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Vom festen Herzen.

Es war ein Regenabend, wo es niemand gelüstete im Freien sich zu ergehen. Im traulichen Wohnzimmer des Pastorats zu M. saßen darum die gemütlichen Menschen gemütlich beisammen und ließen dem Herbstregen sein Vergnügen, draußen an die Scheiben zu klatschen, als hätte er nasse Wäsche zu waschen und er hatte doch nichts als dürres Laub in den Gartenbeeten und unter den Waldbäumen zur Ruhe zu bringen.

Außer dem Pastor und seiner Frau waren nur zwei Leute da: der alte Oberförster von Bahnau und der junge Hauslehrer vom gräflichen Schlosse. Die Lampe über dem länglichen, altmodischen Tisch gab gerade Helligkeit genug, daß man in vier freundliche, fröhliche Gesichter sehen konnte; – weiterhin dämmerte es nur so im Zimmer, daß für ein aufgeschlossenes Kindergemüt der zauberhafte, halbdunkle Hintergrund wie für das Erleben von Märchenträumen geschaffen gewesen wäre. Aber die Kinder waren zu Bett, und die Großen hatten so angeregte Unterhaltung, daß sie nach gar keiner Zauberfee im Dämmerlichte auszuschauen brauchten.

Man sprach über des Pastors Predigt vom Vormittag über den Text: »Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade«, und erging sich in allerlei Unterhaltung über die Art, wie Menschenherzen fest werden.

Da schlug der alte Oberförster plötzlich vor:

»Wir könnten eigentlich eine Art Kartenspiel miteinander spielen!«

»Kartenspiel?« fragte die Frau Pastor erstaunt.

»Ich meine, wenn vier Weltkinder an solch einem Regenabend beisammen sitzen, spielen sie gern Karten; – wir wollen es anders machen. Jeder soll erzählen, wie er zum festen Herzen gekommen ist.«

»Es ist aber nicht jedermanns Ding«, meinte die Frau Pastor, »sich über solche Dinge auszusprechen.«

»Nun, wir sind eine kleine Gemeinde, da ginge es vielleicht doch. Zudem sind wir alle von vornherein eines Geistes gewiß. Es steckt viel Erbauung und Segen darin«, sagte der Alte hartnäckig. »Vorwärts, Pastor, fangen Sie mal an!«

Alles schwieg und sah ihn an.

Nach einer kleinen Pause begann er:

»Ich will es kurz machen. Den ganzen Entwickelungsgang des Glaubens vom ersten halb unbewußten Keimen bis zur gegründeten Gewißheit kann man ja selbst kaum übersehen und noch viel weniger darlegen. An irgend einer Stelle des Weges war aber eine besondere Erfahrung und daran knüpft man gern wieder an. So hatte ich eigentlich alles für wahr gehalten, hatte auf der Universität für einen Christen gegolten und war doch eigentlich bis in das dritte Jahr meines Amtslebens nicht von der Kraft Christi und seiner Nähe recht ergriffen gewesen. Dabei hielt ich schöne Predigten und bildete mir ein, eine rechte Säule der Kirche zu sein. Du brauchst nicht zu lächeln!« wandte er sich zu der lächelnden Frau.

»Jetzt kann ich es schon«, meinte sie, »damals war es freilich nicht zum Lachen.«

»Kurz und gut, es war ein Tag in meinem Leben, wo sich plötzlich die verschiedensten Schwierigkeiten in ganz besonderer Weise häuften. Mein Weib lag mit leisem Stöhnen im Nebenzimmer, ich hatte Zahnschmerzen, mein Knecht hatte gekündigt und wollte an demselben Tage noch den Teil seines Lohnes, der noch bei mir stand und ich hatte doch kein Geld im Hause; – wohl stand eines meiner Pferde mir feil, aber es kam gerade kein Liebhaber. Zugleich drückte mich mein Gewissen: ich hatte am Tage zuvor mit einem sonst ordentlichen Schullehrer meines Bezirks einen unangenehmen Wortwechsel gehabt, dessen ich mich jetzt schämte. Alle diese Gedanken und Nöte plagten mich mehr als das Zahnweh allein, denn sie verdarben mir meine Stimmung und beugten mich zu Boden. Um mir Trost zu schaffen, schlug ich das neue Testament auf und fand Luk. 11, 10: »Wer da bittet, der nimmt.« – Das wunderte mich, daß da nicht stand: der wird nehmen; – nein, der nimmt jetzt eben, jetzt gleich. Zuerst schlug ich die Stelle im Griechischen und in verschiedenen Auslegungen nach, aber überall stand dasselbe. – Dann kniete ich nieder und betete ernstlich: »Herr, ich will gleich nehmen! Schenke mir Vergebung meiner Schuld und Frieden für mein Herz, daß ich still und ruhig werde in Dir!« Wunderbar gestärkt und ruhig stand ich auf; mir schien, als seien meine Lasten alle von mir genommen. Und jetzt geschah am selben Tage noch das eine nach dem andern. Mein Weib genas eines gesunden Knaben, ein reicher Bauer kam und kaufte meinen Schimmel, so daß ich dem Knecht seinen Lohn geben konnte, und mein Zahnweh war wie fortgeblasen. Am selben Tage kam noch mein Schullehrer und bat mit Tränen um Vergebung, es hätte ihm keine Ruhe gelassen. Daß ich selbst bewegt und glücklich ihm um den Hals fiel, brauche ich wohl kaum zu sagen. Wer da bittet, der nimmt.

