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Genialer Wahnsinn

Die gedrückte Stimmung, in der sich Tolstoi infolge seiner körperlichen und seelischen Beschwerden und des Zweifels an Sinn und Wert des Lebens befand, wurde durch den Tod ihm nahestehender Menschen noch mehr verdüstert. Am tiefsten ergriff ihn das Ableben seiner Tante T. A. Jergolskaja, die Mutterstelle an ihm vertreten hatte, und seines anderthalbjährigen Söhnchens Peter. Er schreibt seiner Schwägerin Tatjana Kusminskaja:

»Selbst Peter, der Schreihals, der für den Vater nichts Reizendes besaß, hat außer dem Kummer, daß gerade er fehlt, eine solche Leere im Hause hinterlassen, wie ich es nicht erwartet hätte.«

Noch schmerzlicher empfindet die Mutter den Verlust; sie schreibt an die Schwester: »Nun sind bereits zehn Tage vergangen, ich aber irre noch immer wie verloren umher, immer in der Erwartung, seine flinken Füßchen laufen, sein Stimmchen mich schon von ferne rufen zu hören. Keins der Kinder hing so an mir und keins strahlte so vor Fröhlichkeit und Güte. In allen trüben Stunden, in jeder Ruhepause nach dem Unterrichten der Kinder nahm ich ihn zu mir und hatte meine Lust an ihm wie an keinem anderen Kinde. Und jetzt ist alles geblieben, wie es war, nur alle Freude, alle Heiterkeit des Lebens ist hin.«

»Als Petja beerdigt wurde«, schreibt Tolstoi an die Freundin, »habe ich zum ersten Male bestimmt, wo man mich begraben solle.«

Der Gedanke an den Tod verfolgt ihn, wie die Kopfschmerzen, beständig. Die einzige Rettung vor dem Todesgrauen, vor sich selbst, sieht er in der Religion. Zuerst hält er sich an die Kirche, deren Glauben er kritiklos übernimmt. Er befolgt die vorgeschriebenen Fasten, geht zu Messe und Abendmahl, ist empört, daß die alte und kranke Mutter der Gräfin Alexandra Andrejewna die Fasten nicht einhält, erklärt der Freundin: »Wenn man zur Kirche gehört, ist wohl das mindeste, was man tun kann, ihre Vorschriften zu befolgen.«

Im gleichen Jahre (1881) macht er in Begleitung eines Schullehrers aus Jasnaja Poljana eine Wallfahrt nach dem Kloster Optina (Gouvernement Kaluga) zu dem ehrwürdigen Staretz Greiser Mönch von gottgefälligem Lebenswandel, dessen Vorbild und Predigt Gläubige heranzieht, sie tröstet und stärkt. Amwroßij.

Mit seinem Bauerngesicht, in Bauern- und Pilgertracht, grobem Hemd, Bastsandalen an den Füßen, das Säckchen des Bettelmönchs über der Schulter, so sehen wir ihn aus dem Gutshause in Jasnaja Poljana treten. So hatten seit seiner Mutter Zeiten zahllose ähnliche Wallfahrer das alte Herrenhaus verlassen und denselben Weg beschritten. Unerkannt schläft er in der Klosterherberge und mäht am Morgen zusammen mit den übrigen Pilgern und Bauern die Klosterwiesen; durch solche selbstlose Mühen dienen und danken die Gläubigen dem Herrn und der frommen Bruderschaft.

So ersteht Tolstoi vor uns als echter Sohn der Prinzessin Maria Wolkonskaja, die in ihrer Kommode die Ausrüstung einer Wallfahrerin verwahrte und sich mit der Absicht trug, auf die Pilgerschaft zu gehen. In Tagen tiefster Seelennot verwirklicht der Sohn den Sehnsuchtstraum der Mutter.

Am 11. Juni 1881, nach zweitägiger Wanderung, schreibt er aus Krapiwna an seine Frau: »Den Weg schlechter zurückgelegt, als ich erwartet hatte. Schwielen an den Sohlen; geschlafen, körperlich wohler.« Seine Gesundheit ist so zerrüttet, daß er zu Hause an Schlaflosigkeit leidet, Tag und Nacht keine Ruhe findet.

