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7.

Am nächsten Morgen ging ein ernster und mürrischer Johnson ins Hotel Bristol, wo ihn die Brüder Strucks mit einem gedämpften Indianergeheul begrüßten; da sie auf ihre Karte ohne Antwort geblieben waren, hatten sie eine unruhige Nacht hinter sich.

Der Amerikaner setzte sich und nahm, ohne den Kopf zu heben, eine Zigarette, die ihm Jeff mit freundlichem Lächeln hinhielt; er hörte, ohne eine Miene zu verziehen, die langen Erzählungen Gil Strucks an und machte nur zwischendurch kurze Bemerkungen, um sein Interesse zu zeigen.

»Gut«, sagte er endlich und stand auf, »und die Ware?«

»Prima«, zischte Jeff beglückt, daß der andere keine Zeit mit nutzlosem Reden verlieren wollte, »Sie werden sehr zufrieden sein.«

Sie fuhren in einem geschlossenen Wagen durch viele Gassen, und Johnson versuchte vergebens, sich zu orientieren; einmal kamen sie auf freies Feld, dann bog der Wagen auf einen scharfen Zuruf Jeffs wieder in die Stadt zurück.

Endlich stiegen sie aus und gingen durch eine winkelige Gasse, die bergab führte. Am Ende der Gasse pochte Jeff an ein kleines, grünes Tor. Das Innere des Hauses sah nicht sehr einladend aus; ein eigener Armeleutegeruch lag in der Luft, und die Zimmer schienen lange nicht gelüftet worden zu sein. Einige Minuten blieb Johnson in einem Zimmer, in dem nebst einer Kommode und einem wackeligen Tisch kein weiteres Möbelstück zu sehen war. Er versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, aber er konnte nur einen Garten sehen, in dem niedere Obstbäume standen und ihre verkrüppelten Zweige zum Himmel reckten. Dann flog die Tür auf und ein kleiner, behender Mann kam herein. Er hatte dichtes, mähnenartiges Haar und einen langen dunklen Bart; auf der klobigen Nase schaukelte ein vergoldeter Zwicker, und unterm schütteren Bart waren dicke, leicht aufgeworfene Lippen sichtbar. Christian betrachtete den Mann kritisch; er durchschaute sofort, daß es eine Maske war, die man ihm vorführte, und einen Augenblick war er bemüht, sich das Gesicht ohne Bart und wallendes Kopfhaar vorzustellen. Dann nickte er zufrieden.

»Hoffmann«, sagte der Kleine und reichte Christian eine fette, schwammige Hand.

»Johnson«, sagte Christian und riskierte eine steife Verbeugung.

Jeff Strucks tänzelte aufgeregt umher, während sich Gill mehr im Hintergrund hielt und an seinen Nägeln kaute.

»Eine ganz einfache Sache«, sagte Hoffmann und bemühte sich, jedes Wort zu betonen, »hier Ware, hier Geld … aber natürlich müssen Sie sich die Sachen erst ansehen.« Er machte eine einladende Handbewegung, obwohl kein Sessel zu sehen war, und begann mit schleppender Stimme über weitabliegende Dinge zu reden. Christian hatte das unbestimmte Gefühl, daß das ganze nur Komödie sei, um ihn gründlich von allen Seiten betrachten zu können, und er ließ alles geduldig über sich ergehen. Einmal gähnte er sogar … Und dann, langsam und allmählich, kam Herr Hoffmann auf den Zweck seiner langen Rede.

»Es gibt Dinge, die heutzutage nicht ohne weiteres verkauft werden können«, sagte er bedächtig, »die aber für manche Menschen einen ungeheuren Wert darstellen … Regierungen«, setzte er blinzelnd hinzu, was seinem Gesicht den Ausdruck eines Fauns verlieh, »haben nach wie vor reges Interesse an allen Dingen, die in den Nachbarstaaten vor sich gehen.« Er sprach jetzt rascher, mit einer leichten Frage am Ende jedes Satzes. »Sehen Sie, man kann auch solche Dinge verkaufen.«

»Man kann«, sagte Christian und bemühte sich, seine Augen zu verstecken.

»Sie sind ein Ehrenmann«, sagte Hoffmann mit einem Augenliderklappern, und Christian beeilte sich, im Brustton der Überzeugung zu bejahen.

»Dann können wir an die Arbeit gehen«, meinte Hoffmann plötzlich wohlgelaunt. »Was wollen Sie eigentlich kaufen.«

»Alles«, nickte Christian und schlug protzenhaft an seine Brusttasche.

»Gut, gut, das wird sich finden.«

»Aber wie bekomme ich eine Garantie für die gekauften Dinge?«

Hoffmann lachte. »Da seien Sie unbesorgt. Daran habe ich auch gedacht; schließlich kauft man keine Katze im Sack.«

»Sie können ja …« meinte Jeff ungeduldig, aber Hoffmann schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab.

»Wir werden Ihnen zeigen, was wir haben«, sagte er ruhig, »und Sie können sich dann an die maßgebenden Stellen mit kurzen Anfragen wenden. Selbstredend ohne zu erwähnen, von wo Sie die Dinge haben.«

»Dessen können Sie gewiß sein«, sagte Christian grinsend, »Ich will schließlich auch verdienen …«

»Ja, die Amerikaner«, nickte Gil, ohne indessen zu erklären, was er mit dieser Bemerkung meinte.

In einem etwas besser eingerichteten Nebenzimmer fanden sie einen Tisch und vier Stühle; das Zimmer schien kein Fenster zu haben, denn eine kleine Glühbirne leuchtete matt. Am Tisch lagen in verschiedenfarbigen Umschlägen Dokumente, und Hoffmann strich mit einer Hand liebevoll darüber, ehe er sie in Angriff nahm.

