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Neuntes Kapitel: Allerlei Besuche

Nun schickte die junge Lehrerin sich an, Besuch auf dem Hof zu machen, nicht im Herrenhause, denn die Herrschaft war ja nicht »ein«, wie man ihr gesagt hatte, aber im Verwalterhäuschen, um endlich der »Madam« zu danken und nach ihrem Befinden zu fragen.

Frau Matersen war im Wohnzimmer allein, saß im Lehnstuhl und hatte den kranken Fuß hoch gelegt.

»Sie treffen es schlecht bei mir, Fräulein Froben,« hub sie an, »so bin ich sonst nicht zu finden. Was würde meine Lotte sagen, wenn sie wüßte, daß ich noch gar nicht bei Ihnen war! Sie hat mir ja das Schulhaus auf die Seele gebunden!«

»Und ich,« fiel Marianne ein, »habe auch überall gespürt, daß eine freundliche Seele für mich gedacht und gesorgt hat; ich danke Ihnen vielmals, Frau Matersen.«

»Ach, das sind die Spuren von den beiden Mädchen, Fräulein Froben. Leonore Menkhausen und meine Lotte betrieben die Einrichtung für Sie mit größter Lust und waren geradezu unglücklich, daß sie vor Ihrer Ankunft fort mußten. Aber Sie wissen wohl: wenn die Schule ruft – als Lehrerin –«

»Das muß ich natürlich begreifen,« fiel Marianne ein, »wenn ich es auch diesmal bedaure. Und für Sie, Frau Matersen, tut es mir am meisten leid, daß Sie Ihre Tochter entbehren müssen. Wie kam das mit dem Fuß?«

»Auf der Kellertreppe bin ich ausgeglitten, gleich nachdem Lotte vom Hof war. Gebrochen habe ich ja nichts, aber eine Sehnenzerrung am Fuß kann eine rechte Geduldsprobe werden. Mein Sohn macht mir ja Umschläge und hilft mir, so viel er kann, aber viel um mich haben kann ich ihn natürlich nicht, so in der Erntezeit –«

»Aber Ihr Herr Sohn ist doch wieder zu Hause? Ich hörte, er sei verreist gewesen.«

Das sorgenvolle, wenn auch freundliche Gesicht der alten Frau wurde streng, fast hart, als sie sagte: »Meines Sohnes Anwesenheit in der Stadt war nötig.«

Marianne Froben erschrak über die Veränderung und fragte nicht weiter, aber schon fuhr die alte Dame fort: »Sie werden ja doch davon hören, von den unseligen Feuergeschichten. Sie kennen uns nicht, also ist es unnütz, Sie zu bitten: Geben Sie dem Geschwätz der Leute kein Gehör!«

»Sie brauchen nicht zu bitten, Frau Matersen,« sagte das junge Mädchen bestimmt. »In dieser Art lasse ich mich nicht mit den Leuten ein, wenn ich auch sonst allerdings wünsche, mit ihnen bekannt zu werden, um besser in meinen Arbeitskreis hier hineinzuwachsen.«

Das strenge Gesicht vor ihr milderte sich.

»Das klingt verständig, und Ihr Gesicht sagt das gleiche, obwohl es so jung – so jung ist! Liebes Fräulein, Sie sind ja wohl kaum zwanzig Jahre alt? Diese Frage hat meine Backfische alle Tage beschäftigt.«

Marianne lachte und antwortete: »Vierundzwanzig zähle ich, Frau Matersen, wenn Sie das beruhigt und Ihnen zu mir in meiner Stellung mehr Vertrauen gibt.«

»Ach, ich! Auf mein Vertrauen kommt es doch nicht an! Ich wünsche nur für Sie selbst, daß es Ihnen nicht zu schwer sein möge, was Sie hier übernommen haben. Aber Sie scheinen ja guten Muts!«

