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21.

Zwei Tage später wurde das Urteil im Prozeß Brintner gefällt. Es entsprach in seinem merkwürdigen Mißverhältnis zwischen Schuldspruch und Strafausmaß der vorherrschenden Stimmung aller Geschworenen.

Sie hatten sich weder von der Schuld noch der Unschuld der drei Mitschuldigen des Knotzen-Lipp überzeugen können. Dagegen sahen sie seine Schuld durch die bei ihm vorgefundenen Gegenstände aus dem Besitz des Ermordeten als erwiesen an.

Das Urteil über ihn lautete einstimmig auf schuldig. Von der Todesstrafe wurde abgesehen, da man es für wahrscheinlich hielt, daß er die Tat nicht aus eigenem Antrieb, sondern in Gemeinschaft oder im Auftrag anderer vollbracht hatte. Er wurde zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt und nahm das Urteil ohne sonderliche Bewegung hin. Bezüglich der anderen Angeklagten wurde die Hauptfrage auf Mord und die Eventualfrage auf bestellten Mord unter tätiger Mitwirkung verneint, die zweite Eventualfrage auf Mitschuld dagegen bejaht. Auf Grund dieses Spruches wurde Justina zu zwölf Jahren, Andres Brintner und Konrad Fercher zu je neun Jahren schweren Kerkers verurteilt. Ihre Verteidiger meldeten sogleich die Revision des Urteils an.

Andres nahm das Urteil gleichgültig hin wie alles, was die Verhandlungstage gebracht hatten. Fercher war bleich wie der Tod, preßte die Lippen zusammen und sandte einen langen, schmerzlichen Blick nach dem Fenster, als nehme er so Abschied von Licht und Freiheit und dem Leben überhaupt. Nur Justina fuhr mit einem Schrei empor, brach in krampfhaftes Schluchzen aus und sah den Vorsitzenden wie irrsinnig an.

»Nein! Ich gehe nicht in den Kerker! Ich bin unschuldig«, stammelte sie immer wieder.

Man mußte sie schließlich mit Gewalt aus dem Saal führen. Sie war völlig gebrochen.

Nachdem das Publikum sich entfernt hatte, fand sich in einem Winkel noch eine kleine Gruppe bleicher Menschen, die wie vernichtet eine bitterlich weinende Frau umgaben. Es waren Bastl, Toni, Marei, die es sich nicht hatten nehmen lassen, der Schlußverhandlung im Verborgenen beizuwohnen. Die weinende Frau in ihrer Mitte war Milly Glöckl.

Zwölf Jahre – neun Jahre! Lähmend und eisig hatten sich die Worte auf diese vier Menschen niedergesenkt.

Und doch – Bastl atmete auf –, es war nicht der Tod, dessen schwarzer Fittich mehr als einmal während dieser Tage drohend über den Köpfen der Angeklagten hingestrichen war.

Es bedeutete – Zeit.


Beide Männer starrten sich mit funkelnden Augen an. Und in beider Blick züngelte neben verhaltener Erbitterung etwas wie Angst und Schreck empor.

Baumeister March verließ aufatmend Frau Kreibigs Zimmer, nachdem er mehr als zwei Stunden dort unter vier Augen mit der Besitzerin des »Sonnen-Hotels« gesprochen hatte.

Endlich war es ihm gelungen, die Sache durchzusetzen! Und das beste von allem schien, daß ihr Bruder nichts damit zu tun haben sollte.

Denn dieser Mensch ...

March hatte sich unten im Speisesaal in eine Ecke gesetzt, stützte den Kopf in die Hand und versank in Nachdenken. Natürlich. Er begriff es gut, daß die Sonnenwirtin endlich das herrische Gebaren ihres Bruders satt hatte und fort wollte. So war ihnen nun beiden geholfen. In einem Jahre konnte das neue Hotel oben auf der Kreuzhöhe fertig sein. Dann zog sie hinauf und gab die »Sonne« hier in Pacht, und der Geschäftsleiter konnte sehen, wo er blieb. Der würde Augen machen, wenn er wüßte ...

Aber dann geht er wohl überhaupt wieder fort aus der Gegend, dachte March weiter, und wir sind ihn los. Ich brauche seinen spürenden Blick nicht mehr zu ertragen und seine katzenfalsche Freundlichkeit und ...

Er fuhr auf, denn ohne daß er es gewahr geworden wäre, war Valentin plötzlich an den Tisch getreten und begrüßte ihn lächelnd. Gleich darauf erschien Rosa und brachte eine Flasche Wein und zwei Gläser. »Ich habe ihn bestellt. Sie müssen sich doch stärken«, erklärte der Geschäftsleiter freundlich. »Wenn man so lange verhandelt ... und gewiß nur ernste Geschäftssachen, dann muß einem ja die Kehle trocken werden.«

Als March schwieg, fuhr er fort: »Nun, wann beginnen wir denn zu bauen?«

»Wer?«

»Berta, Sie und – ich natürlich! Wer denn sonst?«

»Davon weiß ich nichts!«

Valentin lachte, rückte näher heran und sagte vertraulich:

»Ach, gehen Sie, Herr Baumeister, das wäre ja noch schöner, wenn Sie vor mir Geheimnisse hätten!«

»Ich habe keine Geheimnisse ...«

Der Geschäftsleiter sah ihn plötzlich fest an und murmelte: »Wirklich nicht, Herr March? Können Sie mir darauf Ihr Wort geben?«

»Zum Kuckuck, was gehen Sie meine Geheimnisse an? Kümmere ich mich um die Ihren?«

»Setzen Sie sich nur nicht so aufs hohe Roß, Herr March! Glauben Sie, ich hätte Ihr Erbleichen vorhin nicht bemerkt, als von – Geheimnissen die Rede war?«

March antwortete nicht. Er warf dem Geschäftsleiter nur einen halb drohenden, halb verstörten Blick zu und verließ das Lokal.