»Der Marinevertrag einer zentraleuropäischen Großmacht«, sagte er dann, »mit einem aufstrebenden Staat im Süden. Eine sehr interessante und einwandfreie Sache, von der nur sieben Personen wissen. Sie sehen, unter welchen Schwierigkeiten wir zu dem Dokument gekommen sind. Sieben Personen – darunter sind drei hier.« Er machte eine etwas hochmütige Handbewegung, und Christian versteckte ein Lächeln hinter der vorgehaltenen Brille, die er aufsetzte.

»Hm –«, sagte er und schob den braunen Umschlag beiseite.

Hoffmann machte ein leicht zorniges Gesicht; er wollte eine heftige Bemerkung äußern, aber Jeff winkte ab.

»Hier«, sagte er dann bedächtig, »der Chiffernschlüssel des französischen Generalstabes, und zwar Ausgabe 4–B. Also ein Kriegsschlüssel, der noch einige Jahre in Kraft bleiben wird …«

»Schön«, sagte Christian. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht.

»Dann ein Plan der geheimen Befestigung von London«, knurrte Hoffmann leicht erregt, »ausgefertigt auf Grund der amtlichen Skizzen des Heeresamtes.«

»Weiter.«

»Ein Mobilisierungsbefehl der deutschen Schutzformationen aus dem Jahre 1933 – fertiggestellt Ende April. Mit Instradierungsdaten und Bewaffnungsdepots.«

»Interessant …«

Hoffmann konnte nur mit Mühe seine aufkeimende Nervosität bezwingen. »Dann der deutsche Heereschiffernschlüssel von 1932. Getrennt für Heer und Marine und ein Befestigungsplan des Kaiser-Wilhelm-Kanals.«

»Ausgezeichnet …«

»Himmel Herrgott!« Hoffmann schluckte den Rest und machte böse runde Augen. Dann beruhigte er sich wieder. »Zwei Instruktionen des deutschen Oberkommandos über die Einberufung des Landsturmes mit genauen amtlichen Angaben der Heeresstärke und Bewaffnung. Nebst einem Verzeichnis von siebzehn Waffenlagern …«

»Nicht schlecht.«

Selbst Jeff begann jetzt nach Luft zu schnappen, wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Herr«, stöhnte er, »das ist …«

»Ruhe«, mahnte der bedächtigere Gil, »Geschäft ist Geschäft und jeder hat das Recht, seine Meinung zu äußern, wie er will. Sie scheinen sehr kaltblütig zu sein, Mister Johnson.«

»Nein«, sagte Christian, »aber ich beschäftige mich seit zehn Jahren mit solchen Dingen. Haben Sie nichts vom Diebstahl des japanischen Mobilisierungsplanes gehört? Nicht? Du lieber Gott – Sie arbeiten eben in kleinen Verhältnissen.«

»Kleinen Verhältnissen«, gröhlte Hoffmann und trommelte nervös auf den Tisch. »Das ist ausgezeichnet.«

»Gut, gut«, mahnte Christian bedächtig. »Zeigen Sie weiter.«

Einen Augenblick senkte sich eisiges Schweigen auf den Raum; dann sagte Hoffmann fast schluchzend: »Diese Unterredung werde ich niemals in meinem Leben vergessen …« Er nahm noch einen blauen Umschlag und schwenkte ihn aufgeregt durch die Luft. »Der letzte Geheimvertrag Deutschland-Italien … Geschlossen am 12. Dezember 1931 und notifiziert in geheimen Ministerratssitzungen. Das wichtigste Dokument der letzten hundert Jahre. Die Franzosen …«

»Wir wollen von den Franzosen nichts reden«, sagte Christian mißbilligend. »Was schätzen Sie die ganzen Dinge in Bausch und Bogen.«

Wieder trat eine Pause ein; sechs Augen standen wie Gartenglaskugeln auf langen Stielen, und heftige Atemzüge hoben und senkten drei Brüste. Endlich raffte sich Hoffmann auf. Er schien der kühlste zu sein. »In Bausch und Bogen, sagten Sie?«

»In Bausch und Bogen. Ich mache niemals kleine Geschäfte.«

»Das ist, weiß Gott, der vernünftigste Ausdruck, der jemals gefallen«, würgte Jeff heraus. »Und was bieten Sie?«

»Welchen Preis verlangen Sie?«

Hoffmann kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Das kann man nicht so sagen. Wir haben viele Angebote, aber sie sind uns zu klein. Sie verstehen – das Risiko …«

»Reklame«, sagte Christian steif, »brauchen Sie keine. Ich kenne den ungefähren Wert. Für alles zusammen biete ich Ihnen drei Millionen Dollars …«

»Drei …«

»Millionen …«

»Einen Augenblick«, sagte der vorsichtige Gil und schob seinen massigen Körper vor. »Sie meinen das jetzt in Amerika gebräuchliche Geld?«

»Dasselbe.«

»Und – wann zahlbar?«

Christian zog die Stirn in Falten. »In – sagen wir acht Tagen … Ich muß erst den Markt prüfen und Verkaufsmöglichkeiten finden.«

»Einverstanden«, sagte Hoffmann und stand auf. Sein fettes Gesicht strahlte wie ein Apfel in der Sonne. »Sehr einverstanden … In acht Tagen sehen wir uns wieder.«

In meinem Leben, dachte Christian, als er vorsichtig die dunkle Treppe hinabstieg, habe ich so dumme Menschen noch nicht gesehen. – Womit er der einzige war, der diese an und für sich bedauerliche Tatsache feststellte.

Als er ins Hotel zurückkam, fand er Farr nicht vor; auf dem Schreibtisch lag ein kleiner Zettel, worauf mit ungelenken Buchstaben geschrieben stand: »Ich muß mich Miß Mabel widmen; hoffentlich haben Sie nichts dagegen.«

»Nicht das geringste«, knurrte Christian zufrieden und begann sich abzuschminken.

