»Nicht doch, er war in meiner Hand wie ein Kind, und solch ein Spielzeug von Messerchen brauche ich wahrhaftig nicht zu fürchten,« tröstete Alfred sie lächelnd. »Es ist gut, Manuel,« wandte er sich dann an den Farbigen, zugleich die Katze losknüpfend, »ich nehme an, du hast mich im Dunkeln nicht erkannt. Aber merke dir, wenn du noch einmal die Hand gegen den ersten Steuermann erhebst, kannst du sie nicht mehr gebrauchen. Diesmal habe ich dich noch geschont.«

Der Mulatte schlich davon; die starren Augen Immas folgten ihm, sie sah, wie er im Hinausgehn den Dolch aufhob, sie sah auch den furchtbaren Blick, der aus dieser gebückten Stellung den Steuermann traf, und eine entsetzliche, quälende Angst beklemmte ihr Herz. Wenn sie doch ein Recht gehabt hätte, Alfred zu warnen, oder gar die Möglichkeit, ihn ganz von der Teilnahme an der Fahrt zurückzuhalten. Aber sie durfte nicht wagen, zu ihm zu sprechen. Hätte sie es getan, jetzt, in dieser Minute, so hätte sie ihm verraten müssen, daß sie ihn liebte, denn nur das liebende Weib hat ein Recht, für den Auserwählten seines Herzens zu bangen.

Imma hätte allerdings wissen müssen, daß diesem ersten Steuermann nicht so leicht jemand etwas anhaben konnte, daß er nicht nur kühn und stark war, sondern auch über eine seltene Geistesgegenwart verfügte.

Allmählich aber schwand ihre Angst über der Bewunderung, die sie dem herrlichen Manne zollen mußte.

Alfred geleitete die Schwester seines Kapitäns an Deck zurück, aber sie konnte nicht wieder in die richtige Feststimmung kommen. Es schien überhaupt, als wenn auch die übrige Gesellschaft ermüdet und abgespannt wäre, und so wurden bald die Boote beordert, in denen die Gäste des Kapitäns Flederwisch an Land gesetzt wurden.

Der erste Steuermann kehrte nochmals in das Haus der Lady Muggridge zurück, und wenn er des Abends allein war, dann schrieb er entweder eifrig in ein Buch oder studierte Seekarten oder aber trieb eine ganz seltsame Beschäftigung. Bei sorgfältig verhängten Fenstern und verhülltem Schlüsselloch stand er vor dem großen Spiegel und strich sich mit den Fingern über Stirn, Nase, Kinn und Wangen, und wenn er dann die Hände wieder sinken ließ, dann schaute aus dem Glase allemal ein andres Gesicht, völlig verschieden von dem vorigen. Diese Uebungen dauerten oft stundenlang, aber erst in den letzten Tagen vor der Abreise bediente sich der Steuermann bei seinen Verwandlungen auch andrer Hilfsmittel. Er hatte sich Perücken und falsche Bärte besorgt.

Auf diese Weise bildete der, den der Lotsenkommandeur als Prinzen Alfred, Kapitän Flederwisch aber als Nobody bezeichnet hatte, sich für den Detektivberuf aus, den er bald für immer ergreifen wollte, allerdings in eigenartiger, noch nie dagewesener Weise. Auch übte er vorläufig die Rollen ein, die er in der nächsten Zukunft als Flederwischs Begleiter spielen wollte.

Das Buch aber, in das er so oft schrieb, liegt gegenwärtig vor dem, der diese Erzählung wiedergibt. Es führt den Titel:

»Detektiv Nobodys Tagebuch«,

und von einigen Kürzungen abgesehen, geben wir die eigenhändigen Aufzeichnungen des berühmtesten aller Detektiven nachstehend wieder, indem wir ihn für gewöhnlich als Steuermann Alfred Werner bezeichnen und ihn nur dann Nobody nennen, wenn er sich einer Verkleidung bedient, um wieder eine seiner wunderbaren Entdeckungen zu machen, wenn er Knoten an Knoten zu dem Netze schürzt, das er über dem Kapitän Flederwisch zusammenziehen will, um aus dem verwegnen Schmugglerkapitän seinen besten und brauchbarsten Freund zu machen. –

