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Der, der das Radio sieht

Unter den Hunderttausenden, die mit angeschnalltem Kopfhörer oder vor dem Schalltrichter des Lautsprechers den Radiovorträgen lauschen, ist nur einer, nur ein einziger, der die Mitwirkenden auch erblickt. Dieser eine lebt im Verstärkerraum, gleich neben dem Vorführungssaal, in den er durch ein Fenster schaut, kaum fünf Schritte vom Mikrophon entfernt.

Er sieht den Conférencier zu den Massen sprechen (keineswegs fracklich angetan, sondern im Gegenteil, der Straßenanzug ist durch einen Leinenkittel geschützt), er sieht den Kapellmeister (in Hemdsärmeln) die (mit aufgeknöpftem Hemdkragen dasitzenden) Philharmoniker zum Fortissimo harangieren und sieht die (uralte) jugendliche Sängerin, die den Mund zum Schreien aufreißt, sieht all die übrigen akustischen Darbietungen, sieht sie genau, sieht sogar – der Zeiger hüpft auf der Skala des Voltmeters – die Stärke des Schalls.

Und hört keinen Ton. Das heißt: Er hört keinen Ton direkt. Sein Zimmer ist schalldicht vom Vorführungssaal getrennt, und das Fenster, durch das er guckt, ist ein festverschlossenes Doppelfenster.

Das, was er vorm Gesicht hat, gelangt auf einem Umweg zu seinem Gehör. Er hat eine lange Leitung. Da sitzt er im Funkhaus, kaum fünf Meter von ihm entfernt, nebenan spricht, singt und spielt man ins Mikrophon, aber die Klänge kommen nicht direkt zu ihm, sie laufen zunächst aus der Potsdamer Straße zum Sender auf dem Magdeburger Platz oder bis nach Witzleben oder gar nach Königs Wusterhausen, vierzig Kilometer weit, und von dort kehren sie zu ihm zurück, zu dem Mann, der ganz dicht am Vorführungsraum sitzt und dem erst aus dem Lautsprecher gesagt wird, was er sieht.

»Was er sieht?« Sollte hier nicht die Mitvergangenheit stehen? Haben wir nicht in der Schule gelernt, daß der Schall bedeutend langsamer seines Weges geht als das Licht? Also können die Töne, die solche kilometerlangen Umwege brauchten, dem Mann am Fenster doch nur hinterher sagen, was er sah.

Falsch. Der Schall, von dem wir in der Schule gelernt haben, der trottete allerdings langsam dahin, dreihundertdreiunddreißig Meter in der Sekunde war sein reguläres Tempo, aber die elektrischen Wellen halten einen ganz anderen Rekord, sie breiten sich in einer Sekunde auf dreimal hunderttausend Kilometer aus – was so viel bedeutet, daß sie in einer Sekunde siebenmal rings um die Erde rennen können! Der Mann am Fenster, der mit der langen Leitung, hört also gleichzeitig das, was er sieht, trotzdem ihn eine schalldichte Wand von den Radiospielern trennt und trotz des Umweges über Magdeburger Platz, Witzleben, Königs Wusterhausen oder Stettin.

Ja, er hört sogar noch schneller, als wenn er direkt hören würde. Soll zum Beispiel im Rahmen eines Sendespiels ein fernes Trompetensignal erklingen, so wird es draußen im Flur geblasen, und unser Mann im Verstärkerraum vernimmt es, nachdem er es über Königs Wusterhausen gehört hat, eine halbe Sekunde später zum zweiten Male: vom Korridor her, in natura.

Übrigens kann er alle Darbietungen auch am Beginn der langen Leitung abpassen, und dazu ist er eigentlich da. Er schnallt den Hörer direkt an den Verstärker und dreht die Schrauben, damit die Schallenergie, die im Nebenzimmer aufs Mikrophon und von dort per Draht ins Innere der schwarzen Schatulle gelangt, in elektrische Energie umgesetzt, auch ausreiche, den Sender zu steuern. Hört irgendein Teilnehmer schlecht, so trägt zumeist eine lokale Störung die Schuld, keineswegs aber unser hier besungener Freund. Er ist Beamter der Telegraphentechnischen Reichsanstalt, und ihr gehört das von dem Reich der Funkgesellschaft schalldicht getrennte Gebiet. Eine marmorne Schalttafel ermöglicht die Verteilung der Vorführungen auf alle deutschen Sender, ermöglicht, alle deutschen Sender zu steuern. Telefonisch meldet die Hamburger Seewarte die Zeit, telefonisch werden die Kabel für die Sendung frei gemacht, aber die Telefone klingeln nicht, diskret schnarren sie nur, sonst könnte trotz der schalldichten Mauer und trotz geschlossenen Doppelfensters das Gebimmel aufs Mikrophon geraten, und jene Rundfunkteilnehmer, die gleichzeitig Fernsprechteilnehmer sind, würden mitten im Vortrag zu ihrem Telefonapparat stürzen, in der Meinung, jemand rufe sie an.