Als er in die Garage gehen wollte, sah er zuerst Mabel Johnson im Garten; aber sie war allein, und ein eigenartig gespannter Zug lag auf ihrem hübschen Gesicht … Dann eräugte er Nyström, der hinter einer Zeitung im Vorraum kauerte, und entfernte sich durch einen hinteren Ausgang. Ein Zusammentreffen mit dem Detektiv schien ihm jetzt plötzlich ungeahnte Gefahren zu bergen.

*

Ulla saß am Wegrand und pflückte Blumen; als sie Christian erkannte, streckte sie ihm mit einem lieben Lächeln die Hand entgegen.

Ringsum war dichter Wald; durch die hohen Stämme fielen die Strahlen, und in den Zweigen sangen Vögel. Sonst war kein Laut zu hören.

»Du bist unpünktlich«, sagte sie mit gemachtem Ärger. »Ein anderer Mann wäre eine Stunde vor der vereinbarten Zeit hier gewesen.«

»Sicher«, nickte er und setzte sich neben sie. »Weißt du, daß ich manchmal das Gefühl habe, dich schon lange Zeit zu kennen?«

Ulla lachte. »Vielleicht hast du mein Bild gesehen …«

»Nein«, nickte er traurig, »das habe ich leider niemals. –«

»Warum leider?«

Christian blickte in die Höhe; die langen Zweige schwankten leicht im Wind. »Weil ich dann sicher vieles nicht getan hätte, was ich getan habe.«

»Oh – soll das ein Pater peccavi sein?«

»Nein – aber … hm. Es gibt leider Dinge, über die ich nicht sprechen kann.«

»Dann«, sagte Ulla und zwinkerte, »ist es eine Liebeserklärung. Christian – bist du auch so einer?«

Er wurde leicht verlegen. »Wie meinst du das? Ich habe noch niemals eine Frau anders als mit nüchternen Augen angesehen.«

»Und«, Ulla legte einen Finger an die Nase, »diese famose Miß Johnson, die im Imperial wohnt?«

»Woher kennst du dieses Mädchen?«

»Gesehen«, sagte sie abwehrend. »Aber sie gefällt mir nicht.«

»Mir auch nicht«, sagte Christian und rückte näher. Er murmelte dabei etwas von einem Stein, auf dem er gesessen. »Du bist, weiß Gott, das hübscheste Mädchen, das ich jemals getroffen habe. Bei den Mortensens«, setzte er hinzu, »jedenfalls eine Seltenheit …«

Sie zuckte die Achsel. »Mach keine Bemerkungen über eine achtbare Familie. Du bist der einzige, der aus irgendeinem dunklen Gewerbe Vorteile zieht.«

»Dunkles Gewerbe?« hauchte er entgeistert.

»Ja. Tante Agathe sagt, niemand wisse, woher du dein immerhin luxuriöses Leben bestreitest.«

Christian senkte den Kopf und seine Finger spielten nervös mit einem Halm. »Dunkles Gewerbe«, wiederholte er leise. Dann richtete er sich auf. »Was immer meine Beschäftigung sein mag … die Mortensens kann es nicht kümmern«, sagte er hart.

»Es kümmert sie auch nicht«, nickte Ulla leise, »sie sind nur manchmal besorgt.«

Christian flüsterte etwas, das wie »sehr lieb« oder so ähnlich klang; jedenfalls war es etwas ausgesprochen Unhöfliches. Aber Ulla lachte.

»Du bist genau so, wie sie dich schildern … Ich weiß nicht, manchmal glaube ich, daß du ein Abenteurer großen Stiles bist …«

»Wäre dir das sehr unangenehm?«

»Nein«, sagte sie und blickte ihn an. »Ich bin leider Gottes selbst sehr romantisch.«

Er war ihr jetzt ganz nahe und spürte den Duft ihrer wundervollen Haut; die tiefen Augen vor ihm glitzerten wie ferne Sterne und ihr voller Mund war leicht geöffnet.

»Das sind alles Kleinigkeiten«, sagte er, und ein seltsamer Unterton schwang in seiner Stimme, »die vorbeigehen und keine Spuren hinterlassen. Von dir kann ich das nicht behaupten.«

»Habe ich in deinem Leben Spuren hinterlassen?« fragte sie neugierig; ihre Augen lachten.

»Ja«, sagte er und griff nach ihr. Sie entzog sich ihm nicht, nur ihre Wangen liefen rot an.

»Ein verliebter Christian«, versuchte sie zu scherzen, aber ihre Stimme war nicht ganz sicher.

Da nahm er sie mit beiden zitternden Händen, bog ihren feinen Kopf heran und begann sie zu küssen. Dazwischen sprach er allerhand Unsinn. Aber es soll seit uralten Zeiten so sein und Christian bildete keine Ausnahme.

Ein wundervolles Glücksgefühl durchströmte ihn, und seine Lippen bebten.

»Und jetzt?« fragte sie leicht verlegen und strich ihr Kleid glatt.

»Das Schicksal jeder Liebe«, lachte er und stand auf. »Wir werden so bald als möglich heiraten …«

»Ich dachte, du wolltest keine Mortensen«, gab sie zurück.

*

In einem Rausch fuhr Christian bis zum Hotel, den Wagen überließ er einem Chauffeur und ging rasch durch die Halle. Das Glücksgefühl der letzten Stunde zitterte noch in ihm …

So übersah er Johnson, der ihm einen fragenden Blick zuwarf; er übersah auch Nyström, der bei seinem Anblick rasch aufstand.