»Das bin ich, Frau Matersen, und mit Gottes Hilfe wird es wohl gehen.«

Frau Matersen konnte nicht anders, sie mußte mit der Hand über das junge, frische Gesicht streichen und sagen: »Alles Gute wünsche ich Ihnen hier!« Dann weiter: »Wie leid tut es mir, daß ich Sie heute gar nicht bewirten kann! Aber niemand ist zu Hause; die Leute sind natürlich alle mit zu Felde, und ich muß hier wie angebunden sitzen!«

»Vielen Dank, Frau Matersen! Ich bin ja schon immer in meinem Schulhaus Ihr Gast gewesen; bei jeder Mahlzeit eigentlich war irgend was Gutes von Ihnen. Aber Sie selbst, entbehren Sie nichts? Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

Dabei sah sie sich mit hellen Augen um, daß die alte Frau dachte: »Die wäre imstande, sich im fremden Hause gleich zurechtzufinden – fast möchte ich sie auf die Probe stellen!« Aber sie tat es doch nicht, sondern sagte nur, als Fräulein Froben bald danach aufstand: »Nicht wahr, Sie kommen einmal wieder zu mir – wenn ich Ihnen auch vorläufig noch keinen Gegenbesuch machen kann –«

Das versprach Marianne gern, denn wenn das alte Gesicht da auch ernst, ja einen Augenblick streng erschienen war und die Stimme etwas trocken klang, so glaubte Marianne doch, hinter den Worten einen mütterlichen Sinn zu spüren, und den – dachte das so ganz auf sich selbst gestellte junge Mädchen – den würde man doch vielleicht gern manchmal suchen.

Marianne ging nun ins Dorf zurück, um noch einige weitere Besuche zu machen – zunächst im Gasthaus, denn das hatte Frau Matersen ihr geraten, nicht nur, weil der Wirt Gemeindevorstand war; sie lobte auch seine Frau als gut und gefällig; »und es sind immerhin die näheren Nachbarn, von dem Schulhause leichter zu erreichen als wir hier auf dem Hof, wenn Sie mal in Verlegenheit sein sollten.«

Sehr gut gefiel die freundliche kugelrunde Wirtin Marianne. Sie nahm gern ein Schälchen saure Milch, dick mit Zucker und Brot bestreut, von ihr an und lachte vergnügt dazu, als ihr verheißen wurde: »In 'n Winter, wenn ick Swin' slacht' (Schweine schlachte), denn möt (mutz) Frölen ook (auch) min Wust (Wurst) probieren.«

»Hier scheint man von Wohltaten zu leben,« dachte sie im stillen und fand es dann angemessen, im Lädchen neben der Gaststube eine kleine Bestellung zu machen. Heimtragen durfte sie aber die Päckchen beileibe nicht; das ließen Christian und Jochen, die sie bedienten, nicht zu. Viel hätten sie ja nicht zu bieten, sagte noch die Wirtin bescheiden; wenn das Fräulein mal was aus der Stadt brauchte – es gehe noch immer zweimal wöchentlich eine Botenfrau, die alles recht geschickt besorge.

»De Großmudder von Hinrich Stoppsack,« rief der kleine Jochen hinter dem Ladentisch, und Marianne erinnerte sich, daß dies der Name des blöden Jungen in ihrer Klasse war, hinter dessen Art sie noch nicht kommen konnte. Sie brachte das Gespräch auf ihn, und die Wirtin meinte, ja, der sei recht verwahrlost. Der Vater habe nichts getaugt, und die Mutter sei immer krank gewesen; nun, da beide tot seien, habe die Großmutter ihn bei sich, sei aber zu viel fort und verstehe auch wohl nicht recht, den Jungen zu behandeln. »Nicht so gut, wie das Handeln in der Stadt,« schloß die Wirtin, und Marianne nahm sich vor, auch bei der Botenfrau bald einzusehen.

Aber vorerst zu dem anderen Gemeindevorstand, damit keine Eifersucht entstünde! Bei aller inneren Bescheidenheit fühlte die junge Lehrerin durchaus, daß sie hier, als etwas Neues im Dorf, eine gewisse Rolle spielte, und daß sie ebenso wie in der Schule niemand bevorzugen durfte.

