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Der Fluch eines Geschlechts

1. Kapitel.
Die Bulldoggen

Kommerzienrat Kammler, der Beauftragte der Wettgegner Harsts, war gerade bei uns, als der merkwürdige Brief vormittags eintraf. Kammler war sofort einverstanden, daß der Inhalt dieses Briefes die neue Wettaufgabe darstellen solle.

Das Schreiben lautete:

 

Sehr geehrter Herr Harst!

Glauben Sie nicht, daß Ihnen etwa eine Falle gestellt werden soll, wirklich nicht. Ich schwör's Ihnen! Nein – nur die wahnsinnige Angst läßt mich diese Zeilen in der Eisenbahn mit einer Füllfeder schreiben. Hier im leeren Abteil 2ter kann ich ja nicht beobachtet werden. Daheim oder anderswo würde ich es nicht wagen. Ja – ich wage nicht einmal, dem Papier all das anzuvertrauen, was mich bedrückt. Briefe, die ich an eine liebe Freundin schreibe, kommen nur dann an, wenn ihr Inhalt ganz harmlos ist. Kann ich wissen, ob nicht auch dieser Brief irgendwie abgefangen wird? – Ich flehe Sie an: Gewähren Sie mir eine Unterredung. – Aber diese muß unbedingt unter Vorsichtsmaßregeln stattfinden, die dafür bürgen, daß ich mich nicht noch größeren Gefahren aussetze. – Ach – wenn Sie wüßten, wie elend ich mich schon fühle! Ich schleppe mich nur noch weiter. Ich weiß ja: – eines Tages werde auch ich – Doch nein. Ich wage keinerlei Andeutungen. – Ich habe so lange nachgedacht, bis ich ein Mittel gefunden zu haben glaubte. Wir wohnen in Wannsee in der sogenannten Friedrichsburg dicht am Kleinen Wannsee in der Elsenstraße. Unser Garten reicht bis an das Wasser hinab. Wenn Sie ein Boot benutzen, können Sie nach Dunkelwerden unbemerkt dort landen. Aber seien Sie vorsichtig. Wir haben drei bissige Bulldoggen, die sofort Lärm schlagen. Legen Sie bitte gegen elf Uhr an unserem Bootssteg an und warten Sie auf mich. Ich steige dann zu Ihnen ins Boot, und wir stoßen vom Lande ab. Sollte ich in der kommenden Nacht nicht unbemerkt das Haus verlassen können, versuche ich's in der nächsten. – Ich weiß: ich bin sehr unbescheiden, Ihnen zuzumuten, für eine Fremde Ihre kostbare Zeit zu opfern. Aber ich las gestern in der Zeitung, wie schnell Sie den Fall Blinkenstein aufgeklärt haben, und da dachte ich mir sofort: vielleicht kann Herr Harst Dich retten. – Ich fürchte, ich schreibe alles recht wirr durcheinander. Aber wenn Sie mich sprechen würden, dürften Sie begreifen, daß ich kein hysterisches junges Mädchen, sondern wirklich ein armes gehetztes Wild bin. – Ich muß schließen. Ich bin in Berlin angelangt. – Nochmals: helfen Sie mir!

Ihre Sie bewundernde
Thora von Malwack.

 

Harst erklärte zu diesem Schreiben: »Die Dame ist noch recht jung; harmlos; natürlich; sehr nervös; trotzdem energisch und zielbewußt; aber auch eitel; sie benutzt trotz ihrer Jugend blaßrosa Puder und hat sich in der Eisenbahn gepudert, bevor sie diesen Brief zuklebte. Hier haften auf der schlecht getrockneten Tinte einiger Buchstaben Puderstäubchen. Sie trägt auch die Fingernägel sehr lang und ganz spitz geschnitten. Hier sind in dem Papier die Eindrücke der Nagelspitzen. Schließlich noch: sie besitzt ein nicht mehr ganz neues Perlenhandtäschchen« – er schüttete aus dem ausgeschnittenen Briefumschlag zwei winzige Glasperlen in seine flache Hand – »und ist aschblond, wie dieses durch den Kleister des Umschlages festgehaltene Härchen zeigt, das auch weiter noch den Gebrauch einer Brennschere verrät. – Natürlich werden wir sofort nach Wannsee hinaus, das Terrain besichtigen und uns dort vielleicht irgendwo als harmlose Sommergäste und leidenschaftliche Angler einmieten. Der Fall scheint ja recht eigenartige Seiten zu haben. Vor acht Tagen ist ein Fräulein von Malwack, wie in den Zeitungen zu lesen war, beim Baden ertrunken. Mein Gedächtnis läßt mich nie im Stich.«

»Und vor einem Monat etwa starb ein Student desselben Namens an einer hier seltenen Krankheit: der Cholera asiatica,« warf Kammler ein.

»Ganz recht. Es blieb die einzige Choleraerkrankung im Berliner Studentenviertel,« meinte Harst. »Die Bewohner des Hauses, in dem Malwack wohnte – in der Gartenstraße, glaube ich, – machten unnötig eine achttägige Absperrung durch. – Die beiden Personen dürften fraglos Geschwister unserer Hilfesuchenden sein.«

Ich stand am Fenster, sah nun einen Depeschenboten unseren Vorgarten betreten. Er brachte ein Stadttelegramm für Harst. Es war auf dem Postamt Leipzigerplatz aufgegeben, und der Inhalt war folgender:

Bitte nicht kommen. Anders überlegt. Verreise sofort für länger. Thora.

Harst starrte, nachdem er uns diese Absage vorgelesen hatte, schweigend und regungslos auf die Depesche. Dann nahm er den Umschlag des Briefes, der neben ihm auf seinem Schreibtisch lag, trat dicht ans Fenster, besichtigte ihn nochmals, rief dann: »Ich Stümper,« holte ein Vergrößerungsglas und nahm die Rückseite des Umschlages endlos lange in Augenschein, wandte sich uns zu und meinte: »Dieser Umschlag ist heimlich geöffnet und ebenso geschickt wieder zugeklebt worden, und die Depesche ist natürlich – gefälscht! Irgend jemand hat ein Interesse daran, daß ich mit Thora nicht zusammentreffe. Sie hätte nun, wenn ich diese Absage für echt gehalten hätte, mehrere Abende umsonst gewartet und wäre schließlich überzeugt gewesen, ich wolle ihr nicht helfen. – Hm – unser Haus dürfte jetzt vielleicht auch sehr scharf bewacht werden. Wir können daher auch nur unter allerlei Vorsichtsmaßregeln nach Wannsee hinaus. – Es wird ein recht interessantes Unternehmen werden, diese Rettungsaktion, denn ich bin der Meinung, wir haben es hier mit einer größeren Bande zu tun, die Briefe abfängt, öffnet, wieder schließt, Depeschen fälscht und – Thora nie aus den Augen läßt. Ja – es müssen mehrere sein. Einer allein bewältigt das alles nicht.« –

Kammler hatte sich dann fünf Minuten drauf kaum verabschiedet, als Harst an eine bekannte Speditionsfirma telephonierte: ein Piano sollte von hier nach dem Lagerraum der Firma nachmittags abgeholt werden.

Wir hatten im Schuppen im Gemüsegarten eine leere Klavierkiste zu stehen. – Harst rief nachher den Spediteur noch persönlich an den Apparat und gab ihm einige Anweisungen über die Art der Aufbewahrung der Kiste.

Nachmittags nagelte Frau Auguste Harst, meines Brotherrn Mutter, die Kiste eigenhändig zu. Eine Viertelstunde drauf erschienen drei Männer und schleppten sie davon.

Der Spediteur ließ sie in seinen Speicher bringen. Als seine Leute diesen verlassen hatten, nahm er ein kleines Brecheisen und wuchtete den Deckel ab. – Nun konnten wir wieder hinaus. Harst dankte dem Spediteur für die freundliche Unterstützung, und durch eine Seitenpforte des Speichers schlüpften wir ins Freie. Wir trugen die Verkleidung älterer Herren, kauften in Berlin zwei Koffer und verschiedenes andere ein und waren gegen halb sieben in Wannsee, diesem idyllisch schönen Villenort, dessen Lage an zwei waldumsäumten Seen ihn mit Recht zu einem beliebten Nachmittagsausflugsort macht. Eine Stunde später hatten wir uns in einem kleinen Häuschen am äußersten Ende der Elsenstraße bei einfachen Leuten – einem Maurer – als Sommergäste eingemietet. Vorher aber hatte Harst noch in einem Fleischgeschäft drei Leberwürste erstanden und war auch noch in der Apotheke gewesen.

Unser Wirt Höppner war ein schon bejahrter Mann, dabei aber noch sehr rüstig. Harst biederte sich sofort mit ihm an. Wir hatten uns als Brüder namens Hevelke ausgegeben, wollten Angestellte einer Versicherungsgesellschaft sein und hier unseren Urlaub verleben.

Von Höppner erfuhren wir über die Bewohner der Friedrichsburg als Alteingessenem recht viel, ohne daß er ahnte, man horche ihn aus.

