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5

Vom frühen Morgen an waren die bedienenden Novizen in der neuen Herberge auf den Beinen. Der Herbergsvater Iona ging mit den Hühnern zur Ruhe, um früher aufstehen zu können und seine Novizen zu wecken.

In der ersten Zeit, als Boris noch keine Kutte hatte und seine Haare, erst halb lang, spröde nach allen Seiten ragten, schmerzten ihm von der ungewohnten harten Arbeit, dem ewigen Treppensteigen, Beine, Rücken, Arme, und des Nachts ließen ihn die Wanzen nicht schlafen. Scheinbar absichtlich bürdete man ihm mehr Arbeit auf als den übrigen Novizen, jagte ihn treppauf, treppab, hieß ihn für die Waschtische aus dem Brunnen Wasser holen, in den Zimmern, den Gängen, den Aborten die Fußböden aufwischen, am Abend die Samoware für den nächsten Tag bereitstellen, Holz hacken. Die Axt entglitt seinen ungewohnten Händen, der grobe Aufwischlappen verwickelte sich. Er verstand nichts ordentlich zu machen, und bei der kargen Kost – Überreste schob man ihm zu – wurde ihm vor Hunger und Schwäche oft schwindelig, und rote Kreise schwammen vor seinen Augen.

Die Novizen und der Herbergsvater machten sich lustig über ihn, den Adeligen, den Studenten, das Muttersöhnchen.

Stumm ließ er alles über sich ergehen, stumm versah er seinen Dienst. Das ist die Sühne, dachte er bei sich; weil er nicht gleich nach Linas Tod ins Kloster gegangen war, habe ihm der Herr dieses Schwere als Bußtat auferlegt. Etwas ganz anderes hatte er erwartet, als er ins Kloster geflüchtet war, hatte gehofft, er würde sich still in eine Zelle zurückziehen, sich dem Gebet widmen, die Menschen meiden dürfen und ungestört, in Andacht und Sammlung, auf das Erscheinen der Verstorbenen warten, nach der er sich schmerzlich sehnte. Und nun war das so ganz anders! Nicht einmal in die Kirche kam er hier. Als er den Herbergsvater um die Erlaubnis gebeten hatte, zur Messe gehen zu dürfen, hatte er die unerwartete Antwort erhalten:

»Diene dem Herrn durch Arbeit, auf daß er dein Gebet erhöre. Vorerst arbeite, sei jedermann demütiger Diener; erhebe dich in deinem Stolz nicht zu dem Herrn, auf daß du nicht wieder gestraft werdest. Durch Arbeit und Mühe reinige dich von den Sünden der Welt; der fromme Dienst ist wichtiger denn Fasten und Beten. Das merke dir.«

Er erhielt eine alte Kutte, einen Ledergürtel, ein abgetragenes schwarzes Käppchen und ein Paar alter Stiefel.

Jetzt umrahmten die Haare seinen Kopf in weichen Strähnen und ringelten sich üppig über den Schultern; sein Körper war dürr, muskulös, widerstandsfähig geworden; die Gesichtshaut straffte sich und erhielt einen mattschimmernden Ton; die Augen sanken tiefer in die Höhlen, und sein Blick wurde ruhig, nicht tot und gleichgültig, sondern gesammelt und in sich gekehrt; das Feuer der Enthaltsamkeit und selbstvergessener Mühen glomm in seinen Augen, und wenn er die Lider hob, strahlten sie still, in die Ferne gerichtet.

Schlank und schmal war seine Gestalt, seine Gesichtszüge zeichneten sich durch eine ebenmäßige Gleichmäßigkeit aus, und seine leicht singende Stimme klang tief und voll.

Er hatte keine Zeit, um zu beten, zu bereuen, in Gedanken der geliebten Verstorbenen nachzuhängen. Alle Menschen waren ihm zu Brüdern und Schwestern geworden; Männer, Frauen, Mädchen waren ihm nur Menschen, mit denen er in demselben ruhigen Tone sprach, ohne Unterschiede zu machen; auf ihre Fragen, weshalb er ins Kloster gegangen war, antwortete er:

»Ich bin hergekommen, um jeden Menschen lieben zu lernen; als ich in der Welt war, habe ich das nicht gekonnt …«

Vor niemandem tat er seine Seele auf, weder durch ein Wort noch durch die leiseste Andeutung; er hatte die Vergangenheit vor sich und anderen auf immer in sich verschlossen. Wenn man ihn mit Fragen bedrängte, verstummte er und entfernte sich schweigend.