Tage vergingen. Noch oftmals wanderte Kapitän Flederwisch ruhelos in seinem Zimmer auf und ab, irrte durch Londons Straßen oder stand am Quai und starrte träumend auf die Frithjof, deren Rumpf sich unheimlich hoch aus dem Wasser erhob. Es war ja noch eine Woche Zeit, aber dieses Warten, diese Ungewißheit! Dieses entweder oder! Entweder mit einem Schlage ein schwerreicher Mann – oder bankrott! Flederwisch verzehrte sich selbst, obgleich man es ihm äußerlich nicht ansah, was in ihm vorging. Seine urstarke Natur trotzte der seelischen Schwindsucht, und in Gesellschaft wußte er sich zu beherrschen.

Auch jetzt wieder war Manuel sein einziger Vertrauter, der seinen Herrn ständig mit besorgten Blicken verfolgte.

»Wenn sie nicht kommen – Manuel, ich lasse diesen Ring wirken!«

Der Mulatte mußte wissen, was es mit dem dicken, seltsam gravierten Goldringe an der ausgestreckten Hand des Kapitäns für eine Bewandtnis hatte.

»Sie werden zur bestimmten Zeit kommen, Massa, ich weiß es, ich habe davon geträumt, und meine Träume gehn immer in Erfüllung,« war die stehende Antwort des abergläubischen Negers; schon hundertmal hatte er dasselbe gesagt, seinen Traum erzählt, wie die Frithjof die 20.000 Kisten mit Revolvern übernahm, mit allen Einzelheiten, und stets hingen die Augen des verzweifelten und über jeden Aberglauben erhaben sein wollenden Kapitäns an den Lippen des Erzählenden. Der Ertrinkende klammerte sich an einen wahnwitzigen Traum als an die letzte Hoffnung.

Die Nachforschungen nach Davis' Mörder machten nicht die geringsten Fortschritte. Ein Zeitungsinserat hatte alle Gläubiger und Schuldner des Hausbesitzers aufgefordert, sich zu melden. Niemand kam, niemand ging in die Falle, welche der ›Morning Leader‹ aufgedeckt hatte.

Wieder eine Woche verstrich. Morgen war der Termin, an welchem die Fracht neben der Frithjof liegen sollte, und niemand ließ etwas von sich hören.

Flederwisch stand auf seinem Schiffe, von dem ihm nicht einmal ein Nagel gehörte. Ein paar hundert Tonnen mit Bijouteriewaren aus gepreßtem Papierstoff hatte der ungeheuere Schlund verschlungen, aber was war das für den unergründlichen Magen! Durch die Luke blickte Flederwisch in eine gähnende Tiefe. Einmal fragte Alfred, ob die Fracht nicht bald käme, und sofort versicherte der Kapitän in seinem gewöhnlichen, leichten Tone, in einigen Tagen werde sie dasein.

Der andre Tag kam, aber keine Fracht, kein erlösender Brief.

»Manuel, mit mir ist's vorbei!« stöhnte Flederwisch, ballte die rechte Hand zusammen und stierte verzweifelt auf den Goldring.

»Sie kommen, Kapitän!«

»Ja, der Teufel kommt! Ich habe keine Lust, mich noch lange herumzuquälen oder etwa gar in fremde Dienste zu treten. Daß ich mir verdammt wenig aus Leben oder Tod mache, weißt du. Ich ertrag's nicht länger. Nur meine Leute dauern mich, daß ich den armen Kerls den Spaß verderben muß. Unter einem andern Kapitän kann ich sie mir gar nicht denken. Aber sie brauchen sich auch keinen neuen Kapitän zu suchen – ich will's nicht – ich mag's nicht – meine braven Jungens sollen wenigstens nicht darunter leiden – sie sollen an mich denken – ich habe für sie noch genug Geld beiseite gebracht ...«

Wahrhaftig, Flederwisch weinte! Der Tod schien bei ihm beschlossen zu sein. Für das Weib und seine Liebe zu diesem, wovon er zu der Schwester mit solch glühenden Worten gesprochen, hatte er gar keinen Gedanken. Aber als er an seine Matrosen dachte, die er verlassen sollte, da weinte er. Und er hatte für sie immer gesorgt gehabt, wie ein Vater für seine Kinder, jetzt stellte es sich heraus.