Das alte Gebäude, vielleicht das älteste Wannsees, gehörte seit seiner Erbauung der Familie von Malwack, die einst hier auch weite Ländereien besessen hatte. Jetzt wohnten dort als die eigentlichen Eigentümer des weitläufigen Hauses die noch Ueberlebenden von vier Geschwistern Thora und Wilhelma, deren Vormund ihr Onkel Gisbert von Malwack war, ein nach Höppners Angaben sehr vornehmer, liebenswürdiger und allgemein beliebter Herr, der vor einem Jahr nur deswegen aus Transvaal zurückgekehrt war, um nach dem Tode seines Bruders dessen letzten Willen zu erfüllen und die weitere Erziehung der vier Kinder des Verstorbenen zu leiten, von denen dann leider vor kurzem zwei plötzlich ums Leben gekommen waren. – »Ueberhaupt,« meinte der brave Höppner, »über dem Geschlecht der Malwacks – sie sollen im Jahre 1620 aus Ungarn eingewandert sein – schwebt seit Jahren ein furchtbares Verhängnis. Der Baron Gisbert – die Familie hat das Recht, den Baronstitel zu führen – hat mir letztens, als ich wieder einmal eine Reparatur dort erledigte, erzählt, daß auf den Malwacks ein Fluch laste. So um das Jahr 1600 soll ein Baron von Malwack einen alten Zigeuner beim Wildern ertappt und ohne weiteres niedergeschossen haben. Da habe der Zigeuner, der allgemein als Hexenmeister galt, das Geschlecht verflucht und mit letztem Atem gedroht, die Malwacks würden nach 300 Jahren sämtlich kurz hintereinander hinsterben. – Ich bin ja nun wahrlich nicht abergläubisch, meine Herren, aber – zu denken gibt es doch, wenn man wie ich hier miterlebt hat, daß erst der alte Baron Ingobert, der Großvater der Geschwister, dann die Baronin Theresa, deren Mutter, dann deren Gatte, Baron Armin, und nun auch zwei der Kinder in einem Zeitraum von anderthalb Jahren dahingegangen sind, so daß von der ganzen Familie jetzt nur noch der Baron Gisbert und die beiden Töchter Thora und Wilhelma übrig sind.«

Harst zuckte die Achseln: »Trauriger Zufall – weiter nichts!«

Aber als wir kurz vor elf das Haus heimlich durch das niedrige Fenster unseres Zimmers verlassen hatten und durch das gegenüberliegende Waldstück zum Seeufer hinabschlichen, sagte er leise: »Schraut – hier handelt es sich um eine Verbrecherbande, die kein Mittel scheut, ans Ziel zu gelangen. Es wird einen bösen Kampf geben, Schraut, und wir tun gut, so sehr auf unserer Hut zu sein wie noch nie bisher. Deshalb auch: nie ohne unsere Schußwaffen ausgehen und nie aus der Rolle fallen – aus der Rolle der Brüder und Versicherungsbeamten.«

Unten am See lag ein kleines Boot, das Höppner gehörte und zu dem er uns den Schlüssel gegeben hatte. Auch die beiden Ruder waren darin mit einer langen Kette an die Ruderbänke angeschlossen.

Wir trieben das Boot langsam am Ufer entlang und kamen sehr bald – nach kaum vier Minuten, an die bis zum Wasser hinabreichende Mauer des Malwackschen Grundstücks. Höppner hatte uns von dieser Mauer erzählt und geäußert, heutzutage lasse kein Mensch mehr so dicke und so hohe Mauern bauen, dazu käme der Spaß zu teuer. Wir sahen nun auch – die Nacht war ziemlich hell – den zur Friedrichsburg gehörenden Anlegesteg, neben dem ein Badehäuschen weit in den See hinaus errichtet war. Sehr leise legten wir an dem Stege an einem dort befestigten Segelkutter an und warteten nun. Eine halbe Stunde verstrich. Dann – ganz plötzlich von der oben auf dem hohen Ufer liegenden Friedrichsburg her das wütende Bellen mehrerer Hunde, nein, mehr ein drohendes Aufheulen war's und dann – ein so entsetzlicher Schrei aus weiblichem Munde, daß mir förmlich das Blut in den Adern gerann.

Nun – abermals dieser Ruf, den nur die höchste Todesangst der Brust eines Menschen auspreßt, – dann nichts mehr.

Harst hatte meinen Arm gepackt. »Thora!« flüsterte er.

Da wurden droben im Garten Stimmen laut. Wir sahen Laternenschein zwischen den Bäumen aufblinken, hörten allerlei Zurufe, nun drei Schüsse kurz hintereinander, klägliches Heulen, noch einen Schuß.

»Mein Gott, was bedeutet das alles?« fragte ich beklommen.

»Nichts anderes, als daß der Fluch des Geschlechts ein neues Opfer gefordert hat.« erwiderte Harst dumpf, »Die Hunde werden Thora angefallen und zerfleischt haben. Aber wir dürfen –«

Er schwieg. Sein Blick starrte nach rechts – nach der Mitte des Sees hin. Dort lag ein dunkles Etwas – ein Boot.

Harst griff zu den Rudern. »Schraut – jenem Boote nach, steuern Sie gut –«

Er verstand die Riemen zu gebrauchen. Er zog mit äußerster Kraft durch. Ich steuerte erst noch im Schatten der Bäume dicht am Ufer entlang und dann im Bogen auf das andere Boot zu. – »Gut so,« lobte Harst. »Wenn wir nahe genug heran sind, dann den Menschen darin anrufen und mit einer Kugel drohen.«

In dem jetzt stillliegenden Boote saß ein Mann mit hellem Filzhut und schaute regungslos nach der Friedrichsburg hinüber. Wir näherten uns ihm von hinten so leise und langsam, daß er, der offenbar mit all seinen Sinnen nur jenseits am Ufer war, uns gar nicht bemerkte. Erst als Harst nun die Ruder halb einzog und die eine Dolle quietschte, fuhr er herum, griff auch sofort in die Jackentasche – nach einer Waffe.

Aber Harst war flinker. Mit einem Satz schwang er sich hinüber in das fremde Fahrzeug, riß den Menschen zu Boden, hielt ihm seinen Selbstlader vor die Stirn.

»Keine Bewegung, oder ich drücke ab.« herrschte er den mit den Beinen über der mittelsten Ruderbank Liegenden an. »Schraut – Ihr Taschentuch her, schnell!« Er hatte jetzt die Handgelenke des Mannes gepackt. Aber dieser wehrte sich wie ein Verzweifelter. Harst war kräftiger, gewandter. Und nun konnte auch ich eingreifen, nun hatte ich die Hände des Ueberrumpelten fest zusammengeknotet.

Harst richtete ihn auf, so daß er nun vor uns saß. Wir hatten einen noch jungen Menschen vor uns, dessen Kleidung einen ersten Schneider verriet.

»Wer sind Sie?« fragte Harst.

Keine Antwort. Nur die Augen des Mannes glitten immer wieder prüfend über uns hin.

Harst faßte ihm in die Brusttasche, holte ein elegantes Portefeuille hervor, kniete auf dem Boden des Bootes nieder, schaltete seine Taschenlampe ein und wollte so den Inhalt der Brieftasche untersuchen, damit der Lichtschein vom Ufer aus nicht bemerkt würde.

Der junge Mensch, der einen kurzen, blonden Bürstenschnurrbart trug, zerrte immer wieder an seinen Fesseln, keuchte vor Wut und Anstrengung, hob dann ganz plötzlich den Fuß und versetzte der in Harsts Rechter befindlichen Brieftasche einen solchen Schlag von unten, daß sie ins Wasser flog. Sie ging jedoch nicht schnell genug unter, und Harst fischte sie glücklich wieder heraus, nahm nun die in unserem Boot befindliche lange Kette und band damit den wieder heftig sich Sträubenden so an die Ruderbank fest, daß dieser ein zweites Mal eine solche Attacke nicht mehr versuchen konnte.

»Sie scheinen ja ein ganz gefährlicher Bursche zu sein.« meinte Harst und besichtigte den Inhalt der Brieftasche nun ungestört und sehr eingehend.

Plötzlich, nachdem er einen Brief gelesen, schaltete er die Lampe aus, richtete sich auf, sagte in höflichstem Ton:

»Entschuldigen Sie. Wir haben uns geirrt. – Sind Sie Herr Berthold Müller, der heimlich Verlobte des Fräuleins Thora von Malwack?«

2. Kapitel.
Das Laboratorium

Der Fremde schaute Harst durchdringend an.

»Und wer sind Sie?« fragte er kurz.

Harst knöpfte die Weste auf, in deren Innentasche er Thoras Brief stecken hatte. – »Bitte beugen Sie sich herab,« sagte er und beleuchtete den Brief. »Erkennen Sie die Handschrift?«

»Ja – allerdings. Aber –«

»Ich bin Harald Harst. Ihre Braut hat mich um Hilfe gebeten.«

»Ah – das ändert die Sache!« Er sagte es im freudigsten Ton. »Ja – mein Name ist Berthold Müller. Ich bin Prokurist bei Hobrecht u. Sohn in Potsdam. – das bekannte Holzgeschäft.«

Harst nahm ihm eilig die Fesseln ab. »Nochmals, Herr Müller, – entschuldigen Sie!« meinte er dabei. »Wir sind hier nach Wannsee im Interesse Ihrer Braut gekommen, und wir mußten Ihrem ganzen Verhalten nach schließen, daß Sie mit zu den Leuten gehören, die gegen die Familie Malwack meiner Ueberzeugung einen rücksichtslosen, heimlichen und teuflisch schlauen Vernichtungskrieg führen.«

Müllers Lippen entfuhr ein hastiges: »Also auch Sie? – Ich befürchte nämlich dasselbe, und ich hatte mir vorgenommen, in aller Stille auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen, mit denen ich freilich erst vor drei Tagen in der Weise begonnen habe, daß ich nachts von hier aus die Friedrichsburg überwache. Ich habe jetzt Urlaub und wohne drüben in dem Pensionat Mertens am Bahnhof Wannsee.«

Harst ließ sich nun von Müller erzählen, wann und wo dieser Thora von Malwack kennen gelernt hätte.

