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Die Reisenden

Gast aber konnte sich nicht vom Meere losreißen. Auf der Fahrt um Seeland waren ihm die Wolken in die Seele gedrungen, die wie große Luftwesen mit ausgebreiteten Schwingen über den Himmel schritten – wohin reisten sie? Kein Zweifel, daß sie von den Winden geführt wurden, denn sie gingen immer in die Richtung der Winde – woher aber kamen die Winde und wohin reisten sie?

Wenn der Wind die Wolken mit sich führte, warum nicht auch in einem Fahrzeug sich seiner Gewalt überlassen? Gast versuchte, ein Segel auf dem Boot zu setzen, anfänglich nur eine Matte, die an einer Stange befestigt war und nicht viel Ähnlichkeit mit den luftigen Wolken hatte, dennoch wurde er in ihre Richtung getrieben und sogar mit erstaunlicher Geschwindigkeit; offenbar befand er sich hier auf dem richtigen Wege.

Die Alten schüttelten die Köpfe über Gasts Segelgrillen, davon hatte man wohl schon früher gehört, sich aber nicht weiter dafür interessiert. Gast aber gewann mehrere der jungen Leute für sein Vorhaben und machte mit ihnen gemeinsam weitläufige Segelversuche in den ausgehöhlten Booten, zuerst in der Bucht, dann immer kühnere auf offener See. Bald hatten sie die Grenze dessen erreicht, was die schmalen Eichenkähne an Segeln tragen konnten; die Boote kenterten leicht und konnten nun einmal nicht breiter gemacht werden, als der Stamm des größten Baumes im Walde an Durchmesser hatte; darum banden sie zwei Kähne zusammen oder gaben dem Schiff einen Ausleger, einen Baumstamm, der neben dem Kahn schwamm und durch mehrere Querbalken mit ihm verbunden wurde, wodurch das Boot größere Tragfähigkeit bekam, ohne an Fahrtgeschwindigkeit einzubüßen.

Mit diesen neuen, zusammengesetzten Fahrzeugen machten die Jungen immer längere Ausflüge ins offene Meer, je mehr sie sich von der Tauglichkeit derselben überzeugten. Die Alten legten keinen Wert darauf, mit diesen beschwingten Schiffen zu fahren; ihr Wahlspruch war von jeher gewesen, daß man sich nur so weit vom Lande entfernen sollte, daß man Grund behielt, lieber sich vorwärtsstängen als rudern; auch wirkten Schiffe mit Segeln unehrbar auf dem Meere, man lenkte dadurch die Aufmerksamkeit zu sehr auf sich; außerdem war es männlicher, zu rudern, als die Arbeit dem Winde zu überlassen, und schließlich sah es ja einerseits recht ungefährlich aus, wie der Ausleger das Boot am Kentern hinderte, andererseits aber war dieses Unternehmen wie eine Herausforderung an die Mächte, oben und unten, an die wehenden und die nassen; man konnte nicht wissen, welche schicksalsschweren Folgen das Verfahren nach sich ziehen würde.

So ging es denn hier wie immer, wenn das neue, vorwärtsstürmende Geschlecht und die ältere Besonnenheit gegeneinander prallen – man trennte sich. Eines Tages begaben die Jungen sich auf eine größere Reise; sie hatten etwas von der Küste auf der anderen Seite des Fahrwassers verlauten lassen, und kehrten nicht zurück. Die Älteren behielten Recht, blieben, wo sie waren, und den Jungen erging es wahrscheinlich schlecht; jedenfalls wurden die wagehalsigen Schiffer nicht wieder auf Seeland gesehen, solange dort Menschen lebten, die sich ihrer erinnern konnten; sie waren tot oder von der Erde verschlungen.

Tatsache war, daß sie auf die andere Seite des Fjords gelangt waren; Gast und seine Genossen halten Fünen entdeckt und dort Wohnplätze gefunden, die fast wie die zu Hause waren, eine ähnliche schaltieressende Bevölkerung, eher entgegenkommend als grimmig, wenige Menschenfresser und gar keine Übernatürlichkeiten, wie man eigentlich erwartet hatte. Dort baute man Erdhütten, da man aber ausgezogen war, um das Ungewöhnliche zu finden, dauerte es nicht lange, bis man wieder in See stach. Mit ähnlichen Resultaten besuchten die jungen Seefahrer nach und nach alle anderen dänischen Inseln.