Seither hat die Stimmung gewechselt, es ist sehr hoch hinauf und sehr tief hinabgegangen, ich habe viel Liebes und viel Leid durchgemacht, aber eins ist geblieben und ist gewachsen: die Überzeugung von der nahen Hilfe meines Herrn und die Freudigkeit, zu Ihm mich zu wenden, sobald ich mich ohne ihn weiß, hat mich nicht verlassen. Er führt nach Seiner Weise wunderbar weiter durch Trübsal und Freude, aber doch, wie der alte Vers singt:

Aus der Enge in die Weite,
Aus der Tiefe in die Höh'
Führt der Heiland Seine Leute,
Daß man Seine Wunder seh'.«

»Du hättest noch viel mehr von unseren Erfahrungen und Gebetserhörungen erzählen können«, meinte die Frau Pastor nachdenklich, als ihr Mann schwieg.

»Laß gut sein, Kind«, lächelte er, »wir Pastoren kommen sonst schon genug zum Reden. Jetzt sollen die anderen erzählen. Herr Oberförster, jetzt sind Sie an der Reihe!«

Der Angeredete sagte:

»Es gibt leicht lenksame und sehr störrische Kinder. Beider Behandlung ist verschieden. Ich habe dem treuen Gott vom Himmel mehr Mühe gemacht. Als junger Offizier genoß ich das Leben in vollen Zügen und glaubte an nichts. Da bekam ich im Krimkrieg den Schuß durch den Oberschenkel, als wollte der Herr sagen: »Lieber lahm ins Himmelreich als mit gesunden Füßen in die Hölle.« Aber das war noch nicht genug. Ich mußte meine Karriere aufgeben und wurde Förster. Etwas ernster mag ich geworden sein, als ich heiratete, aber noch lange nicht, wie er mich haben wollte. Da ließ er schwere Zeiten in Geldsachen über unsere Familie gehen und ich selbst wurde totkrank. Wenn damals nicht durch eines gläubigen Vetters Pflege helles Licht von oben in mein Herz gekommen wäre, ich glaube, ich hätte keinen Frieden und keinen Trost gesunden. So aber hatte er mich auf seine Fährte gebracht, daß ich merkte: gehst du ihm hier nach, dann gibt es Frieden für das Herz, und sobald du wo anders hin willst, setzt es einen Schlag. Meine Lebensführung würde einer Zickzacklinie gleichen; jede scharfe Ecke, die ich machen mußte, bezeichnete einen Hieb des treuen Hirten. Lief ich dann nach der anderen Seite zu weit, flugs bekam ich wieder eins! Es hat lange gedauert, bis ich es herausgemerkt hatte, wer zu mir sprach: »Ich will dir den Weg weisen«, und mein Wille klein beigab. Jahrelanges Leiden meiner Frau mußte zuletzt noch seiner Arbeit an mir den nötigen Nachdruck geben, daß ich wohl mit Lob und Dank sagen kann: Er hat mir mein Herz festgeschmiedet und zurecht gehämmert, wie jener Landgraf in der Sage vom Schmied zu Ruhla in einer Nacht festgehämmert wurde. Rühmen will ich mich nicht! Nicht, daß ich es ergriffen hätte oder schon vollkommen sei, aber es ist etwas geworden in meinem Herzen, das seither die Farbe nicht gewechselt hat und gehalten hat in Sturm und Regen. Da sei Gott Dank dafür in Ewigkeit.«

»Amen«, sagte der Pastor und reichte seinem Gaste die Hand. »Wirklich, danke Ihnen! Die Geschichte paßt zum festen Herzen allerdings außerordentlich gut. In der himmlischen Schmiede muß der Herr uns alle festschlagen, damit es hält.«

»Jetzt, Frau Pastor, ist die Reihe an Ihnen«, wandte sich der Oberförster an die Hausfrau.