»Seht mich an, Kapitän!« unterbrach ihn der Mulatte mit tiefer Stimme, und Flederwisch blickte auf.

Manuel war von diesem Jammer und dieser Liebe nicht gerührt worden, Tränen hatte er nicht im Auge, aber jenen kleinen Dolch hatte er in der Hand, und diesen setzte er mit der Spitze auf sein rechtes Augenlid.

»Kapitän,« fuhr er leise fort, aber in seltsamem, unheimlichen Tone, »wartet noch bis morgen, bis übermorgen, gebt mir noch acht Tage Frist – ja, nur noch acht Tage – ist heute über acht Tage die bestellte Fracht nicht eingetroffen, so will ich mir hier vor Euch diesen Dolch langsam in mein Auge bohren, bis ins Hirn, und tot vor Eure Füße sinken.«

Es war eine furchtbare Versicherung der Gewißheit; selbst Flederwisch, der doch den Mulatten kannte, starrte ihn entsetzt an. Zugleich hatte er auch noch etwas andres herausgehört.

»Die bestellte Fracht?« flüsterte er. »Was weißt du davon?«

Der Mulatte ließ den kleinen Dolch wieder zwischen den dichten Haarbüscheln seines Kopfes verschwinden.

»Ich weiß eben, daß sie kommen wird, denn ich habe davon geträumt, und meine Träume trügen nie,« entgegnete er gleichgültig.

Die Klingel hatte geschellt, das Dienstmädchen brachte eine Karte.

»Willem Harderbrook, Kaufmann, Amsterdam,« las der Kapitän laut. »Wartet der Mann? Nichts, nichts, ich will niemanden mehr sehen!«

Der Schiffseigentümer und Kapitän, welcher keine Fracht zu haben schien, wie sogar in Schiffsblättern manchmal angedeutet war, wurde mit Anfragen aus allen Ländern überflutet, ob er nicht die und jene Ladung übernehmen wolle. Wurden die Briefe nicht beantwortet, so kamen die Schreiber nicht selten persönlich.

Das Dienstmädchen wandte sich, um wieder zu gehn; plötzlich wurde es von hinten durch eine rohe Faust bei den Röcken gepackt und festgehalten.

»Willem Harderbrook,« zischte Manuel seinem Herrn unter dem Zetergeschrei der tödlich Erschrockenen zu, »den Namen habe ich bei ihm gelesen – hole ihn!«

Aber das Mädchen war dazu nicht mehr fähig, Manuel holte jenen selbst.

Die Tür ging auf, vor Flederwisch stand ein eleganter Herr mit glattrasiertem, englischen Gesicht.

»Habe ich die Ehre, Mister Paul Müller zu sprechen, selbstfahrender Besitzer der Frithjof?«

»Bin ich! Setzen Sie sich!«

Der Herr nahm Platz, Flederwisch saß schon, ohne etwas davon zu wissen. In seinem Kopfe drehte sich alles, nur undeutlich sah er, wie der Mann in den Papieren einer Brieftasche blätterte.

»Sind wir hier ungestört?«

»Wir sind es.«

»Davis ist ermordet – schauderhaft!«

Noch einmal setzte des Kapitäns Herzschlag aus. Dann entstand ein eigentümliches Gefühl in seiner Brust, eine krampfhafte Spannung, dabei aber wurde er plötzlich ganz ruhig. Was jetzt kam, er war bereit, es zu ertragen.

»Standen Sie vielleicht mit Davis in Verbindung?« fragte er kalt.

Der andre lächelte flüchtig.

»Sie wissen, um was es sich handelt. Der holländische Dampfer Hermine läuft heute nachmittag Tilbury an. Er hat Ihre Fracht an Bord.«

Mr. Harderbrook suchte noch immer zwischen seinen Papieren. Wird er mir jetzt die unquittierten Rechnungen vorlegen? dachte Flederwisch mit unnatürlicher Gleichmütigkeit, während sein Herz wild schlug.

