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[5]

Mit Anbruch des Frühlings begannen im Kloster die Vorbereitungen zur Heiligsprechung; gespannt sah die Bruderschaft den Feierlichkeiten entgegen. Vater Akindin verließ kaum noch den Klosterladen, mit der Durchsicht der Waren beschäftigt. Er füllte die Schubläden mit kleinen runden Heiligenbildern aus Silber und Messing, die auf der Brust getragen wurden und auf der einen Seite das geprägte Bild des Klosters, auf der anderen den Skimnik Simeon zeigten; Gebetblätter mit der Gesamtansicht des Klosters, darüber zwei Engel vom Himmel herabflogen, die in den Händen ein Heiligenbild mit der Gestalt des Starez Simeon trugen, wurden zum Schmuck an die Wände gehängt, in Stapeln auf den Simsen verstaut, alles mit Preisen versehen. Novizen füllten Öl für die heiligen Lämpchen in kleine Fläschchen, auf die das Bild des Heiligen geklebt war, auch sie kamen auf die Simse und kosteten von fünf zu fünfzehn Kopeken, je nach Größe.

 

Nach der Abreise der geistlichen Würdenträger hatte die Bruderschaft sich wieder beruhigt. Nachdem Vater Polykarp an jenem Abend in die alte Kathedrale zurückgekehrt war, waren die Mönche wieder aus ihren Zellen hervorgeschlüpft und hatten die hohe Geistlichkeit, laut heitere Worte wechselnd, aus der Kathedrale treten sehen. Am nächsten Tage hatte der Abt der Bruderschaft erklärt, daß der Bischof Irinej wegen seines Stolzes – vom Herrn mit Blindheit geschlagen – nach Sibirien verbannt worden sei, damit er Buße tue; die Reliquien des Starez hätten sich wahrhaftig als frisch und unversehrt erwiesen und seien wieder in denselben Sarg gebettet worden, in dem der Heilige vor mehreren Jahrhunderten begraben worden war.

Die Bruderschaft machte sich mit großem Eifer daran, vom frühen Morgen bis zum Abend Löffel zu schnitzen, die alten Mönche und die Novizen waren gleich fleißig dabei, jeder wollte möglichst viel verdienen, war doch verkündet worden, daß der Klosterladen jede beliebige Menge zum Einheitspreis entgegennehme. Im Frühjahr wurden die fertigen Löffel dutzendweise – jeder wollte der erste sein – an Vater Akindin abgeliefert, der sie mit geübtem Blick musterte, in Körbe warf, den ledernen Geldbeutel losband, mit Silber klapperte und jedem die ihm zukommende Summe abzählte.

 

Im Laden roch es nach Benzoeharz und Zypressenholz; die Ikonenmaler zu Nishnij-Nowgorod hatten den ganzen Winter über längliche Heiligenbilder verschiedener Größe des Starez gemalt, die, frisch lackiert, lustig glänzten, auf ihnen waren die Blockhäuschen der Zellen zu sehen, Kirchen, ringsum Wald und in der Mitte der Starez im Gewand eines Skimniks, einen langen Krückstock in der Hand; Preis – von zwanzig Kopeken aufwärts. Daneben lagen Rosenkränze aus durchsichtigen und matten Glasperlen, mit einem Kreuzchen am Ende, das Stück drei und fünf Kopeken. Auf einem großen Tablett waren kleine Büchlein aufgestapelt – die verkürzte Ausgabe der Lebensbeschreibung des Heiligen – und kleine Ikonen aus Pappe – beides eine Kopeke das Stück. Weiter, zum Preise von fünfzehn Kopeken, kam das Buch: »Eine historische Schilderung des Klosters Belobereshsk und des Lebens des heiligen Simeon mit der Ansicht des Klosters und einem Bildnis des Heiligen sowie der Darstellung seiner Wundertaten, Druck der Synodalpresse«, und schließlich stand da noch ganz bescheiden: »verfaßt von dem Mönche Akindin«. Stolz schwellte die Brust des Ladenvorstehers, wenn sein Auge auf diese Zeile fiel; er hatte seine Aufzeichnungen über die Wundertaten des Starez Vater Polykarp übergeben, der an den Winterabenden das Buch geschrieben hatte; daß aber Akindins Name als Verfasser genannt sein würde, hatte der schwarze Mönch verschwiegen; der überraschte Vater Akindin erfuhr es erst, als die Bücherballen vom Bahnhof eintrafen. Vater Akindins Stolz war seine große Demut; so senkte er denn demütig die Augen und sagte bescheiden:

»Ich habe nicht viel gegrübelt, mich ganz an die Überlieferung gehalten …«

In einem langen Kasten auf dem Ladentisch lagen schwarze, blaue und bordeauxrote Samtmützchen aus, den Mönchskäppchen ähnlich, mit einem Kreuz aus Gold- oder Silberbesatz darauf, die in den Sarkophag zu den Reliquien getan und geheiligt wieder herausgenommen wurden; Kranken und Geistesschwachen aufgesetzt, bewirkten sie Heilung. In einem Kästchen lagen herzförmige Amulettsäckchen, auf der Brust zu tragen, mit einem eingenähten Gebet darin, die gegen Herzkrankheiten halfen; in einem anderen Kästchen gab es Zypressenkreuzchen, die Sterbenden in die Hand gedrückt wurden, Schnitzarbeit aus den Klöstern Athos und Sergijewo. Des weiteren Karneol- und Mastixkreuzchen, schwarz, gelb, blau, mit einem Löchlein in der Mitte, in dem das Auge das Kloster und den heiligen Starez erblickte, oder mit Zeichnungen versehen, die dieselben Ansichten brachten, dazu aber noch einen Mönch in der Soutane, der einen Wallfahrer segnet. Reich war der Laden an heiligen Dingen in jeder Preislage.

Der Klosterladen lag gleich neben der alten Kathedrale, Tür an Tür bei der unterirdischen Kapelle, wo der Starez geruht hatte; es war ein langgestreckter Raum mit Ladentischen zu beiden Seiten, hinter denen flinke Novizen standen. Zu den Feierlichkeiten wurde außerdem ein Verkaufstand vor der heiligen Pforte errichtet, der Vater Akindins ältestem Gehilfen unterstellt war, während Akindin selbst im Hauptladen nach dem rechten sah.

Der Brunnen bei der ehemaligen Einsiedelei des heiligen Starez hatte statt des Schwengels ein Drehrad und einen neuen Eimer erhalten; neben dem Brunnen saß ein Mönch mit einem Sammelteller und kleinen Fläschchen, die mit dem Bild des Heiligen geschmückt waren und mit heiligem Wasser aus dem Brunnen gefüllt wurden.

Im Vorzimmer von Vater Akakijs Blockhäuschen standen weiße Tannenbretter, und mehrere Hobel waren zur Hand; Späne wurden abgehobelt und den Gläubigen als Amulett durchs kleine Fensterchen gereicht – schöne, duftige, goldene Hobelspäne, die sich unversehrt von der Zeit her erhalten hatten, da der Heilige sein Blockhäuschen und das Kloster errichtete, und außen am Fensterchen hing eine grüne Sammelbüchse – jeder mochte spenden, wieviel er wollte und konnte –, der Mönch, der die Späne verteilte, mußte nur darauf achtgeben, daß auch jeder wirklich etwas hineintat, und Gebefaule demütig anspornen.