In einem Brief an ihren Bruder berichtet die Gräfin:

»Wenn Du Ljowotschka jetzt sehen und hören würdest! Er hat sich sehr verändert. Er ist glaubensstarker Christ geworden, aber ergraut, gesundheitlich geschwächt und stiller, schwermütiger, als er früher war.« Und der Schwester Tanja klagt sie: »Ljowotschka arbeitet zu angestrengt, er hat immerfort Kopfschmerzen, kann es aber nicht lassen.«

Er vertieft sich in religiöse Fragen, verfaßt religiöse Schriften. Wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm klammert er sich an den Glauben als letzte Rettung vor dem Untergang, und sinkt doch immer tiefer, je verzweifelter er sich anklammert. Es ist Flucht vor sich selbst, vor Not und Qual. Als Wallfahrer, Pilger, Gottesnarr will er im Lebensmeer, im Menschenmeer verschwinden, sich in ihm auflösen, um sich selbst zu entgehen. Er wandert zum Staretz Amwroßij und wird wenig später ein ähnlicher Staretz in Jasnaja Poljana, zu dem Wallfahrer aus der ganzen Welt pilgern.

In einem Brief an Strachow weist er 1877 auf den ihm vorschwebenden Weg hin:

»Wenn ich allein wäre, würde ich nicht Mönch werden, sondern Narr in Christo, das heißt, ich würde nichts im Leben schätzen und niemandem Böses tun.«

Die langsame Entwicklung zum Wallfahrer auf Erden und Gottesnarren begann bereits in den siebziger Jahren, als er an »Krieg und Frieden« arbeitete. »Tanja« berichtet über jene Zeit:

»Seltsam, Leo Nikolajewitsch liebte geradezu die ›Gottesleute‹: geistig Unterentwickelte, Halbverrückte, Vaganten, Pilgerinnen und sogar Betrunkene, wie er selbst einmal sagte: ›Betrunkene liebe ich schrecklich. Diese Gutmütigkeit und Aufrichtigkeit!‹ Wir, seine Zuhörer, bestritten natürlich diese Gutmütigkeit und Aufrichtigkeit. Das Interesse für solche Menschen und die Gastfreundschaft, die er ihnen gewährte, waren Züge, die er von seiner Mutter geerbt hatte.«

Jetzt bietet Jasnaja Poljana Obdach und Unterkunft nicht nur den Gottesleuten Rußlands, sondern den Gottsuchern der ganzen Welt. Oft geht er auf die Landstraße hinaus und trifft da bald auf Pilger und Betbrüder, mit denen er über ihren Glauben spricht, bei deren Erzählungen er in ungestillter Liebessehnsucht ergriffen weint. In seinem Drama »Das Licht leuchtet in der Finsternis« sagt er über sich selbst, sich an Gott richtend: »Du weißt besser, was Du willst. Demut, Einfalt. Ja, wenn ich mich nur bis zu ihr erheben könnte!«

Diese Demut und Einfalt meint er beim einfachen Volk zu finden. Wieder pflügt und mäht er mit den Bauern. Das Bauerntum ist ihm nun endgültig zur wirklichen großen Welt geworden. Für diese Welt schreibt er Volkserzählungen, Legenden, Geschichten für Kinder, und der Bauer Sytin, ein großer Verleger geworden, kommt ihm dabei entgegen; in dem Verlage »Posrednik« (»Der Mittler«) erscheinen diese Büchlein in Millionenauflagen und finden den Weg ins Volk. Pilger, Gottesleute, Narren werden in diesen Jahren bevorzugte Helden seiner Schriften.

»Arm sein, Bettler sein, Vagant sein, das ist gerade das, was Christus lehrt, gerade das, ohnedem man das Reich Gottes nicht erwerben, ohnedem man hier auf Erden nicht glücklich sein kann. Die Wandlung zum Bettler und Vaganten wird den Menschen zur Natur zurückführen, ihm geliebte, freie Arbeit ermöglichen«, erklärt er.

Tolstoi entsagt seinem Eigentum, um niemand durch seinen Besitz zu schädigen, niemand Böses zu tun. Sein persönliches Leben ist mißlungen, ist zu Ende; innerlich verläßt er Frau und Kinder, geht in die Welt hinaus zu den Menschen. Im Tagebuch klagt der Wunde, daß das Leben ihm die Flügel zerbrochen hat.