»Wir haben durch Davis' Tod doch keine Unannehmlichkeiten?«

»Alles in Ordnung, tausend Tonnen Revolver, zweihundert Tonnen Türschlösser, frei in das Katharinendock ans Schiff, Sie haben sich um gar nichts mehr zu kümmern. Hier – endlich – hier ist die Gesamtquittung. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß die Hermine mit ihren fünftausend Tonnen nicht die Themse heraufkann, wodurch zwei Tage Verzögerung eintreten. Sie löscht in Tilbury, Ihr Kargo wird mit der Southeastern nach der Dockstation übergeführt und von dort mit Wagen vorgefahren. Selbstverständlich tragen wir alle Kosten ...«

Mehr hörte Flederwisch nicht mehr, der Agent mußte ihm später alles noch einmal wiederholen. Alles, was der Schmugglerkapitän bis jetzt zurückgedrängt, brach mit einem Male hervor, siedend heiß stieg ihm das Blut nach dem Kopfe, alles tanzte um ihn, er sah die Gedanken, die ihm durchs Hirn zuckten, in verkörperten Bildern vor sich. Die Göttin Fortuna lächelte ihm zu – er sah sein Schiff mit Waren gefüllt, die ihm im Verhältnis zu ihrem Werte so gut wie nichts kosteten – er sah Rechnungen um sich herumfliegen, mit ungeheuren Zahlen bedeckt, die er aber nie zu begleichen brauchte, weil niemand da war, der das Geld forderte – und dann der Verdienst, selbst wenn er nicht schmuggelte! Er war gerettet, gerettet!! Er war mit einem Schlage ein mehrfacher Millionär – selbst wenn er nicht schmuggelte, setzte er im Innern hinzu.

Der Agent war gegangen, und Flederwisch war in Manuels Kammer geeilt, nein, getaumelt. Wieder brauchte er einen Menschen. Schluchzend lag er an des Mulatten nackter, zottiger Brust, und grinsend blickte dieser auf seinen Herrn herab.

 

Der Traum ging in Erfüllung. Am Quai türmten sich die Kistenberge, die Krahne ächzten, alles arbeitete, keuchte und schwitzte, und immer tiefer sank der Riesenleib des Schiffes.

Singend und pfeifend ging Flederwisch auf der Kommandobrücke auf und ab, sprang selbst einmal zu und legte mit Hand an, und wenn er dann durch die Räume des Zwischendecks schritt und diese nur den Bildern seiner Phantasie belebte, befiel ihn oft ein Wonnetaumel, daß er sich setzen mußte.

Unterdessen aber hatte er sich auch mit nüchternem Verstande klargemacht, wie es mit ihm stand. Was er beging, war ein schweres Unrecht; er eignete sich fremdes Gut an. Denn Davis hatte Erben, und denen schuldete er jetzt ungefähr zwei und eine halbe Million. Doch der Kapitän dachte nicht daran, sich zu melden. Er durfte es auch gar nicht tun. Dann war er überhaupt erhaben über eine moralische Verpflichtung. Davis war ein Wucherer gewesen, ein Halsabschneider, ein Betrüger – wohl, diesmal hatte ihn ein andrer übervorteilt, das war für Flederwisch ganz ehrliches Spiel. Die Erben, weitläufige Verwandte, kleine Leute, hatten nie daran gedacht, in den Besitz des Vermögens zu kommen, für so reich hatten sie den alten Geizhals nie gehalten, es war ein großes, bares Kapital vorhanden, in das sie sich teilten, sie erhielten unzählige Ansprüche und Dividenden, und darüber vergaßen sie das andre, was ihnen durch den Brand vielleicht verloren gegangen war.

Ja, wenn Flederwisch einmal in der Lage war, sie auszahlen zu können, ohne das Geld zu vermissen, und ohne jede Gefahr, noch nachträglich mit den Gerichten in Konflikt zu kommen, dann wollte er es sicher tun, mit Zinsen – und damit hatte er die Gewissensbisse vollkommen erstickt.