Von früh bis spät wimmelte es im Kloster wie in einem Ameisenhaufen; die Mönche liefen geschäftig hin und her, alles mußte vorbereitet, eingeteilt, hergerichtet werden. Ein silberner, viele Zentner schwerer Sarkophag wurde in die neue Kathedrale geschleppt, in den der Sarg des Starez hineinkommen sollte; der Sarkophag wurde links vom Altar in einer Nische aufgestellt – Hämmer pochten, Lötkolben zischten, zwei Schlosser befestigten über dem Sarkophag Kandelaber zum Aufhängen der heiligen Lämpchen.

 

Die Wallfahrer begannen schon eine Woche vor dem Beginn der Feierlichkeiten herbeizuströmen; bald waren die alte Herberge, die Landhäuschen, die Baracken überfüllt.

Das einfache Volk übernachtete im Walde unter freiem Himmel.

Es hieß zuerst, daß der Zar selbst eintreffen würde, doch in der letzten Woche vor dem großen Tag wurde bekannt, daß der Zar nicht kommen könne, ein Großfürst würde ihn vertreten. Die Mönche waren enttäuscht, verschwiegen aber vor den Wallfahrern, daß statt des Zaren ein unbekannter Großfürst erwartet wurde.

Die geistlichen Würdenträger trafen ein.

Der Abt lief geschäftig im Kloster hin und her, sprach bei Vater Polykarp vor, beratschlagte mit ihm, wo und wie man die hohen Kirchenfürsten am besten unterbrächte …

Der Herbergsvater und seine Gehilfen wußten nicht mehr aus noch ein, sie wurden von Unterkunftsuchenden bestürmt, Mißail gab es schließlich auf, Ordnung walten zu lassen, nahm Zahlung nach der Preistafel von allen Hereindrängenden entgegen und stopfte so viel Menschen in ein Zimmer wie nur hineingingen.

»Vater, ich komme mit einem Kranken – wir können doch nicht unter freiem Himmel kampieren!«

»Sehen Sie selbst nach, ob Sie noch irgendwo unterkommen können – vielleicht läßt Sie jemand noch in sein Zimmer.«

In der Küche wurden Fische gekocht und gebacken; Samoware dampften ohne Unterlaß, wurden aus einem riesigen Kübel mit Wasser gefüllt; unaufhörlich läuteten im Gang die Glocken. Kwaspfropfen knallten, und in den Taschen der bedienenden Novizen klimperte das Geld – es mußte für alles gleich bezahlt werden, um es in dem Gewirr und dem Gedränge später nicht zu vergessen.

Diebe und Spitzel huschten umher.

»Herrgott! mein Geld ist fort! … Ich wollte zum Heiligen, habe es mir extra zusammengespart …«

»Da hätten Sie aufpassen sollen, statt mit den Augen zu klappern – hier kommt allerhand Volk zusammen.«

»Da nimmt der Dieb aber eine schwere Sünde auf sich – an einem heiligen Ort!«

»Geld verleitet jeden zur Sünde – da heißt's achtgeben!«

Noch vor der öffentlichen Heiligsprechung wurde mit Heiligenbildern des Starez gehandelt, mit Löffeln, Klosteransichten. Die Leute aus der Stadt kauften Ansichtskarten – eine Neueinführung im Kloster –, einen Ausblick auf den See, die Klostermühle, ein Mönch mit einer Angelrute auf dem Wehr, ein Baumstumpf, der aus dem Wasser emporragte und auf dem das wundertätige Heiligenbild stand, ein Boot mit einem fischenden Mönch, die alte Einsiedelei des Heiligen, davor ein Eremit, der Brunnen im Walde, die Gesamtansicht des Klosters – und Mönche überall und in jeglicher Gestalt.

Es regnete nur so Kupfer- und Goldmünzen; pralle Säckchen aus grober Leinewand wurden zu Vater Akindin gebracht, und im hinteren Zimmer des Ladens zählten zwei Novizen mit Fingern, die durch die Berührung mit dem Metall ganz schwarz geworden waren, auf einem großen Tisch den Segen. In kleinen Säulen wurden Fünfer, Zehner, Fünfzehnkopekenstücke, Zwanziger aufgehäuft, in Papier gewickelt und auf den Rollen vermerkt: Fünf Rubel – Zehn Rubel. Nach dem Stand an der heiligen Pforte mußten immerfort Ballen und Kisten voll Waren geschleppt werden.

Vor dem Weihbrotladen standen die Leute an, ein Novize schaffte die Brötchen heran, Vater Jepifras händigte sie aus und empfing das Geld; die Leute hamsterten, um am Tage der Heiligsprechung versorgt zu sein.

»Wieviel brauchst du?«

»Für den Gevatter, den Schwiegervater, die Tante, für Vater und Mutter … Fünf Stück, Vater!«

»Was für welche?«

»Die großen, Vater, mit dem heiligen Starez!«

»Zahle zwanzig Kopeken.«

Die Bäuerin suchte lange am Busen herum, band ein verborgenes Säckchen auf, holte Geld heraus, zählte zwanzig Kopeken ab, reichte sie schließlich dem Mönch.

Vater Jepifras schrie sie an, während er mit einer Hand seine Brille, die an einem Ohr mit Bindfaden befestigt war, festhielt:

»Aber so mach' doch endlich, meine Liebe! Sieh dich mal um – die Leute stehen zu Hauf und warten …«

Hinter ihr erklangen ungeduldige Stimmen:

»Was stehst du denn da herum, bist hier doch nicht auf dem Markt – Herr, vergib mir die Sünde!«

Ein ebensolches Gedränge herrschte vor der Kathedrale, wo fünf Mönche in Soutanen an der Mauer saßen und mit Gänsekielen diejenigen aufschrieben, für deren Gesundheit oder Seelenheil gebetet werden sollte.

»Also, wen soll ich anschreiben, sprich!«

»Schreibe, Vater: Jewstignej – Seelenheil; Akulina, Jermolai – Gesundheit; Mawra – Seelenheil …«

»Nenne die Namen der Reihe nach, zuerst – Seelenheil.«

»Also, Vater: Jewstignej – Seelenheil …«

»Und dazu die Knechte Gottes Akulina, Jermolai.«

»Nein, nein, Akulina und Jermolai, die leben ja noch, bei denen handelt es sich um die Gesundheit, Vater …«

»Na, gleichviel, ich habe sie schon angeschrieben, unser Herrgott weiß ja Bescheid, wer da lebt, wer gestorben ist … Weiter, wen soll ich anschreiben!«

Daselbst auf dem Tisch stand ein rundes Tablett, auf das Münzen geworfen wurden; ein dicker rothaariger Mönch schüttete das Geld in ein Säckchen, das er daneben stellte; schnell füllte sich das Tablett aufs neue mit Ein-, Drei-, Fünfkopekenstücken.

Das Geld flutete in klingenden Strömen ins Kloster, schmunzelnd stellten es die Mönche fest.

 

Erst jetzt begriff Vater Gerwaßij recht, daß er den Wald nicht unnütz verkauft hatte: eine einzige Woche hatte alle Unkosten gedeckt, und wie viele solcher Wochen standen noch bevor – es war gar nicht auszudenken. Beim alten Waldhäuschen der Einsiedelei, am Waldbrunnen, überall im Klosterhof hörte er dies herzerfrischende metallene Klingen. Er lächelte freudig erregt und fragte, als er einen Novizen mit einem Geldsäckchen traf:

»Woher?«

»Aus der Herberge, Vater Abt.«

»Viel?«

»Noch ungezählt, Vater Abt.«

»Na schön, geh.«

Doch dann hielt er ihn wieder auf.