»Es gibt Menschen mit großen starken Flügeln, die sich, um ihren Lüsten zu dienen, zur Menge herablassen und ihre Flügel zerbrechen. So einer bin ich. Dann schlägt er mit dem zerbrochenen Flügel, flattert empor und stürzt. Wenn die Flügel geheilt sind, fliege ich hoch hinauf. Gott helfe mir dazu!«

Die Übersiedlung nach Moskau (1881) aus Rücksicht auf die Erziehung der Kinder ist der Augenblick, da die Krise sich entlädt. Sein Tagebuch stöhnt:

3. September 1881: »Oft möchte ich sterben.«

8. Oktober: »Ein Monat ist vergangen. Der qualvollste meines Lebens. Umzug nach Moskau. Sie richten sich immerfort ein; wann fangen sie denn an zu leben? Alles geschieht nicht dazu, um leben zu können, sondern im Hinblick auf die Meinung der Leute. Die Unglücklichen! Und so gibt es kein Leben.«

Qualvoll leidet die Gattin unter seiner Krankheit, selbst kaum weniger krank. Am 14. Oktober 1881 schreibt sie an die Schwester: »Morgen ist es ein Monat, daß wir hier sind, und ich habe noch niemand ein Wort geschrieben. Die ersten vierzehn Tage habe ich täglich geweint, weil Ljowotschka nicht nur in Schwermut, sondern sogar in eine Art verzweifelter Apathie gesunken war. Er schlief nicht und aß nicht, ja weinte sogar (à la lettre) zuweilen, und ich dachte, ich werde einfach verrückt.«

Tolstois Bemühungen, im Schaffen Beruhigung zu finden, schlagen fehl. »Ich sitze immer zu Hause, versuche des Morgens zu arbeiten, es geht aber schlecht«, berichtet er einem Freunde.

Die Krankheit beider Gatten, Hysterie, Neurose, ist soweit fortgeschritten, daß beide weinen, beide unglücklich sind. Jede Berührung mit der rauhen Außenwelt ruft bei dem Leidenden schreckhaftes Zusammenzucken, Angst und Grauen hervor, wie der Einblick in das Elend der Großstadtarmen, den er bei einer Volkszählung gewinnt. Selbst elend und krank reist er nach Jasnaja Poljana.

Die Briefe seiner Frau sind wie immer voll zärtlicher Besorgnis; liebevoll sucht sie ihn aufzurichten, ihm Mut zuzusprechen:

»Das erste, Wehmütigste und Traurigste, als ich erwachte, war Dein Brief. Immer schlimmer und schlimmer. Ich fang an zu denken, daß Krankheit daran schuld ist, wenn ein glücklicher Mensch im Leben plötzlich nur alles Grauenhafte sieht, vor allem Guten aber die Augen schließt. Du müßtest dich einer Kur unterziehen. Ich sage das ohne jeden Hintergedanken, es scheint mir so klar, Du tust mir schrecklich leid, und wenn Du über meine Worte und über Deinen Zustand ohne Ärger nachdenken wolltest, so würdest Du vielleicht einen Ausweg finden. An dieser schwermütigen Stimmung leidest Du ja schon sehr lange. Früher sagtest du: ›Wegen meines Unglaubens wollte ich mich erhängen‹. Nun, und jetzt? Jetzt lebst Du doch nicht ohne Glauben. Warum bist Du denn nun unglücklich? Sieh doch besser hin: es gibt auch Fröhliche und Gesunde, Glückliche und Gute. Wenn Gott Dir doch helfen wollte. Was aber kann ich dazu!«

Der Gatte antwortet:

»Ich habe ja schon längst aufgehört, Dir Vorwürfe zu machen. Das war nur anfangs so. Warum ich so verfallen bin, weiß ich selbst nicht. Vielleicht sind es die Jahre, vielleicht ist es Krankheit ,… Klagen kann ich über nichts. Ich fürchte, am Ende vertauschen wir noch die Rollen: ich komme gesund und munter zurück, Du aber bist finster, verfällst. Du sagst: ›Ich liebe Dich, Du aber hast das jetzt gar nicht nötig.‹ Nur das allein habe ich nötig. Und nichts anderes kann mich so beleben, auch Deine Briefe haben mich belebt. Meine Einsamkeit tut mir sehr not und hat mich erfrischt, und Deine Liebe zu mir freut mich mehr als alles andere im Leben.«

Wieder sehen wir, daß selbst in diesem vorgerückten Stadium der Erkrankung Tolstoi gleich wieder auflebt, sobald er von Hause fort ist. Freudig genießt er den Frühling. Er schreibt seiner Frau:

»Heute vormittag ging ich um elf Uhr hinaus und war berauscht von dem herrlichen Morgen. Warm, trocken, hier und da taugenetzte Pfade; überall sprießt Gras, bald in einzelnen Spitzen, bald in Büscheln, unter Laub und Stroh hervor; am Flieder Knospen; die Vögel singen nicht mehr wild durcheinander, sondern erzählen sich etwas, und in der Windstille überall an den Ecken des Hauses und am Düngerhaufen summen Bienen. Ich sattelte mir ein Pferd und ritt hinaus. Am Nachmittag las ich, dann machte ich die Runde über Bienengarten und Badehaus. Überall Gras, Blumen, Löwenzahn, und alles so schön!«

Jetzt, da er allein ist, Auge in Auge mit der Natur, freut er sich ihrer und des Lebens.