Trotzdem kam Flederwisch nicht aus der Unruhe heraus. Immer neue Sorgen verdüsterten sein Gemüt. Von Davis' Mörder fehlte noch immer auch die leiseste Spur. Der Verbrecher war mit größter Vorsicht an sein blutiges Werk gegangen; man würde ihn wohl nie entdecken und nie erfahren, was für Papiere er verbrannt hatte. Er hatte gewiß außer Kapitän Flederwisch noch manchem andern einen unbezahlbaren Dienst erwiesen.

Das drohende Gespenst blieb trotzdem bestehn.

Um es kurz zu machen: für Flederwisch wurde der Boden hier zu heiß. Er beschloß, England für immer den Rücken zu kehren, sich einen andern Heimatshafen zu suchen, oder das Schiff wurde eben seine Heimat. In seinen Phantasiebildern änderte sich dadurch nichts. Auch eine vollständige Trennung von der geliebten Schwester brauchte nicht zu erfolgen, wenn er das Land, das die Geschwister ihre neue Heimat genannt, für immer verließ, vielmehr war Imma von vornherein in seinen Zukunftsplan aufgenommen gewesen.

 

Der Tag der Abfahrt war gekommen. Der erste Steuermann, Alfred Werner, stand im Oelrock und Südwester in seiner Kabine.

Er glich wirklich einem gewappneten Ritter. Der das Gesicht beschattende Südwester glich einem Helm mit aufgeschlagenem Visier und gab den Zügen des Steuermanns ein wildes, trotziges Aussehen, die imponierende Gestalt erschien in dem langen Mantel und in dem niedrigen Räume noch größer.

Der Lärm an Deck nahm zu, man vernahm Flederwischs Kommandorufe.

»Der Kapitän läßt die Raaen backbord brassen? Wozu denn schon jetzt? Ich muß an Deck!« Er eilte hinaus.

Es war ein ungemütliches Wetter. Ein feiner Sprühregen, von heftigem Ostwinde getrieben, peitschte ihm entgegen. Ein kleiner Dampfer manövrierte, um sich vorzuspannen. Matrosen standen am Bug bereit, die Taue in Empfang zu nehmen, andre zum Absetzen an der Steinmauer des Quais. Flederwisch befand sich ebenfalls schon im Oelzeug, auch seine Hände von Handschuhen aus Gummi umschlossen, und leitete die Arbeit der übrigen Mannschaft in der Takelage. Sie schienen die Zeisings auf den stark gewendeten Raaen schon jetzt von den Segeln zu lösen, obwohl erst hinter Tilbury das Schiff in freierem Wasser segeln konnte; bis dahin mußte es geschleppt werden, das war Hafengesetz. Bis dahin aber vergingen noch viele Stunden, und dort mußten die Raaen auch wieder ganz anders gerichtet werden. Kurz, man fand es ganz unbegreiflich, was denn der Kapitän da mache.

»Zum Henker mit Euch, wo steckt Ihr denn?« rief dieser Alfred entgegen. »Die Fockraa muß noch mehr nach backbord gebraßt werden. Seht Ihr denn nicht, daß wir den Schornstein sonst mitnehmen? Manuel, klar Deck überall, herunter von Bord, was nicht darauf gehört!«

Leichtfüßig sprang er die Kommandobrücke hinauf, Umschau zu halten, und war ebenso schnell wieder herunter, als er seine Schwester an Deck stehn sah. Er eilte auf Imma zu, und plötzliche beugte er sich zu ihr herab, schloß sie in seine Arme und küßte sie leidenschaftlich.

»Leb' wohl, mein Schwesterchen, leb' wohl, leb' wohl!« erklang es schluchzend, und er preßte sie an sich, daß es Imma schmerzte.

Dann schob er sie sanft über das Laufbrett, welches hinter ihr von Matrosen zurückgezogen wurde, und als sie sich umwandte, noch erschrocken und erstaunt über dieses Ungestüm beim Abschied, über diesen wahren Schmerz, der ihr an ihm ganz fremd war, sah sie ihn schon wieder auf der Brücke, mit schallender Stimme Kommandos erteilend. Alfred stand vorn auf der Back und leitete das Befestigen der Taue; er hatte ihr nicht noch einmal die Hand reichen können, konnte jetzt nicht mehr nach ihr blicken.