Also nun zum Schuster Frank! Das war der Hochdeutsche, und der empfing sie auch gleich mit allerlei gewandten Reden, wie es dem Fräulein denn hier gefalle, und ob die Kinder auch nicht zu sehr aus Rand und Band geraten wären in der letzten Zeit, da sie ohne Schullehrer waren. Dabei warf er mehr oder weniger verstohlene Blicke auf die Füße der jungen Besucherin, eingehend ihr Schuhwerk beurteilend.

Das Fräulein würde ihn doch auch beehren mit ihrer Kundschaft? Ausbessern würde er ihr alles von heut auf morgen! Und seine neue Arbeit – wieder ein Kennerblick nach unten – würde dem Fräulein auch vielleicht besser zusagen als (mit einiger Verachtung) diese leichte Fabrikware!

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Nee, Fräulein, so als Sie mir hier sehen, bün ich Junggesell!

Marianne versprach gern ihre wertvolle Kundschaft, sagte aber zugleich, daß sie wohl vorläufig Meister Franks Dienste nicht in Anspruch nehmen würde, da sie sich vor allem mit Schuhzeug reichlich versorgt habe, in Gedanken an Dorf- und Waldwege, ja, Stoppelfelder sogar. Das lobte der Meister und fügte hinzu: »Und dann konnten Fräulein ja auch nich wissen, ob es hier auf dem Dorf so was von Schuster geben tät'. Das is nich allenthalben so wie in Grünweide; ich hab' die Kundschaft von alle Dörfer hier 'rum.«

»Können Sie das denn allein bewältigen?« fragte Marianne, sich umschauend, da sie niemand außer dem Meister an der Arbeit sah.

»Muß,« entgegnete dieser ernsthaft. »Die neumodischen Gesellen taugen nich viel; ihre Arbeit is nich solide genug, und vor allen nich ihr Karakter.«

»Haben Sie keinen Sohn, der Ihnen allmählich beistehen könnte? In der Schule ist ja keiner von Ihnen.«

Der Schuster lachte ein wenig.

»Nee, Fräulein, so als Sie mir hier sehen, bün ich Junggesell! Die Frauen« – er wiegte den Kopf; seine Meinung über sie schien nicht viel anders als über Gesellen- und Fabrikarbeit. Doch er sprach es nicht aus, in Anbetracht, daß eine Dame vor ihm stand.

Nun lächelte auch Marianne und sagte: »Das muß aber einsam sein, Meister! Womit vertreiben Sie sich denn die Zeit am Feierabend und Sonntags?«

»Lesen, Fräulein! Ja, wenn's keine Bücher nich gäb'!«

Das mußte nun wohl der Lehrerin mit all' ihrer jungen Bücherweisheit gefallen. Freundlich erbot sie sich sogar, den Schuhmacher auch dann und wann mit Lesestoff zu versorgen, wenn erst der Winter käme, und der alte Junggeselle strahlte.

War es nun für heute genug mit Besuchen? »Nein,« dachte Marianne, »je eher, je lieber zur alten Botenfrau! Vielleicht treffe ich sie gerade jetzt gegen Abend am besten zu Hause.«

Es war so. Im letzten Hause des Dorfes stand eine Alte am Herd und kochte die Abendsuppe. Das Feuer brannte hell, viel besser als im Schulhause, wo die junge Lehrerin sich noch immer ziemlich damit quälte. Der Schein fiel über ein altes runzliges Gesicht, über dessen Häßlichkeit Marianne zuerst erschrak. Die stechenden Augen, das wirre graue Haar und der zahnlose Mund, aus dem die Rede aber doch recht fix floß, konnten nicht einnehmend sein; aber die Wirtin hatte die Alte doch als geschickt und ehrlich gelobt. So machte Marianne einen kleinen Auftrag für den nächsten Botengang. Dann sprach sie von Hinrich und mußte gleich von der Großmutter viel über ihn hören: wie dumm und faul er sei, und wie sie leider so wenig auf ihn achten könne, da sie doch immer auf ihren kleinen Verdienst aus sein müsse. Marianne sagte nun auch, daß sie in der Schule nichts von ihm erreichen könne, daß er immer wie verstockt dasitze. Die Alte antwortete: »Ja, Fräulein, der Junge is verprügelt. Der alte Schullehrer – na, er is nu dot, und ich will nichts über ihn sagen, aber viel Geduld hatt' er nicht, und ich weiß es ja auch, wie mir oft die Hand juckt, wenn der Jung' einen so ankuckt und man nicht weiß: »Kann er nich oder will er nich!«