Zum letzten Male erwacht der frühere Tolstoi. Erholt und gekräftigt durch die Einsamkeit, bemerkt er das Weib wieder, und sein ganzes Wesen sehnt sich nach ihr. Im Sommer ist er bereits auf dem Wege zu einer Zusammenkunft mit Dunja, dem Dienstmädchen, als er durch den Anruf seines Sohnes zurückgehalten wird, der ihm eine Frage über seine Schulaufgaben stellt. Sein Verlangen ist aber so heftig, daß er fürchtet, ihm doch noch zu unterliegen, und den ihm nahestehenden Lehrer seiner Schule, W. J. Alexejew bittet, ihn nicht aus den Augen, überhaupt nicht allein zu lassen. Von diesem Vorfall berichtet Alexejew in seinen Erinnerungen, und Tolstoi selbst bestätigt ihn später in einem Briefe an Tschertkow vom 25. Juni 1884.

Tolstoi kämpft gegen seine Natur und ringt sie nieder; sittliche und religiöse Forderungen sind stärker als die Stimme des Blutes und des Lebens. Ebenso schreckt er auch immer wieder vor der Verwirklichung seiner Absicht zurück, sein Haus zu verlassen, obgleich dieser Wunsch von Jahr zu Jahr heftiger wird.

Am 18. April 1884 schreibt er ins Tagebuch: »Sehr schwer habe ich es mit meiner Familie. Schwer, weil ich ihnen kein Mitgefühl entgegenbringen kann. All ihre Freuden: Examen, Erfolge in der Gesellschaft, Musik, Umgebung, Einkünfte – alles das sehe ich als Übel und Unglück für sie an und kann es ihnen nicht sagen. Ich kann es wohl und sage es auch, aber meine Worte ergreifen keinen. Es ist, als kümmerte sie nicht der Sinn meiner Worte, sondern nur meine schlechte Gewohnheit, dergleichen zu reden. In schwachen Augenblicken staune ich über ihre Hartherzigkeit. Sehen sie denn nicht, daß ich nicht bloß leide, sondern nun schon drei Jahre des Lebens beraubt bin! An ihrem Leben teilnehmen hieße die Wahrheit verleugnen. Sehe ich mit Trauer auf ihren Wahnsinn, so bin ich ein keifender Alter, wie alle alten Leute.«

Und doch scheint ihm auch jetzt noch, es könnte alles wieder gut werden, wenn es nur nicht an einer »liebenden und geliebten Frau« fehlte. Und die Gräfin vermerkt im Tagebuch: »Wo keine Liebe ist, ist kein Leben.« In einer Ehe, in der die Gatten nicht durch das Sexuelle verknüpft sind, kann es weder Liebe noch Leben geben.

Immer wieder kehrt er zu dem Gedanken zurück, seine Familie zu verlassen. Im Juni 1884 schreibt er ins Tagebuch:

»Und in der Tat, was soll ich ihnen? Wozu all meine Qualen? Und wie schwer auch ein Vagabundenleben sein mag (es ist aber leicht) – da kann es nichts geben, was diesem Herzenswunsch gleich käme ,… Sie kam zu mir und begann eine hysterische Szene; der Sinn war, es ließe sich nichts ändern, und sie sei unglücklich und müsse irgendwohin flüchten. Sie tat mir leid, zugleich aber war ich mir bewußt, daß es hoffnungslos ist. Sie wird bis zu meinem Tode ein Mühlstein sein an meinem Halse und an dem der Kinder. Es muß wohl so sein. Ich muß lernen, nicht unterzugehen, mit einem Mühlstein am Halse.«

Der gleiche Schmerz, das gleiche Leiden aneinander führt zu dem gleichen Wunsch: beide streben voneinander fort.

Am 17. Juni 1884 mähte er am Abend vor dem Herrenhause, badete darauf und kehrte »frisch und munter« zurück. Seine Gattin, die vor der Entbindung stand und darum in besonders nervöser Stimmung war, empfing ihn mit »sinnlosen« Vorwürfen, weil er die Pferde »loswerden« wollte, die er infolge seiner Vereinfachungsbestrebungen nicht brauchte. Er widersprach seiner Frau nicht, doch ihm wurde so »schwer ums Herz«, daß er in seinem Zimmer ein paar der nötigsten Sachen in einen Schultersack packte und das Haus mit der Erklärung verließ, er gehe auf immer.