»Weißt du nicht, wieviel Leute da sind?«

»Tausende, Vater Abt, viele Tausende. Wer könnte sie zählen!«

Der Abt dachte beim Weitergehen, wenn das Kloster von jedem der Gäste nur zehn Kopeken erhalte, würden Millionen in die Klosterkasse fließen …

In Vater Polykarps Zelle saß Boris gegen Abend, als das Volk im Klosterhof und jenseits der Mauerumzäunung noch lärmte und summte, und las, auf Vater Polykarp wartend, im Evangelium:

»Und Jesus ging zum Tempel Gottes hinein und trieb hinaus alle Verkäufer und Käufer im Tempel, und stieß um der Wechsler Tische, und die Stühle der Taubenkrämer … Und sprach zu ihnen: Mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht.«

In seine Gedanken vertieft, sah und hörte er nichts von dem Lärm und der Bewegung draußen, und wenn Vater Polykarp ihn zum Abt oder sonst irgendwohin sandte, senkte er tief den Kopf und schlüpfte durch die Menge, ohne die Menschen zu bemerken. Wie alle die Mönche glaubte er, daß große, heilige Tage für das Kloster angebrochen seien und daß all das eitle Getriebe nur die äußere Schale sei, während im Innern jeder in frommer Andacht glühe.

 

Im oberen Stockwerk der neuen Herberge waren wieder die hohen geistlichen Würdenträger abgestiegen. Mit den Bischöfen war auch die Geistlichkeit der Kathedrale aus der Gouvernementsstadt eingetroffen. Das bischöfliche Kirchengerät wurde in die alte Klosterkathedrale getragen, die Archidiakone legten die Bischofsornate zurecht – dem Bischof Ioßaf hatte das Kloster ein neues Ornat dargebracht, ganz aus Gold gewirkt, mit Glöcklein aus Goldfiligran statt der Knöpfe. Novizen putzten die zwei- und dreiarmigen Altarleuchter, und in der Sakristei wurde fieberhaft gearbeitet, um alles rechtzeitig instand zu setzen.

Wallfahrer drängten sich überall, suchten überall einzudringen, alles auszukundschaften, Verborgenes zu erspähen, Geheimnisvolles zu erlauschen, und aus allem schien ihnen ein Hauch von Heiligkeit entgegenzuwehen. Zahlreiche Mönche mit Sammelbüchsen huschten durch die Menge, und die von ehrfürchtigen Schauern überrieselten Wallfahrer holten ihre Lederbeutel hervor und steckten eifrig Kupfermünzen in die Büchsen.

Vor den Skimniki, die aus der Kathedrale nach der Einsiedelei schritten oder von dorther kamen, wich die wogende Menge stumm und scheu auseinander. In der alten Holzkirche mit der unterirdischen Steinkapelle in der Einsiedelei wurden gleichfalls ununterbrochen Andachten und Messen gehalten – von den heiser schnarrenden alten Hieromonachen, wobei sich die Spenden auf den Sammeltellern schnell häuften.

In der Einsiedelei verbreitete sich unter den Mönchen das Gerücht, daß die große Glocke am Festtage herabstürzen würde; Waßja murmelte vor sich hin:

»Die Glocke, die Glocke … sie wird auf die Häupter der Sünder stürzen … während der Überführung der Reliquien aus der alten in die neue Kathedrale, sie wird plötzlich herabstürzen, und viele der Betenden werden dem Tode nahe sein, doch ein Wunder wird geschehen, ein großes Wunder! …«

Das Gerücht drang in die Zellen, und wenn die Mönche am Glockenturm vorübergingen, warfen sie unwillkürlich die Köpfe zurück und starrten in die Höhe.

Die Nacht vor dem großen Tage durchwachte die ganze Bruderschaft in Erwartung des feierlichen Aktes.

Bevor Vater Polykarp sich zur Ruhe begab, sagte er zu Boris:

»Verlaß morgen die Zelle nicht.«

Boris blickte ihn verwirrt an und zog sich stumm in das Nebenzimmer zurück.

Die Mönche hatten gewaltige Angst vor Vater Polykarp, und wenn sie ihm begegneten, verneigten sie sich vor ihm noch tiefer als vor dem Abt selbst, wobei sie suchten, seinem strengen, durchdringenden Blick auszuweichen; jeder wußte, daß sein Wort allmächtig war und nichts vor seinem Blick verborgen blieb – der Abt hatte gar nichts mehr zu sagen.

 

Der Zusammenstrom des Volkes am Kloster, im Walde, bei dem alten jüdischen Krug war groß.

Die Mönche stahlen sich aus dem Kloster, um dem Späherauge des Vaters Polykarp zu entweichen, gingen in der Richtung nach dem Domänenwald, überschritten den Bahndamm; hier fanden sie Schnaps; am Waldrand kreischten und lachten des Abends Weiber. Auch der Krugwirt hatte es jetzt gut, die im Kloster herrschende strenge Ordnung vergrößerte seine Einkünfte – die Mönche übernachteten im Walde und kehrten erst in der Morgenfrühe in ihre Zellen zurück. Es war befohlen worden, über die Erscheinung des wunderbaren Heiligenbildes aus Gottes Hand Schweigen zu bewahren, doch am Wegrand, dort, wo der Wald aufhörte und die Felder begannen, war ein Kreuz emporgewachsen, mit einem Bildnis des heiligen Starez geschmückt. Der junge Krugwirt berichtete den Einkehrenden von dem großen Wunder, und die Mönche im Kloster bestätigten in geheimnisvollem Flüsterton das Gerücht. Die Wallfahrer strömten nach dem heiligen Ort, um hier zu beten, kehrten in den Krug ein, aßen und tranken. Bald mußte die Wirtschaft vergrößert werden, zwei weitere Blockhäuser schossen hervor und eine große Scheune, wo die weniger anspruchsvollen Wallfahrer übernachten konnten. Der junge Krugwirt hatte mit vielen Mönchen Freundschaft geschlossen und von Vater Akindin kleine Heiligenbilder, Kreuzchen, Rosenkränze erworben, und als der Tag der Heiligsprechung heranrückte, blühte auch hier der Handel.

Rings um den Krug drängte sich das Volk – im Kloster war längst alles überfüllt, da konnte man nirgends mehr unterkommen. In den Blockhäuschen hatten sich Städter niedergelassen, von hier konnten sie das Kloster leicht erreichen und am Morgen des großen Tages, ausgeruht und erfrischt, zu den Feierlichkeiten eilen.

 

Am Abend vor dem Feste fuhr ein herrschaftlicher Wagen am Kruge vor; die Pferde sollten getränkt werden. Als der Kutscher von dem ungeheuren Andrang im Kloster erfuhr, wandte er sich an seine Herrschaft:

»Vielleicht übernachten wir hier, gnädige Frau – wo soll ich im Kloster mit den Pferden hin? …«

Wera Alexejewna Kostizina und Barmanskij stiegen aus dem Wagen.

Barmanskij, schmal und dürr, warf einen angeekelten Blick auf den dürftigen Krug. Matwej – diesen Namen, der an seinen früheren erinnerte, hatte Moischa bei der Taufe erhalten, wurde aber gewöhnlich kurzweg Motja genannt – stürzte zu den feinen Herrschaften heraus.