Die Abfahrt des neuen Seglers unter Kapitän Flederwischs Kommando hatte ein großes Publikum angelockt, trotz des Regenwetters, und nicht nur Seeleute und Flederwischs Freunde. Dieser ließ sich als Kapitän gern bewundern, und hier hatte er Gelegenheit, auch einmal im Hafen seine Kunst zu zeigen, er hatte ja eine Vorstellung versprochen. Schade nur, daß das schlechte Wetter nicht die Paradeuniform seiner Matrosen zuließ – so bedauerte er, nicht wissend, daß die in Oelanzüge gehüllten Gestalten mit den Südwestern viel bessere Figuren zu dem Bilde abgaben, welches sich bald entwickeln sollte.

Der kleine Dampfer zog an, die Matrosen an Deck des Seglers arbeiteten mit Winden und Hebebäumen, die Hafenarbeiter auf beiden Seiten der Schleusen rannten mit Tauen unter der Leitung der Hafenkapitäne, der Dampfer zischte und keuchte, Taue flogen durch die Luft, und alles wurde von dem jungen Kapitän beherrscht, der durch das Sprachrohr seine Befehle donnerte.

So gewöhnlich dieses Manöver im Hafen auch war, bot das Ganze doch ein imposantes Bild, wie die auf dem Riesenschiffe mit den himmelhohen Masten verschwindenden Menschlein mit dem Koloß und der Steinmauer kämpften, um beide voneinander zu trennen. Die Matrosen jagten umher, die braunen, wilden Gesichter glühten unter den Südwestern, Taue wurden ausgeschleudert und gefangen, eins war nicht rechtzeitig gelockert worden, ein Knall wie ein Kanonenschuß, das armstarke Manilaseil war wie Glas gesprungen, eine lange Reihe von Matrosen stürzten an Deck und überschlugen sich, mit blutenden Gesichtern erhoben sie sich, ein Wink, ein schriller Pfiff der Bootsmannspfeife, sie warfen sich auf ein zweites Tau, das nicht über den Boller wollte, ihr Gesang war ein Wutgeheul, und sie ruhten nicht eher, als bis sie es gebändigt hatten. Hochaufgerichtet stand die mächtige Figur des ersten Steuermanns auf einem Boller am Bug, ein Felsen inmitten des kämpfenden Gewoges, mit unerschütterlicher Ruhe Befehle austeilend. Seine hin und her fliegende Ordonnanz war der schwarze Bootsmann, während der Kapitän selbst überall zu gleicher Zeit zu sein schien, jetzt am Heck, jetzt auf der Back, jetzt mittschiffs, sein haarscharfes Messer fuhr über ein schenkeldickes Tau und zerschnitt es wie einen Bindfaden, und dann stand er schon wieder auf der Kommandobrücke, die Seele des Ganzen.

»Wie romantisch! Sind das nicht wirklich Wikingerhelden? Wenn es schon hier so zugeht, wie mag es da erst draußen auf dem Meere im Sturme sein!«

So sagte eine schwärmerisch veranlagte Dame, und sie hatte recht.

»Er kommt nicht frei, ohne den Schornstein dort umzureißen,« lautete das sachverständige Urteil aller zuschauenden Seeleute, »und das Fenster dort drückt er auch mit der Fockraa ein, wenn nicht die ganze Raa bricht, und dann gehn auch die Wanten über Bord!«

Frei von der Quaimauer war das Schiff, jetzt aber kam noch das Schwierigste. Das alte St. Katharinendock eignet sich nicht recht für große Schiffe, es ist unpraktisch gebaut. So stand hier der Takelage ein Kesselhaus mit hohem Schornstein im Wege. Wohl ein dutzendmal schon ist dieser Schornstein weggeknackt worden, aber der konservative Engländer baut ihn immer wieder hin. Die Reederei des betreffenden Schiffes muß den Schaden ja auch bezahlen.

»Da – da – da geht der Schornstein hin!« riefen vier Kapitäne gleichzeitig, und es klang etwas wie Schadenfreude hindurch.