Die Wehen setzten ein und diese zwiefache Marter, die seelische und die körperliche, war unerträglich; die Leidende flehte zu Gott um ihren Tod. Ihr Gatte schritt indes die Landstraße hinab, sein Bündel über der Schulter, fort aus dem »Irrenhause, das Wahnsinnige leiten«, und vielleicht wäre er nicht wiedergekommen, wenn der Gedanke an die Niederkunft seiner Frau ihn nicht auf dem »halben Wege nach Tula« zurückgetrieben hätte. Zu Hause spielten »bärtige Kerle, meine Söhne« Karten. Er ging geradeswegs in sein Zimmer und legte sich aufs Sofa, konnte aber nicht schlafen. Gegen drei Uhr kam sie in sein Zimmer: »Vergib mir, ich komme nieder, vielleicht sterbe ich ,…«

Ein Jahr später, 1885, unternimmt er einen neuen Fluchtversuch, von dem die Gräfin in einem Brief an ihre Schwester Tanja berichtet:

»Es ist wieder geschehen, was schon so oft geschehen ist. Ljowotschka war in äußerst nervöse und finstere Stimmung geraten. Ich sitze gerade und schreibe, er tritt ein; ich blicke hin – sein Gesicht ist schrecklich. Bis dahin war alles gut gegangen, kein einziges böses Wort war gefallen, nichts, aber auch gar nichts geschehen. ›Ich komme, um Dir zu sagen, daß ich mich von Dir scheiden lassen will; ich kann so nicht leben, ich reise nach Paris oder nach Amerika.‹ Verstehst Du, Tanja, wenn das ganze Haus über meinem Kopfe eingestürzt wäre, so wäre ich nicht so verblüfft gewesen. Ich frage erstaunt: ›Was ist geschehen?‹ – ›Nichts, aber wenn man immer mehr und mehr auf einen Wagen ladet, so bleibt das Pferd schließlich stehen und zieht nicht mehr.‹ Was aufgeladen wurde, blieb unergründlich. Aber Geschrei, Vorwürfe, grobe Worte setzten ein, immer schlimmer und schlimmer. Ich ließ alles über mich ergehen, alles, antwortete kaum, sah ich doch, ein Verrückter stand vor mir. Aber als er schließlich sagte: ›Wo du bist, da ist die Luft vergiftet‹, ließ ich meinen Koffer bringen und machte mich ans Packen. Ich wollte zu Euch kommen, wenigstens auf ein paar Tage. Die Kinder stürzten herbei, heulten. Tanja (ihre älteste, 1864 geborene Tochter) sagte: ›Ich fahre mit. Warum denn bloß!‹ Er flehte mich an, zu bleiben. Ich blieb. Plötzlich aber überkam ihn ein hysterischer Weinkrampf, es war entsetzlich, stelle Dir vor, Ljowotschka in Zuckungen, von Schluchzen gewürgt ,… Aber Wehmut, Gram, Entzweiung, schmerzliches Empfinden der Entfremdung – alles das ist in mir haften geblieben. Verstehst Du, oft frage ich mich bis zum Wahnsinn: Warum denn jetzt? Ich tue keinen Schritt aus dem Hause, arbeite in Verlagsangelegenheiten bis drei Uhr morgens, bin still und sanft, hatte alle so lieb und gedenke dieser Zeit wie keiner anderen; warum also?«

Dieser ungestüme Haßausbruch des Siebenundfünfzigjährigen erinnert an den achtzehn Jahre zurückliegenden, von »Tanja« verzeichneten Auftritt, als der Rasende Geschirr zu Boden schmetterte.

1890 schreibt die Gräfin ins Tagebuch:

»Ich sehe Ljowotschka fast gar nicht; es ist, als sei er über diese Entfremdung froh und hätte sich in ihr beruhigt, mir aber wird es so weh und schwer, daß ich zuweilen überhaupt nicht mehr leben mag.«

Schmerz und Enttäuschung ergießt Tolstoi in sein Schaffen. Er brandmarkt seine sinnliche Natur im »Teufel« und tötet in seinem Bewußtsein Aksinja. In der »Kreutzersonate« lehnt er bereits jede Sinnlichkeit überhaupt ab und tötet seine Frau. In der »Beichte« schreit er sein Leid in die Welt hinaus und wird zum Prediger, und wie zu einem heiligen Staretz strömen ihm Verehrer aus aller Welt zu.