Sie trieben sich so lange auf den baltischen Gewässern herum, bis sie endlich die großen Inlandflüsse fanden, denen sie flußaufwärts folgten und tief in Mitteleuropa eindrangen; sie fischten sich vorwärts, und wenn sie nicht mehr mit ihren Booten weiterkommen konnten, gingen sie an Land und wurden Jäger, jagten auf weiten Ebenen und in dichten Wäldern, drangen durch wilde Berggegenden, bis sie auf der anderen Seite wieder Flüsse fanden und wieder Fischer wurden. Tausende von Meilen fuhren sie durch Asien, verloren sich in grenzenlosen Steppen und wurden Renntierjäger, gelangten nördlich durch spärliche Wälder und über zugefrorene Moore bis ans Eismeer, wo sie die Sonne fast aus den Augen verloren; dort jagten sie Seehunde und verfertigten sich aus Mangel an Holz Boote aus Fellen, suchten und fanden längs der Küste die Mündungen anderer gewaltiger Flüsse, auf denen sie fischend wieder Tausende von Meilen ins Innere von Asien zurückgeführt wurden, und von neuem wurden sie Jäger in anderen wilden Wäldern und überstiegen andere steile, furchteinflößende Berge, die ihre Mauern mit Schneezinnen bis in die Wolken erhoben. Wo aber die Bergziege gehen konnte, fanden auch sie Pfade und Nahrung, durch die Bergziege nämlich, auch diese Berge überstiegen sie und gelangten in warme Täler mit Flüssen, die sie südwärts lockten; dort schlich der große Tiger gestreift durch das Schilf am Ufer; sie saßen jetzt nackt in ihren Booten, und die Sonne hatte ihre Feuertore weit über ihren Köpfen aufgeschlagen. So gelangten sie in die warmen Länder, durch die Tropenwälder und wieder aus ihnen heraus, bis an die Grenzen von Asien im Süden und Osten, um all die ungeheuer langgestreckten Küsten herum, und wieder nördlich zu den äußersten nördlichen Inseln in eisgebundenen Meeren, wo sie von neuem Seehundsfänger wurden. Von dort begaben sie sich zum amerikanischen Festlande, wo sie den Elch trafen, wohnten in den Wäldern und auf Bergen, fertigten sich Boote aus Rinde und bohrten sich durch Flüsse und Seen ins Innere des Landes, fanden dort ungeheure Ebenen und wurden Büffeljäger; die amerikanischen Tropen verschlangen sie und behielten einige von ihnen, wie andere Gegenden andere behalten hatten, einige aber tauchten wieder auf und verbreiteten sich auf den windoffenen Steppen Südamerikas, und weiter südlich drangen sie vor und konnten nicht begreifen, daß es diesmal immer kälter wurde, je südlicher sie kamen. Dort jagten sie kamelartige Tiere, die sie mit Schlingen einfingen; und ihre Wanderung fand kein Ende, bevor sie die südlichste Spitze von Amerika erreicht hatten, kalte, winterdunkle Inseln, nicht unähnlich jenen, von denen sie ausgegangen waren. Dort blieben einige von ihnen in dem Bewußtsein, daß sie das Ende der Welt erreicht hatten und dennoch zum Ausgangspunkt zurückgekehrt seien; in eine Menschenfalle waren sie gegangen, aus der es kein Vorwärts und kein Zurück mehr gab, Unzufriedenheit statt Sehnsucht – und da sitzen sie noch heute!

Andere aber gelangten durch Asien zu den großen Inseln im Meere, drangen so weit vor, daß sie aus dem Bereich der südlichen Sonne gelangten, wurden Würmerfresser und folgten den hüpfenden Tieren; auch ihre Seelen wurden verschlossen, sie gerieten in eine Sackgasse des Daseins und vergaßen, wer sie ursprünglich waren. Und wieder andere waren aufs Geratewohl in die Südsee gezogen, hatten sich auf ihren schmächtigen Auslegebooten in die Gewalt mächtiger Wogen begeben, halb im Wasser sitzend, mit nackten Füßen, nach denen die Haifische, von denen sie sich nährten, schnappten; sie fischten sich vorwärts und kamen zu kleinen palmenbekränzten Inseln, rauchenden Vulkangipfeln im unendlichen Meere, abseits und von der Zeit vergessen, wie das verwehte Samenkorn, nach dessen Schicksal niemand fragt.