Sehr nachdenklich ging Marianne aus diesem Hause und nahm sich vor, den armen kleinen Wildling besonders im Auge zu behalten. Das konnte eine Aufgabe werden, schwer, aber vielleicht doch lohnend.

Nun Anning Kasten! Da saß sie auf der Schwelle eines Hauses und strickte, wobei sie zugleich ein etwa zweijähriges Geschwisterchen beaufsichtigte. Die Lehrerin erkennen und aufspringen war eins bei ihr, wobei sie aber doch noch darauf achtete, daß das Strickzeug und der Knäuel sich nicht verwirrten. Dann ein kleiner Knicks und mit den strahlenden Blauaugen zu Marianne aufgeschaut. Diese gab der Schülerin die Hand und fragte, ob das ihre kleinste Schwester sei, die da im Sand spielte; sie erfuhr, daß im Hause noch zwei kleine Brüder wären, ganz kleine, die noch nicht laufen und nicht sprechen könnten.

»Beide nicht?« fragte da Marianne förmlich erschrocken, und trat dann ins Haus. Hier fand sie die Mutter gerade dabei, die Zwillinge zu Bett zu bringen. Eine freundliche saubere Frau war es, die nur recht schwächlich schien, so daß Marianne gleich nach ihrer Gesundheit fragte. Sie hörte, daß die Frau einen sehr schweren Winter voller Krankheitsanfälle hinter sich hatte und sich noch immer nicht recht erholen konnte.

»Da mußt du deine Mutter recht pflegen, Anning,« sagte Marianne.

Das Kind nickte: »Dat dauh ick ook« (Das tu' ich auch). Die Mutter aber erzählte, daß die Kleine so manchesmal Suppe für sie gekocht habe, daß sie gut auf die kleine Schwester obacht gebe und dem Vater das Essen nachtrage, wenn er weit von Hause arbeite. Marianne erstaunte, was so ein kleines achtjähriges Menschenkind schon nützen konnte.

Als sie dann gehen wollte, kam gerade der Mann nach Hause; darum blieb sie noch einen Augenblick, um auch diesen kennen zu lernen. Kasten war Forstarbeiter und kam eben aus dem großen Eichhorst, der etwa eine Stunde vom Dorf entfernt war. Schaute die Frau äußerst zart aus, so war der Mann von gar stämmiger Gestalt; man sah es ihm an, daß er wohl Lasten bewältigen konnte, und daß er auch der schwachen Frau so viel wie möglich Stütze war, traute man dem gutmütigen Ausdruck seines braungebrannten Gesichts gern zu. Sagen konnte er nicht recht was; auf Mariannens freundliche Anrede rückte er nur öfter verlegen an der Mütze und brachte höchstens ein »Ja, ja, so is es« hervor.

Auch die Frau gehörte nicht zu den Geschwätzigen, aber trotzdem hatte Marianne einen deutlichen Eindruck von dieser kleinen Häuslichkeit und ging mit dem Wunsch, hier bald mal wieder einzusehen.

Abends schrieb sie in ihr Buch von den Eindrücken des Tages und schloß: »Könnte es mir interessanter oder ersprießlicher sein, wenn ich hier Aufzeichnungen machte über Theater und großstädtische Geselligkeit? Ich sehnte mich noch keinen Augenblick danach und wünsche nur, ich könnte alle, die mich so bedauerten, daß ich mich in ein Dorf vergraben wollte, recht schnell überzeugen, wie ich mich hier am Platz fühle und nichts weiter hoffe, als ihn immer recht ausfüllen, recht segensreich hier wirken und nützen zu können.«


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