Neue Menschen umgeben ihn. Seine Frau, die Hüterin seines Talentes, die andächtig jede von ihm geschriebene Zeile abschrieb und aufhob, wird von den eifersüchtigen und mißtrauischen Schülern und Jüngern zurückgedrängt, ihr die so liebe Arbeit genommen. Schmerzlich klagt sie im Tagebuch (20. November 1890):

»Ich pflegte abzuschreiben, was er geschrieben hatte, und das war mir eine Freude. Jetzt gibt er alles den Töchtern und verbirgt alles sorgsam vor mir. Er tötet mich ganz systematisch und drängt mich aus seinem persönlichen Leben heraus, und das tut unerträglich weh. Es kommt vor, daß mich bei diesem jeder Anteilnahme baren Leben rasende Verzweiflung überkommt. Ich möchte mich töten, fliehen, mich verlieben, oder sonst etwas tun, was es auch sei, um nur nicht mit einem Menschen zusammen zu leben, den ich trotz allem mein Leben lang aus irgendeinem Grunde liebte, obwohl ich jetzt sehe, wie sehr ich ihn idealisiert hatte; wie lange habe ich nicht begreifen wollen, daß bei ihm alles Sinnlichkeit war. Jetzt aber haben sich meine Augen geöffnet, und ich sehe, daß mein Leben vernichtet ist.«

Selbstverständlich hegt sie feindselige Gefühle gegen die fremden Menschen, die ihren Gatten umgeben, die ihn ihr genommen haben, zu denen er vor ihr flüchtet, um Auseinandersetzungen und gegenseitigen Beschuldigungen zu entgehen. Sie schreibt ins Tagebuch:

»Wie wenig sympathisch sind alle die Typen, die sich zu Leo Nikolajewitschs Lehre bekennen. Es befindet sich kein einziger normaler Mensch unter ihnen. Auch die Frauen sind meist hysterisch. Da ist eben Maria Schmitt fortgefahren. In frühren Zeiten wäre sie Nonne gewesen, jetzt ist sie verzückte Anhängerin der Ideen Leo Nikolajewitschs. Sie war Klassendame im Nikolai-Lyzeum, mußte ihre Stelle aufgeben, weil sie aus der Kirche austrat, und lebt nun auf dem Lande und zwar allein durch die Abschrift, von Leo Nikolajewitschs verbotenen Werken. Wenn sie mit ihm zusammenkommt oder von ihm Abschied nimmt, schluchzt sie hysterisch.«

Dieselbe Ansicht äußerte der Universitätsprofessor Lasurskij, der als junger Mann Hauslehrer in Jasnaja Poljana war, über Tolstois eifrigsten Anhänger und Jünger G. Tschertkow:

»Ich hatte wenig Verständnis für diesen Menschen und beobachtete ihn voller Verwunderung. Bald mußte ich daran denken, daß Heilige auf den Ikonen solche Augen haben, bald schien mir, daß an Tschertkow etwas Krankhaftes und Beschränktes war.«

Von seiner Frau ist Tolstoi durch die Anhänger seiner Lehre, durch eine Welt getrennt. Nach einem ganzen Leben Seite an Seite, stehen die Gatten einander fremd und feindlich gegenüber. Da ihr die Abschrift seiner Arbeiten genommen ist, sucht sie Trost in der Abschrift seiner früheren Tagebücher; es ist schmerzlicher Trost. All das Leid der ersten Ehejahre erwacht wieder. Sie vermerkt im Tagebuch:

»Ich glaube, daß jenes Entsetzen, welches mich als Braut ergriffen hat, jener durchdringende Schmerz der Eifersucht, der Verlorenheit vor der grauenerregenden Lasterhaftigkeit des Mannes niemals verheilt ist ,… Heute habe ich mich über einem sehr schlechten Gefühl ertappt. Wie ein Trinker, mich ungestüm daran berauschend, schreibe ich seine Tagebücher ab, und mein Rausch besteht in der eifersüchtigen Erregung überall dort, wo es sich um Frauen handelt. Ich bin noch nicht ruhig und kann mich von den Erinnerungen nicht befreien. Alles braucht seine Zeit.«

Schmerz und Eifersucht vom ersten bis zum letzten Tage. Später, als der Gatte schwer, fast hoffnungslos erkrankt, schreibt sie im Rückblick auf ihr ganzes gemeinsames Leben: »Und doch, nicht ganz, nicht bis zuletzt haben wir einander glücklich gemacht.«

Woran es aber bei all ihrer fürsorgenden Liebe zu ihm gefehlt hat, bleibt ihr unerfaßlich. Verständnislos ruft sie in ihrer Selbstbiographie aus: »Wann eigentlich das Trennende zwischen uns einsetzte, weiß ich nicht, ich vermag es nicht zu erspüren. Und worin bestand es denn?«

Alle weiteren Jahre fügen dem Bilde dieser unglücklichen Ehe nichts Neues mehr hinzu; die Entfremdung wächst beständig und führt schließlich zu dem tragischen Ende, dessen Ursprung in den ersten Ehemonaten liegt.