»Einen Augenblick«, sagte der Detektiv und schloß sich ihm an. »Ich möchte nur einige kleine Fragen an Sie richten.« Er bog den Rockumschlag zur Seite und zeigte das kleine blanke Messingschild mit dem Adler. »Sie haben wohl nichts dagegen …«

Christian, den im ersten Moment ein jäher Schreck durchzuckt hatte, lächelte jetzt geringschätzig. »Ich wüßte nicht, was ich mit Ihnen zu sprechen hätte.«

»Sehr bedauerlich«, murmelte Nyström zerknirscht. »Dann wäre ich leider gezwungen, die staatliche Gewalt zu Hilfe zu rufen. Es täte mir aufrichtig leid …«

»Kommen Sie«, sagte Christian herrisch. »Ich kann Ihnen jede Frage beantworten, die Sie wünschen.«

»Sehr angenehm.«

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Danke«, wehrte Nyström ab. Trotzdem er seiner Sache sicher war, beherrschte ihn doch ein instinktives Furchtgefühl.

»Dann«, sagte Christian und lümmelte sich arrogant in seinem Sessel, »fragen Sie.«

»Schön – wer sind Sie?«

»Die Frage erübrigt sich. Hans Freiherr von Kielhausen, rheinischer Großgrundbesitzer und Herr auf Schloß Kielhausen bei Düsseldorf.«

»Ausgezeichnet. Warum ist Ihr Name nicht im Gotha enthalten?«

»Die Frage müssen Sie an die Redaktion des Gotha richten. – Im übrigen habe ich mich um die Aufnahme nicht beworben.«

Nyström nickte. »Es gibt auch solche Menschen. Wie erklären Sie es, daß mich vor drei Tagen Herr Johnson angesprochen hat, um mir zu erklären, Sie wären mit seiner Tochter aufgewachsen, während er gestern jede Bekanntschaft mit Ihnen in Abrede stellte und mir verbot, von Ihnen zu reden.«

»Zweiter Trugschluß«, sagte Christian bedächtig. »Da müssen Sie sich zu Herren Johnson bemühen; ich weiß davon nichts …«

»Einverstanden. Wie heißt Ihr Begleiter?«

Christian lächelte. »Wenn Sie sich die Mühe nehmen und in einer Stunde herkommen, können Sie das aus seinem Munde vernehmen.«

Eine kleine Pause entstand.

»Haben Sie Dokumente, die die Identität Ihrer Person beweisen?«

»Gewiß«, sagte Christian und entnahm seiner Tasche eine Brieftasche. »Hier der Geburtsschein, hier die notarielle Beglaubigung meines Adelsanspruches, hier mein Reisepaß …«

Nyström kam näher und nahm eines der Papiere zur Hand. Er zog eine Lupe und betrachtete aufmerksam das Siegel: »Hm«, sagte er und hob den Kopf, »die Sache ist nicht ungeschickt gemacht. Aber ich glaube …«

»Sie können glauben, was Sie wollen«, sagte Christian ärgerlich und stand auf, »ich verbitte mir jede weitere Belästigung …« Er riß mit einem Griff das Papier an sich und warf es achtlos auf den Schreibtisch. »Und jetzt sind Sie wohl so freundlich und verlassen das Zimmer.«

»Nur in Ihrer Begleitung«, sagte Nyström und lachte. »Sie reisen mit gefälschten Dokumenten; das ist genug Grund, um auch eine Verhaftung zu rechtfertigen.«

»Sie wollen also nicht gehen?«

»Nein«, sagte Nyström eigensinnig. »Wenigstens nicht ohne Sie.«

»Bitte …« Christian ging mit raschen Schritten an die Tür und griff nach der Klinke. Der Inspektor grinste, und blickte zur Decke …, und in dem Augenblick versank alles vor seinen Augen. Das Zimmer, die Decke, Christian und noch etliche Kleinigkeiten. Nichts blieb als ein großes, rotierendes Loch und in dieses versank er mit unheimlicher Schnelligkeit …

Als er zu sich kam, sah er Christian beim Tisch sitzen und rauchen … Er versuchte aufzustehen – aber es ging nicht. Hände und Füße waren ihm gefesselt und in seinem Mund steckte ein kleiner fester Knebel.

»Nur bis mein Diener kommt«, tröstete Christian und winkte ihm mit der Hand leicht zu. »Dann können Sie sofort gehen. Ich möchte den armen Jungen nicht unnötigerweise den rüden Händen einer unklugen Staatsgewalt ausliefern.«

Später steckte Farr seinen Kopf ins Zimmer und prallte erschrocken zurück, als er Nyström am Boden sah. Er blieb fassungslos stehen und blickte bald auf Christian, bald auf den hilflos stöhnenden Detektiv.

»Nichts von Belang«, sagte Christian ermunternd, »er ist lebendiger als nötig. Aber es ging nicht anders. Er hat sich in Dinge eingemengt, die ihn nichts angingen.«

»Und?« Farrs Augen füllten sich mit Tränen; es schien, als wollte er jeden Augenblick zu weinen beginnen. Wie er so dastand, eng in eine Ecke gedrückt, sah er schrecklich klein und hilflos aus, und Christian empfand tiefes Mitleid mit ihm.

»Du darfst solche Dinge nicht tragisch nehmen«, sagte er freundlich, »aber es ist besser, wir haben es getan, als er hätte es getan. Er war drauf und dran, uns ans Messer zu liefern.«

»Ans Messer?« stöhnte der Kleine.

»Nun, nun – ich meine es nicht wörtlich. Du kannst unsere Sachen zusammenraffen und in die Garage tragen. Ich will unterdessen unsere Zimmer kündigen und die Rechnungen begleichen. »Herr Nyström«, wandte er sich mit einer ironischen Verbeugung an den Detektiv, »sofort nach Verlassen des Hotels telephoniere ich der Direktion, und sie wird nicht ermangeln, Sie aus der unangenehmen und dann zwecklosen Lage zu befreien. Vorwärts, Farr …«

Es war vier Uhr. Punkt fünf stürzte der erregte Empfangdirektor ins Zimmer und löste mit zitternden Händen Nyströms Fesseln. Er murmelte ununterbrochen Entschuldigungen und erging sich in häßlichen Bemerkungen über die geflüchteten Verbrecher. Obwohl sie, wie er aufatmend feststellte, die nicht kleine Rechnung ordnungsgemäß beglichen hatten.