»Nun, mich können Sie auslassen! Was kann ich Ihnen erzählen? Steht es doch geschrieben: Die Weiber lasset schweigen in der Gemeine!« wehrte sie lächelnd ab.

»Hier sind wir nicht in der Gemeine, und reden kannst Du!« sagte ihr Mann.

»Es geht nicht anders, Frau Pastor«, bat auch der Hauslehrer. »Wir sind ja zu vieren und können bei unserer Partie doch niemand auslassen.«

»Da hier kein Mann noch Weib ist, sondern einer in Christo, so sage es doch schlicht und einfach, wie Dir das Herz fest geworden ist«, wiederholte ihr Mann.

»Wenn es denn sein muß! Aber ich weiß eigentlich selbst nicht genau, wie das so bei mir zugegangen ist. Von einer Bekehrung habe ich nichts zu erzählen. Von gläubigen Eltern erzogen, lernte ich das Glauben und Beten von frühester Jugend auf, so daß ich mich keines Tages in meinem Leben besinnen kann, an dem ich nicht gebetet hätte. Seit meinem zehnten Jahre ist auch selten ein Tag vergangen, wo ich nicht etwas aus Gottes Wort gelesen hätte. Nach außen war ich behütet, nach innen half mir das Gebet, und so wuchs ich unter den günstigsten Bedingungen auf wie eine Treibhauspflanze. Besondere Eindrücke von Christo und Seiner Liebe hatte ich wohl keine erlebt, aber auch keine Zweifel durchzumachen. Die Konfirmation, an die andere sonst so gern zurückdenken, brachte mir wenig. Unser alter Pastor war harthörig und trug nach Kurz' Religionslehre uns so viel gelehrten Kram vor, daß wir wenig davon haben konnten, und als meine Freundinnen bei der Konfirmation selbst vor Rührung zerflossen, blieb mein Auge trocken und der erste Abendmahlsgang machte mir Angst, ich könnte am Ende das Sakrament mir zum Gericht empfangen haben. So lebte ich in lauter christlicher Luft weiter und dachte nicht daran, daß meinem Christentum etwas fehle. Da starb mein Vater und wir blieben in dürftigen Verhältnissen zurück, so daß es galt sparen und um der Erziehung der jüngeren Geschwister willen sich eine Entbehrung nach der anderen auflegen. Diese Selbstverleugnung fiel mir unendlich schwer, und da merkte ich, wie lieblos ich sei. Da kam ein anderer Pastor an des alten Stelle, der sich hatte emeritieren lassen, und dessen lebendige Predigten schlugen mir tief ins Gewissen und trieben mich ins Gebet. Wochenlang mochte ich kaum beten, weil ich schon meinte, die Sünde wider den heiligen Geist begangen zu haben. Dann kam mir, als ich eines Sonntagnachmittags im Kreise von gläubigen Verwandten eine Predigt über Maria und Rabbuni vorlas, plötzlich die Empfindung der Nähe und Liebe Jesu in dem Maße, daß ich das Buch hinwarf und fort eilte in mein Zimmer, wo ich lange, lange heiße Tränen weinte in großer Bewegung, und das vor Glück, daß Jesus jetzt mein sei! Seither bin ich sein und er mein, und wenn's auch von meiner Seite oft an der rechten Treue gefehlt hat und es durch manchen harten Kampf ging mit den Unarten des alten Wesens, – im Bunde mit ihm bin ich geblieben, und er ist mein Trost. Später, als ich heiratete, war mir's die ersten Jahre in der Ehe so wunderlich, daß mein Mann, obschon er Pastor war und das richtige Wort Gottes lauter und rein predigte, so gar keine religiösen Gespräche liebte, oder je mit mir über dergleichen redete. Nicht einmal tägliche Hausandachten hielt er.«

»Nicht aus der Schule schwatzen!« warnte der Pastor mit aufgehobenem Zeigefinger.