»Vor sechs Wochen etwa in Potsdam, Herr Harst. Ganz zufällig – durch einen kleinen Ritterdienst. Wir fanden sofort Gefallen aneinander, und obwohl wir uns sehr selten sehen konnten, haben wir uns doch vor drei Wochen heimlich verlobt. An eine öffentliche Brautschaft ist vor Thoras Mündigkeit – sie ist jetzt 19 Jahre alt – nicht zu denken, da ihr Onkel und Vormund trotz all seiner sonstigen vortrefflichen Eigenschaften nie gestatten würde, daß sie einen – »Müller« heiratet.«

»Haben Sie häufiger Briefe gewechselt?«

»Ja. Aber nur postlagernd durfte ich an Thora schreiben. Und – von ihren Briefen ist selten einer in meine Hände gelangt. Sie müssen abgefangen worden sein. Wie? – das ist mir unerklärlich.«

»Hat Ihre Braut eine Freundin?«

»Nein. – Bekannte wohl – aber Freundinnen? Bestimmt nicht.«

»Oh – dann sind Sie die liebe Freundin, die sie in dem Schreiben an mich erwähnt.«

Müller stierte jetzt zerstreut nach der Friedrichsburg hinüber, meinte dann zögernd: »Was halten Sie von den Hilferufen, die vorhin –«

Harst unterbrach ihn gütig und herzlich: »Seien Sie ein Mann! – Ich bin ehrlich: Ihrer Braut ist ein Unglück zugestoßen. Ich vermute, die Bulldoggen haben sie angefallen. – Aber hoffen wir, daß sie lebt. Jedenfalls haben Sie nun in uns zwei Verbündete, die alles aufbieten werden, diese furchtbare Tragödie der Familie Malwack aufzuklären. Sie allein jedoch dürfen nichts unternehmen – gar nichts, verstanden! Außerdem warne ich Sie noch: seien Sie überaus mißtrauisch und vorsichtig. Vielleicht ist auch Ihr Leben in Gefahr!«

Eine Viertelstunde später trennten sich unsere Boote. Müller ruderte nach dem Bootshause des Ruderklubs Vineta zurück, dem sein Boot gehörte, und wir – wir benutzten die infolge starker Bewölkung jetzt recht tiefe Dunkelheit zu einer neuen Landung am Stege der Friedrichsburg.

Hier warteten wir so lange, bis ein feiner Regen niederging, der Harsts weitere Absichten wesentlich erleichterte. Wir stiegen aus und schlüpften in den Garten, dessen Anlagen sich bis zu dem flachen Uferstreifen herabsenkten. In einem Gebüsch zogen wir die Schuhe aus. Dann erst ging's weiter – Schritt für Schritt. Nun lag ein weiter Rasenplatz vor uns und uns gegenüber der massige Bau des alten Gebäudes, das links an die hohe Mauer sich anlehnte.

Harst war stets voran. Wir krochen jetzt auf allen Vieren über den Rasen. Plötzlich schwenkte Harst nach rechts ab. Nun zog er mich neben sich, deutete auf den hellen Kiesweg. Dort lagen drei dunkle Tierkörper.

»Die Bulldoggen,« flüsterte er. »Ich hätte mir die Würste und das Betäubungsmittel, mit dem ich sie getränkt habe, sparen können. – Der Baron Gisbert wird die Hunde erschossen haben.«

Dann ging es weiter nach links auf das Haus zu. Hinter einem der hohen Kellerfenster gewahrten wir einen hellen Lichtschein. Die Fenster waren sämtlich vergittert, auch die des Erdgeschosses.

Das erleuchtete Kellerfenster war das letzte linker Hand. Wir kauerten uns in den Winkel zwischen Gartenmauer und Hauswand, und Harst schob den Kopf dann so weit als möglich durch das Gitter. Das Fenster hatte gestreifte Vorhänge. Auch ich horchte, so gut ich konnte. Dann hörte ich etwas. Aber nicht im Keller, sondern anscheinend hinter der Gartenmauer. Ich wurde mißtrauisch, zupfte Harst am Aermel und flüsterte ihm das Nötige zu.

Er drückte das Ohr gegen den Kalkputz der reichlich drei Meter hohen Mauer. So verharrte er eine ganze Weile. – Es regnete jetzt nicht mehr, und auch ich hörte nun wieder hinter der Mauer allerlei Geräusche.

Harst gab endlich das Lauschen auf, raunte mir zu: »Eine sehr merkwürdige Geschichte!« Wir machten uns auf den Rückweg, blieben aber stets dicht an der Mauer, deren stellenweise ganz abgebröckeltem Kalkputz Harst eine mir unverständliche und uns sehr aufhaltende Aufmerksamkeit widmete. Dann sprang aus der Mauer ein dicker Pfeiler vor, um den bogenförmig eine breite Dornenhecke gepflanzt war. Weshalb Harst sich dicht an der Mauer an dieser Hecke vorbeidrängte, weshalb ich mir dabei zwei Löcher in meine Beinkleider reißen mußte, begriff ich zunächst nicht. Dann aber wurde mir alles klar, als mein Brotherr und Lehrer mir zuflüsterte: »Die Geräusche ertönten nicht hinter, sondern in der Mauer, Schraut, und ich nehme an, diese wird einen geheimen Gang darstellen, zu dem es hier vom Garten aus eine versteckte Tür gibt.« – Dies genügte, meine Spannung aufs höchste zu steigern. – Ein geheimer Gang! Das verhieß allerlei Abenteuerliches.

Harst betastete jetzt eine hohe Reliefplatte aus Metall, die in die Mauerseite des Pfeilers nach dem Garten zu etwas eingelassen war. Was die Reliefs darstellten, war nicht zu erkennen. Offenbar war die Tafel aber sehr alt. – Nach wenigen Minuten hörte ich ein scharfes Kratzen von Metall auf Metall. Harst hatte die Klinge seines Taschenmessers – es war ein sogenanntes Jagdmesser mit feststellbarer Klinge – in die Fugen zwischen Mauer und Platte an der rechten Seite geschoben und drückte nun mit aller Kraft. Nun ein kurzer Knack. Die Klingenspitze war abgebrochen, gleichzeitig aber hatte sich die Reliefplatte nach innen geöffnet. Sie war nichts anderes als eine Geheimtür. Dahinter gähnte tiefe Dunkelheit. Harst kroch vorwärts, tastete mit den Händen um sich und winkte mir dann. Er schaltete seine Lampe ein, leuchtete umher, drückte die Geheimtür wieder zu und schlich lautlos nach rechts den sehr schmalen Gang entlang, der durch die hohle Mauer entstanden war. Nach dreißig Schritten machte er halt. Wir standen vor einer Tür aus fast schwarz gewordenem Eichenholz mit altertümlichem Drückerschloß.

Harst flüsterte: »Es ist ein Risiko. Aber wir müssen's wagen. Halten Sie Ihre Pistole entsichert bereit.«

Er faßte nach dem Drücker. Der war sehr gut geölt. Auch die Türangeln kreischten nicht. Die Tür ging nach außen auf. Der Lichtkegel von Harsts Taschenlampe glitt über ein quadratisches Gemach von etwa 3 Meter Seitenlänge hin. Ein Fenster war nicht vorhanden. Uns gegenüber aber zeichnete sich in der Mauer ein eiserner, mit Mauersteinen gefüllter Rahmen und eine komplizierte Verschlußvorrichtung ab. – »Eine Geheimtür ins Innere des Hauses,« meinte Harst. »Und dies hier sieht ganz nach einem chemischen Laboratorium aus. Merkwürdig – sollte der Baron Gisbert sich als Alchimist, als Goldmacher, versuchen?!« Links stand ein großer Holztisch mit Flaschen, Gläsern, Retorten und allerlei Apparaten. Darüber hingen an der Wand Regale, die Aehnliches enthielten. Rechts wieder füllte den kleinen Raum ein breiter Schrank gut zu ein Viertel aus. Von der Decke hingen an grünen Schnüren zwei einfache elektrische Birnen herab. Vor dem Holztisch stand ein uralter Ledersessel. Ueber diesem lag ein seidig glänzendes Kleidungsstück.

Harst hob es auf. Es war ein seidener, schottisch gemusterter Damenmantel. Er war stellenweise völlig zerfetzt und zeigte hier und dort Blutspuren. Diese waren noch recht frisch und erst wenig angetrocknet.

Harst hielt den Mantel noch immer hoch. Dann mußte ich seine Lampe ihm abnehmen, und er besichtigte das Kleidungsstück nun ganz eingehend, wobei er sich auch seines Taschenmikroskops bediente. Mir schien's, als prüfte er sogar gewisse Stellen des Stoffes auf ihren Geruch hin. Als er nun den Mantel wieder über den Stuhl warf, als ich zufällig ihm ins Gesicht blickte, waren seine Züge wie versteinert und leuchteten in geisterhafter Blässe. Eine furchtbare Erregung mußte ihn ergriffen haben. Er blieb jedoch stumm, wandte sich nun dem Tische zu und langte nach einem Gestell, das ganz vorn stand. Darin steckten sechs verkorkte Reagenzgläschen, die jedes ein Papierschildchen trugen und mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt waren.