Nie seiner Liebe sicher, stets durch seine Fluchttendenz bedroht, verzehrt sich die Gattin wie früher in beständiger Eifersucht, ist eifersüchtig auf jeden Menschen, der ihm als Anhänger nähertritt. Seine Verehrer und Schüler wachen ihrerseits eifersüchtig über den Meister, den sie ganz für sich haben wollen. Jedes Wort, das er schreibt, jedes Stückchen Papier wird ihm aus der Hand gerissen. Er kann selbst seine intimsten Gedanken nicht vermerken, ohne befürchten zu müssen, daß seine Frau oder seine Freunde ihm die Aufzeichnung entwenden würden. So ist er genötigt, sich heimlich ein Notizbuch anzulegen, das er tagsüber im Schaft seines Bauernstiefels, nachts unter dem Kopfkissen verbirgt. Und er will fort aus dem Irrenhause, das Wahnsinnige leiten, in jene Welt, in der er Glück und schlichte Menschlichkeit kennengelernt hat.

Innerlich lebt er in seiner großen Welt, der Welt des Bauern. Hier findet er auch die Geistesverwandten, die seinem Herzen näherstehen als seine ergebensten Anhänger und Verehrer; es sind die beiden Bauern Sjutajew und Bondarew.

W. K. Sjutajew, Bauer und Steinhauer, Gründer einer religiösen Sekte, war bestrebt, »Grenzen niederzureißen«, eine allein auf gegenseitiger Liebe beruhende christliche Gemeinschaft zu bilden; »sein ganzes Leben war unablässige freudige Opfertat, trotz aller Verfolgungen«, wie Tolstoi sagt.

F. M. Bondarew, ein einfacher Bauer, wurde als Sektierer nach Sibirien verbannt; er besaß eine ungewöhnliche literarische Begabung und hat unzählige Werke geschrieben, die über 3500 Druckbogen umfassen; er predigte, daß es die sittliche Pflicht jedes Menschen sei, sich mit Ackerbau zu beschäftigen.

Wenn Tolstoi sein Haus verlassen will, so beabsichtigter eben zu den Bauern, zum einfachen Volk zu gehen, mit dem er sich seit seiner Liebe zu der Bäuerin Aksinja verbunden fühlt. Nicht umsonst sagte er einmal zu Maxim Gorkij: »Ich bin mehr Bauer als Sie und habe mehr Bauernsinn.«

Die Armut und Not der Besitzlosen bedrückt ihn. Bereits 1882 ruft er aus: »Alle Genüsse des vornehmen Lebens wurden mir zur Qual. Und so sehr ich mich auch bemühte, irgendeine Rechtfertigung unserer Lebensweise zu finden, konnte ich ohne Erbitterung weder unseren noch einen fremden Salon, weder einen sauber gedeckten Tisch noch einen herrschaftlichen Wagen mit einem wohlgenährten Kutscher und ebensolchen Pferden, noch Kaufhäuser, Theater und glänzende Versammlungen sehen.« Unwillkürlich sah er daneben Hungrige, Frierende und Verachtete.

Die Bauern, ihre Lebensweise, ihre Arbeit, ihre Interessen und Nöte gehen ihm nah, sind ihm teuer und vertraut. Er denkt und lebt wie ein Bauer, dessen Seelenleben er versteht, mit dem er sich verknüpft fühlt durch die Milch der Amme, durch seine Liebe zu der Bäuerin. Das Sexuelle hat ihn dem Sozialen zugeführt, und trotz aller sittlichen Forderungen, denen er sich jahrzehntelang gebeugt, verläßt er im letzten Augenblick doch das Irrenhaus, das Wahnsinnige leiten, und geht in seine große Welt.

Acht Tage vor seiner Flucht, die am 28. Oktober 1910 stattfand, hat er mit M. P. Nowikow, einem Bauern, der sein Leben geändert hatte infolge der Lektüre von Tolstois Büchern, folgendes Gespräch, von dem Nowikow in seinen Erinnerungen berichtet:

»Leo Nikolajewitsch erkundigte sich nach meiner Familie und danach, wie die Bauern sich zu meiner Abkehr vom alten Glauben und zu meinen überhaupt nicht getauften Kindern verhielten, und fragte plötzlich: ›Sagen Sie, war ich nie in Ihrem Dorfe?‹

Ich antwortete: ›Sie haben wohl mehrmals versprochen, mich zu besuchen, haben es aber vergessen.«