»Nichts zu sagen«, knurrte Nyström und reinigte seine Kleider. »Solche Dinge pflegen in meinem Beruf vorzukommen … Sie haben keine Ahnung, wohin sich die Leute gewendet haben?«

Auf diese Frage wußte der verlegene Direktor keine Antwort.

Um sieben Uhr bezog ein alter würdiger Herr – allem Anscheine nach Militärpensionist – eine kleine möblierte Wohnung in der Gonzagagasse; in seiner Begleitung war eine zierliche, weißhaarige Dame, die ein großes Paket trug.

In den Meldezettel trugen sie sich als Major außer Dienst Karl Zollern und Frau Ernestine ein.

»Es tut mir leid«, sagte Christian, als sie allein waren«, aber du mußt von nun an diese Kleider tragen. In deinem normalen Anzug erkennt dich Nyström unter tausend Menschen. »Außerdem«, setzte er lächelnd hinzu, »erinnerst du mich so an ein liebes Mädel …«

Und Farr lachte; aber er wandte sich ab, um seinem Herrn sein blutrotes Gesicht zu verbergen.

*

Nyström stelzte nach seinem unangenehmen Abenteuer eine Weile in der Nähe des Hotels herum; dann dachte er, daß er Christian und seinen Komplizen eigentlich durch Zufall gefunden hatte und diese Entdeckung nur seiner fanatischen Ausdauer verdankte. Und eingesponnen in diese Gedanken, beschloß er, dem Hotel Bristol einen Besuch abzustatten … Er traute Christian zu, daß er, unverschämt wie er war, sein Domizil einfach im nächstbesten Hotel aufgeschlagen hatte. Er fand zwar den Gesuchten nicht, traf aber unvermutet auf Jeff Strucks, der ihn freundschaftlich, wie einen lieben alten Bekannten begrüßte.

»So ein Zufall«, sagte er und schüttelte dem etwas erstaunten Detektiv herzlich die Hand, »als hätten Sie meinen Wunsch erraten.«

»Welchen Wunsch«, gab Nyström vorsichtig zurück.

»Sie zu sehen …«

»Du lieber Gott …« Vor diesem Freundschaftsausbruch prallte der Inspektor sichtlich verwirrt zurück.

»Wirklich.« Jeff hängte sich sogar in den Vertreter staatlicher Gewalt ein. »Ich dachte mir Wunder, daß Sie nicht irgendwo hier auftauchen. Man hört so allerlei …« Es war ein altes Manöver Jeffs, auf die Weise kleine Winke zu bekommen, aber Nyström kannte die Sache. Er war auf seiner Hut.

»Jeff«, sagte er ausweichend, »Sie sind mir eine Nuance zu freundlich. Leute mit schlechtem Ruf, die eine solche Freundlichkeit entwickeln, mag ich nicht. Da ist mir Mortensen doch noch lieber.«

Der Name Mortensen brachte auf Jeff einen schlechten Eindruck hervor. »Wenn ich von dem Kerl höre, bekomme ich Üblichkeiten«, sagte er schwer schluckend.

»Ich auch«, nickte Nyström. »Er hat mich vor knapp zwei Stunden niedergeschlagen und gebunden. Aber er ist ein fixer Kerl.«

»Sie«, sagte Jeff verwirrt, »Sie – niedergeschlagen?«

»Gewiß«, nickte der andere; er hatte das Gefühl, daß Jeff die Geschichte früher oder später erfahren würde, und so erzählte er sie selbst, um unangenehmen Kommentaren vorzubeugen. »Aber er hat später dem Direktor in der diskretesten Weise telephoniert, mich zu befreien.«

Auf Jeffs Gesicht stritten Ärger und Staunen. »Ich weiß nicht … ich scheine Sie noch immer nicht zu verstehen. Wollen Sie damit sagen, daß sich Mortensen hier aufhält?«

»Hier?« Nyström warf einen zweifelnden Blick in die Runde. »Das weiß ich nicht. Bei seiner großartigen Verkleidungskunst wäre es nicht zu wundern, wenn er uns vielleicht in dem Augenblick aus irgendeiner Ecke betrachtete.«

»Der Teufel«, fluchte Jeff erregt. »Und …«

»Ah – Sie meinen, was er hier sucht? Das weiß ich leider nicht. Vielleicht Sie oder mich oder irgendeinen Dritten. Wer kann das so sicher behaupten? Vor einigen Tagen hat er mich in der Maske eines Amerikaners angesprochen – und die Maske war großartig. Ich bin durch einen reinen Zufall hinter seine Schliche gekommen.«

Der kalte Schweiß rann Jeff in großen Tropfen langsam über die Stirne. Seine Hände waren kalt und klebrig und sein Herz schlug ihm in der Kehle …

»Sagen Sie«, würgte er mühsam heraus, »Sie meinten früher …«

»Himmel, beruhigen Sie sich doch. Es ist bestimmt nichts, das Sie angeht. Da ist so ein USA-Mann – Johnson. Kennen Sie ihn? Er hat eine hübsche Tochter. In der Maske hat mir Mortensen etliche Kleinigkeiten über sie erzählt. Aber zum Schluß war die Sache doch faul. Ich hätte nicht gedacht, daß er gewalttätig werden würde.«

Er sah Jeff erstaunt nach, der mühsam die Treppe hinaufwankte und gierig nach Luft schnappte. Gil saß gerade bei einem opulenten Lunch, als sein Bruder wie eine platzende Granate ins Zimmer flog. »Mortensen«, keuchte er und hob beide Hände wie ein fluchender, israelitischer Prophet, »Mortensen war in der Maske des Johnson …«

Was folgte, war ein wüstes Spiel; ehe Gil aus seinem gebrochenen Bruder alles erfuhr, verging mehr als eine Stunde.