»Lesen Sie, Schraut,« sagte er dumpf.

Ich las die Schildchen. Da stand mit lateinischen Buchstaben:

Bazcho, Baztet, Bazty, Bazcho, Baztet, Baztet.

»Gehen wir,« meinte er, ohne meinen fragenden Blick zu beachten. »Ich weiß genug – übergenug. Allerdings noch nicht alles –«

Er hatte es jetzt sehr eilig, lief fast den Gang entlang, ebenso nachher durch den Garten zum Wasser hinab. Wir nahmen unsere Schuhe, und sie in der Hand haltend gings nach dem Bootssteg. Erst im Boot zogen wir sie wieder an. Dann ergriff Harst die Ruder. Und – wie ruderte er! Als ob der Teufel hinter uns her wäre! – Am Liegeplatz des Bootes sprang er hinaus. – »Los, Schraut – hurtig – vielleicht geht's um ein Menschenleben! Lassen Sie das Boot! Nur vorwärts!«

Wir rannten durch das Waldstück bis zur Elsenstraße hinauf. Jetzt faßte Harst mich unter. »Langsam – wie nächtliche Bummler, – und laut unterhalten!«

Er steckte sich eine seiner Mirakulum-Zigaretten an, gab auch mir eine. Er redete über Segelsport. So kamen wir bis vor das hohe Gitter, das den Vorgarten der Friedrichsburg nach der Straße hin absperrte.

Mitten auf dem Fahrdamm standen ein paar Leute, darunter einer der Wannseer Polizeibeamten.

Harst blieb stehen, fragte diesen: »Entschuldigen Sie, ist hier etwas passiert?«

Der Mann sah sehr würdig aus, hatte einen langen grauen Bart und war überraschend redselig.

»Ja – ein entsetzliches Unglück, – eine junge Dame ist von Hunden zerfleischt worden. Noch lebt sie. Der Doktor Heid ist noch in der Friedrichsburg. Das ist die Villa hier –«

Harst spielte den Neugierigen. So erfuhren wir, daß die Baronesse Thora Malwack gegen halb zwölf noch im Park habe lustwandeln wollen. Und da seien die drei Bulldoggen, mit denen sie sonst sehr gut Freund gewesen, über sie hergefallen.

Dann tat sich die Tür der Friedrichsburg auf. Ein breiter Lichtstrom fiel die Freitreppe hinab. Wir sahen einen Diener in Livree und zwei Herren. Der Diener geleitete den einen nach der Gartenpforte.

»Ah – Doktor Heid!« meinte der Polizist. Gleich darauf trat er an den noch jungen Arzt heran.

»Wie steht's, Herr Doktor?«

Auch die anderen Leute drängten sich hinzu.

»Schlecht, lieber Gröber, sehr schlecht. Diese Bestien von Bulldoggen! Unbegreiflich, was den Kanaillen eingefallen ist! Gerade Baronesse Thora! – Gute Nacht, Gröber.«

Die nahe Straßenlaterne hatte des Doktors Gesicht hell beschienen. Es war ein frisches, schmißbedecktes Gesicht mit großen, ehrlichen Blauaugen.

3. Kapitel.
Ein Selbstmord

Doktor Heid eilte davon. Und Harst faßte mich wieder unter. – »Ihm nach, Schraut! Von ihm hängt alles ab!«

Wir holten ihn bald ein – in einer Nebenstraße. Keine Seele war in der Nähe. Als er unsere schnellen Schritte hörte, drehte er sich um.

»Herr Doktor – einen Augenblick,« rief Harst leise. – Der junge Arzt blieb stehen.

Harst grüßte, sagte: »Würden Sie mit mir unter jene Laterne kommen. Ich möchte Ihnen etwas mitteilen – etwas Interessantes.«

Heid wurde mißtrauisch, trat zurück, meinte:

»Wer sind Sie denn? – Etwas mitteilen? – Falls Sie Uebles im Schilde führen, dann nehmen Sie sich in acht!« Er griff in die Tasche. Und in seiner Rechten blitzte nun ein vernickelter Revolver.

Harst lachte leise auf. »Stecken Sie das Ding wieder weg, Herr Doktor! Wenn wir Meuchelmörder wären, hätten wir Sie längst abtun können. – Bitte, kommen Sie. Meinetwegen behalten Sie Ihre Waffe auch in der Hand. Wir werden vorausgehen.«

Unter der Laterne fuhr Harst dann ganz leise fort, indem seine Augen das Gesicht des jungen Arztes forschend musterten: »Sind Sie Hausarzt bei Baron Malwack?«

»Nein. Ich war heute zum ersten Male dort. Sanitätsrat Friedrich ist verreist, und daher holte man mich. – Aber – was soll das alles?«

»Ich muß vorsichtig sein. Ihr Gesicht beruhigt mich. Sie lügen nicht. – Ich bin – Harald Harst, und ich bin im Interesse der Familie Malwack. besser Fräulein Thoras, hierher gekommen. Dies ist mein Sekretär Schraut, dessen Name Ihnen aus den Zeitungsberichten über meine Wettaufgaben bekannt sein dürfte.«

»Ah – wirklich – Harald Harst?«

»Hier – bitte mein Ausweis mit Photographie. Freilich ich trage zur Zeit eine Verkleidung. Aber hier ist das in dem Ausweis erwähnte besondere Kennzeichen.« Er streifte den linken Aermel hoch. Am Unterarm hatte er eine lange Schnittwunde mit zackigen Rändern.

Heid war nun überzeugt, tatsächlich den berühmten Liebhaberdetektiv vor sich zu haben.

»Herr Harst ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.« meinte er eifrig.

»Gut. – Sie haben die Bißwunden Fräulein Thoras soeben verbunden. Hoffen Sie, daß sie durchkommen wird?«

»Falls keine schlimmere Vereiterung hinzutritt.«

»So, – dann bitte ich Sie dringend, sofort nach der Friedrichsburg zurückzukehren und dort so zu tun, als hätte Sie lediglich die Besorgnis um die Verwundete zurückgetrieben. Kein Wort von dieser Unterredung, Herr Doktor, zu niemandem, auch nicht zu Ihrer Gattin, falls Sie verheiratet sind.«

»Ich bin verheiratet –«

»Wie gesagt also: zu niemandem eine Silbe! – Erklären Sie dem Baron Gisbert, Sie hätten sich die Sache überlegt; die Komtesse müßte unbedingt in sachverständige Pflege und zwar unverzüglich. – Können Sie sie bei sich aufnehmen? – Ja? – Das ist mir sehr lieb. – Also: Sie verlangen mit aller Energie als Arzt, daß Fräulein Thora zu Ihnen geschafft wird. Ersinnen Sie einen Vorwand. Und – lassen Sie sich nicht umstimmen! Sagen Sie, Sie würden, falls Ihrem Verlangen nicht stattgegeben wird, jede Verantwortung ablehnen und dies auch der Polizei mitteilen. Die Hauptsache jedoch: weichen Sie dann auch nicht mehr eine Sekunde von dem Lager Ihrer Patientin – nicht eine Sekunde! Bewachen Sie sie, als ob sie sich in einer Mörderhöhle befände. Wir werden einen Krankenwagen besorgen und auch Ihre Gattin benachrichtigen, daß eine Kranke bei Ihnen untergebracht werden muß. – Wo wohnen Sie?«

»Potsdamer Chaussee 12. – Aber – aber – entschuldigen Sie schon, Herr Harst, ich bin vollständig verblüfft über all diese seltsamen Forderungen, die Sie stellen, daß ich –«

»Glaube ich gern,« unterbrach Harst ihn. »Bitte – Ihr Wort, daß Sie genau meine Anweisungen befolgen werden. Ein Menschenleben steht auf dem Spiel –«

Doktor Heid reichte Harst die Hand. »Weil Sie es sind. – Mein Wort!«

Da beugte sich Harst vor, flüsterte Heid ein paar Sätze ins Ohr.

Und – Heid prallte zurück, stammelte: »Un – un – möglich! Aber – wenn Harald Harst so etwas behauptet, muß man schweigen.«

Gleich darauf eilte er nach der Friedrichsburg zurück.

Eine Stunde später beobachteten wir aus sicherer Entfernung, wie die Komtesse fortgeschafft wurde. Wir begaben uns nun durch das Fenster wieder leise in unsere Zimmer zurück. Der Morgen dämmerte bereits.

»Schlafen zu gehen lohnt nicht mehr,« meinte Harst. »Wir haben übergenug Arbeit. Unsere Wirtsleute werden Frühaufsteher sein. Dann lassen wir uns Kaffee geben und tun so, als ob wir zum Angeln wollten. – Zerwühlen Sie die Betten etwas, Schraut. – Ich werde mich waschen, den Oberkörper abreiben. Tun Sie's nachher auch. Wir müssen ganz frisch sein. Die Leute, gegen die wir kämpfen, sollen umgehend unschädlich gemacht werden. Es sind vielfache Mörder. Ich hoffe morgen vormittag unsere Ermittelungen abgeschlossen zu haben.« – Ich merkte, daß die Erregung, die ihn dort in dem kleinen Laboratorium gepackt hatte, noch immer anhielt.

Dann saß er in einem alten Korbsessel am Fenster und lauschte den Vogelstimmen, die aus dem Waldstück gegenüber den neuen Tag jubelnd begrüßten.