Leo Nikolajewitsch lachte und sagte: ›Nun, jetzt bin ich frei und kann mein Versprechen zu jeder beliebigen Zeit erfüllen.‹

Ich meinte, das sei ein Scherz und sagte: ›Wissen Sie noch, Leo Nikolajewitsch, vor zwei Jahren antworteten Sie auf meinen Ruf, selbst wenn Sie wollten, könnten Sie doch nicht zu mir kommen. Es ist mir immer unverständlich geblieben, warum Sie nicht kommen konnten.‹

›Damals‹, erwiderte Leo Nikolajewitsch scherzend, ›war eine strenge Zeit, jetzt aber haben wir eine Konstitution. Ich habe die Meinen abgefunden, oder wie sagt man das bei Euch, mich von meiner Familie gelöst, jetzt bin ich hier überflüssig, ebenso wie die Leute bei Euch, wenn sie mein Alter erreicht haben, und darum vollkommen frei. Ja, ja, glauben Sie mir nur, ich spreche offen mit Ihnen, in diesem Hause sterbe ich nicht, ich habe beschlossen, in die Fremde zu gehen, wo man mich nicht kennt. Und vielleicht komme ich wirklich in Ihre Hütte, um zu sterben. Ich habe vor Ihnen ja nie verheimlicht, daß ich in diesem Hause siede wie in der Hölle und immer fortgehen wollte, immer daran gedacht habe, irgendwohin, in den Wald, in ein Waldhüterhäuschen oder in ein Dorf zu einem ledigen Bauern, so daß wir einander helfen könnten, aber Gott gab mir nicht die Kraft, mit meiner Familie zu brechen. Meine Schwäche ist vielleicht sündhaft, ich konnte aber um meines persönlichen Vergnügens willen nicht andere, auch nicht meine Angehörigen leiden machen ,… Ich habe Ihnen gesagt, daß ich jetzt frei bin, und Sie können mir glauben, ich scherze nicht, wir werden uns wohl bald wiedersehen. Bei Ihnen, bei Ihnen, in Ihrer Hütte‹, fügte er hastig hinzu, als er meine Verwunderung bemerkte. ›Ich habe mich wirklich von meiner Familie gelöst – bloß seelisch, nicht laut Beschluß der Dorfversammlung, wie es bei Euch geschieht‹, sagte er scherzend. ›Für mich allein hätte ich es nicht getan, nicht tun dürfen, jetzt aber sehe ich, daß es so auch für die Meinen besser ist, es wird weniger Streit um meinetwillen geben, weniger Versündigung‹.«

Wenige Tage später, am 24. Oktober 1910, schreibt Tolstoi an Nowikow:

»Im Zusammenhang mit dem, was ich Ihnen vor Ihrem Weggang sagte, wende ich mich an Sie noch mit folgender Bitte: Wenn es wirklich geschehen sollte, daß ich zu Ihnen komme – könnten Sie mir dann in Ihrem Dorfe eine, wenn auch ganz kleine, aber einzeln stehende warme Hütte ausfindig machen, damit ich Ihnen und Ihrer Familie nur kurze Zeit zur Last falle? Vergessen Sie nicht, daß alles das nur Ihnen allein bekannt sein soll.«

Doch war es Tolstoi nicht beschieden, dieses Ziel zu erreichen. Auf der Wanderschaft ereilte ihn der Tod. Er starb als Sohn seiner Mutter, die auf die Wallfahrt gehen wollte und Pilgertracht bereit hielt. Doch zog er hinaus, nicht als Narr in Christo, sondern als Bauer. Wenn er in Augenblicken der Schwäche und Verzweiflung auch Gottesnarr war, der den Mächtigen der Welt offen die Wahrheit sagte, so siegte doch schließlich seine gesunde, urwüchsige Natur, und er fand zum Bauern zurück. Mit dem breiten Kreuz der Bauern will er sich bekreuzigen, wie er in der Sterbestunde sagte, das Bauerntum segnend.

Im ersten Ehejahre hatte er nicht vermocht, sein Haus zu verlassen, so verließ er es im letzten. Er hatte bestimmt, daß man ihn am Rande jener Erdschlucht begraben solle, wo sein Bruder einst das grüne Stäbchen verborgen hatte, auf dem geschrieben stand, wie man die Menschen glücklich machen könne. Er wollte unter jenen Haselnuß- und Ahornbäumen ruhen, wo einst alles vom Sonnenschein des Glücks überflutet war, das ihm die Geliebte geschenkt, die bestimmend auf ihn eingewirkt und der allumfassenden Liebe zum werktätigen Volke zugeführt hatte.


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