Dann sank er entgeistert in einen Stuhl und starrte vor sich hin.

Ein hastiger Telephonanruf an Hoffmann blieb resultatlos. Ein Versuch, Johnsons habhaft zu werden, mißlang. Der Amerikaner war ausgefahren und niemand wußte, wann er zurückkehren würde.

»Das«, sagte Jeff stöhnend und händeringend, »kann das Ende sein. Und wir Dummköpfe haben dem Kerl alles gezeigt. Alles.«

»Deine verdammten Methoden«, knirschte Gil und machte schreckliche Handbewegungen.

Um neun Uhr früh ging Jeff mit langen wiegenden Schritten ins Imperial, während sein Bruder beim Fenster auf der Lauer lag; in der Tasche hatte er einen scharfgeladenen Sechsschüssigen stecken.

*

Die Frage Mabel hatte Farr in aller Frühe aus den Federn getrieben; es war aber nicht die Sehnsucht, sondern die Angst, das temperamentvolle Mädchen könnte irgendeinen Unsinn begehen. Farr wußte ungefähr, was Liebe hieß; und daß die Amerikanerin in ihn verliebt war, darüber konnte kein Zweifel mehr obwalten.

Trotz der Warnungen Christians ging er in seiner normalen Gestalt; statt des schwarzen Sakkos trug er einen sehr unternehmungslustig aussehenden Sportanzug mit langen Plus-Fours und schwenkte in der Hand einen Tennisschläger. Die graue, weiche Kappe saß ihm fast auf der Nase, auf der noch eine dunkle Sonnenbrille Platz fand.

So betrat er mit leisem Herzklopfen das Vestibül des Hotels und tauchte im Gewühl unter, das zu der Tageszeit herrschte; niemand schien ihn zu beachten, und gerade als er die Treppe hinaufflitzen wollte, traf er auf Mabel. Es war eine Szene wie in einem alten Ritterdrama. Mit einem leisen Schrei sank ihm die junge Dame in die Arme und ließ auf seinem Gesicht einen Teil ihrer Schminke zurück.

»John«, hauchte sie dann vorwurfsvoll, »John – ich hatte solche Angst um dich.«

»Mabel«, keuchte Farr und bemühte sich, Haltung zu bewahren. »Etwas Schreckliches ist geschehen, aber ich bin unschuldig. Es ist ein Opfer der Freundschaft, das ich bringen muß. Kannst du mir je verzeihen?«

Es folgte eine Fülle wüster Liebesbeteuerungen mitten im Trubel der abreisenden und ankommenden Gäste, und Mister Johnson, der leise die Treppe hinabgekommen war, blickte mit verhaltener Zärtlichkeit auf das junge Paar.

»Ich habe dem Baron nie getraut«, sagte er endlich ernst, »Leute, die mit Königen verwandt sind, die nicht standesgemäße Frauen heiraten, sind nie viel wert. Wenn Sie Geld brauchen …«

»Nein«, hauchte Farr errötend, »aber es wird sich alles aufklären. Es ist nichts als ein häßliches Mißverständnis …« Er blickte Mabel zärtlich an und so entging es ihm, daß Johnson mit einem hageren, melancholisch aussehenden Manne einen Blick wechselte, der ohne Zögern erwidert wurde. »Es wird alles noch gut werden.«

»John«, sagte Mabel, und reparierte den Schaden, den ihre Zärtlichkeit ihren Lippen zugefügt hatte, »ich hatte, weiß Gott, schreckliche Sehnsucht nach dir …«

»Ja, Mabel …«

»Hallo«, sagte eine rauhe Stimme dicht neben Farr, und er duckte sich, als hätte ihn ein Strahl kalten Wassers getroffen. »Hallo …!«

Jeff Strucks war unvermutet aufgetaucht und mengte sich mit der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit ins Gespräch. »How do you do, Mister Johnson?«

Der Amerikaner begann mit den Armen Zeichen zu geben; da sie aber keiner der Anwesenden verstand, wirkten sie nur lächerlich.

»Sie sollen zum Teufel gehen«, sagte er endlich wütend und wollte sich abwenden. Aber Jeff ließ nicht locker.

»Einen Augenblick – nur einen kleinen Augenblick. Sie haben uns da ein Angebot gemacht, und Sie werden verstehen …«

Das Wort Angebot ließ Johnson in die Wirklichkeit zurückkehren.

»Ich?« sagte er erstaunt. »Ich Ihnen ein Angebot?«

»Aber natürlich.«

»Fällt mir nicht im Traum ein, mich mit einem Gauner einzulassen.«

»Herr«, sagte Jeff strafend, »Sie vergessen sich; Sie haben uns dazu gebracht, andere Anwärter auszuschalten und Ihr Versprechen, uns in acht Tagen …«

Jetzt wurde Johnson ganz munter; es handelte sich um geschäftliche Dinge, und da verstand er keinen Spaß. »Hören Sie mich an«, sagte er und betonte jedes Wort, »ich habe einmal im Leben mit Ihnen gesprochen und dann meiner Tochter einen heiligen Eid gegeben, nie mehr mit Ihnen zusammenzukommen … Verstehen Sie? Und ich pflege meine Versprechungen zu halten.« Die Rede war für John Farr gehalten worden, aber auf Jeff Strucks machte sie einen vernichtenden Eindruck.

»Ja«, sagte er und riß die Augen auf, »jetzt seh' ich's selbst. Sie haben da eine Warze und der andere …«

»Warze oder nicht Warze«, schrie Johnson wütend, »das geht Sie einen Teufel an. Ich verbitte mir solche Anzüglichkeiten …«

Jeff Strucks entfernte sich, und Farr benützte die Gelegenheit, das Weite zu suchen.