»Schraut,« meinte er leise, »der Mensch ist doch die gefährlichste aller Bestien. Kein Tier kennt die Habgier, kein Tier tötet um des schnöden Geldes willen. Nur wir – der homo sapiens, das intelligenteste aller Säugetiere! – Entsetzlich dies alles!« – Worauf sich dies »Entsetzlich« bezog, konnte ich nur vermuten.

Ich nahm ihm gegenüber Platz. – »Würden Sie mir nicht vielleicht erklären,« bat ich, »wer nun eigentlich –«

Er winkte ab. »Das ist doch so klar, Schraut! Strengen Sie Ihr Hirn nur etwas an.«

Wir hörten im Nebenzimmer Geräusch. Höppners waren aufgestanden. Wir bekamen bald Kaffee, weiche Eier und anderes, frühstückten in Ruhe und verließen dann das freundliche Häuschen.

Es war jetzt sechs Uhr morgens. Wir gingen die Elsenstraße hinunter. In der Friedrichsburg regte sich nichts. Wir trafen dann den alten Polizisten Gröber, dessen Nachtwache nun beendet war. Harst flüsterte mir zu: »Sehr günstig. Das erspart uns einen Gang nach dem Gemeindeamt.«

Er sprach Gröber an, sagte, wer wir seien – Versicherungsbeamte auf Urlaub und leidenschaftliche Angler, – fragte, wo man die Erlaubnis zum Angeln im Kleinen Wannsee bekäme, und gelangte auf Umwegen unauffällig zu den Ereignissen der verflossenen Nacht.

Gröber ließ sich genau so leicht ausholen wie unser biederer Wirt. Wir hörten sehr viel Gutes über den Baron Gisbert, weniger Gutes über dessen Diener Franz Thomas, den er sich aus Transvaal mitgebracht hatte, wo er Farmbesitzer gewesen. Dann befand sich nach Gröbers Angaben noch ein Gärtner im Hause, ein jüngerer Mensch namens Max Berg, der gleichzeitig Kutscher bei den beiden Pferden war. Schließlich noch eine Köchin Ulrike Balz, eine ältere Person, die ebenso unfreundlich wäre wie der hochmütige Diener Franz Thomas.

Gröber plauderte gern. Der Baron hatte ihm heute wieder zehn Mark geschenkt, weil er so schnell zur Stelle gewesen und den Doktor Heid geholt hatte.

Als der Polizist sich verabschiedet hatte, notierte sich Harst die Namen und das Charakteristische der einzelnen Bewohner der Friedrichsburg kurz in sein Taschenbuch.

»Alles sehr wertvoll, Schraut,« meinte er. »Nun nach dem Bahnhofsrestaurant. Dort wollten wir uns ja um halb acht mit Berthold Müller treffen.«

Doch – der Erwartete erschien nicht. Harst wurde immer unruhiger. – »Die Sache kommt mir verdächtig vor. Aber wir dürfen nicht in seinem Pensionat nachfragen,« meinte er. »Halt – ein Gedanke. Wir werden telephonieren.«

Der Bahnhofswirt stellte uns seinen Apparat zur Verfügung. Harst erhielt auch sehr bald Anschluß, meldete sich: »Hier Julius Kowger, Firma Knittel. – Ich muß Herrn Müller sofort sprechen.«

»Der schläft noch,« erklärte ein Stubenmädchen der Pension.

»Wecken Sie ihn. – Ich melde mich nach fünf Minuten nochmals.«

Die fünf Minuten waren um. Und jetzt kam die erregte Antwort:

»Soeben ist Herr Müller tot in seinem Bett aufgefunden worden.«

Wir verließen den Bahnhof. Da kam hinter uns unser Freund Gröber dahergekeucht.

»Eine nette Geschichte. Kaum im Bett – wieder raus!« rief er. »Bei Mertens liegt ein Selbstmörder im Bett. – Auf Wiedersehen. Hab's eilig –«

Harst folgte ihm. Nach einer Weile sagte er: »Ich hätte den armen Kerl noch eindringlicher warnen sollen! Es war vorauszusehen, daß man auch ihn stumm machen würde, nachdem man bei Thora das Geschäft ziemlich glatt erledigt hatte.«

»Sie – Sie glauben nicht, daß die Bulldoggen es waren, sondern daß Menschen die Komtesse –«

Er fiel mir ins Wort. »Doch, es waren die Hunde. Und gerade weil sie's waren –« Er führte den Satz nicht zu Ende. »Ah – dort in jenem Hause ist Gröber verschwunden. Kehren wir um. – Nein – doch nicht. Es gefällt mir bei Höppners nicht. Wir werden uns umquartieren. Gehen wir zu Mertens.«

Das Pensionat gehörte einer älteren Witwe. Die Aermste rang verzweifelt die Hände, weil sie fürchtete, der Selbstmord würde ihre Pension in Verruf bringen. Harst beruhigte sie. Wir nahmen gleich drei teure Zimmer, und Harst bat dann, ihn doch mal in das Zimmer Müllers zu führen. – »Als Beamter einer Lebensversicherungsgesellschaft verstehe ich was von Selbstmorden,« erklärte er etwas unklar. Aber der Mertens genügte diese Begründung. So gelangten wir denn in das nach dem Garten hinausgehende Hochparterrezimmer, wo Gröber bis zum Eintreffen des Arztes und des Gemeindevorstehers Wache halten mußte. Er hatte nichts dagegen, daß wir uns den Toten ansahen. Die Mertens war wieder davongeeilt.

Müller lag im Nachthemd im Bett, war bis zur halben Brust zugedeckt. Auf dem Nachttischchen am Kopfende des Bettes stand unter anderem ein Glas, in dem ein milchiger Rest einer Flüssigkeit am Boden zu bemerken war. Neben dem Glase aber lag ein Bogen Papier, Oktavformat; darauf war zu lesen – mit Tinte geschrieben:

 

»Ich habe das Leben satt! Ich scheide freiwillig aus dieser Welt, die mir nur Enttäuschungen gebracht hat. – Berthold Müller.«

 

»Nichts anrühren!« rief Gröber, als Harst das Glas hochheben wollte. »Natürlich hat er sich vergiftet.«

»Scheint so,« meinte Harst sehr gedehnt.

Da wurden im Flur Schritte laut. Doktor Heid und der Gemeindevorsteher traten ein.

Heid stutzte, als er Harst und mich erkannte, tat aber völlig fremd.

Der Gemeindevorsteher, der ja gleichzeitig auch die höchste Polizeigewalt des Ortes darstellte, wollte gerade zu sprechen beginnen, als Harst ihm schnell seinen Ausweis hinreichte und seinen linken Aermel dann hochstreifte und die Narbe zeigte.

Dann öffnete er die Tür, schaute hinaus, schloß sie wieder und sagte flüsternd:

»Doktor Heid kennt uns schon. Sie haben doch nichts dagegen, daß ich mich hier etwas umsehe. Bitte treten Sie alle in jene Ecke neben den Ofen. Und – bitte verpflichten Sie Gröber zu strengstem Stillschweigen, Herr Gemeindevorsteher. Er ist etwas redselig, und – hier liegt Mord, nicht Selbstmord vor!«

Der Gemeindevorsteher erklärte bereitwilligst, sich ganz Harsts Anordnungen zu unterwerfen. »Bei Ihrer Berühmtheit, Herr Harst!« fügte er respektvoll hinzu.

Wir, die wir in der Ofenecke standen, bekamen allerlei zu sehen. Harst begann mit der Untersuchung des Toten. Plötzlich richtete er sich auf, holte vom Schreibtisch Siegellack, entblößte Müllers Brust noch mehr und ließ ein brennendes Tröpfchen des roten Lacks auf die linke Brustwarze fallen.

Ich glaubte wahrzunehmen, daß die Haut rings um die Brustwarze sich etwas spannte.

Harst zog Müller jetzt das Nachthemd vollends aus, besichtigte die Haut der Arme, der Brust, des Halses und des Gesichts mit einer Sorgfalt, als suche er etwas ganz Besonderes.

Nachdem er dann noch im Zimmer alles Mögliche sich mit gleichem Interesse angeschaut hatte, so die Feder des Federhalters, die Tinte im Schreibzeug, das Fensterbrett und auch den Spüleimer, wandte er sich an Doktor Heid.

»Der Mann hat sich nicht vergiftet, sondern ist durch das indianische Pfeilgift Kurare in einen starrkrampfähnlichen Zustand versetzt worden, der regelmäßig den Tod nach sich zieht, wenn nicht alsbald die Nervenlähmung durch elektrische Behandlung beseitigt wird. – Schnell also, Herr Doktor. Tun Sie das Nötige. Aber – absolutes Schweigen! Sie wissen!«

Heid lief schon hinaus, um seine Elektrisiermaschine zu holen.

Dann sagte Harst zu den beiden Beamten: »Bitte verändern Sie hier nichts im Zimmer. Schließen Sie es ab, sobald Doktor Heid den Bewußtlosen wieder ins Leben zurückgerufen hat, und befolgen Sie dasselbe, was ich ihm sagte: Schweigen Sie! Nichts von dem, was ich festgestellt habe, nichts über meine Person. Fragt man Sie, so sagen Sie: »Ja – ein Selbstmordversuch. Aber dem Doktor ist es gelungen, den Mann noch zu retten.« – So – guten Morgen. Sie hören noch von mir.«

Wir gingen in den Garten unter die Fenster Berthold Müllers. – Harst murmelte: »Sehr unbegabt – sehr!« Dann kehrten wir ins Haus zurück, und er teilte Frau Mertens mit, wir würden morgen abend einziehen. Er zahlte die Miete für eine Woche voraus, und die Mertens strahlte. Sie war so in Angst gewesen, ihr Pensionat könnte nun leer bleiben.

