Wilhelm von Humboldt
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
Wilhelm von Humboldt

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VII

Außer der eigentlichen Erziehung der Jugend gibt es noch ein anderes Mittel, auf den Charakter und die Sitten der Nation zu wirken, durch welches der Staat gleichsam den erwachsenen, reif gewordenen Menschen erzieht, sein ganzes Leben hindurch seine Handlungsweise und Denkungsart begleitet und derselben diese oder jene Richtung zu erteilen oder sie wenigstens vor diesem oder jenem Abwege zu bewahren versucht – die Religion. Alle Staaten, soviel uns die Geschichte aufzeigt, haben sich dieses Mittels, obgleich in sehr verschiedener Absicht und in verschiedenem Maße, bedient. Bei den Alten war die Religion mit der Staatsverfassung innigst verbunden, eigentlich politische Stütze oder Triebfeder derselben, und es gilt daher davon alles das, was ich im vorigen über ähnliche Einrichtungen der Alten bemerkt habe. Als die christliche Religion statt der ehemaligen Partikulargottheiten der Nationen eine allgemeine Gottheit aller Menschen lehrte, dadurch eine der gefährlichsten Mauern umstürzte, welche die verschiedenen Stämme des Menschengeschlechts voneinander absonderten, und damit den wahren Grund aller wahren Menschentugend, Menschenentwickelung und Menschenvereinigung legte, ohne welche Aufklärung und Kenntnisse und Wissenschaften selbst noch sehr viel länger, wenn nicht immer, ein seltnes Eigentum einiger weniger geblieben wären, wurde das Band zwischen der Verfassung des Staats und der Religion lockerer. Als aber nachher der Einbruch barbarischer Völker die Aufklärung verscheuchte, Mißverstand eben jener Religion einen blinden und intoleranten Eifer, Proselyten zu machen, eingab und die politische Gestalt der Staaten zugleich so verändert war, daß man statt der Bürger nur Untertanen und nicht sowohl des Staats als des Regenten fand, wurde Sorgfalt für die Erhaltung und Ausbreitung der Religion aus eigener Gewissenhaftigkeit der Fürsten geübt, welche dieselbe ihnen von der Gottheit selbst anvertraut glaubten. In neueren Zeiten ist zwar dies Vorurteil seltener geworden, allein der Gesichtspunkt der innerlichen Sicherheit und der Sittlichkeit – als ihrer festesten Schutzwehr – hat die Beförderung der Religion durch Gesetze und Staatseinrichtungen nicht minder dringend empfohlen. Dies, glaube ich, wären etwa die Hauptepochen in der Religionsgeschichte der Staaten, ob ich gleich nicht leugnen will, daß jede der angeführten Rücksichten und vorzüglich die letzte überall mitwirken mochte, indes freilich eine die vorzüglichste war. Bei dem Bemühen, durch Religionsideen auf die Sitten zu wirken, muß man die Beförderung einer bestimmten Religion von der Beförderung der Religiosität überhaupt unterscheiden. Jene ist unstreitig drückender und verderblicher als diese. Allein überhaupt ist nur diese nicht leicht ohne jene möglich. Denn wenn der Staat einmal Moralität und Religiosität unzertrennbar vereint glaubt und es für möglich und erlaubt hält, durch dies Mittel zu wirken, so ist es kaum möglich, daß er nicht bei der verschiedenen Angemessenheit verschiedener Religionsmeinungen zu der wahren oder angenommenen Ideen nach geformten Moralität eine vorzugsweise vor der andren in Schutz nehme. Selbst wenn er dies gänzlich vermeidet und gleichsam als Beschützer und Verteidiger aller Religionsparteien auftritt, so muß er doch, da er nur nach den äußren Handlungen zu urteilen vermag, die Meinungen dieser Parteien mit Unterdrückung der möglichen abweichenden Meinungen einzelner begünstigen; und wenigstens interessiert er sich auf alle Fälle insofern für eine Meinung, als er den aufs Leben einwirkenden Glauben an eine Gottheit allgemein zum herrschenden zu machen sucht. Hiezu kommt nun noch über dies alles, daß bei der Zweideutigkeit aller Ausdrücke, bei der Menge der Ideen, welche sich einem Wort nur zu oft unterschieben lassen, der Staat selbst dem Ausdruck Religiosität eine bestimmte Bedeutung unterlegen müßte, wenn er sich desselben irgend als einer Richtschnur bedienen wollte. So ist daher, meines Erachtens, schlechterdings keine Einmischung des Staats in Religionssachen möglich, welche sich nicht, nur mehr oder minder, die Begünstigung gewisser bestimmter Meinungen zuschulden kommen ließe und folglich nicht die Gründe gegen sich gelten lassen müßte, welche von einer solchen Begünstigung hergenommen sind. Ebensowenig halte ich eine Art dieses Einmischens möglich, welche nicht wenigstens gewissermaßen eine Leitung, eine Hemmung der Freiheit der Individuen mit sich führte. Denn wie verschieden auch sehr natürlich der Einfluß von eigentlichem Zwange, bloßer Aufforderung und endlich bloßer Verschaffung leichterer Gelegenheit zu Beschäftigung mit Religionsideen ist, so ist doch selbst in dieser letzteren, wie im vorigen bei mehreren ähnlichen Einrichtungen ausführlicher zu zeigen versucht worden ist, immer ein gewisses, die Freiheit einengendes Übergewicht der Vorstellungsart des Staats. Diese Bemerkungen habe ich vorausschicken zu müssen geglaubt, um bei der folgenden Untersuchung dem Einwurfe zu begegnen, daß dieselbe nicht von der Sorgfalt für die Beförderung der Religion überhaupt, sondern nur von einzelnen Gattungen derselben rede, und um dieselbe nicht durch eine ängstliche Durchgehung der einzelnen möglichen Fälle zu sehr zerstückeln zu dürfen.