»Passen Sie auf ihn auf«, sagte Johnson leise zum hageren Herrn, der noch immer neben ihm hielt, »und lassen Sie ihn nicht aus den Augen.«

»Sehr wohl«, sagte der Fremde und ging gemessenen Schrittes davon. So setzte sich der Privatdetektiv Leopold Vollmer auf die Spur John Farrs, des Dieners und Freundes Christian Mortensens.

So stiftete eine im Grunde genommen ganz zwecklose Neugierde Axel Nyströms Unruhe und Verwirrung …

Jeff stürzte zu Gil und beschwor ihn bei allen Lebenden und Toten, sofort die Stadt zu verlassen; Farr eilte spornstreichs zu Christian und berichtete ihm in fliegenden Worten über das belauschte Gespräch zwischen Johnson und Jeff; was den unternehmungslustigen und waghalsigen Christian veranlaßte, wie ein Blitz aus dem Zimmer zu rennen und ohne Rücksicht auf sein Äußeres ein Tempo anzuschlagen, das ein alter, weißhaariger Herr niemals anschlagen durfte.

Vor dem Fenster aber stand Herr Vollmer, der gemessene und bedächtige Mann, und wartete auf John Grafen Farr.

Christian erreichte das Hotel Bristol im gleichen Augenblick, in dem die Brüder Strucks einen übereilten Rückzug in Szene setzten; er folgte ihnen im Wagen und eräugte aus dem Augenwinkel eine Depesche, gerichtet an Johann Hoffmann, Kaufmann, Hier. Er stand im Fahrkartenbüro knapp hinter Gil – mit der Miene eines vom Leben gedemütigten alten Mannes – und hörte, wie Strucks zwei Fahrkarten zweiter Klasse nach Triest verlangte.

Dann schlenderte er langsam zurück; beobachtete eine Weile interessiert und gelangweilt den ewig unruhigen Nyström, der vor dem Hotel auf- und abging und wahrscheinlich darüber nachdachte, was er wieder tun könnte, um Leben in die zähe und träge Masse der Welt zu bringen, und begab sich endlich nach Hause, wo ihn Farr, jetzt eine kleine, lebhafte und neugierige Dame, aufgeregt erwartete …

»Sie fahren mit dem Zug um acht Uhr fünfzehn«, sagte er und machte eine Bewegung, die eine Bewegung andeuten sollte, »und wir werden ihnen folgen. Hast du alles gepackt?«

»Und Mabel?« fragte Farr leicht verwirrt.

»Du lieber Gott …« Vor so viel Treue und Anhänglichkeit knickte Christian fast zusammen. »Du kannst sie ja verständigen, damit wir wie der selige Noah mit großem Gefolge reisen; Nyström wird dir bestimmt dankbar sein.«

»Ah«, machte Farr gelangweilt, »ich dachte nur …«

Vollmer blieb bis sieben Uhr auf seinem Posten, dann sah er, wie zwei Gestalten eilig und verstohlen das Haus verließen und in einen Wagen sprangen; er nahm sich nicht die Mühe, die beiden Leute zu betrachten; er sah nur einen kleinen, messingbeschlagenen Koffer und hörte eine bekannte Stimme das Wort »Südbahnhof« rufen.

»Sie sind nach Süden gefahren«, sagte er atemlos zu Miß Mabel Johnson, die ihm aufmerksam zuhörte, »und wenn ich nicht irre, gehen sie ans Meer.«

»Gut.« Mr. Johnson nickte entschlossen. »Fahren Sie ihnen nach und telegraphieren Sie uns von der letzten Station. Aber Sie dürfen die Spur nicht verlieren.«

»Keine Furcht«, lachte der praktische Vollmer. »Mir ist noch keiner durch die Lappen gegangen.«

Um neun Uhr fünfzehn fuhr die Gesellschaft nach Süden.

Vollmer saß behaglich in einem Abteil erster Klasse; einen Haufen Zeitungen vor sich, in denen er gelangweilt blätterte.

Es gab nichts auf der Welt, das Vollmer interessiert hätte, wenn er im Beruf war.

Die Verteilung der Personen im Zug war eine vollkommen regelmäßige; als hätte sie ein tüchtiger Regisseur gestellt.

Im ersten Wagen fuhren Jeff und Gil Strucks; im zweiten Hoffmann, im dritten Christian und Farr und im vierten Vollmer; gleichsam als Abschluß der unregelmäßigen Reihe.

Gegen zehn Uhr erst begann sich Vollmer zu regen.

Er schlenderte langsam durch die Wagen; betrachtete schmunzelnd und mit viel Verständnis ein verliebtes Hochzeitspaar und unterhielt sich lange mit dem Zugsführer über die Beschwerlichkeiten seines unsteten Berufes. Dann warf er einen Blick in das Abteil, in dem Christian und Farr saßen und begann zu grinsen …

Die grauen Haare Farrs konnten ihn nicht täuschen; er begann mit der Betrachtung einer Person von unten herauf, und die schlanken, beweglichen Beine Farrs, die in eleganten Lackschuhen steckten, verrieten ihm mehr als Bewegungen und Augen. Einmal so weit, war es nicht schwer, unter der grauen Perücke die jugendfrischen Züge des flüchtenden Bräutigams einer wundervollen Amerikanerin zu entdecken.

Im dunklen Gang wechselte eine größere Banknote den Besitzer, und Vollmer gelangte auf die einfache Art zur Kenntnis des Reisezieles. Dann legte er sich schlafen und erst die Grenzkontrolle an der italienischen Grenze riß ihn aus seinen behaglichen Träumen.

Um neun Uhr früh erreichten sie bei strahlender Sonne Triest; das Licht huschte übers Wasser und schuf Zaubereffekte; kleine Segelbarken schaukelten auf den Wellen, und flinke Möwen stießen heisere, unmelodische Schreie aus und schossen wie große Segler dahin.