4. Kapitel.
Heids Patientin

Wir kamen dann gerade über die Brücke, die die Verbindung zwischen den beiden Seen überwölbt, als Doktor Heid auf einem Rade heransauste. Harst winkte.

»Herr Doktor, geben Sie uns für Ihre Gattin eine Karte mit, die uns genügend legitimiert. Ich muß die Baronesse sprechen. Sie ist doch hoffentlich vernehmungsfähig?« –

Frau Heid sagte gleich darauf zu uns in ihres Mannes Sprechzimmer: »Ich ahnte, daß hier irgendwelche geheimnisvollen Umstände mitsprachen, Herr Harst. – Auf meine Verschwiegenheit können Sie sich verlassen. Ich werde auch ganz genau befolgen, was Sie verlangen.«

Die Baronesse war im Salon untergebracht. Frau Heid hatte uns angemeldet. Die Kranke war sehr bleich. Ihre zerfleischte linke Schulter war dick bandagiert.

Harst setzte sich an das Bett. – »Sie wissen, wer ich bin, Baronesse. Es tut mir so unendlich leid, daß ich nicht rechtzeitig eingreifen konnte. Nun – jetzt sind Sie dafür aber auch ganz sicher hier. Sie werden gesund und glücklich werden. Berthold Müller läßt Sie herzlichst grüßen. Er ist unser Verbündeter geworden. – So, und nun einige Fragen, Baronesse.«

Wir erfuhren so, daß Thora sich kurz vor halb zwölf zu der Zusammenkunft mit uns hatte an den See begeben wollen. Sie kam auch unbemerkt in den Garten. Dann näherten sich ihr die drei Bulldoggen, bisher ihre Lieblinge. Sie rief sie leise an. Aber ganz plötzlich waren die Hunde dann zum Angriff gegen sie vorgegangen – ohne jeden Grund. Sie hatte sich verzweifelt gewehrt und laut um Hilfe gerufen. Zu ihrem Erstaunen hatten die Bulldoggen ebenso plötzlich aber von ihr abgelassen und waren scheu zur Seite gekrochen. Dann war ihr Onkel aus dem Hause herbeigestürmt, auch der Diener, und dieser trug sie nun in ihr Zimmer, während der Baron die Hunde in seiner Wut niederschoß.

»Sie trugen einen Seidenmantel, Baronesse, nicht wahr?« – Sie bejahte.

»Haben die Bulldoggen vielleicht mal irgend ein kleineres Raubwild zerrissen?« forschte Harst weiter.

»Ja – vor zwei Tagen einen zahmen Fuchs. Meiner Schwester Wilhelma gehörte er. Er wurde in einem Käfig gehalten. Wie die Hunde, deren größter Feind er war, ihn töten konnten, ist uns unerklärlich. Es muß jemand sie in den Käfig hineingelassen haben. Sie haben ihn vollständig zerfleischt. Nur Fetzen waren noch vorhanden. Wilhelma ist ganz untröstlich.«

Dann richtete Harst noch verschiedene Fragen an sie, die ihren Brief – die Bitte um Hilfe – betrafen.

So bat er um Aufklärung, weshalb sie sich als »gehetztes Wild« in dem Schreiben bezeichnet habe.

»Weil ich bereits dreimal dem sicheren Tode nur durch einen Zufall entgangen bin.« Sie schilderte diese Vorfälle kurz.

Dann wollte Harst wissen, ob sie einem der Hausangestellten mißtraue.

»Nur dem Gärtner,« meinte sie. »Ich habe festgestellt, daß er mir nachschleicht. Als ich Onkel Gisbert, den wir alle sehr lieben, dies mitteilte, lachte er mich aus. »Kind, er hat eben eine heimliche Neigung zu Dir gefaßt.« sagte er zu mir. »Ich werde ihn ins Gebet nehmen, und dann wird er Dich in Ruhe lassen.« – Eine Weile fiel mir dann auch nichts auf. Aber eines Tages, als ich mich in Potsdam mit Bert, meinem Bräutigam, traf, war er wieder hinter uns her, verschwand jedoch, als ich mich zum zweiten Mal nach ihm umdrehte. Auch im Garten hat er mich stets sozusagen beaufsichtigt. Immer ist er in der Nähe, wenn –«

»Danke, Baronesse. – Hat Ihnen Ihr Vater einmal von dem sogenannten Fluche des Geschlechts etwas erzählt?«

»Nein – nie! Ich weiß nur, daß unsere Familie Ungarn wegen politischer Umtriebe verlassen mußte. Die Friedrichsburg soll auch geheime Gänge enthalten, die der Erbauer absichtlich angelegt haben soll, da er Nachstellungen seiner politischen Feinde befürchtete. Erst Onkel Gisbert berichtete uns die Sage von dem sterbenden Zigeuner. Es kann ja nur eine Sage sein, obwohl der Onkel daran zu glauben scheint.«

»Besitzen Sie ein Familienalbum?« fragte Harst nun. »Wenn ja – wo befindet es sich?«

»Im sogenannten blauen Saal im ersten Stock in einem Eichenschrank.«

In diesem Augenblick trat Frau Doktor Heid ein, flüsterte:

»Der Diener des Barons ist im Wartezimmer. Er will Bescheid haben, ob der Baron seine Nichte sehen kann.«

»Bestellen Sie, daß er sie sehen, aber nicht sprechen dürfe, da sie noch zu schwach ist,« erklärte Harst. »Bitte kommen Sie dann wieder hierher, Frau Doktor.«

Als sie erschien, sagte Harst: »Sie bleiben hier im Zimmer, Frau Doktor. Unter keinen Umständen verlassen Sie es. Sie dulden auch nicht einmal, daß der Baron etwa seine Nichte auf die Stirn küßt. Am besten, Sie setzen sich hier ans Bett und rühren sich nicht weg. – Wir, Schraut und ich, werden dort das Piano anders stellen, damit wir dahinter Platz haben. Oben auf das Instrument, werde ich Bücher so aufstellen, daß kleine Spalten zum Durchsehen frei bleiben. – Fragen Sie jetzt nichts. Ich tue alles im Interesse der Baronesse und auch aus Interesse für deren Onkel.« – Die beiden Damen merkten wohl kaum den feinen Unterschied, den Harst machte: einmal »im Interesse«, dann »aus Interesse«! Ich – merkte ihn! Aber klüger wurde ich dadurch nicht. –

Eine Viertelstunde später klopfte es an die Salontür. Frau Heid rief Herein.

Der Baron war ein schlanker, eleganter, älterer Herr mit graumeliertem Spitzbart, sehr liebenswürdig, sehr gewandt: er küßte Frau Heid die Hand.

Er bezeigte für Thora eine rührende Teilnahme, stand am Fußende des Bettes und sprach liebevolle Worte, legte für sie dann ein paar prachtvolle rote Rosen mit langen Stielen auf die Bettdecke und verabschiedete sich wieder.

Kaum war er hinaus, jetzt begleitet von der jungen Arztfrau, als Harst auch schon die Rosen in eine Zeitung sehr vorsichtig einwickelte und zu der Baronesse sagte: »Der Duft könnte Ihnen schaden.« –

Wir warteten dann in Heids Sprechzimmer auf seine Rückkehr. Harst benutzte die Zeit und untersuchte die vier Rosen. – »Ich finde nichts. Trotzdem ist es besser, sie werden verbrannt,« meinte er. Und er tat es eigenhändig im Ofen, indem er Papier aus dem Papierkorb hineinstopfte und es anzündete.

Nach einer halben Stunde trat Heid endlich ein. »Er lebt!« rief er ganz glücklich. »Er hat auch bereits zu Protokoll gegeben, daß er nie an Selbstmord gedacht und daß der Zettel nicht von ihm herrührt, der auf dem Schreibtisch lag. – In dem Wasserglas befindet sich am Boden Arsenik. wie ich festgestellt habe. – Eine recht mysteriöse Geschichte.«

»Keineswegs, Herr Doktor,« sagte Harst gelassen. »Sogar eine sehr ungeschickte Geschichte. – Die Arseniklösung, die man in dem Glase eingerührt hatte, ist in den Spüleimer gegossen worden. Die Tinte, mit der die Selbstmordankündigung geschrieben wurde, ist schwarze Kaisertinte, während das Schreibzeug Eisengallustinte enthält. Die Handschrift ist von Leuten gefälscht, die Briefe Müllers an seine Braut abgefangen haben und so leicht imstande waren, Schreibübungen nach diesen Mustern zu machen. Das Kurare-Gift ist ihm durch einen Nadelstich in die linke Halsseite beigebracht worden. Die Haut zeigt dort auch zwei Mückenstiche. Der Schlafende wird den Stich also für eine Mücke gehalten haben. Der, der die Nadel handhabte, ist durch das offen gelassene linke Fenster mit Hilfe einer Leiter eingestiegen. Die Eindrücke der Leiterenden sind unter dem Fenster zu erkennen, ebenso auch der scharfe Abdruck eines Absatzes mit Gummiecke dicht daneben in einer vom Dach herabgetropften, noch nicht erhärteten Teeranhäufung. Die Gummiecke ist mit drei Nägeln befestigt. – Also: Mordversuch!«