Alle Religion – und zwar rede ich hier von Religion, insofern sie sich auf Sittlichkeit und Glückseligkeit bezieht und folglich in Gefühl übergegangen ist, nicht insofern die Vernunft irgendeine Religionswahrheit wirklich erkennt oder zu erkennen meint, da Einsicht der Wahrheit unabhängig ist von allen Einflüssen des Wollens oder Begehrens, oder insofern Offenbarung irgendeine bekräftigt, da auch der historische Glaube dergleichen Einflüssen nicht unterworfen sein darf –, alle Religion, sage ich, beruht auf einem Bedürfnis der Seele. Wir hoffen, wir ahnden, weil wir wünschen. Da, wo noch alle Spur geistiger Kultur fehlt, ist auch das Bedürfnis bloß sinnlich. Furcht und Hoffnung bei Naturbegebenheiten, welche die Einbildungskraft in selbsttätige Wesen verwandelt, machen den Inbegriff der ganzen Religion aus. Wo geistige Kultur anfängt, genügt dies nicht mehr. Die Seele sehnt sich dann nach dem Anschauen einer Vollkommenheit, von der ein Funke in ihr glimmt, von der sie aber ein weit höheres Maß außer sich ahndet. Dies Anschauen geht in Bewunderung und, wenn der Mensch sich ein Verhältnis zu jenem Wesen hinzudenkt, in Liebe über, aus welcher Begierde des Ähnlichwerdens, der Vereinigung entspringt. Dies findet sich auch bei denjenigen Völkern, welche noch auf den niedrigsten Stufen der Bildung stehen. Denn daraus entspringt es, wenn selbst bei den rohesten Völkern die Ersten der Nation sich von den Göttern abzustammen, zu ihnen zurückzukehren wähnen. Nur verschieden ist die Vorstellung der Gottheit nach der Verschiedenheit der Vorstellung von Vollkommenheit, die in jedem Zeitalter und unter jeder Nation herrscht. Die Götter der ältesten Griechen und Römer und die Götter unsrer entferntesten Vorfahren waren Ideale körperlicher Macht und Stärke. Als die Idee des sinnlich Schönen entstand und verfeinert ward, erhob man die personifizierte sinnliche Schönheit auf den Thron der Gottheit, und so entstand die Religion, welche man Religion der Kunst nennen könnte. Als man sich von dem Sinnlichen zum rein Geistigen, von dem Schönen zum Guten und Wahren erhob, wurde der Inbegriff aller intellektuellen und moralischen Vollkommenheit Gegenstand der Anbetung und die Religion ein Eigentum der Philosophie. Vielleicht könnte nach diesem Maßstabe der Wert der verschiedenen Religionen gegeneinander abgewogen werden, wenn Religionen nach Nationen oder Parteien, nicht nach einzelnen Individuen verschieden wären. Allein so ist Religion ganz subjektiv, beruht allein auf der Eigentümlichkeit der Vorstellungsart jedes Menschen.