Bei den Proben ist unser Mann dabei und gibt dem Regisseur oder dem Kapellmeister Winke, wenn überbetont oder unterbetont wird, und bildet, ohne sich auf eine Kritik des Künstlerischen einzulassen, als Techniker die oberste Instanz. Mehr noch bei der Aufführung: Da ist er der einzige Vertreter einer nach Hunderttausenden zählenden Hörerschaft, der einzige Sichtbare einer wahrhaft unabsehbaren, weil unsichtbaren Masse.

Und die Hörspieler, die doch sonst Schauspieler sind und nunmehr vor leerem Haus ihre Künste entfalten müssen – kann man's ihnen verübeln, daß nur ihr Mund auf das hängende Mikrophon zielt, ihr Auge aber ängstlich-mißtrauisch-forschend-beifallheischend nach dem Fenster, wo der Mann von der Telegraphentechnischen Reichsanstalt, einem König Ludwig von Bayern gleich, das Parkett, die Logen und die Galerien ausfüllt …? Sein Lächeln erhöht, sein Nicken beglückt – alle für einen, einer für alle.

Und doch, Leser, Hörer und Spieler, glaubt nicht, daß er, der einzige, der sieht und hört, zu beneiden sei oder der richtige Kritiker oder auch nur der maßgebende Repräsentant des Publikums. Nein, er ist nicht beneidenswert, nein, er hat kein Urteil über die Wirkung und ist der unmaßgeblichste Mann der ganzen Hörerschaft. Warum? Weil er nicht nur hört, sondern auch sieht! Ihm gehen alle Illusionen verloren.

Er sieht, daß eine Badewanne mit Dusche den fernen Mithörern bald eine Meeresbrandung, bald einen Wasserfall, bald den Ruderschlag eines Bootes bedeutet und bald einen Wolkenbruch, während den Platzregen das Schütteln von Erbsen auf einem Tamburin sinnfällig ersetzt,
er sieht, daß den Donner des erzürnten Himmels ein dicker phlegmatischer Mann auf der Kesselpauke hervorbringt,
er sieht, daß es kein Dampfer ist, der in See sticht, und keine Fabrik, die Feierabend schrillt, und keine Lokomotive, die abdampft, wenn man aus der Kohlensäureflasche ein wenig Gas in die Metallpfeife strömen läßt,
er sieht, kein Eisenbahnzug fährt durch die Landschaft, sondern es wird bloß eine zerschnittene Grammophonplatte abgespielt, und sie bringt diesen ratternden Rhythmus hervor,
er sieht, das Auto, mit dem der reiche Onkel davonfährt, ist ein leer laufendes Motorrad, das den Krach auf dem Korridor besorgt, damit der Vorführungsraum nicht vollgestunken werde,
er, der nicht nur hört, sondern auch sieht, muß sehen, daß der rollende Bauernwagen gar nicht vorhanden ist, sondern vertreten wird von einem in den Händen des Inspizienten sich knackend biegenden Stück Wellblech,
und daß das Liebespaar, von dem die glücklichen Hörer vermeinen, es habe sich eben zur Umarmung vereint, bereits das Zimmer verlassen hat, und der beseligende Kuß vom Funkspielleiter inbrünstig auf die eigene Hand gedrückt wird,
er sieht, daß die Bauern in Tolstois »Macht der Finsternis« oder Anzengrubers »G'wissenswurm« nicht ungelenk in ihren schweren Stiefeln durch die Stube stapfen, sondern daß der Hilfsregisseur auf einem eigens hingelegten Bretterpodest trampelt,
und daß die Kirchenglocken nichts sind als hängende aneinanderklatschende Metallröhren,
er sieht alle mitwirkenden Tiere als nicht existent, ein Geräuschklavier (mit dem Kosenamen »Meckermaschine« bezeichnet) zirpt als Grille, kräht als Hahn, wiehert als Pferd, zwitschert als Nachtigall, muht als Rindvieh, gackert als Henne und kläfft als Hund, und ein »Waldteufel«, der mittels Bindfaden durch eine Pappröhre zu ziehende Karton, besorgt das beängstigende Stöhnen des Löwen, nur manchmal zieht man für individuellere Tierrollen einen Tierstimmenimitator heran,
er sieht Windmaschinen, Regenmaschinen und andere Requisiten der Theaterkulisse und neue Erfindungen der Radiobühne, er sieht gleichmütige Gesichter in leidenschaftlichen Szenen, häßliche Darsteller in schönen Rollen, nachlässig gekleidete Darsteller in eleganten Rollen, das erregte Volk des alten Genua im modernen Straßenanzug »Rhabarber« murmeln und die Verschwörer gelangweilt dasitzen, einander das furchtbar klingende Geheimnis »Siebenundsechzig – sechsundsiebzig« zutuscheln,
ach, er schaut und durchschaut den ganzen Schwindel, er sieht, das ist genug des Unglücks, er sieht, wo andere nur hören.


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