»Macht nichts, du hast es ja heute selbst erzählt, wie es dir gegangen. Nachher freilich ist's anders geworden, und wir können sagen: Der Herr hat alles wohlgemacht. Sein Name sei gelobt für alles.«

»Das war ein leichter Weg zum festen Herzen! Da ist's ohne viele Hammerschläge abgegangen,« meinte der Oberförster nachdenklich.

»Ja, der Herr hat eben viele verschiedene Erziehungsmethoden, schon weil die Menschen so unendlich verschieden angelegt sind und sich noch gegen die Einwirkungen der festmachenden Gnade so verschieden benehmen«, sagte der Pastor.

Dann wandte sich der Pastor an den Hauslehrer, der wie in Gedanken versunken schweigend dasaß, und nötigte auch ihn zum Erzählen.

»Jetzt schließen Sie die Reihe nach dem Sprichwort: Ende gut, alles gut!«

»Wer weiß, ich bin doch eigentlich unter Ihnen der jüngste Christ, und es ist vielleicht zu früh, wenn ich davon erzählen will, wie mir das Herz fest geworden. Am Ende ist es noch nicht ganz fest.«

»Nun, das Kindlein in der Wiege ist ein vollkommen ausgebildeter Mensch und hat doch zu wachsen und zu werden«, gab der Pastor zurück, »und nach meiner Erfahrung geht es mit des Christen inwendigem Leben ebenso, wie Goethe vom allgemeinen Leben gesagt hat: »Und wo ihr's packt, da ist es interessant! Auf jeder Seite ist etwas Ganzes, mag auch der Grad verschieden sein.«

»So mag es sein. Was ich habe, das habe ich fest. Sie haben recht, Herr Pastor. – Wenn Sie also hören wollen, so habe ich eigentlich die Geschichte des verlorenen Sohnes in moderner Fassung zu erzählen. Ich habe von Jugend auf herzlich wenig vom Christentum gehört und gehabt. Meine Eltern sind gestorben, als ich ein Jahr alt war: ich habe der Mutterliebe starkes Ziehen und reiches Trösten nie erfahren. Im Stadt-Waisenhaus zu Biel in der französischen Schweiz wurde ich streng erzogen und liebte eigentlich niemand, wie mir auch niemand rechte Liebe erwies. Der Glanzpunkt meiner Jugend war die Konfirmation. Der Gehilfe des Pastors, ein junger, für den Herrn begeisterter Mann, verstand es, unsere Herzen zu gewinnen, und ich liebte damals ihn und glaubte ihm, und darum fing ich an zu beten und mich mit Gott und Göttlichem zu beschäftigen. Das hörte aber ebenso plötzlich auf, wie es angefangen. Bald darauf trat ich aus dem Waisenhaus aus und kam zu einem Kaufmann in die Lehre. Natürliche Gaben hatte ich und an Eifer und Anstrengung fehlte es auch nicht, da ging es mir denn gut und ich kam schnell vorwärts. Mit zwanzig Jahren war ich zweiter Buchhalter meines Prinzipals und hatte schon einen hübschen Sparpfennig beiseite gelegt, mit fünfundzwanzig wagte ich meine Ersparnisse an ein riskiertes Unternehmen und verdoppelte die Summe in wenigen Monaten. Als ich dreißig Jahre alt war, ging ich mit einem eigenen Vermögen von etwa achtzehntausend Rubeln nach Paris und fing an, mit eigenem und fremdem Geld Spekulationen an der Börse zu machen. Es schien, als sollte mir alles glücken, und einmal übers andere gewann ich in hohem, gewagtem Spiel. Dabei genügte mir, meine kaufmännische Laufbahn ebenso wenig, wie die Gesellschaft, in die sie mich geführt. Heimlich lernte ich Lateinisch und Griechisch und brachte es so weit, daß mir die Klassiker zugänglich wurden; ebenso eifrig legte ich mich etwas später auf das Studium der Philosophie und habe ältere und neuere Systeme mit suchender Seele durchgearbeitet. Denn ich begehrte etwas, das meiner Seele inneres Verlangen befriedigte und die Unruhe tilgte, die mich oft wie eine Qual überfiel, und das fand ich weder in all diesem Studieren, noch in dem Genußtrubel der Großstadt. Meine kurze Gebetszeit aus der Jugend war wie ein altes, versunkenes Grab auf dem Kirchhof, überwuchert von üppigem Gewächs des Unglaubens unserer Zeit und für mich gab es nichts Sicheres und Festes, Edles und Wahres mehr! Ein Gott, der Gebete erhört und etwas Wesentliches, Wirkliches in dieser sichtbaren Welt zustande bringen könnte, war mir ein Unding, worüber ich vornehm-mitleidig lächelte, wenn mir irgendwo solch ein Glaube aufstieß. Ich wollte reich, sehr reich werden, dann mich von allem elenden Geldgeschäft, das ich im Grunde meines Herzens tief verachtete, vielleicht weil es mir so glückte, zurückziehen und nur den philosophischen Fragen leben, die mich interessierten. Da ward von mehreren jungen Geschäftsleuten ein großartiges Unternehmen begonnen, das sehr unsicher erschien, aber doch auch Aussicht auf großen Gewinn bot. Man zog mich hinein, und mit der Hälfte meines eigenen Vermögens und des mir von verschiedenen Leuten anvertrauten Geldes beteiligte ich mich daran. Die andere Hälfte setzte ich bei einem Privatgeschäft mit einer Moskauer Firma ein, der ich eine große Partie der damals in Mode kommenden Jute besorgen sollte; auch dieses letzte Geschäft konnte glänzend ausfallen und schien außerdem absolut sicher zu sein.