Gast und seine Kameraden waren in der großen Völkerwanderung des Steinzeitalters aufgegangen, in der auch ihre Nachkommen aufgingen, als sie schon längst tot waren, neue Jäger und neue Fischer, Geschlecht nach Geschlecht, mehr Glieder, als je festgestellt werden konnten; sie waren mit in jener Menschenwoge, die größere und größere Ringe zog, bis sie auf den fernsten Küsten der äußeren Meere halt machte.

Die Ersten waren sie nicht gewesen; andere Wogen waren ihnen schon vorangegangen, ein Zug von Geschlechtern, die frühen Waldvölker der Voreiszeit, die, von der Kälte vertrieben, sich jetzt lichtscheu in den heißen Kellern der Tropenwaldungen in Asien und Afrika verborgen hielten, alle jene fernen, versprengten Randvölker, die Generation nach Generation zu den äußersten Küsten der Weltteile abgedrängt worden waren; mit ihnen wogten sie zusammen, wo immer sie hinkamen, friedlich oder unfriedlich. Völker wanderten, Zeiten wanderten.

 

Schließlich aber besann Gast sich. In seinen Gedanken, wanderte er den ganzen langen Weg, den er zurückgelegt, noch einmal und bekam Heimweh nach dem Wohnort, den er verlassen hatte. Vielen Geschlechtern, die jetzt tot waren, war er gefolgt; der Tod aber war das einzige, worin er ihnen nicht zu folgen vermochte, denn er konnte ja nicht sterben, war der wandernde Geist in eigener Person. Solange er wanderte, alterte er nicht. Jetzt aber war die Sehnsucht nach einem festen Wohnsitz über ihn gekommen.

Er befand sich auf einer Insel im äußersten Meere, Hunderte von Meilen von anderen Inseln entfernt, als die Verstimmung über ihn kam. Das tiefe Meer umringte die Inseln von allen Seiten mit langen, bedächtig rollenden Wogen; er befand sich in der Mitte allen Wogenganges, und über seinem Kopfe neigte sich eine Palme, die Krone voller Früchte, wie eine Brust mit vielen Brüsten. Da kam die alte Unruhe über ihn, die ihn beständig zum Aufbruch getrieben hatte.

Diesmal aber brach er nicht auf. Er hatte Heimweh nach dem alten Baum an der Quelle, nach den nordischen Sternen, und seine Sehnsucht war so heftig, daß er sich nicht Zeit lassen konnte, den unendlich langen Weg, den er gekommen, wieder zurückzulegen. Da beschloß er zu sterben, nahm das Licht, das er so lange bewahrt hatte, und zündete es an.

Es war ein seltsames Licht; wohl brannte es schnell herab, in seiner Flamme aber war der Augenblick und die Ewigkeit. Es war, als ob noch gar keine Zeit vergangen sei, es gab gar keine Zeit, Gast erlebte sein ganzes Leben auf einmal; das Ferne war ihm nah, Mutter Gro, die das Licht mit ihren Händen geformt hatte, war ihm nah, seine Freundin Pil war ihm nah, atmete im Licht; unwirklich war nur, daß er jemals von ihnen getrennt gewesen war. Nur einen kurzen Augenblick hatte er sich abgewandt, war jetzt wieder zu Hause. Da wurde ihm so froh zumute, daß er gar nicht mehr den Wunsch hatte, zu sterben, und schnell blies er das Licht aus.

Nachdem der blendende Schein verlöscht war, wurde es plötzlich ganz dunkel. Aber noch während er sich in der Dunkelheit befand, merkte er, daß er in einer anderen Luft war; er hörte nicht mehr das langgezogene, brausende Donnern der Dünungen, die sich an dem felsigen Ufer der Insel brachen; es war ganz still geworden, in der Nähe hörte er nur den melodischen Ton von rinnendem Wasser.

Nach und nach begann es um ihn her zu dämmern, und da sah er, daß er sich unter hohen, kühlen Laubbäumen befand. Wie ein Ring von gedämpfter Musik stieg es um ihn her auf, das kühle Spiel der Frösche in der Nacht; eine helle Nacht war es, und über seinem Kopfe standen neblige Sterne, die alten bekannten Sternbilder. Er war ja auf Seeland, war nie fortgewesen.

Der Rasen, auf dem er saß, war kühl, die Nacht erquickend; mit einem einzigen Seufzer atmete er alle seine Seufzer aus, sank mit geschlossenen Augen nieder und schlief an Seelands Brust ein.


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