»Können Sie uns für die Nacht unterbringen?«

»Ich möchte den Herrschaften gern gefällig sein, es ist aber bereits alles überfüllt! Doch wenn die Herrschaften mit unserem Schlafzimmer im alten Haus vorliebnehmen wollten? … Ich könnte mit meiner Frau im Freien übernachten …«

Als er bemerkte, daß der Herr verächtlich die Lippen verzog, fügte er schnell hinzu:

»Im Kloster ist solch eine Menschenmenge, solch eine Menschenmenge – in die Herberge kommt man überhaupt nicht mehr hinein. Und bei uns ist es sauber, ganz sauber.«

Barmanskij zuckte die Achseln und wandte sich an Frau Kostizina:

»Was meinen Sie, Wera Alexejewna? Sollen wir es wagen?«

»Irgendwo müssen wir doch bleiben, Valentin Viktorowitsch – im Wald, unter freiem Himmel, möchte ich nun doch nicht übernachten. Und auch die Pferde müssen untergebracht werden …«

»Na, ich muß mich ja Ihren Wünschen fügen, die Prinzessin hat es mir strengstens auf die Seele gebunden … Aber denken Sie nur, wie romantisch – mitten im Walde, in einem alten jüdischen Krug zu übernachten! Und … zu zweien! …«

Frau Kostizina sah ihn mißbilligend an, doch Barmanskij fuhr in demselben Tone fort, als hätte er nichts bemerkt:

»Ein alter Jüd mit Schläfenlocken, in langschößigem Rock, und eine liebliche Rebekka, Rifka genannt, stehen uns noch bevor – in jedem jüdischen Krug gehört das zu den Requisiten des poetischen Gesamtbildes, und ein paar schmutzige Judenbengel als Zugabe.«

Eine Bäuerin, die die Worte gehört hatte, bemerkte:

»Der Krugwirt ist ja ein rechtgläubiger Christ, Herr, hat sich taufen lassen; und vielleicht ist er ein besserer Christ als wir alle – der Starez hat ein Wunder an ihm vollbracht, der heilige Simeon ist ihm erschienen, und nicht fern von hier ist das wunderbare Heiligenbild entdeckt worden … Sie versündigen sich, Väterchen …«

Barmanskij sah die Bäuerin mit offenem Munde an, zuckte die Achseln und schritt Frau Kostizina nach.

»Der hiesige Wachtmeister ist ein Schafskopf, hat sich in die Sache verwickeln lassen, ja ist Taufvater dieses Juden geworden, der natürlich selbst das Bild ins Korn gestellt hat. Für die Mönche aber war es gefundenes Fressen – ein Wunder ist geschehen, ein großes Wunder hat der Starez vollbracht, hieß es …«

»Jetzt aber genug, Valentin Viktorowitsch, mir ist dieser Ton verhaßt. Es tut mir leid, daß ich so unüberlegt mit Verspätung in die Stadt gekommen bin, sonst wäre ich zusammen mit der Prinzessin ins Kloster gefahren und brauchte Ihre Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen …«

»Verzeihung … Aber sagen Sie, Wera Alexejewna, warum haben Sie die kleine Sina nicht mitgenommen?«

»Sie wollte nicht mit, die Kleine hat ihre Eigenheiten … Aber Sie bitte ich, nehmen Sie sich zusammen.«

Der Krugwirt brachte einen siedenden Samowar ins Zimmer, dazu zwei Tassen und eine Teekanne mit blauen Rändern.

In der Annahme, sie würde in der Klosterherberge ebenso gut verpflegt werden wie das vorige Mal, als sie zusammen mit der Tochter des Gouverneurs im Kloster weilte, hatte Frau Kostizina keinen Mundvorrat mitgenommen. Sie wandte sich an den Krugwirt:

»Haben Sie nichts da zum Tee, vielleicht Brot?«

»Schwarzbrot ist da, auch weiße Brötchen und Teewurst …«

Barmanskij wollte eine Frage stellen, doch Frau Kostizina ließ ihn nicht zu Worte kommen und fuhr fort, an Matwej gewandt:

»Dann bringen Sie Brot und Wurst, auch Zucker, bitte.«

Durch das offene Fenster drang der Geruch von brennenden Tannenzweigen, im Walde gegenüber hatten Wallfahrer ein Feuer angemacht und aßen zu Abend. Mücken kamen, vom Lichtschein angezogen, summend ins Zimmer geschwirrt, man hörte Pferdegewieher und verschwommenes, vielfältiges Stimmengewirr.

Barmanskij hatte seine langen dünnen Beine unter dem Tisch ausgestreckt und aß, den Kopf mit der sorgfältig verborgenen beginnenden Glatze zur Seite geneigt, widerwillig Brot und Wurst und trank Tee dazu; er war über seinen Hunger empört. Nach der zweiten Tasse taute er auf.

»Na, ich sage! Ist es nicht ungeheuer romantisch, Wera Alexejewna? Und dabei ärgern Sie sich noch über mich, als ob ich daran schuld wäre, daß das Schicksal uns in diesen Krug verschlagen hat! Sie wollen mir nicht glauben, daß noch immer ein Sehnen nach Liebe und all dem dazugehörigen reizenden Drum und Dran in mir lebt, und stoßen mich grausam zurück! …«

Der Krugwirt trat ein, um das Geschirr abzuräumen. Barmanskij fragte ihn:

»Na, Sie machen wohl bald ebenso gute Geschäfte wie das Kloster?«

»Was heißt Geschäfte! Man kommt gerade so durch …«

»Hilft Ihnen denn der heilige Starez nicht, er soll doch Wunder wirken?«

»Alle Heiligen wirken Wunder, es gibt gar keine, die es nicht täten …«

»An Ihnen hat ja der Starez auch ein Wunder vollbracht …«

Der Krugwirt merkte sehr wohl, daß der Gast sich über ihn lustig machte, und antwortete kurz und unwillig:

»Warum sollte er nicht Wunder wirken? Das ist doch sein Beruf …«

»Haben Sie gesehen, daß er auch an anderen Wunder vollbringt, Kranke heilt, Notleidenden hilft? …«

Der Jude ärgerte sich, wurde rot, nahm eilig das Geschirr zusammen und sagte langsam, als wollte er dadurch Barmanskij seine Verachtung ausdrücken:

»Der Starez Simeon hilft vielen – ich selbst habe es zwar nicht gesehen, aber er soll vielen geholfen haben, oder wenigstens einigen; einigen hat er ganz wunderbar geholfen …«

Damit verließ er das Zimmer, und Barmanskij sandte ihm ein lautes Lachen nach.

»Haben Sie gehört, Wera Alexejewna? Ich finde das köstlich! Offenbar gehört er selbst zu den einigen, denen der Starez wunderbar geholfen hat!«

Lachend zog er sein Zigarettenetui heraus und wollte sich eine Zigarette anzünden. Frau Kostizina, die bei Barmanskijs Gespräch mit dem Juden dessen Erregung bemerkt und sich auf die Lippen gebissen hatte, zuckte zusammen, als Valentin Viktorowitsch ein Zündholz anstrich, und sagte:

»Valentin Viktorowitsch, wenn Sie rauchen wollen, bitte ich Sie hinauszugehen.«

Barmanskij antwortete anzüglich:

»Türkischer Tabak ist wohl nicht nach Ihrem Geschmack? Ich glaube, Sie ziehen englischen vor? …«

Er machte eine Verbeugung und verließ das Zimmer.