Da erhöhte die russische Regierung den Zoll aus Jute dermaßen, daß mein Geschäftsfreund in Moskau Bankerott machte und dieser Teil meines Vermögens fast ganz verloren war. Ehe ich noch, meinen guten Kredit benutzend, irgend etwas hätte verdienen und ersetzen können, fielen gewisse Aktien, und unsere Finanzoperation scheiterte kläglich. Die zehntausend Rubel, die ich aus beiden Unglücksfällen noch retten konnte, deckten meine Schulden nicht, und so verkaufte ich meine Einrichtung, Wagen, Pferde, Möbel und was der Mensch an sonstigen unnützen Kleinigkeiten so um sich her aufzuhäufen beliebt, um die anvertrauten Summen zu ersetzen. Trotzig und dazwischen doch wieder der Verzweiflung nahe, verließ ich Paris als ein Bettler. In meine Heimat wollte ich eigentlich nicht zurück, da meine entfernten Verwandten mir ja nie Freundlichkeit erwiesen hatten, und in irgend einem Geschäft meiner Branche wieder von Anfang anzufangen, das schien mir auch unerträglich. Mit den Kleidern auf dem Leib und einigen Franks in der Tasche fuhr ich ab, ungewiß, was jetzt kommen sollte. Einen Moment tauchte jene liebe Gestalt des jungen Vikars F... aus der Konfirmationszeit vor mir auf, im nächsten mußte ich alle Hoffnung auf ihn aus meinem Denken streichen: fiel es mir doch ein, daß derselbe vor Jahr und Tag schon als Missionar der waadtländischen Missionsgesellschaft nach Afrika gegangen sei. Not lehrt beten, hieß es jetzt mächtig in mir, solltest du nicht anfangen zu beten? Aber mit Abscheu wies ich den Gedanken zurück. Ein junger Mann in der besten Kraft, von meiner Bildung und mit meinen fachmännischen Kenntnissen und Erfahrungen, – der kann doch eine Stellung finden, die ihn ernährt, ohne daß er irre wird an seiner Überzeugung. Wäre ich in Paris geblieben, so hätte sich auch sicherlich irgend eine Existenz für mich gefunden. So war das mein Unglück, oder jetzt richtiger gesagt, mein Glück, daß ich in die Schweiz fuhr.