 

Im Kloster wußten alle – Wallfahrer und Sommerfrischler –, daß Boris aus wohlhabendem Hause stammte und Student gewesen war, und jeder wollte seine Geschichte hören. Die Neugierigen erkundigten sich bei Vater Iona, der aber selbst nichts wußte und hämisch antwortete:

»Der will bei Lebzeiten Heiliger werden. Macht so, als wäre er nicht von dieser Welt …«

Besonders in dem oberen Stockwerk, wo die weltlichen Gäste wohnten, war man hinter ihm her. Die Damen warfen ihm bewundernde Blicke zu, kokettierten mit ihm, bemühten sich, ihm ein Lächeln abzugewinnen.

Gleich am ersten Tage sagte Frau Kostizina zu Sina:

»Hast du bemerkt, Sinotschka, wie hübsch dieser Novize ist?«

»Es ist etwas Besonderes an ihm …«

»Ja, das scheint mir auch so.«

Als Boris am Abend den Samowar brachte, fragte ihn Wera Alexejewna:

»Sind Sie schon lange im Kloster, Vater?«

»Nein, erst kurze Zeit.«

Am nächsten Tage erkundigte sich Frau Kostizina bei dem Herbergsvater:

»Sagen Sie, Vater, wer ist jener schöne Novize?«

»Welchen meinen Sie?«

»Er sieht anders aus als die übrigen …«

»Sie meinen wohl den Studenten?«

Sina zuckte zusammen.

»Student ist er?«

»Ja, Fräulein, ein ausgerissener Student aus Petersburg, Boris Smoljaninow ist sein Name.«

»Boris Smoljaninow, Sinotschka! Also hier hat er sich verborgen …«

Am Nachmittag bestürmten ihn die beiden Damen mit Fragen.

Boris stand an der Tür, hatte die Augen gesenkt und antwortete mit singender Stimme kurz und ruhig.

 

Die Dämmerung sank still und warm herab; Mücken summten; nach dem heißen Tage, der erschlafft zur Neige ging, lag ein Sehnen in der feuchten, von Waldesduft durchströmten Luft.

Erhitzt durch die Sonnenglut und zugleich ermattet, überließ sich Frau Kostizina träge dahinflutenden Gedanken.

In dieser Dämmerstunde dachte sie an ihre überschwengliche, launenhafte Jugendzeit, leise Wehmut erwachte in ihr und Trauer um das unwiderruflich Verlorene, Verwehte … Kokettiert, leichtfertig gespielt hatte sie mit der Seele eines Menschen, mit seiner Liebe zu ihr. Unter seltsamen, erschütternden Umständen hatten sie einander kennengelernt. Beim Verlassen des Alexandriner Theaters hatte sie im Gedränge ihre Eltern aus dem Auge verloren. Jemand packte sie, drückte sie in einen Schlitten. Bevor sie begriffen hatte, jagten die Pferde die Straße entlang, von einem anderen Schlitten gefolgt. Immer weiter, der Vorstadt zu, ging die Fahrt. Man preßte ihr ein Taschentuch, dem ein schwüler Geruch entstieg, auf Mund und Nase, um sie am Schreien zu verhindern. Sie suchte sich loszureißen, ermattete aber allmählich, von dem süßlichen Geruch betäubt; ihr wurde übel, die Sinne schwanden ihr. Was weiter geschah, wußte sie nicht. In dem zweiten Schlitten jagte ein Student der geistlichen Akademie ihr nach; er stand hinter dem Rücken des Kutschers, über dessen Schulter lugend, um sie nicht aus dem Auge zu verlieren. Er sah, wie zwei Männer aus dem Schlitten sprangen und das junge Mädchen in ein kleines Haus mit niedrigen Läden trugen. Er ließ halten, klopfte an einem Hause. Es war nicht das richtige. In das dritte Haus drang er ein, durchsuchte alle Zimmer, weckte die Gäste und ihre Mädchen. In dem hintersten Zimmer fand er sie; man hatte sie bereits halb entkleidet. Die beiden Entführer sprangen zum Fenster hinaus und verschwanden in der Dunkelheit. Man hatte ihr noch nichts angetan. Kalte Luft strömte ihr ins Gesicht. Da kam sie wieder zu sich, schlug erschrocken die Augen auf, wußte nicht, was geschehen war, wo sie sich befand. Fragte. Er antwortete nicht, hüllte sie in ihren Pelz, zog ihr die Kapuze über und trug sie auf den Armen in den Schlitten. Unterwegs fragte er sie, wo sie wohne. Es war nach Mitternacht, als er sie heimbrachte. Ihre Eltern empfingen ihn wie ihren Sohn. Sie wollten ihm aus Dankbarkeit eine größere Summe zukommen lassen; er lehnte ab. Er wurde gebeten, als lieber Freund im Hause zu verkehren. Er kam, zuerst selten, dann, als er sie liebgewonnen hatte, jeden Tag. Sie spielte mit seiner Seele, kokettierte, und als er sie mit gepreßter Stimme um ihre Liebe bat, lachte sie ihm ins Gesicht und lief davon. Er kam nicht wieder. Das hatte sie nicht erwartet, nicht gewollt; sie hoffte, weinte. Wollte alles wieder gutmachen. Schließlich ging sie in die geistliche Akademie. Man sagte ihr, Andrej Lasarew habe das Internat verlassen und sich in eine Zelle zurückgezogen. Tag für Tag ging sie nun zu allen Messen in das Alexander-Newskij-Kloster, wartete am Eingang, bis alle die Kirche verlassen hatten. Einmal schritt er an ihr vorüber in der hohen schwarzen Mönchsmütze. Sie eilte auf ihn zu; er beschleunigte seine Schritte, sagte ihr kein Wort, hob nicht einmal den Blick zu ihr auf …