Doktor Heid stand ganz versteinert da. »Sie – Sie übertreffen noch meine Erwartungen, Herr Harst,« sagte er nun kopfschüttelnd. »Nie hätte ich gedacht, daß es so geniale –«

Harst wehrte lächelnd ab. »Keine Schmeicheleien! – Wir sind ja erst zur Hälfte mit diesem Fall fertig. Ich betone: diesem Fall! – Denn die Leute, die Müller umbringen wollten, haben bereits fünf Morde auf dem Gewissen und wollten auch die Baronesse beseitigen. Müller aber sollte sterben, weil seine Braut ihn zum Mitwisser ihrer Todesgedanken gemacht hatte. Er wäre der Mordbande gefährlich geworden – vielleicht! – So, nun etwas anderes. Ich habe Ihrer Gattin bereits mitgeteilt, daß niemand, sei es, wer es sei, außer Ihnen beiden an das Krankenbett darf. Also – größte Vorsicht! Dann – nur Speisen der Baronesse geben, die unter Ihrer Aufsicht, besser von Ihrer Gattin allein und von Vorräten bereitet sind, die bereits im Hause vorhanden. Schließlich: wir werden die Nacht über hier wachen, das heißt im Salon hinter dem Klavier, aber es ist möglich, daß wir erst sehr spät kommen können. Lassen Sie also Haus- und Flurtür auf. Brennen Sie aber kein Licht in der Wohnung. Tun Sie, als wären Sie zeitig wie immer schlafen gegangen. Sollte der Baron heute nochmals hier erscheinen, so können Sie so nebenbei erklären, Sie hielten eine Nachtwache bei der Baronesse für überflüssig; Sie würden ihr ein starkes Schlafpulver geben, schon der Schmerzen wegen. – Was Müller anbetrifft, so lassen Sie ihn sofort nach Potsdam in ein Krankenhaus bringen.«

»Oh – es geht ihm ja schon so gut, daß –«

»Dann soll er bei Mertens ein anderes Zimmer beziehen – im zweiten Stock, soll die Fenster nachts geschlossen halten und irgend jemand für die Nacht zu sich nehmen – vielleicht den Hausdiener. Aber all das ganz unauffällig.« – Harst erhob sich. »Ich habe jetzt ein starkes Bedürfnis nach Schlaf. – Also – auf Wiedersehen, Herr Doktor.«

Heid hielt Harsts Rechte in der seinen fest, bat:

»So sagen Sie mir doch nur, was all das bedeutet?! Schon in der Nacht unter der Laterne den furchtbaren Hinweis auf Tetanus –«

»Nicht jetzt, Doktor, – morgen vielleicht – oder in der kommenden Nacht. – Auf Wiedersehen!«

Wir wanderten unserem Häuschen zu. Harst grübelte vor sich hin mit gesenktem Kopf.

»Wenn ich nur wüßte, wie ich ohne die Depesche nach Transvaal auskäme,« meinte er dann. »Sie wäre ja tagelang unterwegs. Und ebenso die Antwort. – Gewiß – wenn wir eine Photographie fänden, – wenn! Aber – wie nur an das Album herangelangen? – Wir müßten es gerade stehlen. Schließlich ließe sich auch das vielleicht bewerkstelligen.«

Wieder schwieg er. Erst vor unserem Sommerheim blieb er stehen, faßte mich an den Aermel: »Schraut – ich hab's. Wir stehlen's! Und wir machen auch dabei gleich die Probe aufs Exempel. Der Baron hatte seine Farm dicht bei Keetmannshoop. Wir werden die Afrikakenner spielen.«

5. Kapitel.
Der lange Stock

Wir schliefen bis gegen drei nachmittags. Dann mußte uns Frau Höppner eine einfache Mahlzeit zubereiten, und um vier läuteten wir an der Gitterpforte der Friedrichsburg.

Der Diener öffnete uns. Er hatte ein faltiges, glattrasiertes Fuchsgesicht und sehr argwöhnische Augen. – Harst erklärte, den Herrn Baron sprechen zu wollen in einer rein persönlichen Angelegenheit.

Der Diener ließ sich die Namen nennen – Brüder Ernst und Oskar Hevelke, Versicherungsbeamte, – führte uns ins Haus und hieß uns auf der sehr prunkvollen Diele warten, kehrte sehr bald zurück und geleitete uns in den Garten, wo der Baron in einem Liegestuhl, neben sich einen gedeckten Kaffeetisch, unter einer Kastanie saß.

Er erhob sich, war recht freundlich, und fragte nach unseren Wünschen.

Harst tat nun sehr verlegen. »Entschuldigen Sie, Herr Baron, – wir haben uns geirrt,« meinte er. »Wir kamen in der Hoffnung her, in Ihnen einen Bekannten begrüßen zu können. Mein Bruder und ich waren vor fünf Jahren längere Zeit im Auftrage einer englischen Versicherungsgesellschaft in Keetmannshoop, lernten dort einen Baron von Malwack flüchtig kennen und hofften nun hier in Ihnen diesen Herrn wiederzufinden, der sich dann vielleicht hätte versichern lassen. Man verdient doch gern die Provision. Entschuldigen Sie also gütigst, Herr Baron. Wir sind ganz zufällig auf Ihren Namen aufmerksam geworden. Wir wohnen als Sommergäste bei dem Maurer Höppner, und durch das gestrige Unglück mit den Hunden –«

»Oh – da bedarf es doch keiner Entschuldigungen, meine Herren, wirklich nicht. – Also in Keetmannshoop waren Sie mal. Na – dann haben Sie dort meinen Vetter kennen gelernt, der damals auf meiner Farm als Jagdgast weilte. Ich bin ja auch alter Transvaaler.«

Mir fiel es auf, daß er dann sofort das Thema wechselte. Harst verabschiedete sich bald, fragte dann aber noch zögernd, ob der Herr Baron nicht doch vielleicht Lust hätte, sein Leben versichern zu lassen. – Doch der lachte zwanglos, meinte: »Für wen wohl? Ich bin Junggeselle und habe für mich übergenug. Nein, so leid es tut, meine Herren, aber –«

»Und Ihre Hausangestellten, Herr Baron?«

»Sie scheinen ja ein sehr eifriger Beamter zu sein,« lachte der frühere Farmer. »Ich will sie fragen, und dann gebe ich Ihnen Bescheid.«

Wir gingen wieder. Auf der Straße sagte Harst:

»Wir brauchen das Album nicht mehr. Deshalb habe ich von dem Diebstahl abgesehen. Wir hätten ihn vielleicht ermöglicht, wenn wir uns das Haus hätten zeigen lassen. Nun – wir sind um eine Schwierigkeit herumgekommen. Dieser Baron ist entweder nie in Afrika gewesen oder hat guten Grund, diese Erinnerungen nicht aufzufrischen. Deshalb vermied er ein Gespräch über Keetmannshoop. Die Hauptsache: er ist harmlos geblieben und – ich kann mir auch die Depesche sparen.«

Wir suchten das Postamt auf, und Harst rief die Berliner Kriminalpolizei an, bat um sechs Beamte für die Nacht, denen er abends neun Uhr auf dem Bahnhof Wannsee die nötigen Weisungen geben würde.

Bis gegen 7 Uhr abends ruderten wir auf dem Kleinen Wannsee herum, lediglich, um uns die Zeit zu vertreiben. Bei Höppners fanden wir dann einen Brief des Doktors, versiegelt, darin nur seine Visitenkarte mit den Worten: »Er war selbst hier. Habe über Schlafpulver gesprochen.«

Harst nickte zufrieden. »Die Falle wäre gestellt. Der Fuchs wird hineintappen. Es fragt sich nur, welcher aus dem großen Fuchsbau es sein wird.«

Um zehn schlichen wir in das Haus des Doktors hinein. Er wohnte hochparterre.

Heid und Frau waren noch auf. Im Dunkeln wurde die Baronesse nun auf Harsts ausdrücklichen Wunsch im Speisezimmer auf den Diwan gebettet. Heid sollte bei ihr wachen.

Dann begaben wir uns in den Salon. Harst nahm den falschen Bart ab, so daß sein glattrasiertes Gesicht zum Vorschein kam, band um die Stirn eine Serviette, legte Jackett, Kragen und Schlips ab, versteckte dies alles, öffnete den einen Fensterflügel, setzte sich auf den Rand des Bettes, in dem noch die Betten lagen, und hieß mich hinter dem Klavier auf einem Stuhl Posto fassen. Zwei Paar stählerne Handfesseln trug ich in der Tasche, und Harst sagte, ich solle sie bereit halten, sobald er sich ins Bett lege.

Auf dem Nachttisch brannte nur ein sogenannter Oelschwimmer, dessen Lichtkreis kaum für die Platte des Tischchens reichte.

Ich saß nun und wartete. Und ich hatte dabei genügend Zeit, mir alles zu überlegen, was mit diesem Fall zusammenhing. Ich wußte jetzt, daß Harst den Baron beargwöhnte. Aber ganz klar sah ich noch immer nicht.

Eine Stutzuhr auf einer Vitrine links von mir schlug zwölf. Ich saß so, daß ich mich nur halb aufzurichten brauchte, um durch die Lücke in den Büchern hindurchzuspähen. Ich tat's sehr oft. Und als die Uhr ausgeschlagen hatte, abermals.