Wenn die Idee einer Gottheit die Frucht wahrer geistiger Bildung ist, so wirkt sie schön und wohltätig auf die innere Vollkommenheit zurück. Alle Dinge erscheinen uns in veränderter Gestalt, wenn sie Geschöpfe planvoller Absicht, als wenn sie ein Werk eines vernunftlosen Zufalls sind. Die Ideen von Weisheit, Ordnung, Absicht, die uns zu unsrem Handlen und selbst zur Erhöhung unsrer intellektuellen Kräfte so notwendig sind, fassen festere Wurzel in unsrer Seele, wenn wir sie überall entdecken. Das Endliche wird gleichsam unendlich, das Hinfällige bleibend, das Wandelbare stet, das Verschlungene einfach, wenn wir uns eine ordnende Ursach an der Spitze der Dinge und eine endlose Dauer der geistigen Substanzen denken. Unser Forschen nach Wahrheit, unser Streben nach Vollkommenheit gewinnt mehr Festigkeit und Sicherheit, wenn es ein Wesen für uns gibt, das der Quell aller Wahrheit, der Inbegriff aller Vollkommenheit ist. Widrige Schicksale werden der Seele weniger fühlbar, da Zuversicht und Hoffnung sich an sie knüpft. Das Gefühl, alles, was man besitzt, aus der Hand der Liebe zu empfangen, erhöht zugleich die Glückseligkeit und die moralische Güte. Durch Dankbarkeit bei der genossenen, durch hinlehnendes Vertrauen bei der ersehnten Freude geht die Seele aus sich heraus, brütet nicht immer in sich verschlossen über den eignen Empfindungen, Planen, Besorgnissen, Hoffnungen. Wenn sie das erhebende Gefühl entbehrt, sich allein alles zu danken, so genießt sie das entzückende, in der Liebe eines andren Wesens zu leben, ein Gefühl, worin die eigne Vollkommenheit sich mit der Vollkommenheit jenes Wesens gattet. Sie wird gestimmt, andren zu sein, was andre ihr sind; will nicht, daß andre ebenso alles aus sich selbst nehmen sollen, als sie nichts von andren empfängt. Ich habe hier nur die Hauptmomente dieser Untersuchung berührt. Tiefer in den Gegenstand einzugehen würde nach Garves meisterhafter Ausführung unnütz und vermessen sein.