Frau Kostizina war über Barmanskijs Anspielung auf den Ingenieur Drakin empört. Sie kleidete sich um, warf einen Schlafrock über und legte sich auf das Bett.

Barmanskij war auf den Hof hinausgegangen, hielt den vorbeieilenden Krugwirt an und fragte ihn unverblümt:

»Sagen Sie, warum haben Sie eigentlich Ihren Glauben gewechselt? Glauben Sie denn an Christus?«

»Warum sollte ich nicht glauben an ihn? Er hat mir ja nichts Böses getan … An Gott glaube ich doch auch …«

»An euren Gott?«

»Auch an euren; ihr habt ihn ja nur von uns genommen und behauptet nun, er sei euer Gott, ebenso wie die Propheten, Moses und die anderen, die sind doch unsere Heiligen, Propheten unseres Gottes. Wenn ihr an unseren Gott glaubt, warum sollten wir nicht an euren glauben, da es ja ist ein und derselbe Gott? …«

Neueintreffende Gäste nahmen Matwej in Anspruch. Barmanskij rauchte seine Zigarette zu Ende, zertrat den Stummel und ging ins Haus. Dieser Krugwirt ist nicht weniger gewitzt als ein polnischer Jesuit, dachte er bei sich.

Auf Zehenspitzen trat er ins Zimmer, seine Lackschuhe knarrten. Frau Kostizina erhob sich.

»Ich schlafe nicht, Sie brauchen sich nicht anzustrengen.«

Die Kerze wurde ausgelöscht, Wera Alexejewna legte sich wieder hin, Barmanskij zog Rock und Schuhe aus und streckte sich auf das Bett. Er seufzte ein paarmal, sagte:

»Wera Alexejewna, stört Sie meine Anwesenheit nicht?«

Frau Kostizina war in ihre Gedanken an Drakin, an Sina, an ihr unerquickliches Leben zu Seiten des ungeliebten Gatten vertieft – immer lügen, täuschen, sich verstellen müssen! … Das zermürbte, rieb auf – sie antwortete unbefangen:

»Nein, Valentin Viktorowitsch, durchaus nicht; ich bin müde und möchte schlafen.«

»Aber stellen Sie sich das doch bloß vor: wir sind hier beide allein, zu zweien in einem Zimmer – das ist doch etwas ganz Außergewöhnliches!? Regt es Sie gar nicht auf? … Ein Verliebter, ein abgewiesener Verehrer ist allein mit der Frau, die er anbetet …«

»Lassen Sie das, Valentin Viktorowitsch. Wir sind auf dem Wege zu einem feierlichen Kirchenfest, das nimmt mich ganz in Anspruch. Es ist mir vollkommen gleichgültig, ob sich noch jemand in diesem Zimmer befindet.«

Sie suchte möglichst ruhig zu sprechen, doch Barmanskijs Worte hatten sie erschreckt; sie fürchtete, ein Mann seiner Art könnte zu allem fähig sein, er könnte sie im Schlaf küssen, sie … Sie zuckte angewidert zusammen, und da ihre Befürchtung sich nicht bannen ließ, beschloß sie, trotz ihrer Müdigkeit nach der langen Fahrt die ganze Nacht wach zu bleiben. Im Schlaf überrumpelt, würde sie sich des starken Mannes nicht erwehren können, und schreien war unmöglich. Barmanskij warf sich lange unruhig hin und her, seufzte; schließlich begann er zu schnarchen. Sein bald pfeifendes, bald widerlich rollendes Schnarchen ging ihr auf die Nerven, sie stand auf, öffnete das Fenster, hielt es aber auch so nicht lange im Zimmer aus und ging hinaus auf den Hof.

 

In der Flechtscheune gegenüber der Haustür wurde gesprochen und durch die Torspalten drang schwacher Lichtschein. Hinter der Scheune rauschten leise die Kiefern in der Dunkelheit, es roch nach Harz und würziger Waldeskühle. Ein Uhu schrie dumpf – oder schien es nur so? –, dann wurde wieder alles still, doch nach einer Weile wiederholte sich derselbe dumpfe Schrei, ging über in ein unablässiges Wimmern, Stöhnen … Sie horchte gespannt in die Dunkelheit – es war ihr, als weine jemand dumpf in der Flechtscheune. Sie erschauerte, zog die Schultern ein, schritt auf das Holztor der Scheune zu.

Auf der Erde, neben einem dicken Stearinstummel saß ein zerlumpter, schwarzhaariger Bettler; seine blutunterlaufenen Augen unter der wirren schwarzen Mähne waren stier auf einen Knaben gerichtet, der an einen alten, zerhackten Baumstumpf gebunden war. Ein zweiter, mißgestalteter Mann mit einem leblos herabhängenden Arm, ausgemergelt und ebenso zerlumpt, brachte über der Kerze einen Eisenstab zum Glühen und brannte dem gefesselten Knaben Wunden in den entblößten Ellenbogen. Das Kind wimmerte nur dumpf – ein Lappen war als Knebel in seinen Mund gezwängt –, und aus seinen Augen rollten Tränen. Das eine Auge hatte der schwarze Bettler eben – als der Uhu zum ersten Male geschrien hatte – in der Augenhöhle gelöst, so daß die Pupille unter den Schädel gerollt war; die Tränen tropften unter den aufgerissenen, sich nicht mehr schließenden, blutunterlaufenen Lidern hervor; das Weiße, von dünnen roten Äderchen durchzogen, quoll halb aus dem Schädel heraus. Wenn das glühende Eisen in den kleinen Körper drang, zuckte der Knabe, krampfgeschüttelt, und wimmerte, dann versetzte ihm der schwarze Bettler mit der Kante der Hand kurze, harte Schläge in den Nacken.

»Still, du Hund! Meinst wohl, man hat sich deiner angenommen, um dich umsonst zu füttern! Und du da – brenne mit dem Eisen ein Loch zwischen die Sehnen – hast wohl Angst?! Dann fließen die Almosen reichlicher … Halt's Maul, du Hund!«

Frau Kostizina war an das Tor getreten und lugte durch eine Spalte; zuerst konnte sie gar nicht fassen, was vor sich ging, als aber das Kind schmerzlich aufwimmerte, sah sie plötzlich mit großer Deutlichkeit seine zusammengekauerte kleine Gestalt, das hervorquellende Weiße des Auges, aus dem nicht Tränen, sondern Blutstropfen zu sickern schienen, und an dem kindlich schmalen Ellenbogen die roten Brandwunden – dann auch den schwarzen Bettler und den mageren Buckligen mit dem glühenden Eisen.

Die Bettler zuckten zusammen – ein markdurchdringender Schrei gellte durch die Nacht.

»A-ah!«

Das Tor knarrte, schwer schlug ein Körper zu Boden.

Der schwarze Bettler lief an das Tor, lugte durch die Spalte.