Mein Billet lautete bis Basel. Vielleicht ließ sich da irgend etwas machen. Das Mittagessen auf dem Bahnhofe kostete mich meine letzten Pfennige; jetzt war ich in Not. Ein haar Gänge in der Stadt zu den Bankhäusern waren vergeblich, es war keine Stelle offen. Was sollte ich tun? Zum arbeiten sah ich zu schwächlich aus, für das Lehrfach hatte ich keine eigentliche Vorbildung und kein Examen bestanden, und zum betteln war ich zu stolz. Ringe, Uhren und dergleichen Wertsachen hatte ich in Paris schon zu Geld gemacht, so daß ich hier auch nichts zum versetzen hatte. Meine anständige Kleidung hätte ich allenfalls noch verkaufen können und in Lumpen gehen. Dann aber war auch die Aussicht auf eine Anstellung vorbei. So pilgerte ich abends instinktiv wieder zum Bahnhof zurück und suchte, als es dunkel geworden, in einem schadhaften Waggon, der abseits auf dem Geleise stand, das in das Maschinenhaus führte, mein Nachtquartier. Meine Stimmung war natürlich elend genug: Trotz und Verzweiflung rangen miteinander und Selbstmordgedanken wechselten mit halb sinnlosen Gebetsseufzern. Der nächste Tag war noch elender: zu der quälenden Aussichtslosigkeit kam nagender Hunger, den ich durch Wassertrinken nicht recht stillen konnte. Die zweite Nacht brachte ich wieder in dem Waggon zu. Aber schlafen konnte ich nicht. Wie Fieberglut schüttelte mich die Angst vor dem Verhungern und eine andere, die ich früher nicht gekannt hatte, die Angst vor dem Tod. Immer wieder stiegen mir aus jener lichten Zeit der Konfirmation Sprüche und Liederverse auf, die wie freundliche Engel sich mir zur Hilfe anboten. Als die Sonne stieg, kniete ich im Waggon nieder und sprach: »Herr Gott, wenn du lebst und bist und wirklich helfen kannst, dann hilf mir heute so, daß ich an dich glauben kann.« Nicht wahr, ein stümperhaftes Gebet, und doch war mir zu Mut, als ich dort in der Verzweiflung mich wieder zu Gott wandte, als müßte der Himmel über mir einfallen, und als hätte ich mich selbst durch dieses Gebet verändert und verwandelt. Zum Morgenzuge war ich wieder auf dem Perron und sah mit wahrer Wollust den Vorbereitungen der Kellner zu, die frische Weißbrötchen auf die Brotteller legten und Kaffee kochten. Da pfiff es und der Zug lief ein. Stumpf, traurig, gedankenlos starrte ich die Aussteigenden an und ließ sie an mir vorüberfluten dem Frühstückszimmer zu. Wo hatte ich doch dieses ernste Gesicht mit den Kinderaugen darin schon gesehen? Der Herr, den ich meine, hatte eine sonnverbrannte Gesichtsfarbe und einen merkwürdigen Strohhut auf, wie ihn auf Bildern amerikanische Pflanzer tragen. Dicht ging er an mir vorüber, sah mich an, schien auch über mein ihm bekanntes Gesicht zu stutzen, dann aber ging er weiter, betrat das Zimmer und setzte sich an den Tisch. Wie er den Hut abnahm und das schon leicht ergrauende Haar zurückstrich, erkannte ich ihn: es war Pastor F.... Wie kam der jetzt her? Meine aufmerksam ihn verfolgenden Blicke mußte er bemerkt haben. Er stand auf, kam zu mir und fragte französisch, ob ich ihn kenne. Wie ich meinen Namen nannte und jener Konfirmationszeit Erwähnung tat, fiel ihm alles ein, und ich mußte zu ihm an den Tisch kommen und mich setzen. Er kam aber direkt aus Afrika und wollte sich in der Heimat erholen zu neuer Arbeit. Es dauerte nicht lange, so wußte er, was mir fehlte und ich bekam Kaffee und Brot! Verzeihen Sie, daß ich Sie mit solcher Ausführlichkeit bei diesen Kleinigkeiten festhielt. Mir waren das damals die ersten Buchstaben, die der lebendige Gott in mein Herz hineinschrieb. Das vergißt sich nie wieder. Pastor F.... nahm mich mit zu dem Pastor, bei dem er in der französischen Schweiz seine Erholungszeit verbringen wollte, und wie wir dort ankamen, lag dort auf dem Schreibtisch Ihr Brief, Herr Pastor, in dem sie für den jungen Grafen um einen gebildeten französischen Lehrer baten! Weiter brauche ich nichts zu erzählen! Wenn aber die ganze Welt käme und alle Wissenschaft und alle Weisheit und würde mir wieder vorstellen wollen, wie unmöglich es sei, daß ein Gott Gebete erhört u. s. w., so weiß ich, daß ich über solche kindische Albernheiten lächelnd zur Tagesordnung übergehen würde: ich weiß, an wen ich glaube.«

»Das war ergreifend!« rief der Pastor entzückt aus.

»Und wahr, durchlebt und durchlitten!« setzte der Hauslehrer ernst hinzu.

Die Frau Pastor trocknete sich eine Träne und sagte leise: »Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch Jesum Christum!«

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