So mitwirkend aber auf der einen Seite religiöse Ideen bei der moralischen Vervollkommnung sind, so wenig sind sie doch auf der andren Seite unzertrennlich damit verbunden. Die bloße Idee geistiger Vollkommenheit ist groß und füllend und erhebend genug, um nicht mehr einer andren Hülle oder Gestalt zu bedürfen. Und doch liegt jeder Religion eine Personifizierung, eine Art der Versinnlichung zum Grunde, ein Anthropomorphismus in höherem oder geringerem Grade. Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unaufhörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles moralisch Guten in ein Ideal zusammenzufassen und sich in Verhältnis zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb zur Tätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die Erfahrung überzeugt, daß seinem Geiste Fortschreiten in höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit mutigem Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche Abhängigkeit von äußeren Schicksalen drückt ihn nicht; gleichgültiger gegen äußres Genießen und Entbehren, blickt er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein Schicksal vermag etwas über das Innre seiner Seele. Sein Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch die Fülle seiner Ideen und das Bewußtsein seiner innren Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht, wie er jedes Ereignis bald auf diese, bald auf jene Weise benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist, wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in sich vereint sieht und dann voll des edelsten Stolzes, dessen endliche Wesen fähig sind, ausruft:

Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?

wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hilflosigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand verschwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche, ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt. Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn auch nicht hart und unempfindlich gegen andre Wesen machen, sein Herz nicht der teilnehmenden Liebe und jeder wohlwollenden Neigung verschließen. Eben diese Idee der Vollkommenheit, die wahrlich nicht bloß kalte Idee des Verstandes ist, sondern warmes Gefühl des Herzens sein kann, auf die sich seine ganze Wirksamkeit bezieht, trägt sein Dasein in das Dasein andrer über. Es liegt ja in ihnen gleiche Fähigkeit zu größerer Vollkommenheit, diese Vollkommenheit kann er hervorbringen oder erhöhen. Er ist noch nicht ganz von dem höchsten Ideale aller Moralität durchdrungen, solange er noch sich oder andre einzeln zu betrachten vermag, solange nicht alle geistige Wesen in der Summe der in ihnen einzeln zerstreut liegenden Vollkommenheit in seiner Vorstellung zusammenfließen. Vielleicht ist seine Vereinigung mit den übrigen, ihm gleichartigen Wesen noch inniger, seine Teilnahme an ihrem Schicksale noch wärmer, je mehr sein und ihr Schicksal, seiner Vorstellung nach, allein von ihm und von ihnen abhängt.

Setzt man vielleicht, und nicht mit Unrecht, dieser Schilderung den Einwurf entgegen, daß sie, um Realität zu erhalten, eine außerordentliche, nicht bloß gewöhnliche Stärke des Geistes und des Charakters erfordert, so darf man wiederum nicht vergessen, daß dies in gleichem Grade da der Fall ist, wo religiöse Gefühle ein wahrhaft schönes, von Kälte und Schwärmerei gleich fernes Dasein hervorbringen sollen. Auch würde dieser Einwurf überhaupt nur passend sein, wenn ich die Beförderung der zuletzt geschilderten Stimmung vorzugsweise empfohlen hätte. Allein so geht meine Absicht schlechterdings allein dahin, zu zeigen, daß die Moralität auch bei der höchsten Konsequenz des Menschen schlechterdings nicht von der Religion abhängig oder überhaupt notwendig mit ihr verbunden ist, und dadurch auch an meinem Teile zu der Entfernung auch des mindesten Schattens von Intoleranz und der Beförderung derjenigen Achtung beizutragen, welche den Menschen immer für die Denkungs- und Empfindungsweise des Menschen erfüllen sollte. Um diese Vorstellungsart noch mehr zu rechtfertigen, könnte ich jetzt auf der andren Seite auch den nachteiligen Einfluß schildern, welches die religiöseste Stimmung, wie die am meisten entgegengesetzte, fähig ist. Allein es ist gehässig, bei so wenig angenehmen Gemälden zu verweilen, und die Geschichte schon stellt ihrer zur Genüge auf. Vielleicht führt es auch sogar eine größere Evidenz mit sich, auf die Natur der Moralität selbst und auf die genaue Verbindung, nicht bloß der Religiosität, sondern auch der Religionssysteme der Menschen mit ihren Empfindungssystemen einen flüchtigen Blick zu werfen.


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