So weit war es noch nicht; die Fockraa lag nur fest daran, freilich so, daß man den Schornstein schon sich biegen zu sehen glaubte, im nächsten Augenblick mußten die Steine zusammenprasseln.

Aber die Frithjof ging nicht mehr vorwärts, wenn es auch nur ein Aufschub sein konnte. Flederwisch donnerte mit feuerrotem Kopfe dem Kapitän auf dem Schleppdampfer Kommandos zu, jedes vierte Wort war ein Tiername, vom Kamel bis zum Heupferd, der weißbärtige Mann sagte nur immer: »ay, ay captain!« und folgte den fremden Befehlen, schließlich das eigne Kommando ganz aufgebend, sich selbst zum Handlanger degradierend, weil er seinen Meister erkannt hatte.

Noch einmal wurden die Taue ausgefahren und eingeholt. Flederwisch schleuderte den Matrosen vom Steuerrad und griff selbst in die Speichen, dirigierte mit seinem Kommando beide Schiffe zugleich, den unbeholfenen Riesen und den beweglichen Zwerg, seine Augen waren überall.

Und das für alle Seeleute anscheinend Unmögliche gelang, das Schiff kam frei von dem Schornstein, immer weiter, es drehte sich, die Raaen hatten ihn hinter sich, und sicher steuerte die Frithjof der Schleuse zu, dem letzten Hindernis. Flederwisch wandte sich um und machte mit der Hand eine Abschiedsbewegung, aber es sah wie eine höhnische Gebärde aus, und daß jetzt die am Ufer zusehenden Seeleute nicht in das brausende Hurra der Menschenmenge einstimmten, das konnte sich nur der erklären, der wußte, daß sie vor Staunen keine Worte fanden.

»Sakra, hat der a Schneid!« flüsterte ein österreichischer Kapitän neben Imma, und wieder schwoll dieser das Herz vor Stolz über ihren Bruder.

Aber das war nur das Vorspiel gewesen zu dem, was Flederwisch noch vorhatte. Er wollte in der Seemannskunst etwas zeigen, was London noch nie gesehen. Hätte er es als deutscher Kapitän in einem deutschen Hafen gewagt, er wäre sofort des Kapitänspatentes verlustig gewesen und außerdem noch schwer bestraft worden. In England jubelte man ihm deswegen zu, und eben darum fuhr er unter englischer Flagge.

Die Frithjof hatte im Schlepptau des Dampfers die Schleuse passiert, vor ihr lag die Themse, gar nicht sehr breit, eigentlich nur ein mittelmäßiger Fluß. Es ist strenges Gesetz, daß selbst kleine Segler von nur ein paar hundert Tonnen bis nach Tilbury oder von dort an herauf geschleppt werden, weil sie wegen der Enge und Belebtheit des Fahrwassers gar nicht manövrieren können.

»Los die Leine!« hörte Alfred Flederwischs Stimme; er sah, wie einige nach vorn springende Matrosen die Stahltrosse, an der der Dampfer zog, von dem Boller lösten und einfach abwarfen. Das so befreite Dampfboot schoß mit peitschender Schraube davon.

»Kapitän, was macht Ihr?!« schrie der Führer des Schleppers wahrhaft entsetzt.

»Die Frithjof braucht kein Gängelband. Los die Fock! Los die Marsen! Los das Großsegel! ...«

Ein Kommando folgte dem andern, die Matrosen waren aufgeentert, die Winden drehten sich, und fast gleichzeitig wie durch Zauberei entrollten sich sämtliche Segel, ganz und voll den starken Ostwind fassend. Das Schiff legte sich nach Backbord über, als wolle es kentern, richtete sich wieder auf, und mit geschwellten Segeln schoß es pfeilschnell die schmale Themse hinab, daß sich das ob solcher Freveltat empörte Flußwasser über der Back brach, unter den jetzt erbrausenden Hurrarufen des an den Ufern zusehenden Publikums, und auch die Hafenbeamten, die Wächter der Ordnung, stimmten jubelnd mit ein.

Dies war der Abschied der Frithjof aus ihrer Heimat.


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