»Mitja, binde ihn los, und fort! Man fängt uns noch ab!«

 

Frau Kostizina wußte nicht, wie lange sie ohnmächtig vor dem Scheunentor gelegen hatte; ihr war dumpf und wirr im Kopf, und als sie die Augen aufschlug, konnte sie sich nicht daran erinnern, was vorgefallen war – blaßgolden schimmerten die Stämme der Kiefern unter dem fahl gewordenen Himmel. Ihr Blick fiel durch das halb geöffnete Tor in die Scheune; sie schlug die Hände vor das Gesicht, ihr war, als hörte sie wieder das Wimmern drinnen, die Erinnerung brach auf sie ein, kalter Schweiß bedeckte sie, vor Entsetzen taumelnd, stürzte sie ins Haus. Die Bettler waren im Walde verschwunden.

Barmanskij lag auf dem Bett, die Hände unter dem Nacken verschränkt, die langen Beine gespreizt, und schnarchte; beim Schnarchen zuckte sein Körper, und sein Kopf, über dem ein Schwarm Sumpfmücken summte, torkelte hin und her.

Sie setzte sich ans Fenster und saß reglos, mit geschlossenen Augen, bis die Wallfahrer im Walde gegenüber zu erwachen begannen und ihr Kutscher auf dem Hof erschien. Als er Frau Kostizina am Fenster bemerkte, trat er heran.

»Ich gehe die Pferde tränken, und dann könnten wir aufbrechen – das Volk macht sich schon auf den Weg.«

Sie antwortete nicht. Der Kutscher wiederholte seine Worte – sie starrte ihn verständnislos an und blieb stumm. Er dachte, sie sei noch nicht recht bei sich, wandte sich ab und schritt, ein Lächeln im Bart verbergend, in den Stall zu den Pferden.

Schließlich weckten die Mücken auch Barmanskij. Er riß die Augen auf, konnte zuerst gar nicht sehen, strich mit der Hand über sein von Mücken ganz zerstochenes Gesicht und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Erstaunt sah er Frau Kostizina an.

»Durchs Fenster sind die Dinger hereingekommen!«

Frau Kostizina wandte sich um, blickte ihn an, aber antwortete nicht.

»Mein ganzes Gesicht ist geschwollen, welch ein Graus!«

Wera Alexejewna regte sich nicht.

»Sie Grausame, wo soll ich denn jetzt hin?!«

»Kehren wir zurück – bringen Sie mich nach Hause!«

Barmanskij stand vor dem windschiefen Spiegel und war ganz in den Anblick seines entstellten Gesichts vertieft. Er stammelte:

»Die Prinzessin hat mir ans Herz gelegt, Sie hinzubringen, und auch ihr Vater, der Herr Gouverneur … Gott, und der Großfürst wird da sein mit seinem Gefolge, vielleicht treff ich Freunde – und ich mit dieser … entsetzlich! Sehen Sie her, ganz zerbissen bin ich, entstellt – das Gesicht, auch die Hände … Geschwüre sind's geradezu! … Ach, Sie Grausame!«

Er lief auf den Hof hinaus, an den Brunnen. Frau Kostizina gab sich einen Ruck, nahm alle ihre Kräfte zusammen, legte den Haken vor die Tür, wusch sich, zog ein weißes Kleid an. Ihr Kopf schmerzte, im Nacken spürte sie einen Druck, einen zwiefachen Schmerz – sie mußte bei ihrem Sturz mit dem Kopf gegen etwas Hartes aufgeschlagen sein, und dazu kam die Erinnerung an das schauerliche Erlebnis der Nacht. Sie sah den wimmernden Knaben beständig vor sich … Die Erzählung der Frau des Bewahrers der Kirchengeräte fiel ihr ein, was ihr Entsetzen noch steigerte. Nur mühsam gelang es ihr, die Haken des Kleides zu schließen – ihre Hände waren so schwach, daß sie den Dienst versagten. Als sie ihr Haar ordnete, schaute sie in den Spiegel – ein zerquältes, durch das schiefe Glas verzerrtes, blutloses Gesicht mit eingesunkenen Augen starrte ihr entgegen.

Barmanskij klopfte, sie öffnete.

»Wissen Sie, ich habe mein Gesicht die ganze Zeit am Brunnen mit kaltem Wasser gebadet, eine Viertelstunde lang – ich glaube, es ist jetzt besser geworden.«

Sie antwortete nicht – die Worte drangen nicht in ihr Bewußtsein, sie hörte immer noch die Stimme des schwarzen Bettlers sagen: »Dann fließen die Almosen reichlicher …«

In der Ferne, durch den Wald her, klang erzen und silbern vielstimmiges Glockengeläut, golden erglühte in der Sonne die Rinde der Kiefern. Der Kutscher trat ein.

»Gnädige Frau, die Glocken rufen bereits – der Wagen steht schon lange bereit.«

Im Fahren überholten sie Züge von Pilgern und Bettlern. Wera Alexejewna sah sich immerfort nach allen Seiten um, als suche sie unter den Menschen, die rollendes Glockengeläut ins Kloster rief, nach dem Knaben, dessen Wimmern ihr noch in den Ohren klang.

 

Die ganze Nacht durch brannten rings um das Kloster Lagerfeuer, bald halb erlöschend, bald hell aufflammend, und blaugrauer Rauch wallte in Schwaden die Chaussee entlang und verzog sich langsam; das dumpfe Stimmengewirr hatte nicht aufgehört; in den Fenstern der Herbergen flammte immer wieder Kerzenschimmer auf, und die Fenster blinzelten einander verschlafen zu.

Von der heiligen Pforte an bis zu den Herbergen standen Bettler und Karren mit mißgebildeten Krüppeln. Als der leichte Nebel sich zu zerstreuen begann und aus dem blassen Lichtstreifen im Osten die ersten Sonnenstrahlen warm hervorfluteten, erloschen die Feuer, das Menschenmeer geriet in Bewegung, die Leute, in Kitteln, bunten Röcken, Sarafanen, in Kattunkleidern und roten Kopftüchern, in farbigen Hemden, zogen zum Kloster; Bettler, Blinde, Krüppel hoben mit ihren Litaneien an, bemüht, ihre körperlichen Mängel möglichst sichtbar hervorzukehren: die Stummen gaben mit weitaufgerissenem, zahnlosem Munde muhende Töne von sich, Krüppel entblößten die verunstalteten, mit bläulich-braunen Strähnen und Brandwunden bedeckten Arme und Beine, Bettler schnarrten heiser Gebete, auf den Karren reckten Schwachsinnige die Hälse und stießen wüste, sinnlose Schreie aus. Am frühen Morgen waren neue Scharen solcher Unglücklichen hinzugekommen, mit verdrehten Augen, auf Krücken; auf einem Schubkarren wurde ein Rumpfmensch herbeigerollt, den man, unter unflätigem Schimpfen um den Platz kämpfend, in der Nähe der heiligen Pforte auf den Boden stellte, wo die Blinden mit Gusli in den Händen hockten. Mit heiserer Stimme sangen sie zum Klang dieser alten Saiteninstrumente Lieder von der sündigen Seele der Bauern: – diese Seele habe ihrem Kinde geflucht, bevor es auf die Welt kam, es schon im Mutterschoß verdorben, an der Brust darben lassen, auch außerdem noch gesündigt; Mann und Frau aufeinandergehetzt, die Ehe zerrissen, das Land der Gemeinde zu Unrecht aufgeteilt, die Grenzen heimlich verlegt, die Mahd ungerecht verteilt, fremdes Korn heimlich geschnitten – und wegen all dieser Versündigungen vor Gott nicht Buße getan …

Die wogende Menge strömte auf das Kloster zu, mitleidige Weiber verteilten Gaben an die Blinden, die eintönig, wie psalmierend, sangen:

»Einem Heimatlosen spendet eine Kopeke! …«

»Einem armen blinden Krüppel eine Kopeke! …«

»Einem Blinden spendet um Christi willen ein Almosen, der Herr wird es euch vergelten …«

Kupfermünzen sanken in die Holzschalen, die knochige Hände emporhielten, und wenn eine Münze zwischen zwei Bettler fiel, stürzten sich beide über sie her, einander im Flüsterton mit Schimpfworten bedenkend und verstohlen Püffe erteilend, bis einer die Münze erfaßte. Dann schritten die Städter aus den Herbergen vorbei, Mönche und Blöde tauchten auf, die Menge wurde dichter und unruhiger, strömte durch die heilige Pforte, die Pforte bei den Pferdeställen und durch die hintere zum Fluß hin gelegene Pforte ins Kloster; berittene Gendarmen und Kosaken sorgten für Ordnung.