Eine treibende Unruhe erfüllte ihn. Schon seit gestern erfüllte sie ihn, als er, für einen Tag heimkehrend, von seiner Frau erfahren hatte, es sei ein fremder Mensch dagewesen, der sich »Lämmermeyer« nannte und ihn einer alten Schuld halber sprechen wollte.

Er kannte keinen Mann namens Lämmermeyer, und seine Schulden hatte er alle bezahlt, damals mit dem Geld ...

Er blieb stehen und fuhr sich mit dem Taschentuch über die schweißbedeckte Stirn. Wirklich – alle? Mußte er denn immer daran denken? Sich Tag und Nacht in Sorge quälen? Es wußte doch niemand darum! Konnte niemand wissen ...

Oder doch? Was anderes hatte denn soeben in den Augen dieses Geschäftsleiters gestanden als die Drohung: Ich weiß es und kann dich verderben, wenn ich will!

Aber nein! Wissen konnte er nichts. Vielleicht ahnen, erraten, kombinieren – aber wissen nicht! Und da mußte man ihm jetzt eine glatte Stirn zeigen ... Es war schon richtig gewesen, daß er sich nicht hatte einschüchtern lassen im ersten Schreck und Frau Kreibigs Geheimnis preisgab! Das hieße ja, zu der einen Schuld noch eine zweite legen, wenn er entgegengebrachtes Vertrauen täuschte! Das wollte er nicht. Schlimm genug, daß er einmal gefehlt ...

Wieder blieb er stehen, fuhr sich über die Stirn und blickte verstört um sich. Es war inzwischen finster geworden, und er wußte nicht, wie lange er da ziellos herumgelaufen war. in den Gassen erst und dann zwischen den Feldern und Wiesen.

Wo war er denn eigentlich? Eben wollte er seine Taschenlaterne aufflammen lassen, um sich zu orientieren, als er gegen einen Zaun stieß und gleichzeitig in geringer Entfernung Stimmen hörte, die aufgeregt durcheinander sprachen und fragten, während jemand leise weinend, kaum vernehmbar antwortete.

»I der tausend! Sie glauben«, antwortete eine scharfe Frauenstimme, »daß die den Hof verkaufen werden?«

»Müssen, Frau Hucker, müssen! Wie soll er sich denn halten lassen ohne Herrn und Frau? Was glauben Sie wohl, wieviel die Advokaten, die jetzt die Verteidigung führten, noch übriglassen werden von des Alten Geld? Nichts! Denken Sie, daß ich's gesagt habe: In einem Jahr ist der Brintnerhof in fremden Händen.«

March, der jedes Wort gehört hatte, lehnte schwer atmend am Zaun.

»Jesus Maria«, murmelte er, »da bin ich hergeraten – gerade da her!«

Und er wollte wie ein scheues Wild, das Gefahr wittert, davoneilen. Aber da packte ihn plötzlich jemand, den er in seiner Aufregung gar nicht kommen gehört hatte, am Kragen und zog ihn mit eisernem Griff dem Hause zu.

»Warum erschreckt Sie denn das so sehr, Mann, daß Sie wie Espenlaub zittern?« fragte Bastl, der allein zu Fuß eben von der Station kam.

»Herr – Schwaigreiter – Sie!« stammelte March bebend.

»Ah, Sie kennen mich? Wer aber sind denn Sie?«

March schwieg. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Willenlos ließ er sich vorwärts ziehen. Bastl stieß die rückwärtige Haustür auf. Eine kleine Flamme erhellte den Vorraum. Im Schimmer derselben ließ Bastl March plötzlich los. Er hatte ihn erkannt.

Wortlos starrten sie einander an. Dann richtete sich March auf und sagte mit rauher Stimme: »Was soll das heißen? Was wollen Sie von mir?«

»Auskunft über die Worte, die Sie vorhin draußen vor sich hinsprachen! Warum flößt Ihnen der Brintnerhof solchen Schrecken ein? Erinnert er Sie vielleicht an eine gewisse Nacht, wo Sie Weib und Kind vergessen haben und nur Geld auftreiben wollten, damit Sie Ihre Schulden loswerden konnten?«

Die Worte waren ihm wider Willen entfahren. Im Innersten erschüttert durch das vor wenigen Stunden gefällte Urteil und noch ganz im Bann der schrecklichen Eindrücke, war er heimgekehrt, während Toni und Marei in Wien übernachten wollten, um die Verurteilten am nächsten Tag im Gefängnis aufzusuchen. Schmerz und Scham drückten ihn so tief zu Boden, daß er den Brintnerhof auf Umwegen von rückwärts zu erreichen trachtete, um nur niemand zu begegnen. In dieser Stimmung stieß er auf den Mann, der seit Wochen seine Gedanken beschäftigte und an dessen Schuld er kaum mehr zweifelte.

Da verließ ihn alle Besinnung und er schleuderte ihm jene Worte ins Gesicht.

*


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