Jetzt, da sie Boris als jungen Mönch gesehen hatte, waren die alten Wunden wieder aufgebrochen. Sie hatte Andrej Lasarew nie vergessen können. Und wenn Boris vor ihr stand, meinte sie ihn zu sehen, und der heiße Wunsch kam ihr, Boris zu retten; ihn konnte sie vielleicht noch retten!

Vor Verzweiflung hatte sie geheiratet, ohne Liebe, einen älteren Mann, und sich ihr Leben lang nach Liebe gesehnt, Liebe bei anderen Männern gesucht, immer in der Hoffnung, in dem eben Erwählten ihn, den auf immer Verlorenen, wiederzufinden. Vergeblich! Immer schien ihr, es sei nicht das Rechte, nicht die Zärtlichkeit, nicht die Liebe, die er ihr gegeben hätte. Seine Liebe, seine Liebkosungen mußten anders sein, ihr ganzes Sein in sich schlürfen, auflösend, erlösend …

So deutlich, so greifbar nah war plötzlich wieder alles … An Boris wollte sie wieder gutmachen, was sie an Andrej gefehlt hatte. Sie hatte in der Stadt davon gehört, daß Boris, der einzige Sohn der Smoljaninows, der reiche junge Mann, aus Liebe zu seiner verstorbenen Braut ins Kloster gegangen war …

Am nächsten Abend sagte sie zu ihm:

»Ich habe von Ihnen gehört, Boris. Mein Herz schmerzt um Sie.«

Sie sagte es leise, traurig. Ihre leisen, irgendwie hoffnungslosen Worte rührten Sina so tief, daß sie hastig aufsprang, auf den jungen Novizen zueilte, seine Hand ergriff und wie tröstend sagte:

»Ich werde Sie Boris nennen … Und ich heiße Sina. Nennen auch Sie mich einfach Sina …«

Die ganze Nacht durch lag Frau Kostizina schlaflos im Bett, dachte an ihre Vergangenheit, an Boris, und als Sina in der Nacht erwachte, ließ Wera Alexejewna sie nicht mehr schlafen, sondern erzählte ihr bis zum Anbruch des Morgens umständlich von ihrem Leben, wie eine Frau es einem jungen Mädchen gegenüber nur tun kann.

»Ich spreche zu dir, als wärest du meine Tochter, Sina. Wenn ich wirklich deine Mutter wäre, würde ich zu dir sagen: Rette Boris aus dem Kloster, wecke seine Seele durch deine Liebe! Es ist etwas Besonderes, etwas Keusches und Reines um die Seele von Männern wie er; wenn er dich liebgewönne, würdest du dein Leben lang glücklich sein. Ich war damals zu jung und leichtsinnig, habe das nicht zu schätzen gewußt …«

 


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