Harst lag im Bett! Viel von ihm sah ich nicht. Er hatte die Decke bis zum Halse hochgezogen. Das Bett stand rechts von mir an der Wand. Geradeaus lagen die beiden Fenster.

Ich beobachtete sie scharf. Minuten vergingen. Dann bewegte sich der Vorhang vor dem offenen Flügel, dann wurde er zurückgeschoben – ganz langsam. Die Nacht war hell, und die Dämmerung im Zimmer gestattete ganz gut, die einzelnen Gegenstände ungefähr zu unterscheiden.

Abermals bewegte sich der Vorhang. Eine Gestalt erschien. Sie verharrte regungslos dicht am Fenster. Dann hantierte sie vorsichtig mit etwas herum, das wie ein Stock aussah, der sich immer mehr verlängerte. Es war fraglos ein Angelstock aus mehreren, ineinander zu schiebenden Teilen.

Harst lag mit dem Gesicht nach den Fenstern hin. Er hatte die Kopfkissen umgelegt und auch das Nachttischchen umgestellt. Das fiel mir erst jetzt auf. Er konnte also ebenfalls die Fenster im Auge behalten.

Die Gestalt bewegte sich vorwärts. Ich erkannte nun recht deutlich den langen Angelstock. Jetzt machte der Eindringling halt. Der schwache Lichtschein des Schwimmerchens traf das dünne Ende des Angelstockes.

Da bewegte Harst den Kopf, und blitzschnell zog die Gestalt, die etwa zwei Schritt vom Fenster entfernt tief gebückt dastand, den Stock zurück.

Wieder Stille. Nur mein Herz hämmerte.

Und dann – hob der Fremde zum zweiten Mal den jetzt gesenkten Stock. Das dünne Ende – es war heller Bambus – leuchtete matt im Lichte des Lämpchens auf, beschrieb einen Bogen auf Harsts Hals zu.

Ich wußte: die Entscheidung war da.

Und – sie kam! – Harst schlug urplötzlich mit der Linken den Stock bei Seite, schleuderte die Decke von sich, tat einen wahren Panthersatz und warf sich auf den im ersten Augenblick völlig Ueberraschten.

Doch dieser Mensch hatte Riesenkräfte. Ein Faustschlag traf Harsts Stirn, daß er zurückflog. Und gedankenschnell schwang der Fremde sich auf den Fensterkopf, wollte hinausspringen.

Wollte! – Harsts Hände bekamen ihn gerade noch an den Schultern zu packen, rissen ihn zurück, glitten nach dem Halse hin.

Ein schweres Aechzen, und dann konnte ich dem halb Bewußtlosen die Handschellen anlegen, bückte mich, drückte das andere Paar um die Fußgelenke.

»Licht!« befahl Harst. Ich schaltete den Kronleuchter ein.

Tageshelle urplötzlich. Ganz geblendet schloß ich die Augen, öffnete sie wieder.

Dort auf dem Teppich lag der Baron Gisbert von Malwack. –

Harst holte den Doktor, bückte sich, hob den Angelstock auf. An dessen Spitze war eine lange, dünne Nadel befestigt, deren Oberteil einen bräunlichen Schimmer zeigte.

»Es ist Gift – Kurare,« sagte Harst laut.

Der Gefesselte regte sich. Ueber sein verzerrtes Gesicht ging ein Grinsen hin. – »Das Spiel scheint aus zu sein,« meinte er mit einer Gelassenheit, die für die Abgebrühtheit des Verbrechers sprach. »Nun – was können Sie mir groß anhaben?! So gut uns nichts! Was habe ich getan: etwas versucht, das nicht zur Ausführung gekommen ist!« – Da erkannte er mich. – Ah – einer der Versicherungsbeamten! Also Spione,« lachte er höhnisch.

Harst trat näher. »Ja – Spione! Und der andere bin ich. Ich heiße Harald Harst –«

Das Gesicht des Barons wurde starr und um einen Schatten blasser. Er schaute zur Seite.

»Also Harald Harst bin ich, den die Baronesse zu Hilfe gerufen hat gegen Sie und Ihre Verbündeten, Sie – Massenmörder. Ich kenne Ihr geheimes Laboratorium. Dort fand ich ein Gestell mit Reagenzgläschen – Cholerabazillen und Tetanus- oder Wundstarrkrampfbazillen, dort aber auch den zerrissenen, blutigen Mantel der Baronesse. Sie Ungeheuer – Sie haben absichtlich die Hunde auf den Fuchs scharf gemacht, haben dann dem Mantel durch irgend ein Mittel dieselbe Raubtierausdünstung so kräftig beigebracht, daß die Bulldoggen nicht die Witterung der Komtesse gestern nacht bekamen, sondern die des ihnen verhaßten Fuchses. Und da sind sie auf das arme Weib losgestürzt, ließen erst von ihr ab. als sie am Boden lag und als nun die menschliche Witterung die andere übertäubte. Ich habe noch deutlich den Raubtiergeruch an dem Mantel gespürt. Und nur deshalb haben Sie ihn in das Geheimgemach getragen, weil Sie diesen Geruch als verräterisch fürchteten. Der Mantel sollte eben verschwinden. Sie wußten, daß die Baronesse mich treffen wollte. Sie oder einer Ihrer Genossen hat ja den Brief geöffnet und mir dann die gefälschte Depesche gesandt. Sie wollten Thora ermorden, ebenso wie Sie ihren Verlobten beseitigen wollten und – wie Sie den Studenten Malwack, die ältere Baronesse und all die anderen Mitglieder der Familie schon beseitigt haben, um Erbe des großen Familienvermögens zu werden.«

»Lächerlich!« rief der Gefesselte dazwischen. Aber es klang sehr kleinlaut.

»Ihnen wird das Lachen vergehen. – Sie sind ein Betrüger, sind nicht Baron Gisbert. Wer Sie sind, wird wohl einer Ihrer Komplicen angeben, um den eigenen Kopf zu retten. In diesem Augenblick sind Ihre drei Helfershelfer, der Diener, die Köchin und der Gärtner, bereits verhaftet. Diese drei haben Sie ja sofort nach Uebernahme der Vormundschaft eingestellt und das altbewährte Personal entlassen. – Wäre es nicht besser, Sie legten ein Geständnis ab?«

»Da können Sie lange warten,« zischte der Verbrecher in ohnmächtiger Wut.

Draußen ein Trillerpfiff. – »Aha – Kommissar Bechert,« meinte Harst. »Holen Sie ihn herein, Schraut.«

Der Kriminalkommissar raunte mir schon im Flur zu: »Der Gärtner hat alles gestanden. Nun ist die Bande geliefert!«

Bechert warf einen langen Blick auf den Daliegenden.

»Schade – daß die Folter abgeschafft ist,« sagte er zu ihm voller Abscheu. »Sie hätten sie verdient, Sie Bestie in Menschengestalt! Sie heißen in Wirklichkeit Paul Melzer, waren Arzt in Keetmannshoop. wurden wegen allerlei Betrügereien eingesperrt, entwarfen dann den Plan, sich des großen Vermögens der Malwacks zu bemächtigen, dangen sich drei ebenso verkommene Existenzen zu Verbündeten, rüsteten sie mit Giften aus, schickten sie hierher und ließen durch den jetzigen Diener erst den alten Baron und dann das Ehepaar beseitigen. Einzelheiten will ich mir jetzt schenken. Sie kannten den Baron Gisbert persönlich, wußten auch, daß er hier Vormund werden sollte. Als er nach Deutschland abreisen wollte, haben Sie ihn in Kapstadt ermordet, ihm sein Geld, seine Papiere abgenommen, haben sich als Baron ausgegeben, konnten es auch ganz ruhig, da dieser seit zwanzig Jahren dauernd in Transvaal gelebt hatte und weil eine entfernte Aehnlichkeit mit ihm diesen Betrug erleichterte. Die ältere Baronesse haben Sie mit eigener Hand im Badehäuschen der Friedrichsburg ertränkt, den jungen Baron, den Studenten. durch Cholerabazillen hingemordet. Baronesse Thora sollten die Hunde zerfleischen, und ihren Verlobten sollte gestern der Gärtner vergiften. Auch darin stimmt Herrn Harsts Vermutung, daß Sie Thora von Malwack das Tetanusgift in die Wunden bringen wollten, damit sie an Wundstarrkrampf eingehe. Jeder von Ihnen hat gemordet oder zu morden versucht, nur des Dieners Frau, die Köchin noch nicht. Aber auch sie sollte gleich schuldig werden und später die jüngste der Schwestern irgendwie den anderen folgen lassen. Um diesen Morden ein abergläubisches Mäntelchen umzuhängen, erfanden Sie die Geschichte von dem Fluche des Geschlechts derer von Malwack. – So – nun wird die Welt von Ihnen befreit werden – endlich, und das haben wir nur Harald Harst zu verdanken. Ein verbrecherisches Genie wie Sie konnte auch nur durch ein Genie entlarvt werden.«

Harst und ich gingen durch die stillen, friedlichen Straßen Wannsees heim nach unserem Sommerquartier.

Und Harst sagte: »Bechert hat recht: der Mensch war ein Genie in seiner Art. Wer wäre wohl so leicht auf die Idee gekommen, die Bulldoggen als Mörder zu benutzen?!«

Dann rauchte er seine Mirakulum weiter.

*


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