Unbeirrt durch die Krüppel und Bettler, schritt aus der neuen Herberge die hohe Geistlichkeit in feierlich langsamem Aufzuge zur heiligen Pforte, und als der Sonderzug des Zaren auf dem Bahnhof eintraf und vor dem Großfürsten eine Abteilung Husaren durch den Wald heransprengte, erklang vieltöniges Glockengeläut; die Honoratioren der Gouvernementsstadt und die Geistlichkeit empfingen den Vertreter des Herrschers feierlich vor der heiligen Pforte, worauf sich der glänzende Zug in der Richtung nach der alten Kathedrale in Bewegung setzte.

 

Auf dem ganzen Wege durch den Wald fuhr Frau Kostizina fort, die Wallfahrer und Bettler zu mustern; mit verstörten Blicken streifte sie die verschwommenen Gesichter der Blinden und Krüppel, und ihr war, als trüge sie Schuld an all dem Elend. Als die dem Wagen vor dem Kloster entstieg und durch die stöhnenden Reihen mit den emporgestreckten Armen schritt, sah sie nichts als die zittrigen Hände, die verkrampften Finger, die verrenkten Gliedmaßen – mit Brandwunden, blutigen Striemen bedeckt – tränende Lider und die verdrehten, vielleicht auch durchstochenen Augen von Greisen und Kindern; sie schritt vorüber, nach links und rechts Silbermünzen verteilend, die oft nicht in die dargebotenen Schalen, sondern auf die Erde fielen, sah, wie die mißgestalteten Körper sich auf die glitzernden Scheiben stürzten, miteinander balgten, um den Besitz des Silbers rangen. Die Angst, sie könnte den unglücklichen Knaben und den schwarzen zottigen Bettler treffen, schnürte ihr die Kehle zu.

Plötzlich wandte sie sich an Barmanskij und sagte – es klang, als wären die Worte nicht an ihn gerichtet –:

»Gott, und das ist die rechtgläubige Kirche! … Wie grauenhaft …«

Als sie kurz vor der heiligen Pforte, wo die Blinden saßen und eintönige Lieder sangen, den Blick wieder senkte, erblickte sie den Knaben; er war ganz schwach, sein kleiner Körper zuckte, mit weinerlicher Stimme wiederholte er endlos den eingeprägten Satz:

»Gebt einer Waise, einem blinden Krüppel, ein Almosen!«

Hinter ihm saß der schwarze Bettler und wiederholte die Worte in brummendem Baß.

Einen Augenblick dachte sie, sie würde es nicht überstehen und bewußtlos zu Boden sinken; mit geschlossenen Augen griff sie in ihr silbernes Täschchen und zog eine Handvoll Silbermünzen heraus, dabei streifte sich ihr Trauring vom Finger ab und fiel, ohne daß sie es bemerkte, zusammen mit den Münzen zu Boden.

Auf der anderen Seite jammerte eine alte blinde Bettlerin:

»Die Himmelskönigin segne dich, heiliger Starez!«

Hinter der heiligen Pforte im Klosterhof erblickte Frau Kostizina einen Verkaufsstand mit kleinen Heiligenbildern, Kreuzchen, Fläschchen, Tassen und dahinter feilbietende Mönche, die gierig nach dem Gelde der Käufer griffen. Sie wandte sich ab, ihr Auge suchte nach einem Ruhepunkt und wäre es auch nur auf einen Augenblick! In der Menge vor der Kathedrale bemerkte sie zwei Reihen Männer mit glänzenden Knöpfen, die einen engen Durchgang freihielten. Vor der offenen Kirchtür stand mit ausgebreiteten Armen der Polizeimeister, den Eintritt verwehrend. Als er Frau Kostizina und Barmanskij bemerkte, lächelte er zuvorkommend, ließ die Arme sinken und winkte mit den Augen einen Polizeioffizier heran, der sich den beiden anschloß, als sie in die Kirche traten. Da fiel ihr Blick auf einen hochgewachsenen schwarzen Mönch, der vor ihr stand und sie unter der herabhängenden Stirn hervor mit schwarzen harten Augen anschaute … Etwas Fernes, Vergessenes tauchte in ihrer Erinnerung auf, ihr Herz pochte laut und hohl, und ein Sehnen voll Schwermut und Bitterkeit überkam sie. Die Menge entschwand, sie fühlte sich wie emporgehoben, gedachte eines Abends, da sie über die unbeholfene Liebe dieses in sich gekehrten Mannes gelacht hatte, und dann sah sie denselben Mann vor sich in hoher Mönchsmütze, mit gesenkten, schwarzumränderten Augen, die streng und wie erstarrt blickten, wenn seine Lider sich flüchtig hoben. All das flog in einem Augenblick an ihr vorüber – er war es, er, einst Andrej Lasarew, dann Vater Polykarp! Hohl schlug ihr Herz, sank, sank in eine dunkle schauerliche Tiefe … Der zum Krüppel gemachte Knabe, der schwarze Mönch, die schlaflose Nacht, das Jammern der Blinden – es war zu viel, ihre Seele stöhnte auf, ein Schwächegefühl überkam sie. Sie wollte dem Polizeioffizier folgen, der vor ihr den Weg frei machte, doch in diesem Augenblick kam Bewegung in die Menge, ein Flüstern strich durch die Reihen: »Der Heilige! Sie bringen ihn!« Sie wurde von Barmanskij und dem Polizeioffizier getrennt, jemand stieß sie in die Seite, sie war von drängenden Menschen umringt, ihr Atem versagte. Sie konnte keine Bewegung machen, keinen Ton hervorbringen, fühlte sich emporgehoben, es war Andrej, der sie aus diesem Pfuhl rettete – sie gab sich mit geschlossenen Augen diesem Gefühl hin, wußte nicht, wohin sie getragen wurde …

 