Das erste Telegramm erreichte Mister Johnson genau um zwölf Uhr mittags. »Hier angelangt; Plätze auf südwärts fahrendem Dampfer belegt; weitere Nachrichten folgen.«

»Ich möchte wissen, was das bedeutet«, sagte Mabel ärgerlich und zerknüllte die Depesche zwischen den Fingern.

»Wenn es keine Weibergeschichte ist«, sagte Johnson bedächtig und trank seinen Wein, »hat es nichts zu bedeuten.«

»Das ist es gewiß nicht«, trotzte Mabel und bemühte sich, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. »Ich habe das Gefühl, John braucht mich …«

Zur gleichen Zeit sprach Jeff mit Hoffmann.

»Ich habe das scheußliche Gefühl«, sagte er ängstlich, »daß er hinter uns her ist. Sie hätten doch besser in Wien bleiben sollen.«

»Und mich für Sie hängen lassen, sollen«, fauchte der andere wütend. »Nach Italien gehe ich auf keinen Fall. Wenn man den Marinevertrag bei mir findet, bin ich geliefert.«

»Die Jugoslawen«, dozierte Jeff, »haben kein Interesse an den Dingen. Außerdem fallen wir jetzt während der Reisesaison nicht weiter auf.«

Um vier Uhr nachmittags schifften sie sich auf den jugoslawischen Dampfer »Karagjorgjevic« ein, ein Tausend-Tonnen-Dampfer mit zwei Schloten, der aus der Ferne angenehm und behaglich wirkte. In der Nähe hatte er, außer einem ewig fluchenden Kapitän, nichts Interessantes an sich.

Die Kabinen waren klein und heiß; und ein undefinierbarer Geruch nach Schmieröl und Teer lag in der Luft. Aber das Deck war vollbesetzt mit Reisenden, und inmitten der schnatternden und bewundernden Menge verschwanden Jeff und Gil; verschwanden Christian und Farr, verschwanden Hoffmann und Vollmer. Durch einen unerforschlichen Beschluß des Schicksals hatten sich diese beiden gefunden.

»Eine schöne Stadt«, sagte Vollmer und sog an seiner Zigarette; mit einer Hand wies er auf das amphitheatralisch gelegene Triest; »aber sie stirbt langsam. Es ist etwas schrecklich Trauriges um sterbende Städte.«

Hoffmann hatte zwar keinen Sinn für derartige Gedanken, aber er nickte. »Scheußlich«, sagte er und spuckte im Bogen ins Meer. Bei der Gelegenheit bemerkte Vollmer, ohne es zu wollen, daß der Bart falsch war und stutzte. Er hatte vieles erlebt, aber daß zwei Reisende Masken hatten, war ihm noch nicht untergekommen.

»Wohl auch auf Urlaub«, sagte Vollmer vorsichtig und beobachtete scharf das Gesicht seines neuen Bekannten.

»Nein«, sagte Hoffmann, »ich fahre in Geschäften.«

»Schlimme Saison«, meinte der Detektiv tastend.

»Ah nein – ich reise in Badeartikeln; dafür ist jetzt gerade die richtige Zeit.«

Erst in Arbe, zu Mittag des nächsten Tages, kam Leben in die Menschen.

Zuerst verließ Hoffmann das Schiff; er trug einen kleinen Lederkoffer und sah sich neugierig um; dann gingen Jeff und Gil ans Land; und dann Christian und Farr.

Irgendwie, sagte sich Vollmer und betrat die schwankende Landungstreppe, hängen alle diese Menschen zusammen.

Er verbrachte eine angenehme Stunde an der Riva und trank eine eisgekühlte Marena, ohne in der Zeit darauf kommen zu können, wonach das Zeug schmeckte; dann legte der Zengger Dampfer an und Hoffmann kletterte aufs Schiff; nach ihm Jeff und Gil; als letzte, zwischen anderen Passagieren, Christian und Farr.

»Also doch«, sagte Vollmer zufrieden. »Ich bin nur neugierig, wohin die Prozession gehen wird.«

Aber um neun Uhr abends telegraphierte er von Zengg nach Wien.

»Festgelegt. Längerer Aufenthalt. Drahtet, was tun.«

Worauf er prompt die Antwort bekam: »Warten, bis wir kommen. Eintreffen morgen abends mit Autobus.«

*

Gerade als Mabel mit Papa Johnson zum wartenden Wagen ging, begegnete ihnen Nyström. Johnson war kein nachträgerischer Mann; als er den Inspektor bemerkte, nickte er ihm sogar freundlich zu.

»Ich dachte«, sagte der sonst so höfliche Nyström, »daß Sie noch lange bleiben. Jetzt beginnt hier erst die Saison, wenn man in einer Großstadt von einer Saison sprechen kann …«.

Mabel wandte sich temperamentvoll um; sie hatte geradezu das Bedürfnis, zu reden. »Wir wären geblieben. Es ist ganz nett hier, aber Baron Kielhausen schrieb uns, und wir treffen ihn irgendwo im Süden …« Sie vermied es mit echt weiblicher Logik, von ihrem Bräutigam zu reden, aus Angst, man könnte auf den Gedanken kommen, sie liefe ihm nach.

»Baron Kielhausen«, sagte Nyström interessiert. »Ist das nicht der kleine schlanke Herr?«

»Ah nein – der große hagere.«

»Richtig«, nickte der Inspektor und wandte sich um; einmal außer Sehweite, schlug er ein mörderisches Tempo an … Dreizehn Minuten nach acht Uhr erkletterte er schwer keuchend den Triester Schnellzug. Er sah gerade noch, wie verzweifelte Beamte den letzten der siebzehn Koffer Mabel Johnsons in den Gepäckwagen schoben.

Neue Mitspieler fuhren nach Süden, um die Szenen der Tragikomödie, die sich weit unten, an den felsigen Gestaden des blauen Meeres vorbereitete, zu beleben.

Das Schicksal liebt es, mit recht vielen Personen auf einmal zu spielen …


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