Die Bruderschaft hatte in Erwartung der feierlichen Stunde, da die Reliquien des Klostergründers in die neue Kathedrale gebracht werden sollten, die ganze Nacht nicht geschlafen. Nach Sonnenaufgang hatten die Mönche sich unter das Volk gemischt; flüsternd verbreitete sich das Gerücht, daß die große Glocke herabstürzen werde, sobald man den Starez aus der alten Kathedrale trüge. Die Unruhe wuchs, je näher dieser Augenblick kam. Waßja irrte unter den Mönchen und Wallfahrern umher und murmelte das gleiche vor sich hin, was die Mönche raunten und die Wallfahrer zu raunen begannen, wobei sie verstörte Blicke nach dem Glockenturm warfen. Dann waren die Mönche in die neue Kathedrale gegangen, die Menge war ihnen nachgestürzt, der Eingang gesperrt worden, um für den Großfürsten und die Ehrengäste von nah und fern Raum frei zu halten. In dem großen Augenblick, da man den Sarg des Starez emporheben und zum ersten Male der Lobgesang zu Ehren des neuerstandenen Heiligen erklingen würde, würde auch das Fürchterliche geschehen – die große Glocke würde herabstürzen. Jetzt wußte man sogar schon, warum der Herr das Kloster mit seinem Zorn schlagen würde – wegen des unwürdigen Lebens eines Mönches, des Klostervorstehers, des Abtes und Archimandriten Gerwaßij, der heute zum ersten Male die goldene, mit Edelsteinen geschmückte Mitra aufs Haupt gesetzt hatte, durch ein huldvolles Schreiben des heiligen Synods in die Würde eines Archimandriten erhoben. Die Liebesabenteuer des Abts waren wenig bekannt, davon wußten nur die Mönche, daß aber ein Unglück bevorstehe, der Zorn des Herrn sich über dem Kloster entladen würde, wurde im Volke allgemein erwartet. Zugleich aber hatte jeder das Empfinden, daß der Starez ein großes Wunder vollbringen würde, die Glocke würde trotzdem läuten, doch der Herr würde einen großen Sünder strafen – den Abt, wußten die Mönche.

Und als die Reliquien herausgetragen wurden und der schwere Eichensarg langsam die Treppe hinabschwankte, umgeben von Cherubsbildern an hohen Stangen, den brennenden Kerzen der zwei- und dreiarmigen Altarleuchter – die von Archidiakonen getragen wurden –, von goldenen Mitren, Ornaten und glänzenden Uniformen, als der Kopf des Zuges die alte Kathedrale bereits verlassen hatte, der Silberklang der großen Glocke durch die Lüfte schwebte und die vielen kleineren Glocken harmonisch einfielen, jubelnd und jauchzend – riß die allgemeine Spannung einen Mönch mit sich fort, und er rief auf den Treppenstufen der alten Kathedrale laut in die Menge: »Sie läutet! Sie läutet!« Gleich darauf wogte ein Flüstern durch die Massen, das anschwoll und immer lauter wurde und in den begeisterten Ruf ausbrach: »Ein Wunder, ein großes Wunder!« Das Volk auf dem Hof und in der neuen Kathedrale kam in jähe Bewegung, alles stürzte nach vorn, nach der alten Kathedrale zu, um das große Wunder des Starez Simeon zu erschauen und zu erfahren, wen der Zorn des Herrn getroffen habe; die Menge drang auf die vorderen Reihen ein, in ihrem Strömen alles mit sich fortreißend.

In diesem Augenblick spürte Frau Kostizina, daß sie ganz in der Gewalt der Menge war, von der sie gehoben und geschoben wurde, ihre Füße stießen hier und da gegen etwas an, stolperten, und als die Menge, in der sie eingekeilt war, die Kirchentreppe hinabdrängte, sah und hörte sie nichts mehr, fühlte nur ihr Herz immer dumpfer schlagen und sinken, immer tiefer sinken, und plötzlich war ihr, als sei wirklich ein Wunder geschehen – sie hatte Andrej wiedergefunden und versank in einer bodenlosen Tiefe … Da schrie sie auf, die Nächststehenden prallten jäh zurück, der Druck der Menge, der sie aufrecht gehalten hatte, wich plötzlich, sie stürzte zu Boden, die hinteren Reihen drängten ungestüm nach vorn, um den schreienden Sünder zu sehen, den der Herr geschlagen hatte, und die Menschen schritten über den zuckenden Körper der Frau in Weiß dahin, die bereits mit Blut befleckt war und dumpf röchelte.

Gleich darauf aber spaltete sich die Menge, um die halb zertretene Frau auf der Treppe bildeten Mönche einen Kreis, sie schlug flüchtig die Augen auf und blickte in zwei große schwarze Augen, die todestraurig, doch still und gesammelt sich über sie neigten. Da wurde ihr ganz leicht und licht, sie wußte, er war bei ihr, und flüchtig kam ihr sogar der Gedanke, daß er sie retten, vom Tode retten würde, und dann würde ihr ein großes Glück erstehen und ein neues Leben beginnen … Sie verlor wieder das Bewußtsein, spürte nur noch, daß sie aufgehoben und getragen wurde. Sie wollte die Augen öffnen, um zu sehen, ob er es war, der sie trug, aber es ging nicht mehr, die Kräfte schwanden, doch die Gewißheit blieb, daß er es sei, der sie auf seinen Armen in sein Haus brachte.

Der schwarze Mönch hatte die Brauen gefurcht, so daß seine Stirn noch tiefer über die Augen herabhing, die langen schwarzen Haare unter der hohen Mütze fielen ihm von beiden Seiten ins Gesicht, so tief hatte er den Kopf gesenkt, und seine hohe Gestalt war gebückt und finster.

Hinter dem Speisesaal vorbei und an der hinteren Seite der Zellen vorüber wurde die Leblose in Vater Polykarps Zelle getragen.

 

Am Abend, als die Feierlichkeiten beendet waren, aber das Volk noch immer im Klosterhof lärmte und die Bettler noch jammerten und seufzten, kam sie noch einmal auf kurze Zeit zu sich. Wieder blickte sie in die großen schwarzen Augen über sich, öffnete die Lippen und glaubte zu schreien, doch mußte Vater Polykarp sich tief zu ihr hinabbeugen, um ihr leises Flüstern zu vernehmen.

»Rette mich – du kannst es, Andrej!«

Noch leiser und langsamer hauchte sie:

»Ich habe dich gesucht – auf dich gehofft – mein ganzes Leben; rette mich.«

Dann kam es tonlos, nur die Lippen bewegten sich noch:

»Dich allein habe ich geliebt … mein Leben lang.«

Der Mönch erstarrte, den Blick in ihr Gesicht gebohrt. Er hoffte, sie würde noch etwas sagen, aber er hoffte vergebens. Er richtete sich auf, sah Boris an, der an der Tür stand, und sagte – es war, als risse er die Worte aus seinem Innern –:

»Es ist zu Ende. Sie ist dahin.«

Man suchte im Kloster den Unglücksfall zu verschweigen; es war zwar bekannt, daß jemand niedergetreten worden sei, doch wußte man nicht, wer es war. Erst als der Tod eingetreten war, wurde die Tochter des Gouverneurs, Prinzessin Rjasnaja, die Freundin der Verstorbenen, in Kenntnis gesetzt und die Leiche in der Nacht in die neue Herberge getragen. Ein Telegramm ging an ihren Gatten, der zusammen mit dem Gouverneur den Großfürsten nach Petersburg begleitete, und an den Ingenieur Drakin ab.

Im Morgengrauen schnarrte ein Auto vor der Herberge, ein glattrasierter, hochgewachsener Mann mit einem steinernen Gesicht, in einem englischen Mantel und Sportmütze, entstieg dem Wagen, trug die verhüllte Leiche auf den Armen heraus, bettete sie sorgsam auf das ausgezogene Polster, ließ den Motor an, drückte auf die Hupe und rollte davon.

 


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